34 Das Geheimnis des Kolibris

Nynaeve versuchte, die Gasse neben dem Kerzenmacher nicht zu offensichtlich zu beobachten, legte das zusammengefaltete Stück Borte wieder auf das Tablett der Händlerin und schob die Hand unter den Umhang, um ihn gegen den Wind geschlossen zu halten. Der Umhang war von besserer Qualität als die Gewandung der vorbeigehenden Passanten, doch unscheinbar genug, dass ihr keiner einen zweiten Blick schenkte. Aber das würden sie, wenn sie ihren Gürtel sahen. Frauen mit Schmuck kamen nicht in die Blaue-Karpfen-Straße oder kauften von Straßenhändlerinnen. Nachdem sie jede der dort ausgelegten Borte angefasst hatte, verzog die schlanke Händlerin das Gesicht, aber Nynaeve hatte bereits drei Stücke gekauft, dazu noch zwei Schleifen und ein Päckchen Nadeln, nur um einen Grund zum Bleiben zu haben. Nadeln konnte man immer gebrauchen, aber sie hatte keine Ahnung, was sie mit dem Rest anstellen sollte.

Plötzlich hörte sie aus der Richtung des Wachtums einen Aufruhr, den Lärm sich nähernder Straßenhüter. Der Hüter kletterte gerade von seinem Posten herunter. Passanten in der Nähe des Wachturms starrten neugierig in die Blaue-Karpfen-Straße hinein, dann drängten sie eilig zur Seite, als rennende Straßenhüter erschienen und ihre Holzrasseln über den Köpfen schwangen. Es handelte sich nicht um eine Patrouille aus zwei oder drei Männern, vielmehr fiel eine Flut Gepanzerter in die Blaue-KarpfenStraße ein, und aus der angrenzenden Straße kamen noch mehr hinzu. Leute, die ihnen nicht schnell genug aus dem Weg gingen, wurden zur Seite gestoßen. Ein Mann stürzte vor ihnen zu Boden. Sie wurden nicht einen Schritt langsamer, als sie über ihn hinwegtrampelten.

Die Bortenverkäuferin warf die Hälfte ihrer Ware vom Tablett, als sie zur Seite sprang, und Nynaeve drückte sich genauso schnell neben der ungläubig starrenden Frau gegen die Hausmauer. Die Masse der Straßenhüter füllte die Straße, ihre Fangstäbe und Kampfstäbe ragten wie Piken in die Höhe, sie rempelten Nynaeve mit den Schultern an und trieben sie an der Häuserwand entlang. Die Händlerin schrie auf, als man ihr das Tablett entriss und es verschwand, aber die Hüter starrten alle geradeaus.

Als der letzte Mann vorbeigerannt war, befand sich Nynaeve gute zehn Schritte tiefer in der Straße als zuvor. Die Bortenverkäuferin rief den Männern wütend etwas hinterher und drohte ihnen mit den Fäusten. Indigniert zog Nynaeve den verrutschten Umhang zurecht; sie war durchaus geneigt, etwas mehr zu tun als nur zu brüllen. Sie hatte nicht übel Lust...

Plötzlich stockte ihr der Atem. Die Straßenhüter waren stehen geblieben, mindestens hundert Mann brüllten einander an, als wüssten sie nicht, was jetzt zu tun war. Sie waren vor dem Schusterladen stehen geblieben. O Licht, Lan! Und Rand auch, Rand war immer dabei, aber zuerst kam immer das Herz ihres Herzens, Lan.

Sie zwang sich zum Weiteratmen. Einhundert Mann. Sie berührte den juwelenbesetzten Gürtel um ihre Taille, die Quelle. Nur noch weniger als die Hälfte des darin gespeicherten Saidar war vorhanden, aber möglicherweise würde das reichen. Es würde eben reichen müssen, auch wenn sie noch nicht genau wusste, wofür eigentlich. Sie zog die Kapuze tief in die Stirn und ging auf die Männer vor dem Schusterladen zu. Niemand sah in ihre Richtung. Sie konnte ...

Hände ergriffen sie, zerrten sie zurück, wirbelten sie in die entgegengesetzte Richtung.

Cadsuane hatte ihren einen Arm ergriffen, und Alivia den anderen, und die beiden drängten sie die Straße entlang. Fort von dem Schusterladen. Min ging neben Alivia und warf besorgte Blicke über die Schulter. Plötzlich zuckte sie zusammen. »Er ... Ich glaube, er ist gestürzt«, flüsterte sie. »Ich glaube, er ist ohnmächtig und auch verletzt, ich weiß nur nicht, wie schlimm.«

»Wir werden ihm hier nicht helfen können, und uns auch nicht«, sagte Cadsuane beherrscht. Die goldenen Schmuckstücke, die an der Vorderseite ihres Haarknotens hingen, baumelten im Inneren ihrer Kapuze umher, während sie den Kopf drehte und die Leute vor ihr musterte. Der Wind ließ sie die tiefe Kapuze mit der Hand festhalten; dafür blähte sich der Umhang hinter ihr auf. »Ich will hier weg sein, bevor einer der Burschen auf die Idee kommt, die Frauen zu bitten, ihre Gesichter zu enthüllen. Jede Aes Sedai, die heute Nachmittag in der Nähe der Blaue-Karpfen-Straße angetroffen wird, wird Fragen beantworten müssen, und das nur wegen diesem Kind!«

»Lasst mich los!«, fauchte Nynaeve und wehrte sich. Lan. Wenn Rand bewusstlos geschlagen worden war, was war dann mit Lan? »Ich muss zurück und ihnen helfen!« Die beiden Frauen zerrten sie mit einem Griff wie aus Eisen weiter. Jedermann, den sie passierten, schaute zu dem Schusterladen herüber.

»Ihr habt schon genug getan, Ihr dummes Ding.« Cadsuanes Stimme war so kalt wie Stahl. »Ich habe Euch vor Far Maddings Wachhunden gewarnt. Pfff! Ihr habt den Rat in Panik versetzt, indem Ihr die Macht dort benutzt habt, wo sie niemand benutzen kann. Wenn die Straßenhüter sie gefangen genommen haben, dann ist es Eure Schuld.«

»Ich glaubte, Saidar würde keine Rolle spielen«, sagte Nynaeve wenig überzeugend. »Es war nur eine kleine Menge, und nicht für lang. Ich... Ich glaubte, vielleicht würden sie es nicht mal bemerken.«

Cadsuane warf ihr einen verächtlichen Blick zu. »Hier entlang, Alivia«, sagte sie und zog Nynaeve um die Ecke mit dem verlassenen Wachturm. Kleine Gruppen aufgeregter Menschen standen überall herum. Ein Mann gestikulierte wild, als würde er einen Fangstab schwingen. Eine Frau zeigte auf den leeren Wachturm und schüttelte erstaunt den Kopf.

»Sag was, Min«, bettelte Nynaeve. »Wir können sie nicht einfach zurücklassen.« Sie kam nicht einmal auf den Gedanken, Alivia anzusprechen, deren Gesichtsausdruck Cadsuane verständnisvoll erscheinen ließ.

»Von mir kannst du kein Mitleid erwarten.« Mins Stimme war fast so kalt wie Cadsuanes. Als sie Nynaeve ansah, war es nur ein Seitenblick, bevor sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Straße richtete. »Ich habe dich angebettelt, mir zu helfen, sie davon abzuhalten, aber du musstest ja genauso dumm wie sie sein. Jetzt müssen wir uns auf Cadsuane verlassen.«

Nynaeve schnaubte. »Was kann sie schon tun? MUSS ich dich daran erinnern, dass Lan und Rand hinter uns sind und die Entfernung jede Minute größer wird?«

»Der Junge ist nicht der Einzige, der Unterricht in Manieren braucht«, murmelte Cadsuane. »Bis jetzt hat er sich noch nicht einmal bei mir entschuldigt, aber er hat Verin gesagt, er würde es tun, und ich schätze, damit kann ich im Moment leben. PfffI Der Junge macht mehr Ärger als jeder, den ich je kennen gelernt habe. Ich werde tun, was ich kann, Mädchen, was weit mehr ist, als Ihr könntet, wenn Ihr versucht, Euch einen Weg durch die Straßenhüter hindurch zu bahnen. Von jetzt an werdet Ihr genau das tun, was ich sage, oder ich lasse Alivia sich auf Euch drauf setzen!« Alivia nickte. Min auch!

Nynaeve verzog das Gesicht. Eigentlich sollte die Frau sich doch ihr unterwerfen! Dennoch, ein Gast der Ersten Ratsherrin konnte mehr erreichen als die einfache Nynaeve al'Meara, selbst wenn sie ihren Großen Schlangenring aufsetzte. Für Lan würde sie Cadsuane ertragen.

Aber als sie sie fragte, wie sie die Männer befreien wollte, erhielt sie bloß folgende Antwort: »Ich weiß nicht, Mädchen, ob ich überhaupt etwas tun kann. Aber ich habe dem Jungen Versprechungen gemacht und ich halte meine Versprechen. Ich hoffe, er vergisst das nicht.« In ihrem eisigen Tonfall flößte es nicht gerade Zuversicht ein.

Rand erwachte in Dunkelheit und Schmerz, auf dem Rücken liegend. Seine Handschuhe waren verschwunden und er konnte eine raue Pritsche unter sich spüren. Sie hatten auch seine Stiefel ausgezogen. Seine Handschuhe waren weg. Sie wussten, wer er war. Er setzte sich vorsichtig auf. Sein Gesicht fühlte sich verschwollen an, und jeder Muskel seines Körpers schmerzte, als hätte man ihn verprügelt, aber es schien nichts gebrochen zu sein.

Er stand langsam auf, ertastete sich einen Weg an der Steinwand neben der Pritsche entlang und kam sofort zu einer Ecke und dann zu einer Tür mit Eisenbeschlägen. In der Finsternis entdeckten seine Finger eine kleine Klappe, die er aber nicht aufdrücken konnte. Ihre Ränder ließen kein Licht herein. Lews Therin fing in seinem Kopf an zu hecheln. Rand ging weiter, ertastete sich den Weg, die Bodenfliesen unter seinen nackten Füßen waren kalt. Die nächste Ecke kam beinahe unmittelbar darauf, dann eine dritte, wo seine Zehen gegen etwas stießen, das auf dem Steinboden schepperte. Die eine Hand auf die Wand gelegt, bückte er sich und entdeckte einen Holzeimer. Er ließ ihn dort stehen und vollendete die Runde bis zurück zur Eisentür. Den ganzen Weg. Er befand sich in einem schwarzen Kasten, der drei Schritte lang und etwas über zwei Schritte breit war. Er hob die Hand und entdeckte zwei Handbreit über seinem Kopf die Decke.

Eingeschlossen, keuchte Lews Therin heiser. Wieder in der Kiste. Als uns diese Frauen in die Kiste steckten. Wir müssen hier raus! heulte er auf. Wir müssen hier raus!

Rand ignorierte die kreischende Stimme in seinem Kopf und wich vor der Tür zurück, bis er sich genau in der Mitte der Zelle zu befinden glaubte, dann hockte er sich im Schneidersitz auf den Boden. Er war so weit von den Wänden entfernt, wie das möglich war, und in der Dunkelheit versuchte er, sie sich noch weiter entfernt vorzustellen, aber es hatte den Anschein, dass er die Arme nicht einmal ganz hätte auszustrecken brauchen, um den Stein zu berühren. Er konnte fühlen, wie er zitterte, als wäre es der Körper eines anderen, der da unkontrolliert bebte. Die Wände schienen direkt neben ihm zu sein, die Decke unmittelbar über seinem Kopf. Dagegen musste er ankämpfen, oder er würde so verrückt wie Lews Therin sein, wenn endlich jemand kam, um ihn hier herauszulassen. Irgendwann würde man ihn herauslassen, und wenn auch nur, um ihm demjenigen zu übergeben, den Elaida schickte. Wie viele Monate würde es dauern, bis eine Botschaft Tar Valon erreichte und Elaidas Abgesandte eintrafen? Falls es Schwestern geben sollte, die sich in der Nähe befanden und Elaida treu ergeben waren, würde es vielleicht schneller gehen. Entsetzen gesellte sich zu seinem Zittern, als ihm klar wurde, dass er sich wünschte, dass diese Schwestern in der Nähe waren, sich in der Stadt aufhielten, damit sie ihn aus diesem Kasten holen konnten.

»Ich werde mich nicht ergeben!«, rief er. »Ich werde so hart sein, wie ich sein muss!« In dem engen Raum hallte seine Stimme wie Donnerhall.

Moraine war gestorben, weil er nicht hart genug gewesen war, um das zu tun, was zu tun gewesen wäre. Ihr Name stand immer ganz oben auf der Liste, die sich in sein Gedächtnis eingebrannt hatte. Die Frauen, die seinetwegen gestorben waren. Moiraine Damodred. Jeder Name dieser Liste beschwor Qualen herauf, die ihn die körperlichen Schmerzen und die steinernen Mauern jenseits seiner Fingerspitzen vergessen ließen. Colavaere Saighan, die gestorben war, weil er ihr alles genommen hatte, was für sie von Wert war. Liah, die Tochter des Speeres der Cosaida Chareen, die von seiner Hand gestorben war, weil sie ihm nach Shadar Logoth gefolgt war. Jendhilion, eine Tochter der Kalten Gipfel Miagoma, die gestorben war, weil sie die Ehre haben wollte, seine Tür zu bewachen. Er musste hart sein! Er beschwor einen Namen nach dem anderen von dieser langen Liste und schmiedete seine Seele geduldig in den Flammen des Schmerzes.

Die Vorbereitungen hatten länger gedauert, als Cadsuane gehofft hatte, vor allem, weil sie einigen Leuten einhämmern musste, dass eine großartige Rettungsmission in der Tradition der Geschichten der fahrenden Sänger nicht infrage kam, darum war die Nacht schon hereingebrochen, als sie die von Lampen erhellten Korridore der Ratsherrinnenhalle entlangging. Gemessenen Schritts, nicht in Eile. War man in Eile, hielten einen die Leute sofort für nervös und glaubten, dass sie die Oberhand hatten. Wenn sie jemals in ihrem Leben von Anfang an die Oberhand haben musste, dann in dieser Nacht.

Zu dieser Stunde hätten die Korridore eigentlich leer sein müssen, aber die Geschehnisse des Tages hatten den normalen Lauf der Dinge verändert. Überall eilten Schreiber in blauen Mänteln umher, die manchmal stehen blieben, um ihr Gefolge anzustarren. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatten sie noch nie vier Aes Sedai auf einmal gesehen — sie war nicht bereit, Nynaeve diesen Titel zuzugestehen, bevor sie die Drei Eide abgelegt hatte —, und der heutige Aufruhr dürfte zu ihrer Verwirrung bei dem Anblick beigetragen haben. Allerdings zogen die drei Männer, die die Nachhut bildeten, fast genauso viele Blicke auf sich. Vermutlich war den Schreibern die Bedeutung der schwarzen Mäntel oder der Anstecknadeln an den hohen Kragen unbekannt, aber es war sehr unwahrscheinlich, dass sie in diesen Gängen jemals drei Männer mit Schwertern gesehen hatten. Aber wie dem auch sei, mit etwas Glück würde keiner von ihnen losrennen und Aleis in Kenntnis setzen, wer da kam, um in die geschlossene Ratssitzung hereinzuplatzen. Es war bedauerlich, dass sie die Männer nicht allein hatte mitnehmen können, aber selbst Daigian hatte bei diesem Vorschlag Rückgrat gezeigt. Und noch viel bedauerlicher war, dass ihre sämtlichen Begleiter nicht die Ruhe und Gelassenheit zeigten, die Merise und die anderen beiden Schwestern an den Tag legten.

»Das klappt niemals«, murmelte Nynaeve vermutlich das zehnte Mal seit ihrem Aufbrach von den Höhen.»Wir sollten von Anfang an hart zuschlagen!«

»Wir hätten schneller sein müssen«, murmelte Min finster. »Ich kann fühlen, wie er sich verändert. Wenn er zuvor ein Stein war, ist er jetzt aus Eisen! Licht, was machen sie bloß mit ihm?« Sie war nur dabei, weil sie eine Verbindung zu dem Jungen darstellte, und sie hatte mit ihren Berichten nicht aufgehört, von denen jeder düsterer als der vorherige war. Cadsuane hatte ihr nicht gesagt, wie die Zellen aussahen, nicht, nachdem das Mädchen schon zusammengebrochen war, als sie ihr erzählt hatte, was die Schwestern, die den Jungen entführt hatten, ihm angetan hatten.

Cadsuane seufzte. Sie hatte eine zusammengewürfelte Armee, aber selbst eine provisorische Streitmacht brauchte Disziplin. Vor allem, wenn die Schlacht unmittelbar bevorstand. Es wäre noch schlimmer gewesen, hätte sie die Meervolk-Frauen nicht gezwungen zurückzubleiben. »Wenn es sein muss, kann ich das auch ohne euch beide tun«, sagte sie entschieden. »Nein, Nynaeve, sagt jetzt nichts. Merise oder Corele können diesen Gürtel genauso gut tragen wie Ihr. Falls ihr Kinder also nicht mit den Klagen aufhört, wird Alivia euch auf die Höhen zurückbringen und dafür sorgen, dass ihr etwas habt, worüber ihr jammern könnt.« Das war der einzige Grund, weshalb sie die seltsame Wilde mitgenommen hatte. Alivia wurde meistens sehr umgänglich in Gesellschaft von Leuten, die sie nicht niederstarren konnte, aber die beiden Plappermäuler starrte sie ausgesprochen finster an.

Wie auf Kommando fuhren die beiden Köpfe zu der Frau mit dem blonden Haar herum und die Plappermäuler verstummten. Sie hielten den Mund, ohne sich jedoch zu fügen. Min konnte so lange mit den Zähnen knirschen, wie sie wollte, aber Nynaeves finsterer Blick störte Cadsuane. Das Mädchen war durchaus vielversprechend, aber ihre Ausbildung hatte viel zu früh geendet. Ihre Fertigkeiten im Heilen grenzten ans Wunderbare, in allem anderen waren sie bestenfalls trostlos. Und sie hatte nicht die Lektionen erhalten, in denen man erfuhr, was man alles ertragen konnte, ja, sogar ertragen musste. In Wahrheit verspürte Cadsuane Mitgefühl mit ihr. Ein bisschen. Das war eine Lektion, die nicht jedermann in der Burg lernen konnte. Ihr war sie von einer fast zahnlosen Wilden auf einem Bauernhof im Herzen der Schwarzen Berge erteilt worden, der sie voller Stolz auf ihre kürzlich erworbene Stola und ihre Kraft entgegengetreten war. Oh, es war schon eine sehr zusammengewürfelte kleine Armee, die sie versammelt hatte, um den Versuch zu unternehmen, Far Madding auf den Kopf zu stellen.

Im Vorzimmer des Ratssaals hielten sich ein paar Schreiber und Boten auf, aber sie waren genau das: Schreiber und Boten. Die Schreiber zögerten in übertriebener Verblüffung, jeder von ihnen wartete darauf, dass der andere den Anfang machte und etwas sagte, aber die Boten in ihren roten Mänteln, die genau wussten, dass es nicht ihre Aufgabe war, etwas zu sagen, wichen auf den blauen Bodenfliesen zu den Seiten des Zimmers zurück. Die Schreiber gaben ihr den Weg frei, keiner traute sich, zuerst die Stimme zu erheben. Trotzdem hörte sie ein kollektives Aufstöhnen, als sie einen der hohen, mit Hand und Schwert geschmückten Türflügel öffnete.

Der Ratssaal war nicht groß. Vier mit Spiegeln versehene Kandelaber reichten aus, um ihn zu erleuchten, und ein großer tairenischer Teppich in Rot und Blau und Gold bedeckte fast den ganzen Boden. Ein großer Marmorkamin an der einen Seite des Raums leistete gute Arbeit, die Luft zu erwärmen, auch wenn die Glastüren, die zum Säulengang an der Außenseite des Gebäudes führten, im Nachtwind klapperten, und zwar laut genug, um das Ticken der hohen, vergoldeten illianischen Uhr auf dem Sims zu übertönen. Dreizehn geschnitzte und vergoldete Stühle, die beinahe schon Thronsessel darstellten, standen in einem Halbkreis der Tür gegenüber; sie alle wurden von besorgt dreinblickenden Frauen besetzt.

Aleis, die am Kopf des Halbkreises saß, runzelte die Stirn, als sie Cadsuane und ihre kleine Parade sah, die in den Saal strömte. »Das ist eine geschlossene Sitzung, Aes Sedai«, sagte sie, zugleich förmlich und kalt. »Vielleicht bitten wir Euch, uns später ...«

»Ihr wisst, wen Ihr da in der Zelle habt«, unterbrach Cadsuane sie.

Es war keine Frage, aber Aleis versuchte mit Ausflüchten davonzukommen. »Eine gewisse Anzahl von Männern, soweit ich informiert bin. Stadtbekannte Trunkenbolde, diverse Ausländer, die man wegen Räufereien oder Diebstahl festgenommen hat, heute einen Grenzländer, der vielleicht drei Männer ermordet hat. Ich führe nicht persönlich Buch über die Festnahmen, Cadsuane Sedai.« Bei der Erwähnung des wegen Mordes festgenommenen Mannes holte Nynaeve zischend Luft, und ihre Augen funkelten bedrohlich, aber immerhin hatte das Kind genug Verstand, den Mund zu halten.

»Also wollt Ihr verbergen, dass Ihr den Wiedergeborenen Drachen gefangen haltet«, sagte Cadsuane ganz ruhig. Sie hatte gehofft, und zwar mit aller Macht, dass Verins mühevolle Vorarbeit sie davor zurückschrecken lassen würde. Aber vielleicht konnte man es ja doch noch auf die ganz einfache Weise schaffen. »Ich kann ihn Euch abnehmen. Ich habe im Laufe der Jahre über zwanzig Männern gegenübergestanden, welche die Macht lenken konnten. Er macht mir keine Angst.«

»Wir danken Euch für dieses Angebot«, erwiderte Aleis glatt, »aber wir ziehen es vor, zuerst mit Tar Valon Verbindung aufzunehmen.« Um einen Preis zu feilschen, meinte sie. Nun, was sein musste, musste eben sein. »Macht es Euch etwas aus, uns zu verraten, wie Ihr erfahren habt ...«

Cadsuane unterbrach sie erneut. »Vielleicht hätte ich es früher erwähnen sollen, aber diese Männer hinter mir sind Asha'man.«

Die drei traten vor, genau wie sie instruiert worden waren, und Cadsuane musste zugeben, dass sie ein gefährliches Erscheinungsbild boten. Der grauhaarige Damer sah aus wie ein Bär mit Zahnschmerzen, der hübsche Jahar schien ein dunkler, schlanker Leopard zu sein, und Ebens starrer Blick erschien besonders unheilvoll, kam er doch aus einem so jugendlichen Gesicht. Sie hatten durchaus Wirkung auf den Rat. Ein paar der Frauen rutschten auf ihren Stühlen umher, als wollten sie mit ihnen zurückweichen, aber Cyprien stand der Mund offen, was bei ihren hervorstehenden Zähnen sehr unvorteilhaft aussah. Sybaine, deren Haar so grau wie Cadsuanes war, sackte auf ihrem Stuhl zusammen und fing an, sich mit der schlanken Hand Luft zuzuwedeln, während sich Cumeres Mund verzog, als musste sie sich übergeben.

Aleis war aus härterem Holz geschnitzt, obwohl sie beide Hände gegen den Leib drückte. »Ich habe Euch bereits gesagt, dass Asha'man gerngesehene Besucher sind, solange sie sich an die Gesetze halten. Wir fürchten die Asha'man nicht, Cadsuane, obwohl ich sagen muss, dass es mich überrascht, welche in Eurer Begleitung zu sehen. Vor allem Angesichts des Angebots, das Ihr gerade gemacht habt.«

Also war sie jetzt nur noch Cadsuane, wie? Trotzdem bedauerte sie die Notwendigkeit, Aleis zu brechen. Sie regierte Far Madding gut, aber von dieser Nacht würde sie sich möglicherweise niemals wieder erholen. »Habt Ihr vergessen, was heute sonst noch passiert ist, Aleis? Jemand hat in der Stadt die Macht gelenkt.« Wieder rutschten die Ratsherrinnen herum und auf mehr als nur einer Stirn zeigten sich besorgte Falten.

»Eine Abweichung.« Die kühle Beherrschung war aus Aleis' Stimme verschwunden und durch Wut ersetzt worden, und vielleicht auch durch einen Hauch von Furcht. Ihre Augen glitzerten dunkel. »Vielleicht haben sich die Wächterinnen geirrt. Keiner der Befragten hat etwas beobachtet, das einen Hinweis darauf geben...«

»Selbst das, was wir für vollkommen halten, kann Fehler haben, Aleis.« Cadsuane griff nach ihrer eigenen Quelle und nahm eine genau berechnete Menge Saidar in sich auf. Sie hatte Übung darin, der kleine goldene Kolibri konnte nicht annähernd so viel davon speichern wie Nynaeves Gürtel. »Fehler können unbemerkt jahrhundertelang verborgen bleiben, bevor man sie bemerkt.« Das Gewebe aus Luft, das sie wob, reichte gerade dazu aus, das juwelenbesetzte Diadem von Aleis' Kopf zu heben und auf dem Teppich vor den Füßen der Frau abzusetzen. »Sobald man sie jedoch entdeckt hat, findet sie anscheinend jeder, der danach sucht, ebenfalls.«

Dreizehn schockierte Blicke starrten das Diadem an. Die Ratsherrinnen schienen wie erstarrt zu sein und hielten den Atem an.

»Weniger ein Fehler als ein Scheunentor, wenn Ihr mich fragt«, verkündete Damer. »Ich finde, auf Eurem Kopf sieht es hübscher aus.«

Der Glanz der Macht hüllte plötzlich Nynaeve ein, und das Diadem flog auf Aleis zu und wurde im letzten Augenblick langsamer, so dass es über ihrem bleichen Gesicht zur Ruhe kam, statt ihr den Kopf aufzuschlagen. Das Licht Saidars verschwand jedoch nicht um das Mädchen. Nun, sollte sie doch ihre Quelle leeren.

»Wird ...?« Aleis schluckte, aber als sie fortfuhr, brach ihre Stimme. »Wird es ausreichen, wenn wir ihn in Eure Obhut übergeben?« Ob sie Cadsuane oder die Asha'man meinte, blieb unklar, vielleicht wusste sie es selbst nicht.

»Ich glaube, das wird es«, sagte Cadsuane ruhig, und Aleis sackte zusammen wie eine Puppe, der man die Fäden durchtrennt hatte. So schockiert die anderen Ratsherrinnen über die Zurschaustellung der Macht auch waren, tauschten sie dennoch fragende Blicke aus. Blicke, die sich auch auf Aleis richteten, Entschlossenheit trat in Gesichter, man nickte sich zu. Cadsuane holte tief Luft. Sie hatte dem Jungen versprochen, dass alles, was sie tun würde, zu seinem Nutzen geschah, nicht zum Nutzen der Burg und auch von niemand anderen, und jetzt hatte sie eine gute Frau zu seinem Nutzen gebrochen. »Es tut mir sehr Leid, Aleis«, sagte sie. Und dachte: Die Schuld auf deinem Konto wird jetzt schon immer größer, Junge.

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