Es überraschte Elayne nicht, dass sie der Haushofmeisterin begegnete, bevor sie ihre Gemächer erreichte. Schließlich wollten sie beide zum selben Ort. Frau Harfor machte ihren Hofknicks und ging dann neben ihr her; unter dem Arm trug sie eine reich verzierte Ledermappe. Sie war mit Sicherheit so früh aufgestanden wie Elayne, wenn nicht sogar noch früher, aber ihr scharlachroter Wappenrock erschien frisch gebügelt, und der Weiße Löwe darauf war so sauber und hell wie frisch gefallener Schnee. Die Diener gingen schneller und putzten emsiger, wenn sie sie sahen. Reene Harfor war nicht grob, aber sie führte den Palast mit der gleichen strengen Disziplin, mit der Gareth Bryne die Garde befehligt hatte.
»Ich fürchte, ich habe noch keinen Spion fangen können, meine Lady«, raunte sie in Erwiderung auf Elaynes Frage, damit die Antwort auch nur ihre Ohren erreichte, »aber ich glaube, ich habe ein Pärchen entdeckt. Eine Frau und ein Mann, die beide während der letzten Monate in der Herrschaft Eurer Mutter, der verstorbenen Königin, in den Dienst aufgenommen wurden. Sie verließen den Palast sofort, als sich die Nachricht verbreitete, dass ich jeden befrage. Sie haben nicht einmal lange genug gewartet, um etwas von ihren Besitztümern mitzunehmen, nicht mal einen Umhang. Ich würde sagen, das ist so gut wie ein Geständnis. Es sei denn, sie hätten befürchtet, bei einer anderen Missetat erwischt zu werden.« Sie zögerte. »Ich fürchte, es hat Diebstähle gegeben.«
Elayne nickte nachdenklich. Während der letzten Monate der Herrschaft ihrer Mutter waren Naean und Elenia oft im Palast gewesen. Eine mehr als ausreichende Gelegenheit, Spione einzuschleusen. Die beiden waren im Palast gewesen, genau wie andere, die gegen Morgase Trakands Thronanspruch integriert, nach ihrer Inthronisierung ihre Amnestie akzeptiert und sie dann verraten hatten. Sie würde den Fehler ihrer Mutter nicht wiederholen. Oh, es musste eine Amnestie geben, wo auch immer das möglich war — alles andere hätte nur den Samen für einen Bürgerkrieg gepflanzt —, aber sie hatte sich vorgenommen, diejenigen, die ihre Vergebung akzeptierten, genau im Auge zu behalten. So wie eine Katze eine Ratte beobachtete, die behauptete, jedes Interesse am Kornspeicher aufgegeben zu haben. »Sie waren Spione«, sagte sie. »Und es gibt möglicherweise noch andere. Nicht nur für die Häuser. Auch die Schwestern im Silbernen Schwan haben möglicherweise Augen-und-Ohren im Palast untergebracht.«
»Ich werde weiterhin nach ihnen Ausschau halten, meine Lady«, erwiderte Reene und neigte den Kopf ein wenig. Ihr Ton war auf perfekte Weise respektvoll; sie hob nicht einmal andeutungsweise eine Braue, aber Elayne fragte sich erneut, ob sie wohl ihrer Großmutter das Stricken beibringen wollte. Wenn doch Birgitte nur die Dinge so regeln könnte, wie es Frau Harfor tat.
»Es ist gut, dass Ihr früher zurückgekommen seid«, fuhr die pummelige Frau fort. »Ich fürchte, Euch steht ein arbeitsreicher Nachmittag bevor. Als Erstes will Meister Norry mit Euch sprechen. In einer dringenden Angelegenheit, sagt er.« Ihre Lippen wurden einen Augenblick lang zu einem schmalen Strich. Sie wollte immer wissen, warum Leute zu Elayne vorgelassen werden wollten, damit sie die Spreu vom Weizen trennen konnte, statt ihre Herrin darunter zu begraben, aber der Erste Sekretär hielt es nie für nötig, ihr gegenüber auch nur eine Andeutung über sein Anliegen zu machen. Genauso wenig wie sie ihn über die ihren informierte. Beide wachten eifersüchtig über ihre Lehen. Mit einem Kopfschütteln verbannte Elayne Halwin Norry aus ihren Gedanken.
»Danach ist eine Delegation von Tabakhändlern an der Reihe. Sie hat um eine Audienz ersucht, genau wie eine der Weber; beide bitten um einen Steuererlass, weil die Zeiten so schwer sind. Meine Lady braucht meinen Rat nicht, ihnen zu sagen, dass es für alle schwere Zeiten sind. Dann wartet da noch eine Gruppe ausländischer Kaufleute, eine ziemlich große Gruppe. Sie wollen Euch alles Gute wünschen, natürlich auf eine Weise, die sie zu nichts verpflichtet; sie wollen sich bei Euch einschmeicheln, ohne sich jemand anderen zum Feind zu machen. Trotzdem schlage ich vor, dass Ihr sie kurz empfangt.« Frau Harfor legte dicke Finger auf die Mappe unter ihrem Arm. »Außerdem benötigen die Haushaltsbücher des Palasts Eure Unterschriften, bevor sie an Meister Norry weitergereicht werden können. Ich fürchte, sie werden ihn seufzen lassen. Ich habe zwar im Winter nicht damit gerechnet, aber ein großer Teil der Kornvorräte ist voller Getreidekäfer und Motten, und die Hälfte des geräucherten Schinkens ist schlecht geworden, genau wie ein Großteil des Räucherfischs.« Ziemlich respektvoll. Und entschieden.
Ich beherrsche Andor, hatte Elaynes Mutter ihr einmal unter vier Augen gesagt, aber manchmal glaube ich, dass Reene Harfor mich beherrscht. Ihre Mutter hatte dabei gelacht, aber sie hatte auch so geklungen, als wäre ihr das ernst gewesen. Wenn sie so darüber nachdachte, würde Frau Harfor als Behüterin zehnmal schlimmer als Birgitte sein.
Elayne wollte weder mit Halwin Norry noch mit den Kaufleuten sprechen. Sie wollte sich ungestört hinsetzen und über Spione nachdenken und wer Naean und Elenia abgefangen hatte und was sie dagegen unternehmen konnte. Aber ... Meister Norry hatte Caemlyn seit dem Tod ihrer Mutter am Leben gehalten. Und den alten Haushaltsbüchern zufolge hatte er das fast von dem Tag an getan, an dem sie in Rahvins Fänge geraten war, obwohl Norry darüber keine genauen Angaben machte. Die Geschehnisse jener Tage schienen ihn auf eine ziemlich unklare Weise gekränkt zu haben. Elayne konnte ihn nicht einfach abwimmeln. Außerdem war bei ihm noch nie etwas dringend gewesen. Und der gute Willen von Kaufleuten war auch nicht zu verachten, nicht einmal der von Ausländern. Und die Haushaltsbücher mussten abgezeichnet werden. Getreidekäfer und Motten? Und verdorbener Schinken? Im Winter? Das war allerdings sehr seltsam.
Sie hatten die mit geschnitzten Löwen versehenen Flügeltüren ihrer Gemächer erreicht. Kleinere Löwen als jene ihrer Mutter und kleinere Gemächer, aber sie hatte nicht einen Augenblick lang daran gedacht, die Gemächer der Königin zu beziehen. Das wäre genauso anmaßend gewesen, als hätte sie auf dem Löwenthron Platz genommen, bevor ihr Anspruch auf die Rosenkrone anerkannt worden war.
Seufzend griff sie nach der Mappe.
Am anderen Ende des Korridors erblickte sie Solain Morgeillin und Keraille Surtovni, die sich so schnell bewegten, wie sie konnten, ohne den Eindruck zu erwecken, sie würden rennen. Am Hals der mürrischen Frau, die zwischen sie gequetscht war, blitzte es silbern auf, obwohl die Schwestern ihr ein langes grünes Tuch umgebunden hatten, um die Leine des Adam zu verbergen. Das würde Gerede geben und früher oder später würde es auffallen. Es war besser, wenn man sie und die anderen nicht umherführte, aber es gab keine Möglichkeit, das zu vermeiden. Um die Kusinen und die Windsucherinnen des Meervolks aufnehmen zu können hatte man Räume in den Dienerquartieren gebraucht, selbst wenn sich zwei oder drei nun ein Bett teilen mussten, und die Palastkeller waren Lagerräume, keine Verließe. Wie schaffte es Rand eigentlich immer, genau das Falsche zu tun? Ein Mann zu sein reichte nicht als Entschuldigung. Solain und Keraille verschwanden mit ihrer Gefangenen um die Ecke.
»Frau Corly hat heute Morgen darum gebeten, mit Euch sprechen zu dürfen, meine Lady.« Reenes Stimme war mit Bedacht neutral gehalten. Sie hatte die Kusinen ebenfalls beobachtet und auf ihrem breiten Gesicht zeichnete sich noch immer die Spur eines Stirnrunzeins ab. Das Meervolk war seltsam, aber sie konnte die Herrin der Wogen eines Clans und ihr Gefolge in ihr Weltbild einbauen, selbst wenn sie nicht genau wusste, was eine Herrin der Wogen eigentlich war. Eine hochrangige Ausländerin war eine hochrangige Ausländerin, und von Ausländern erwartete man, dass sie seltsam waren. Aber sie konnte nicht verstehen, warum Elayne fast einhundertfünfzig Kauf- und Handwerksfrauen eine Unterkunft gegeben hatte. Auch Begriffe wie »Kusinen« oder »Nähkränzchen« hätten ihr nichts gesagt, hätte sie sie gehört, und sie verstand die seltsamen Spannungen zwischen jenen Frauen und den Aes Sedai nicht. Genauso wenig wie sie die Frauen verstand, die die Asha'man gebracht hatten; auch wenn sie nicht in Zellen eingesperrt waren, handelte es sich doch um Gefangene, die man in aller Abgeschiedenheit festhielt und die mit niemandem sprechen durften außer mit den Frauen, die sie durch die Korridore eskortierten. Die Haushofmeisterin wusste, wann sie keine Fragen stellen durfte, aber es gefiel ihr nicht, wenn sie nicht verstand, was im Palast vor sich ging. Ihr Tonfall veränderte sich um keine Nuance. »Sie sagte, sie hätte gute Neuigkeiten für Euch. Gewissermassen. Sie hat aber nicht um eine Audienz gebeten.«
Alle guten Neuigkeiten waren besser, als sich die Haushaltsbücher ansehen zu müssen, und Elayne hatte eine gewisse Hoffnung, worum es sich bei dieser Neuigkeit handelte. Sie gab der Haushofmeisterin die Mappe zurück. »Bitte legt sie auf den Schreibtisch. Und richtet Meister Norry aus, dass ich ihn nachher empfange. Es wird nicht lange dauern.«
Sie ging in die Richtung, aus der die Kusinen mit ihrer Gefangenen gekommen waren, und sie bewegte sich trotz ihres Reitrocks schnell. Gute Neuigkeiten oder nicht, Norry und die Kaufleute mussten empfangen werden, ganz zu schweigen von den Haushaltsbüchern, die überprüft und abgezeichnet werden wollten. Herrschen bedeutete endlose Wochen der Schinderei und seltene Stunden, in denen man das tat, was man wollte. Sehr seltene Stunden. Birgitte machte sich in ihrem Hinterkopf bemerkbar, ein Knoten aus purer Gereiztheit und Ungeduld. Zweifellos arbeitete sie sich durch den mit Papieren übersäten Aktenberg. Nun, ihre eigene Entspannung an diesem Tag würde in der Zeit bestehen, die es dauerte, das Reitgewand auszuziehen und eine hastige Mahlzeit zu sich zu nehmen. Also ging sie schnell, in Gedanken versunken und ohne eigentlich zu sehen, was sich vor ihr befand. Was hatte Norry so dringendes? Es ging mit Sicherheit nicht um Straßenreparaturen. Wie viele Spione? Unwahrscheinlich, dass Frau Harfor sie alle entfernte.
Als sie um eine Ecke bog, verhinderte nur die Fähigkeit, andere Frauen wahrzunehmen, die die Macht lenkten, dass sie direkt in Vandene hineinlief. Überrascht wichen sie voneinander zurück. Anscheinend war auch die Grüne tief in Gedanken versunken gewesen. Beim Anblick ihrer beiden Begleiterinnen runzelte Elayne die Stirn.
Kirstian und Zarya trugen schmucklose weiße Gewänder und hielten sich genau einen Schritt hinter Vandene, die Hände demütig vor dem Körper gefaltet. Ihr Haar waren lediglich nach hinten gebunden und sie trugen keinen Schmuck. Es wurde Novizinnen deutlich nahe gelegt, auf allen Schmuck zu verzichten. Sie hatten zu den Kusinen gehört — Kirstian war sogar Mitglied des Nähkränzchens gewesen —, aber sie waren aus der Weißen Burg weggelaufen, und es gab in den Gesetzen der Burg festgelegte Verfahren, wie man solche Frauen behandeln musste, ganz egal, wie lange sie fort waren. Zurückgeholte Ausreißerinnen mussten in all ihren Tätigkeiten absolut perfekt sein, vorbildlich in ihrem eifrigen Bestreben, die Stola zu erringen, und kleine Fehler, die man bei anderen übersah, wurden schnell und streng bestraft. Außerdem sahen sie zusätzlich einer viel schlimmeren Strafe entgegen, wenn sie die Burg erreichten, einer öffentlichen Auspeitschung mit Ruten, und selbst danach mussten sie mindestens ein ganzes Jahr auf ihrem vorgezeichneten und qualvollen Pfad wandeln. Einer zurückgekehrten Ausreißerin wurde bis in die Tiefen ihres Inneren klargemacht, dass sie niemals wieder weglaufen wollte. Niemals! Nur zur Hälfte ausgebildete Frauen waren einfach zu gefährlich, als dass man sie hätte allein herumlaufen lassen können.
Bei den seltenen Begegnungen mit den beiden Frauen hatte Elayne versucht, nachsichtig zu sein — man konnte nicht sagen, dass Kusinen nur die halbe Ausbildung genossen hatten; sie hatten genauso viel Erfahrung in der Einen Macht wie jede Aes Sedai. Sie hatte es versucht, nur um entdecken zu müssen, dass selbst die meisten der Kusinen sie missbilligten. Als man ihnen eine erneute Gelegenheit bot, Aes Sedai zu werden — zumindest jenen, bei denen das möglich war —, nahmen sie die Gesetze und Bräuche der Burg mit schockierendem Eifer an. Darum war Elayne genauso wenig von dem unterdrückten Eifer in den Augen der beiden Frauen überrascht wie über die Art und Weise, in der sie das Versprechen, in jeder Hinsicht folgsam zu sein, auszustrahlen schienen — sie wollten diese Chance genauso sehr wie all die anderen auch. Seltsam war nur, dass sie Vandene begleiteten. Bis jetzt hatte sie das Paar völlig ignoriert.
»Ich habe Euch gesucht, Elayne«, sagte Vandene, ohne sich mit Höflichkeiten aufzuhalten. Ihr weißes Haar, das mit einem dunkelgrünen Band im Nacken zusammengebunden war, hatte ihr trotz ihrer glatten Wangen schon immer einen Anschein von Alter verliehen. Die Ermordung ihrer Schwester hatte eine tiefsitzende Unbarmherzigkeit hinzugefügt, sodass sie wie eine unversöhnliche Richterin erschien. Sie war schlank gewesen; jetzt war sie knochig und ihre Wangen hohl. »Diese Kinder ...« Sie unterbrach sich, eine kaum merkliche Grimasse ließ ihren Mund noch schmaler erscheinen, als er ohnehin schon war.
Es war die richtige Ansprache für Novizinnen — der schrecklichste Augenblick für eine Frau, die in die Burg kam, war nicht die Entdeckung, dass man sie nicht als vollwertige Erwachsene betrachten würde, bis sie sich die Stola verdient hatte, sondern dass sie, so lange sie das Weiß der Novizinnen trug, tatsächlich ein Kind war, das sich selbst oder andere durch Unwissenheit oder dumme Fehler verletzen konnte. Es war die richtige Anrede, doch selbst für Vandene musste dies hier eine seltsame Situation sein.
Die meisten Novizinnen kamen im Alter von fünfzehn oder sechzehn Jahren in die Burg, bis vor kurzem hatte man keine über achtzehn aufgenommen — abgesehen von einer Hand voll, die es geschafft hatten, mit einer Lüge durchzukommen. Im Gegensatz zu den Aes Sedai baute die Hierarchie der Kusinen auf dem Alter auf, und Zarya — sie hatte sich Garenia Rosoinde genannt, aber Zarya Alkaese war der Name in den Novizinnenbüchern, und sie würde unter dem Namen Zarya Alkaese ihre Strafe empfangen — mit ihrer ausgeprägten Nase und dem breiten Mund war über neunzig, auch wenn sie so aussah, als hätte sie noch nicht einmal ihre mittleren Jahre erreicht. Obwohl die Frauen die Macht seit Jahren benutzten, fehlte ihnen die Alterslosigkeit der Aes Sedai, und die hübsche Kirstian mit den schwarzen Augen sah etwas älter aus, so um die dreißig. Aber sie war über dreihundert Jahre alt; Elayne war fest davon überzeugt, dass sie älter als selbst Vandene war. Kirstian hatte die Burg schon vor so langer Zeit verlassen, dass sie sich sicher genug gefühlt hatte, ihren richtigen Namen wieder anzunehmen, oder zumindest einen Teil davon. Die beiden waren nicht mal annähernd gewöhnliche Novizinnen.
»Diese Kinder«, fuhr Vandene etwas energischer fort, während sich eine steile Falte auf ihrer Stirn zeigte, »haben noch einmal über die Ereignisse in Harlon Brücke nachgedacht.« Dort war ihre Schwester ermordet worden. Und Ispan Shefar, aber in Vandenes Augen zählte der Tod einer Schwarzen Schwester so viel wie der eines tollwütigen Hundes. »Unglücklicherweise haben sie über ihre Schlüsse nicht Stillschweigen bewahrt, sondern sind zu mir gekommen. Wenigstens haben sie es nicht herumerzählt.«
Elayne runzelte leicht die Stirn. Mittlerweile wusste jeder im Palast über die Morde Bescheid. »Ich verstehe nicht«, sagte sie langsam. Und bedächtig. Sie wollte den beiden keine Hinweise geben, falls sie nicht wirklich mühsam verborgene Geheimnisse ausgegraben hatten. »Haben sie herausgefunden, dass es statt eines Raubüberfalls Schattenfreunde waren?« Das war die Geschichte, die sie in die Welt gesetzt hatten, zwei Frauen in einem abgelegenen Haus, die wegen ihres Schmucks getötet worden waren. Nur sie, Vandene, Nynaeve und Lan kannten die Wahrheit. Oder zumindest einen Teil davon. Zumindest bis jetzt, wie es den Anschein hatte. Die Novizinnen mussten so weit gekommen sein, oder Vandene würde ihnen einen Floh ins Ohr gesetzt und sie weggeschickt haben.
»Schlimmer.« Vandene blickte sich um, dann machte sie ein paar Schritte in die Mitte der Korridorkreuzung und zwang Elayne, sich ihr anzuschließen. Von dieser Stelle aus konnten sie jeden sehen, der die Korridore entlangkam. Die Novizinnen behielten aufmerksam ihre Position nahe der Grünen bei. Wenn man ihren Eifer betrachtete, war es möglich, dass man ihnen vielleicht schon den Floh ins Ohr gesetzt hatte. Es waren viele Diener in Sicht, aber keiner näherte sich, keiner war nahe genug, um lauschen zu können. Vandene senkte trotzdem ihre Stimme. Die leisen Töne konnten ihr Missfallen nicht verbergen. »Sie sind zu dem Schluss gekommen, dass entweder Merilille, Sareitha oder Careane die Mörderin ist. Ich glaube, da haben sie wirklich hervorragende Arbeit geleistet, aber sie hätten überhaupt nicht darüber nachdenken sollen. Sie hätten sich ihren Lektionen widmen sollen, und zwar so intensiv, dass sie keine Zeit gehabt hätten, an etwas anderes zu denken.« Trotz des finsteren Blicks, den sie Kirstian und Zarya zuwarf, strahlten die beiden viel zu alten Novizinnen vor Freude. In dem bösen Blick war ein Kompliment verborgen gewesen und Vandene war sparsam mit Komplimenten.
Elayne ersparte sich die Bemerkung, dass die beiden etwas beschäftigter gewesen wären, hätte Vandene sich bereit erklärt, sich an ihrem Unterricht zu beteiligen. Elayne und Nynaeve hatten viel zu viele andere Pflichten, und seit sie für die Windsucherinnen täglichen Unterricht angesetzt hatten, hatte keiner mehr die Energie, den beiden Novizinnen viel Zeit zu widmen.
Die Atha'an Miere zu unterrichten war, als würde man durch die Mangel einer Wäscherin gedreht! Sie hatten nur wenig Respekt vor den Aes Sedai. Und noch weniger für die Ränge der »Küstengefangenen«.
»Wenigstens haben sie mit niemand anderem darüber gesprochen«, murmelte sie. Ein Segen, wenn auch nur ein kleiner.
Als sie Adeleas und Ispan gefunden hatten, war es offensichtlich gewesen, dass es sich bei dem Mörder nur um eine Aes Sedai gehandelt haben konnte. Sie waren mit Rotdorn betäubt worden, bevor man sie getötet hatte, und es war so gut wie unmöglich, dass die Windsucherinnen Krauter kannten, die nur weit vom Meer entfernt zu finden waren. Und selbst Vandene war davon überzeugt, dass sich unter den Kusinen keine Schattenfreunde verbargen. Ispan war selbst als Novizin weggelaufen und sogar bis nach Ebou Dar gekommen, aber sie war wieder eingefangen worden, bevor die Kusinen ihr enthüllen konnten, dass sie mehr waren als ein paar aus der Burg verbannte Frauen, die sich aus einer Laune heraus entschieden hatten, ihr zu helfen. Sie hatte bei der Befragung durch Vandene und Adeleas vieles enthüllt. Zwar war es ihr irgendwie gelungen, dabei nichts über die Schwarze Ajah preiszugeben außer alten, schon längst durchgeführten Plänen, aber nachdem Vandene und ihre Schwester mit ihr fertig gewesen waren, hatte sie begierig alles andere ausgeplaudert. Sie waren nicht sanft gewesen und hatten ihre Tiefen ausgelotet, doch sie hatte nicht mehr über die Kusinen gewusst als alle anderen Aes Sedai. Falls es unter den Kusinen Schattenfreunde gegeben hätte, dann hätte die Schwarze Ajah alles gewusst. So sehr sie sich es auch anders wünschten, die Mörderin war eine von drei Frauen, die sie alle lieb gewonnen hatten. Eine Schwarze Schwester in ihrer Mitte. Oder mehr als eine. Sie alle hatten sich verzweifelt bemüht, dieses Wissen geheim zu halten, zumindest so lange, bis die Mörderin entlarvt wurde. Die Nachricht würde den ganzen Palast in Panik versetzen, möglicherweise sogar die ganze Stadt. Licht, wer hatte sonst noch über die Geschehnisse in Harlon Brücke nachgedacht? Würden sie den Verstand haben, Stillschweigen zu bewahren?
»Jemand musste sie an der Hand nehmen«, sagte Vandene fest, »um sie von weiterem Unsinn abzuhalten. Sie brauchen regelmäßigen Unterricht und harte Arbeit.« Die strahlenden Gesichter der beiden hatten eine Spur von Selbstgefälligkeit angenommen, aber diese verblasste nun etwas. Sie hatten nur wenige Lektionen erhalten, aber die waren sehr hart und die Disziplin sehr streng gewesen. »Das heißt, entweder Ihr oder Nynaeve.«
Elayne schnalzte ärgerlich mit der Zunge. »Ich habe kaum einen Augenblick Zeit für mich, um in Ruhe nachzudenken. Ich muss mich schon anstrengen, gelegentlich eine Stunde für sie zu erübrigen. Nynaeve muss es tun.«
»Was muss Nynaeve tun?«, wollte Nynaeve fröhlich wissen, die sich zu ihnen gesellte. Irgendwo hatte sie sich eine lange Stola mit einem gelben Saum besorgt, die mit Blättern und hellen Blumen bestickt war, die nun aber über ihre Armbeugen hing. Trotz der Kälte trug sie ein blaues Gewand mit einem für Andor ziemlich tiefen Ausschnitt, obwohl der dicke, dunkle Zopf, der vorn über ihrer Schulter hing und sich an den Busen schmiegte, die Entblößung in Grenzen hielt. Der kleine rote Punkt in der Mitte ihrer Stirn, der Ki'sain, sah ziemlich seltsam aus. In Einklang mit den Gebräuchen der Malkieri bezeichnete ein roter Ki'sain eine verheiratete Frau, und sie hatte darauf bestanden, ihn zu tragen, sobald sie davon erfahren hatte. Sie spielte unbewusst mit dem Ende ihres Zopfes und sah... zufrieden aus, kein Gemütszustand, der für gewöhnlich mit Nynaeve al'Meara in Zusammenhang gebracht wurde.
Elayne zuckte zusammen, als sie Lan bemerkte, der ein paar Schritte von ihnen entfernt im Kreis um sie herumging und so in beiden Korridoren Wache hielt. Der finster dreinblickende Mann in dem dunkelgrünen Mantel, der so groß wie ein Aiel war und die Schultern eines Schmiedes hatte, konnte sich noch immer wie ein Geist bewegen. Selbst hier im Palast trug er ein Schwert am Gürtel. Er ließ Elayne jedes Mal erschaudern. Aus seinen kalten blauen Augen schaute der Tod. Es sei denn, er schaute Nynaeve an.
Die Zufriedenheit verschwand schnell aus Nynaeves Gesicht, als sie erfuhr, welche Aufgabe sie übernehmen sollte. Sie hörte auf, an ihrem Zopf herumzuzupfen, und umschloss ihn mit der Faust. »Jetzt hört genau zu. Elayne mag ja im Palast herumspazieren und Staatsoberhaupt spielen, aber ich habe beide Hände voll zu tun. Mehr als die Hälfte der Kusinen wäre mittlerweile verschwunden, würde Alise sie nicht am Nacken gepackt halten, und da sie nicht die geringste Aussicht hat, jemals die Stola zu erringen, kann ich nicht sagen, wie lange sie noch jemanden halten wird. Der Rest glaubt, er könnte mit mir diskutieren! Gestern hat mich Sumeko Mädchen genannt!«
Sie bleckte die Zähne, aber letztlich war das ihr eigener Fehler. Schließlich war sie es gewesen, die den Kusinen eingehämmert hatte, den Aes Sedai gegenüber etwas Rückgrat zu zeigen, statt vor ihnen zu kriechen. Nun, jetzt hatten sie aufgehört zu kriechen. Stattdessen neigten sie nun dazu, die Schwestern an ihren eigenen Regeln zu messen. Und die Schwestern schnitten dabei nicht gut ab! Es war zwar nicht Nynaeves Schuld, dass sie kaum älter als zwanzig zu sein schien — sie hatte sehr früh aufgehört zu altern —, aber für die Kusinen war das Alter sehr wichtig, und sie hatte sich dazu entschieden, den Großteil ihrer Zeit mit ihnen zu verbringen. Sie riss nicht an ihrem Zopf, sondern zog so fest daran, dass sie ihn bestimmt gleich ausriss.
»Und dieses verfluchte Meervolk! Diese erbärmlichen Frauen! Erbärmlich, erbärmlich, erbärmlich! Gäbe es diesen verdammten Vertrag nicht...! Das Letzte, was ich jetzt gebrauchen kann, sind zwei jammernde, blökende Novizinnen!« Kirstians Lippen pressten sich einen Augenblick lang zusammen, und in Zaryas dunklen Augen blitzte kurz Empörung auf, bevor es ihr wieder gelang, Demut auszustrahlen. Oder den Anschein davon. Sie hatten genug Verstand, um zu wissen, dass Novizinnen Aes Sedai nicht widersprachen.
Elayne bezwang das Verlangen, alle zu besänftigen. Am liebsten hätte sie sowohl Kirstian wie auch Zarya geohrfeigt. Erst sie hatten alles komplizierter gemacht, weil sie den Mund nicht halten konnten. Sie wollte Nynaeve ohrfeigen. Also hatten die Windsucherinnen sie endlich in die Ecke getrieben, ja? Das verdiente kein Mitgefühl. »Ich spiele überhaupt nichts, Nynaeve, und das weißt du ganz genau! Ich habe dich oft genug um Rat gefragt!« Sie holte tief Luft und versuchte sich zu beruhigen. Die Diener, die sie jenseits von Vandene und den beiden Novizinnen sehen konnte, hatten ihre Arbeit unterbrochen, um die Gruppe der Frauen anzustarren. Sie bezweifelte, dass sie Lan überhaupt richtig wahrnahmen, so eindrucksvoll er auch sein mochte. Sich streitende Aes Sedai war ein Schauspiel, das sich zu beobachten lohnte, dem man sich aber besser nicht näherte.
»Jemand muss sich um sie kümmern«, sagte sie etwas leiser. »Oder glaubst du etwa, du könntest ihnen einfach befehlen, die Sache zu vergessen? Sieh sie dir doch an, Nynaeve. Wenn man sie sich selbst überlässt, werden sie im nächsten Augenblick herauszufinden versuchen, wer es ist. Sie hätten sich nicht Vandene anvertraut, wenn sie nicht geglaubt hätten, dass sie ihre Hilfe annimmt.« Die beiden Frauen verwandelten sich in ein Abbild perfekter Novizinnenunschuld mit einer winzigen Spur Gekränktheit wegen der ungerechtfertigten Anschuldigung. Elayne glaubte es keinen Augenblick lang. Sie hatten ein ganzes Leben lang daran arbeiten können, sich zu verstellen.
»Und warum nicht?«, fragte Nynaeve nach einem Augenblick des Nachdenkens und richtete ihre Stola. »Beim Licht, Elayne, du darfst nicht vergessen, dass sie nicht das darstellen, was wir normalerweise von Novizinnen erwarten.« Elayne wollte protestieren. Was sie normalerweise erwarteten, von wegen! Nynaeve war nie Novizin gewesen, aber sie war vor gar nicht so langer Zeit eine Aufgenommene gewesen, und oft genug eine jammernde, blökende Aufgenommene! Sie öffnete den Mund, aber Nynaeve ließ sie nicht zu Wort kommen. »Ich bin sicher, Vandene kann sie gut gebrauchen«, sagte sie. »Und wenn nicht, kann sie ihnen regelmäßig Unterricht geben. Jemand hat mir mal erzählt, dass Ihr schon früher Novizinnen unterrichtet habt, Vandene. Seht Ihr. Alles erledigt.«
Die beiden Novizinnen lächelten breit, es war ein begieriges Lächeln voll freudiger Erwartung — es fehlte nur noch, dass sie sich zufrieden die Hände rieben —, aber Vandene runzelte die Stirn. »Ich kann keine Novizinnen gebrauchen, die mir im Weg sind, während ich ...«
»Ihr seid genauso blind wie Elayne«, unterbrach Nynaeve sie. »Sie haben Erfahrung darin, Aes Sedai glauben zu lassen, dass sie etwas anderes darstellen, als sie in Wirklichkeit sind. Sie können unter Eurer Anleitung arbeiten, dadurch habt Ihr Zeit, um zu essen und zu schlafen. Ich glaube nicht, dass Ihr eines davon tut.« Sie drückte die Brust raus und zog die Stola über Arme und Schultern. Es war eine bemerkenswerte Vorstellung. So klein sie auch war — sie war kaum größer als Zarya und entschieden kleiner als Vandene oder Kirstian —, schien sie die größte von ihnen allen zu sein. Es war eine Fähigkeit, die Elayne nur zu gern beherrscht hätte. Obwohl sie es niemals in einem so geschnittenen Gewand probieren würde. Nynaeve lief Gefahr, den Inhalt ihres Dekolletes herauszudrücken. Aber das tat ihrem Auftritt keinen Abbruch. Sie war die personifizierte Befehlsgewalt. »Vandene, Ihr werdet es tun«, sagte sie entschieden.
Vandenes Stirnfalte verschwand langsam, aber sie verschwand. Nynaeve war ihr in der Beherrschung der Macht überlegen und nahm einen dementsprechend höheren Rang ein, und obwohl sie niemals bewusst darüber nachgedacht hätte, sorgten die tief in ihr verwurzelten Konventionen dafür, dass sie — wenn auch unwillig — nachgab. Als sie sich den beiden Frauen in Weiß zuwandte, war ihr Gesicht fast wieder so reglos, wie es seit Adeleas Ermordung war. Was nur bedeutete, dass die Richterin im Augenblick keine Hinrichtung anordnen würde. Vielleicht später. Ihr hageres Gesicht war ganz ruhig und sehr grimmig.
»Ich habe eine Zeit lang Novizinnen unterrichtet«, räumte sie ein. »Eine kurze Zeit. Die Herrin der Novizinnen fand, ich würde meine Studentinnen zu streng behandeln.« Der Eifer der beiden Novizinnen kühlte etwas ab. »Ihr Name war Sereille Bagand.« Zaryas Gesicht wurde so bleich wie Kirstians, und Kirstian schwankte, als wäre ihr plötzlich schwindelig. Sereille war zuerst Herrin der Novizinnen und später dann Amyrlin-Sitz gewesen und sie war eine Legende. Die Art von Legende, die einen in der Nacht schweißgebadet aufwachen ließ. »Ich esse«, sagte Vandene zu Nynaeve gewandt. »Aber alles schmeckt wie Asche.« Sie gab den beiden Novizinnen mit einer knappen Geste zu verstehen, ihr zu folgen, und führte sie an Lan vorbei. Die beiden schwankten leicht, als sie ihr folgten.
»Stures Weib«, murmelte Nynaeve und sah ihnen stirnrunzelnd nach, aber in ihrer Stimme lag mehr als nur eine Spur von Mitgefühl. »Ich kenne ein Dutzend Krauter, die ihr helfen würden zu schlafen, aber sie rührt sie nicht an. Ich hätte nicht übel Lust, ihr etwas in den abendlichen Wein zu mischen.«
Eine kluge Herrscherin weiß, wann sie sprechen muss und wann nicht, dachte Elayne. Nun, darin steckte ein Körnchen Weisheit. Wenn Nynaeve jemanden als stur bezeichnete, war das in etwa so, als würde der Hahn den Fasan stolz nennen. Aber sie verkniff sich die Bemerkung. Stattdessen fragte sie: »Weißt du, welche Neuigkeit Reanne hat? So wie ich es verstanden habe, soll es eine gute Neuigkeit sein.«
»Ich habe sie heute Morgen nicht gesehen«, murmelte Nynaeve, die noch immer Vandene nachblickte. »Ich habe meine Gemächer nicht verlassen.« Sie riss sich abrupt aus ihren Gedanken und sah Elayne aus irgendeinem Grund misstrauisch an. Und dann ausgerechnet Lan. Er stand ungerührt weiter Wache.
Nynaeve behauptete, ihre Ehe sei wunderbar — sie konnte schockierend freimütig sein, wenn sie mit anderen Frauen darüber sprach —, aber Elayne glaubte, dass sie log, um ihre Enttäuschung zu verbergen. Es war ziemlich wahrscheinlich, dass Lan jederzeit für einen Angriff und zum Kampfbereit war, selbst wenn er schlief. Vermutlich war es so, als würde man neben einem hungrigen Löwen schlafen. Davon einmal abgesehen reichte das steinerne Gesicht schon aus, um jedes Ehebett zu einem kalten Ort zu machen. Glücklicherweise hatte Nynaeve keine Ahnung, was sie dachte. Die Frau lächelte doch tatsächlich. Seltsamerweise ein amüsiertes Lächeln. Amüsiert und ... War es möglich, dass es herablassend gemeint war? Natürlich nicht. Reine Einbildung.
»Ich weiß, wo Reanne steckt«, sagte Nynaeve und ließ die Stola zurück in die Armbeugen rutschen. »Komm mit. Ich bringe dich zu ihr.«
Elayne wusste genau, wo sich Reanne aufhalten würde, da sie nicht zusammen mit Nynaeve untergebracht war, aber sie hielt ihre Zunge im Zaum und ließ zu, dass Nynaeve sie führte. Eine Art Buße für den Streit von eben, als sie hätte versuchen sollen, Frieden zu stiften. Lan folgte ihnen und die kalten Augen musterten die Korridore. Die Diener, an denen sie vorbeikamen, zuckten zusammen, wenn Lans Blick auf sie fiel. Eine junge, hellhaarige Frau raffte sogar ihre Röcke und floh, sie stieß gegen einen Kandelaber und brachte ihn zum Wackeln.
Das erinnerte Elayne daran, Nynaeve von Elenia und Naean und den Spionen zu erzählen. Nynaeve nahm die Nachricht ziemlich gelassen auf. Sie stimmte Elayne zu, dass sie früh genug erfahren würden, wer die beiden Frauen abgefangen hatte, und kommentierte Sareithas Zweifel mit einem abschätzigen Schnauben. Sie brachte sogar ihre Überraschung zum Ausdruck, dass man sie nicht schon vor langer Zeit aus Aringill herausgeholt hatte. »Ich konnte nicht glauben, dass sie bei unserer Ankunft in Caemlyn noch immer da waren. Jeder Narr hätte erkannt, dass man sie früher oder später herbringen würde. Es ist viel einfacher, sie aus einer kleinen Stadt herauszuholen.« Eine kleine Stadt. Einst wäre ihr Aringill wie eine große Stadt erschienen. »Was die Spione angeht...« Sie bedachte einen dünnen, grauhaarigen Mann, der einen mit Gold verzierten Kandelaber mit Öl auffüllte, mit einem Stirnrunzeln und schüttelte dann den Kopf. »Natürlich gibt es Spione. Ich wusste, dass welche da sein mussten, gleich von Anfang an. Du musst einfach aufpassen, was du sagst, Elayne. Sag nichts zu jemandem, den du nicht gut kennst, es sei denn, es stört dich nicht, dass es dann alle erfahren.«
Wann sie sprechen muss und wann nicht, dachte Elayne wieder und schürzte die Lippen. Bei Nynaeve konnte das manchmal eine echte Strafe sein.
Nynaeve hatte ebenfalls Neuigkeiten zu berichten. Achtzehn der Kusinen, die von ihnen nach Caemlyn begleitet worden waren, hatten den Palast verlassen. Allerdings waren sie nicht weggelaufen. Da keine von ihnen stark genug war, um zum Schnellen Reisen fähig zu sein, hatte Nynaeve ihnen die Wegetore gewoben und sie ins Hinterland von Altara, Amadicia und Tarabon geschickt, den von den Seanchanern besetzten Ländern. Dort sollten sie versuchen, die Kusinen aufzuspüren, die noch nicht geflohen waren, um sie nach Caemlyn zu bringen.
Es wäre nett gewesen, hätte Nynaeve sie bei ihrem Aufbruch am Vortag darüber informiert; noch besser wäre es gewesen, sie hätte es getan, nachdem Reanne und sie die Entscheidung getroffen hatten, die Frauen loszuschicken, aber Elayne erwähnte es nicht. Stattdessen sagte sie: »Das ist sehr mutig von ihnen. Es wird nicht einfach sein, eine Gefangennahme zu vermeiden.«
»Mutig, ja«, sagte Nynaeve. Es klang gereizt. Ihre Hand griff wieder nach dem Zopf. »Aber das ist nicht der Grund, warum wir sie ausgewählt haben. Alise war der Meinung, dass sie als Erste davonlaufen würden, falls wir ihnen nichts zu tun geben.« Sie schaute über die Schulter und warf Lan einen Blick zu, dann nahm sie ruckartig die Hand runter. »Ich kann mir nicht vorstellen, wie Egwene es schaffen will«, sagte sie seufzend. »Schön und gut, dass sich jede Kusine irgendwie der Weißen Burg ›anschließen‹ soll, aber wie? Die meisten sind nicht stark genug, um die Stola zu erringen. Viele können nicht einmal den Status einer Aufgenommenen erreichen. Und sie werden mit Sicherheit nicht den Rest ihres Lebens Novizinnen oder Aufgenommene bleiben wollen.«
Diesmal entgegnete Elayne nichts, weil sie nicht wusste, was sie sagen sollte. Das Versprechen würde eingelöst werden müssen; sie selbst hatte es gegeben. In Egwenes Namen, das war richtig, aber sie hatte die Worte ausgesprochen, und sie würde ihr Wort nicht brechen. Sie wusste nur nicht, wie sie es einhalten sollte, es sei denn, Egwene würde sich einen wahrhaftig wunderbaren Plan einfallen lassen.
Reanne Corly war genau da, wo Elayne sie vermutet hatte, in einem kleinen Raum mit zwei schmalen Fenstern, die auf einen kleinen Hof in den Tiefen des Palasts hinausblickten, in dem ein Springbrunnen stand. Allerdings gab es in dem Springbrunnen zu dieser Jahreszeit kein Wasser und die gläsernen Fensterflügel ließen den Raum etwas stickig erscheinen. Der Boden bestand aus einfachen schwarzen Fliesen ohne Teppich und als Möbel gab es nur einen schmalen Tisch und zwei Stühle. Als Elayne eintrat, waren zwei Leute bei Reanne. Alise Tenjile, die ein schlichtes, hochgeschlossenes graues Gewand trug, schaute am Ende des Tisches auf. Scheinbar in ihren mittleren Jahren, war sie eine Frau mit einem angenehmen, unauffälligen Erscheinungsbild, die allerdings ziemlich bemerkenswert war, wenn man sie näher kennen lernte, und die wenn nötig sehr unangenehm werden konnte. Nach einem einzigen Blick richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf das, was sie auf dem Tisch studierte. Aes Sedai, Behüter und Tochter-Erbinnen konnten Alise nicht länger beeindrucken.
Reanne saß an der einen Seite des Tischs; ihr Gesicht war faltig und ihr Haar deutlich von Grau durchsetzt. Sie trug ein grünes Gewand, das aufwendiger als Alises war. Da sie die Prüfung zur Aufgenommenen nicht bestanden hatte, war sie aus der Weißen Burg fortgeschickt worden; nachdem man ihr nun eine zweite Chance geboten hatte, hatte sie bereits die Farben ihrer bevorzugten Ajah angenommen. Ihr gegenüber saß eine dicke Frau in einfachem braunem Tuch, deren Miene sturen Trotz ausdrückte. Ihre dunklen Augen waren fest auf Reanne gerichtet und vermieden den Blick auf das silberne Adam, das wie eine Schlange zwischen ihnen auf dem Tisch lag. Ihre Hände strichen jedoch unablässig über den Tischrand, und Reanne zeigte ein zuversichtliches Lächeln, das die feinen Fältchen um ihre Augen vertiefte.
»Sagt mir nicht, Ihr habt einer von ihnen Vernunft eingebläut«, sagte Nynaeve, noch bevor Lan hinter ihnen die Tür geschlossen hatte. Sie starrte die Frau in Braun finster an, als wollte sie ihr einen Hieb auf die Ohren versetzen oder Schlimmeres, dann sah sie Alise an. Elayne war der ehrlichen Überzeugung, dass Nynaeve einen gewissen Respekt vor Alise hatte. Die Frau war alles andere als stark im Gebrauch der Macht — sie würde die Stola niemals erringen! —, aber sie besaß die Fähigkeit, das Kommando zu übernehmen, wann immer sie wollte, und jeden in ihrer Umgebung dazu zu bringen, das zu akzeptieren. Aes Sedai eingeschlossen. Elayne glaubte, dass sogar sie selbst eine gewisse Ehrfurcht vor Alise hatte.
»Sie bestreiten noch immer, dass sie die Macht lenken können«, murmelte Alise, verschränkte die Arme unter den Brüsten und bedachte die Frau, die gegenüber von Reanne saß, mit einem finsteren Blick. »Ich schätze, sie können es wirklich nicht, aber ich fühle ... etwas. Nicht unbedingt den Funken einer Frau, die dazu geboren ist, aber etwas ist da. Es ist, als stünde sie kurz davor, die Macht ergreifen zu können, einen Fuß erhoben, um die Grenze zu überschreiten. Ich habe noch nie zuvor etwas Vergleichbares gefühlt. Nun. Zumindest versuchen sie nicht länger, uns mit den Fäusten anzugreifen. Wenigstens das haben wir ihnen ausgetrieben!« Die Frau in Braun warf ihr einen wütenden Blick zu, wich dann aber Alises ungerührter Erwiderung aus, und ihr Mund verzog sich zu einer weinerlichen Grimasse. Wenn Alise jemandem etwas austrieb, dann gründlich. Ihre Hände strichen noch immer über die Tischkante; Elayne glaubte nicht, dass sie sich dessen bewusst war.
»Sie bestreiten auch weiterhin, den Fluss der Macht sehen zu können, aber sie versuchen, sich selbst davon zu überzeugen«, sagte Reanne in ihrer hohen, melodischen Stimme. Sie erwiderte den trotzigen Blick der anderen mit einem Lächeln. Reanne besaß eine Ruhe und Ausstrahlung, um die sie jede Schwester hätte beneiden können. Sie war die Älteste des Nähkränzchens gewesen, der höchsten Autorität der Kusinen. Laut ihren Regeln gab es das Nähkränzchen nur in Ebou Dar, aber sie war von den nach Caemlyn gereisten noch immer die Älteste, etwa hundert Jahre älter als jede Aes Sedai in der bekannten Geschichte, und sie war mit ihrer ruhigen Autorität jeder Schwester ebenbürtig. »Sie behaupten, wir würden sie mit der Macht täuschen, sie glauben machen, dass das A'dam sie halten kann. Früher oder später werden ihnen keine Lügen mehr einfallen.« Sie zog das A'dam zu sich heran und öffnete mit einer energischen Bewegung den Verschluss des Halsbandes. »Wollen wir es erneut versuchen, Marli?« Die Frau in Braun — Marli — vermied es noch immer, das silbrige Metall in Reannes Händen anzusehen, aber sie versteifte sich und ihre Hände tanzten über die Tischkante.
Elayne seufzte. Was für ein Geschenk hatte ihr Rand da gemacht. Ein Geschenk! Neunundzwanzig seanchanische Sul'dam, die hübsch von Adams gefesselt wurden, und fünf Damane ~ sie hasste das Wort, es bedeutete die Gefesselten, auch wenn sie genau das waren. Fünf Damane, denen man ihre Kragen nicht abnehmen konnte, und zwar aus dem einfachen Grund, weil sie dann versuchen würden, die seanchanischen Frauen zu befreien, die sie als Sklavinnen gehalten hatten. Mit einem Bindfaden angebundene Leoparden wären ein besseres Geschenk gewesen. Wenigstens konnten Leoparden nicht die Macht lenken. Man hatte sie der Obhut der Kusinen übergeben, weil kein anderer die Zeit dafür hatte.
Doch Elayne hatte sofort gewusst, was man mit den Sul'dam machen musste. Man musste sie davon überzeugen, dass sie die Macht lenken konnten und sie dann nach Seanchan zurückschicken. Außer Nynaeve kannten nur Egwene, Aviendha und ein paar Kusinen den Plan. Nynaeve und Egwene hatten ihre Zweifel, aber welche Anstrengungen die Sul'dam nach ihrer Rückkehr auch unternehmen würden, um zu verbergen, was sie waren, irgendwann würde sich eine verraten. Falls sie nach ihrer Ankunft nicht ohnehin sofort Bericht erstatteten. Seanchaner waren seltsam; selbst die Seanchanerinnen unter den Domäne, glaubten fest daran, dass jede Frau, die Zugriff auf die Eine Macht hatte, zur Sicherheit aller anderen an die Kette gelegt werden musste. Die Seanchaner brachten den Sul'dam einen hohen Respekt entgegen, da sie die Fähigkeit besaßen, die mit einem Adam versehenen Frauen zu kontrollieren. Das Wissen, dass die Sul'dam selbst in der Lage waren, die Macht zu lenken, würde die Seanchaner bis ins Mark erschüttern, vielleicht sogar ihre Gesellschaft auseinander brechen lassen. Am Anfang hatte es so einfach ausgesehen.
»Reanne, ich habe gehört, dass Ihr gute Neuigkeiten habt«, sagte Elayne. »Wenn die Sul'dam noch immer nicht anfangen zusammenzubrechen, was ist es dann?« Alise bedachte Lan, der schweigend an der Tür Wache hielt, mit einem Stirnrunzeln. Sie missbilligte, dass er ihre Pläne erfuhr, sagte aber nichts.
»Einen Augenblick bitte«, murmelte Reanne. Eigentlich war es keine Bitte. Nynaeve hatte ihre Arbeit wirklich zu gut erledigt. »Sie muss das nicht mitbekommen.« Plötzlich hüllte sie das Schimmern Saidars ein. Sie bewegte die Finger, als sie die Macht lenkte, so als würde sie die Luftströme dirigieren, die Marli auf ihren Stuhl banden, dann schnitt sie sie ab und legte die Hände schalenförmig aneinander, als würde sie die Barriere gegen sämtliche Laute, die sie um die Frau herum webte, in die richtige Form bringen. Eigentlich benötigte man keine Gesten, um die Eine Macht zu benutzen, aber sie brauchte sie, weil sie auf diese Weise gelernt hatte, sie einzusetzen. Die Lippen der Sul'dam verzogen sich verächtlich. Die Eine Macht machte ihr keine Angst.
»Lasst Euch Zeit«, kommentierte Nynaeve giftig und stemmte die Hände in die Hüften, »Wir haben es nicht eilig.« Im Gegensatz zu Alise schüchterte Reanne sie nicht ein.
Andererseits konnte Nynaeve jedoch Reanne ebenfalls nicht mehr einschüchtern. Reanne ließ sich Zeit und überprüfte ihre Arbeit, dann nickte sie zufrieden, bevor sie aufstand. Die Kusinen hatten immer so wenig wie nötig von der Macht Gebrauch gemacht, und die Freiheit, Saidar so oft zu benutzen, wie sie wollte, bereitete ihr genauso viel Vergnügen wie Stolz, sie gut zu weben.
»Die gute Neuigkeit ist«, begann sie und glättete ihre Röcke, »dass drei Damane bereit zu sein scheinen, von ihren Kragen befreit zu werden. Vielleicht.«
Elayne hob die Brauen, sie wechselte einen überraschten Blick mit Nynaeve. Von den fünf Damane, die Taim ihnen übergeben hatte, war eine auf der Halbinsel von Toman und eine weitere in Tanchico den Seanchanern in die Hände gefallen. Die anderen kamen aus Seanchan.
»Zwei der Seanchanerinnen, Marille und Jillari, behaupten noch immer, dass sie es verdienen, an den Kragen gelegt zu werden, dass man sie an den Kragen legen muss.« Reanne vorzog vor Abscheu den Mund, aber sie hielt nur einen Moment inne. »Die Aussicht auf Freiheit schien sie wirklich zu entsetzen. Alivia hat damit aufgehört. Jetzt behauptet sie, sie hätte es nur gesagt, weil sie Angst hatte, wieder gefangen genommen zu werden. Sie sagt, sie hasst alle Sul'dam, und sie bietet ein gutes Schauspiel, knurrt sie an und verflucht sie, aber ...« Sie schüttelte zweifelnd den Kopf. »Elayne, sie erhielt den Kragen im Alter von dreizehn oder vierzehn, sie ist sich nicht sicher, und sie ist seit vierhundert Jahren eine Damane! Und davon abgesehen, ist sie... Alivia ist beträchtlich stärker als Nynaeve!«, sprudelte sie die letzten Worte hervor. Die Kusinen sprachen ganz offen über das Alter, aber sie teilten den Widerwillen der Aes Sedai, über die Stärke in der Macht zu sprechen. »Können wir es wagen, sie freizulassen? Eine seanchanische Wilde, die den ganzen Palast zerstören könnte?« Die Kusinen teilten auch die Ansicht der Aes Sedai über die Wilden. Jedenfalls die meisten von ihnen.
Schwestern, die Nynaeve kannten, hatten gelernt, in ihrer Gegenwart vorsichtig mit diesem Wort zu sein. Sie konnte ziemlich schnippisch reagieren, wenn es in einem verächtlichen Tonfall benutzt wurde. Aber jetzt starrte sie Reanne lediglich an. Vielleicht versuchte sie, die Antwort zu finden. Elayne wusste, wie ihre Antwort lauten würde, aber das hatte nichts mit der Beanspruchung des Throns oder Andor zu tun. Es war eine Entscheidung, die Aes Sedai zu treffen hatten und die hier getroffen werden musste, und das bedeutete, dass es Nynaeves Sache war.
»Wenn ihr es nicht tut«, sagte Lan leise von der Tür her, »könnt ihr sie genauso gut den Seanchanern zurückgeben.« Die finsteren Blicke der vier Frauen, denen seine tiefe Stimme wie das Dröhnen eines Beerdigungsgongs erschienen war, brachten ihn nicht im mindesten in Verlegenheit. »Ihr werdet sie im Auge behalten müssen, aber wenn ihr sie weiterhin den Kragen tragen lasst, obwohl sie frei sein will, dann seid ihr nicht besser als sie.«
»Das ist nicht Eure Entscheidung, Behüter«, sagte Alise entschieden. Er erwiderte ihren strengen Blick mit kühlem Gleichmut und sie grunzte angeekelt und warf die Hände in die Luft. »Ihr solltet mal ernsthaft mit ihm reden, wenn Ihr mit ihm allein seid, Nynaeve.«
Der Respekt, den Nynaeve vor dieser Frau empfand, musste in diesem Moment besonders ausgeprägt sein, denn ihre Wangen röteten sich. »Glaubt nicht, ich würde es nicht hin«, sagte sie leichthin. Sie würdigte Lan keines Blickes. Schließlich gestand sie sich die hier herrschende Kälte ein, zog die Stola über die Schultern und räusperte sich. »Aber er hat Recht. Wenigstens müssen wir uns wegen der beiden anderen keine Sorgen machen. Ich bin nur überrascht, dass es so lange gedauert hat, bis sie aufhörten, die dummen Seanchanerinnen zu imitieren.«
»Da bin ich mir nicht so sicher«, seufzte Reanne. »Ihr müsst wissen, dass Kara auf der Halbinsel von Tomar so etwas wie eine Weise Frau darstellte. Sie war in ihrem Dorf sehr einflussreich. Natürlich war sie eine Wilde. Man sollte eigentlich denken, dass sie die Seanchaner gehasst hat, aber das tut sie nicht, zumindest nicht alle. Sie ist der Sul'dam, die mit ihr zusammen gefangen genommen wurde, sehr zugetan, und es liegt ihr viel daran, dass wir keiner der Sul'dam etwas antun. Lemore ist erst neunzehn, eine verwöhnte Adlige, die das Pech hatte, dass sich der Funken an genau dem Tag in ihr manifestierte, als Tanchico fiel. Sie sagt, sie hasst die Seanchaner und will sie dafür büßen lassen, was sie Tanchico angetan haben, aber sie hört genauso bereitwillig auf ihren Domäne-Namen Larie wie auf ihren richtigen Namen, und sie lächelt die Sul'dam an und lässt sich von ihnen liebkosen. Ich misstraue ihnen nicht, nicht so wie Alivia, aber ich habe meine Zweifel, ob sie sich gegenüber einer Sul'dam durchsetzen könnten. Ich glaube, wenn ihnen eine Sul'dam befiehlt, ihr zur Flucht zu verhelfen, dann werden sie es auch tun, und ich fürchte, sie würden keine große Gegenwehr leisten, wenn die Sul'dam erneut versucht, ihnen den Kragen anzulegen.«
Nachdem sie geendet hatte, legte sich Schweigen über den Raum.
Nynaeve schien in sich hineinzublicken, mit sich selbst zu ringen. Sie umklammerte ihren Zopf, dann ließ sie ihn los und verschränkte die Arme unter ihrer Brust, und die Fransen der Stola schaukelten hin und her. Sie schaute jeden an, mit Ausnahme von Lan. Ihm schenkte sie keinen Blick.
Schließlich holte sie tief Luft und wappnete sich, um sich Reanne und Alise zu stellen. »Wir müssen das Adam entfernen. Wir behalten die Frauen, bis wir uns ihrer sicher sein können — und Lemore bleibt danach weiter bei uns; sie muss das Weiß tragen! Wir werden dafür sorgen, dass sie nie allein sind, vor allem nicht in Gegenwart der Sul'dam, aber das A'dam kommt runter!« Sie sprach voller Leidenschaft, als würde sie mit Widerstand rechnen, aber auf Elaynes Gesicht zeigte sich ein breites Lächeln der Zustimmung. Die Verstärkung durch drei Frauen, denen sie nicht richtig vertrauen konnten, zählte kaum als gute Neuigkeit, aber es hatte keinen anderen Ausweg gegeben.
Reanne nickte bloß zustimmend — nach einem Augenblick des Zögerns —, aber eine lächelnde Alise kam um den Tisch herum, um Nynaeve auf die Schulter zu klopfen. Und Nynaeve errötete tatsächlich. Sie versuchte es mit einem Räuspern zu überspielen und blickte die Seanchanerin in ihrem Käfig aus Saidar mit einer Grimasse an, aber ihre Bemühungen waren nicht sehr effektiv, und Lan verdarb sie sowieso.
»Tai'sharManetheren«, sagte er leise.
Nynaeve klappte der Unterkiefer herunter, dann verzogen sich ihre Lippen zu einem breiten Lächeln. In ihren Augen funkelten plötzlich Tränen, als sie mit freudigem Gesicht zu ihm herumwirbelte. Er erwiderte das Lächeln und in seinen Augen war keine Kälte zu sehen.
Elayne musste sich beherrschen, ihn nicht anzustarren. Beim Licht! Vielleicht machte er aus dem Ehebett ja doch keinen kalten Ort. Der Gedanke trieb Hitze in ihre Wangen. Sie versuchte, die beiden nicht anzusehen, und ihr Blick fiel auf Marli, die noch immer an ihren Stuhl gefesselt war. Die Seanchanerin starrte stur geradeaus, während ihr Tränen die feisten Wangen herabliefen. Stur geradeaus. Auf die miteinander verwobenen Stränge aus Macht, die alle Laute von ihr fern hielten. Es war unmöglich, dass sie noch immer abstritt, sie sehen zu können. Aber als Elayne das sagte, schüttelte Reanne den Kopf.
»Sie weinen alle, wenn man sie dazu zwingt, ein Geflecht der Macht lange Zeit anzusehen, Elayne«, sagte sie müde. Und mit einem Hauch von Traurigkeit. »Aber sobald die Stränge wieder fort sind, überzeugen sie sich selbst davon, dass wir sie getäuscht haben. Versteht Ihr, sie können nicht anders. Sonst wären sie Damane und keine Sul'dam. Nein, es wird einige Zeit dauern, die Herrin der Hunde davon zu überzeugen, dass sie selbst eine Hündin ist. Ich fürchte, ich konnte Euch doch keine guten Neuigkeiten mitteilen, oder?«
»Nicht unbedingt«, sagte Elayne. Eigentlich sogar gar keine. Nur ein weiteres Problem, das sich zu den anderen gesellte. Wie viele schlechte Neuigkeiten konnte man aufeinander stapeln, bevor einen der Stapel unter sich begrub? Sie brauchte ein paar gute Neuigkeiten, und zwar bald.