Als Elayne zusammen mit Egwene über die braun verfärbte Dorfwiese von Emondsfelde ging, erfüllten sie die Veränderungen mit Trauer. Egwene schien von ihnen verblüfft zu sein. Als sie in Tel'aran'rhiod erschienen war, baumelte ein langer Zopf auf ihrem Rücken; sie trug ausgerechnet ein einfaches Wollkleid und derbe Schuhe, deren Spitzen bei jedem Schritt unter ihren Röcken hervorschauten. Elayne vermutete, dass sie diese Art von Kleidung getragen hatte, als sie noch in den Zwei Flüssen lebte. Jetzt hing ihr dunkles Haar über die Schultern, gehalten von einer kleinen Haube aus feiner Spitze, und ihre Kleidung war so kostbar wie Elaynes. Das Oberteil aus dunklem Blau wies genau wie der Kragen und der Rocksaum und die Ärmelaufschläge silberne Stickereien auf. Silbern verzierte Samtslipper ersetzten die derben Schuhe. Elayne musste sich konzentrieren, um zu verhindern, dass sich ihr grünes Reitgewand — vielleicht auf peinliche Weise — veränderte, aber bei ihrer Freundin waren die Veränderungen zweifellos bewusst entstanden.
Sie hoffte, dass Rand Emondsfelde noch immer lieben konnte, aber es war nicht länger das Dorf, in dem er und Egwene aufgewachsen waren. Hier in der Welt der Träume gab es keine Menschen, dennoch war Emondsfelde nun offensichtlich eine richtige Stadt, sogar eine blühende Stadt, in der fast jedes dritte Haus aus Stein errichtet war. Einige waren sogar drei Stockwerke hoch und es waren mehr Dächer mit Ziegeln in allen Farben des Regenbogens gedeckt als mit Stroh. Einige Straßen waren mit glatten, genau passenden Ziegeln gepflastert, die noch neu und nicht abgetreten waren, und um die Stadt wuchs sogar eine dicke Steinmauer mit Türmen und eisenbeschlagenen Toren empor, die einer Grenzland-Stadt zur Ehre gereicht hätte. Außerhalb der Mauer gab es Säge- und Getreidemühlen, eine Eisengießerei und große Webereien sowohl für Wolle als auch für Teppiche; in ihrem Schutz reihten sich Läden von Möbeltischlern, Töpfermeistern, Näherinnen, Scherenschleifern und Gold-und Süberschmieden aneinander, von denen viele mindestens genauso gut wie die Caemlyns waren, obwohl einige der Dekore aus Arad Doman oder Tarabon zu stammen schienen.
Ehe Luft war kühl, aber nicht kalt, und es gab keinerlei Anzeichen für Schnee auf dem Boden, zumindest nicht im Augenblick. Hier stand die Sonne genau im Zenit, allerdings hoffte Elayne, dass es in der wachen Welt noch immer Nacht war. Sie wollte noch etwas echten Schlaf mitbekommen, bevor sie sich dem Morgen stellen musste. In den letzten paar Tagen war sie immer müde gewesen; es gab einfach so viel zu tun und so wenige Stunden. Sie waren hergekommen, weil es unwahrscheinlich erschien, dass sie hier von einem Spion entdeckt wurden, aber Egwene war stehen geblieben, um sich die Veränderungen des Ortes anzuschauen, in dem sie geboren worden war. Und Elayne hatte außer Rand ihre eigenen Gründe, sich Emondsfelde genau anzusehen. Das Problem — eines der Probleme — war nur, dass in der wachen Welt eine Stunde verging, während man in der Welt der Träume fünf oder zehn verbrachte, doch es konnte auch genauso gut anders herum sein. Möglicherweise war es in Caemlyn bereits Morgen.
Egwene blieb an der Einmündung zum Dorfplatz stehen und blickte zurück zu der breiten Steinbrücke, die sich über den schnell breiter werdenden Fluss spannte; er entsprang einer Quelle, die stark genug aus einem aus dem Boden hervorragenden Felsen schoss, urn einen Mann von den Füßen zu reißen. In der Mitte des Dorfplatzes erhob sich eine Marmorsäule, in die man überall Namen eingemeißelt hatte, die von zwei hohen Fahnenmasten auf Steinpodesten flankiert wurde. »Ein Schlachtendenkmal«, murmelte sie. »Wer hätte sich solch ein Ding in Emondsfelde vorstellen können? Obwohl Moraine behauptet hat, dass an dieser Stelle einst eine große Schlacht geschlagen wurde, in den Trolloc-Kriegen, als Manetheren unterging.«
»Es stand in den Geschichtsbüchern, die ich studiert habe«, sagte Elayne leise und betrachtete die leeren Fahnenmasten. Die im Augenblick leeren Masten. Sie konnte Rand hier nicht fühlen. Oh, er war noch immer genauso sehr in ihrem Kopf wie Birgitte, ein felsengleicher Knoten aus Gefühlen und körperlichen Empfindungen, der jetzt, da Rand weit weg war, sogar noch schwerer zu deuten war, doch hier im Tel'aran'rhiod vermochte sie nicht zu sagen, in welcher Richtung er sich befand. Sie vermisste dieses Wissen, so geringfügig es auch war. Sie vermisste ihn.
Banner erschienen an den Fahnenmasten und blieben gerade lange genug, um einmal müde zu flattern. Lange genug, um einen roten Adler sichtbar werden zu lassen, der über ein blaues Feld flog. Nicht einen roten Adler: der Rote Adler. Als sie diesen Ort einmal mit Nynaeve im Tel'aran'rhiod besucht hatte, hatte sie geglaubt, ihn gesehen zu haben, später dann aber entschieden, dass es ein Irrtum gewesen war. Meister Norry hatte sie aufgeklärt. Sie liebte Rand, aber falls jemand an dem Ort seiner Jugend versuchte, Manetheren aus seinem uralten Grab wiederauferstehen zu lassen, würde sie das zur Kenntnis nehmen müssen, so sehr ihn das auch schmerzen würde. Dieses Banner und dieser Name verkörperten noch immer genug Macht, um Andor zu bedrohen.
»Ich habe von Bode Cauthon und anderen Novizinnen aus der Heimat von den Veränderungen gehört«, fuhr Egwene fort und betrachtete die um den Dorfplatz stehenden Häuser stirnrunzelnd, »aber davon war keine Rede.« Die meisten der Häuser waren aus Stein. Neben dem gewaltigen Steinfondament eines viel größeren Hauses stand eine winzige Schenke, aus deren Mitte eine prächtige Eiche wuchs, aber auf der anderen Seite des Fundaments war etwas, das wie eine viel größere Schenke aussah, so gut wie fertig gestellt, und über dessen Tür hing bereits ein Schild mit der Aufschrift Die Bogenschützen. »Ich würde gerne wissen, ob mein Vater noch Bürgermeister ist. Geht es meiner Mutter gut? Meinen Schwestern?«
»Ich weiß, dass du morgen das Heer abrücken lässt«, sagte Elayne, »wenn es nicht schon Morgen ist, aber sobald du Tar Valon erreicht hast, wirst du doch sicherlich ein paar Stunden Zeit finden, um ihnen einen Besuch abzustatten.« Das Schnelle Reisen machte solche Dinge einfach. Vielleicht sollte sie selbst jemanden nach Emondsfelde schicken. Wenn sie herausgefunden hatte, wem sie eine solche Mission anvertrauen konnte. Falls sie jemanden entbehren konnte, dem sie vertraute.
Egwene schüttelte den Kopf. »Elayne, ich musste Frauen, mit denen ich aufgewachsen bin, eine Prügelstrafe verabreichen lassen, weil sie nicht glauben, dass ich der Amyrlin-Sitz bin, oder weil sie der Meinung sind, dass sie die Regeln brechen können, weil sie mich kennen.« Plötzlich lag die Stola mit den sieben farbigen Streifen auf ihren Schultern. Bis sie sie mit einer Grimasse bemerkte und verschwinden ließ. »Ich glaube nicht, dass ich mich Emondsfelde als Amyrlin stellen könnte«, sagte sie traurig. »Noch nicht.« Sie rief sich zur Ordnung und ihre Stimme nahm einen energischeren Tonfall an. »Das Rad dreht sich und alles verändert sich. Ich muss mich daran gewöhnen. Ich werde mich daran gewöhnen.« Sie hörte sich beinahe so an wie Siuan Sanche, so wie sich Siuan in Tar Valon angehört hatte, bevor sich alles veränderte. Stola oder nicht, Egwene klang wie der Amyrlin-Sitz. »Bist du sicher, dass ich dir nicht ein paar von Gareth Brynes Soldaten schicken soll? Wenigstens genug, um Caemlyn zu sichern?«
Plötzlich umgab sie funkelnder Schnee, der bis zu ihren Knien reichte. Schnee, der die Dächer mit leuchtend weißen Hauben versah. Das war nicht das erste Mal, dass so etwas geschah, und die beiden Frauen weigerten sich einfach, sich von der plötzlichen Kälte berühren zu lassen, statt sich Umhänge und wärmere Kleider vorzustellen.
»Vor dem Frühling wird keiner gegen mich ins Feld ziehen«, sagte Elayne. Heere reisten im Winter nicht, es sei denn, sie hatten den Vorteil des Schnellen Reisens auf ihrer Seite, so wie es bei Egwenes Heer der Fall war. Der Schnee verhinderte jede Bewegung, und dort, wo er schmolz, trat der Schlamm an seine Stelle. Diese Grenzländer hatten ihren Marsch nach Süden vermutlich unter der Annahme begonnen, dass es in diesem Jahr keinen Winter geben würde. »Außerdem wirst du jeden Mann brauchen, wenn du Tar Valon erreichst.«
Es war keine Überraschung, dass Egwene lediglich zustimmend nickte, ohne das Angebot zu wiederholen. Obwohl sie den ganzen vergangenen Monat große Anstrengungen in der Rekrutierung neuer Mariner unternommen hatten, verfügte Gareth Bryne noch immer nicht über mehr als die Hälfte der Soldaten, die er seiner Aussage zufolge brauchte, um Tar Valon zu erobern. Laut Egwene war er bereit, mit dem anzufangen, was er hatte, aber es bereitete ihr offensichtlich Sorgen. »Ich muss harte Entscheidungen treffen, Elayne. Das Rad webt, wie es das Rad will, aber ich bin diejenige, die entscheiden muss.«
Rasch stapfte Elayne durch den Schnee und warf die Arme um Egwene, um sie zu umarmen. Das heißt, am Anfang stapfte sie. Als sie die andere Frau an sich zog, verschwand der Schnee, ohne auch nur eine feuchte Stelle auf ihren Kleidern zu hinterlassen. Die beiden stolperten, als würden sie miteinander tanzen, und wären beinahe gefallen.
»Du wirst die richtigen Entscheidungen treffen«, sagte Elayne und lachte, obwohl ihr nicht dazu zumute war. Egwene fiel nicht in ihr Lachen ein.
»Ich hoffe es«, sagte sie ernst, »denn was auch immer ich entscheide, Menschen werden deswegen sterben.« Sie tätschelte Elaynes Arm. »Nun, du verstehst diese Art von Entscheidungen, nicht wahr? Wir beide müssen zurück in unsere Betten.« Sie zögerte, bevor sie weitersprach. »Elayne, wenn dich Rand wieder besucht, dann musst du mich wissen lassen, was er gesagt hat, ob er dir einen Hinweis gibt, was er vorhat oder wo er hinwill.«
»Ich werde dir sagen, was ich weiß, Egwene.« Elayne verspürte einen Stich der Schuld. Sie hatte Egwene alles erzählt, oder zumindest fast alles, aber sie hatte ihr verschwiegen, dass sie Rand mit Min und Aviendha verbunden hatte. Das Burggesetz verbot nicht, was sie getan hatten. Das hatte die gründliche Befragung Vandenes ergeben. Ob man es aber gestatten würde, war keineswegs sicher. Doch ein von Birgitte rekrutierter Söldner aus Arafel hatte gesagt: »Was nicht verboten ist, ist erlaubt.« Das klang fast so wie eines von Linis alten Sprichwörtern, obwohl sie bezweifelte, dass ihre alte Amme jemals so nachsichtig sein würde. »Du beunruhigst ihn, Egwene. Ich meine, mehr als sonst. Ich weiß es. Warum?«
»Dafür habe ich meine Gründe, Elayne. Die Augen-und-Ohren berichten sehr besorgniserregende Gerüchte. Ich hoffe, es sind nur Gerüchte, aber wenn sie es nicht sind...« Jetzt war sie wirklich der Amyrlin-Sitz, eine kleine schlanke junge Frau, die so stark wie Stahl und so gewaltig wie ein Berg erschien. In ihren dunklen Augen lag Entschlossenheit. »Ich weiß, dass du ihn liebst. Ich liebe ihn auch. Aber ich versuche nicht, die Weiße Burg zu Heilen, nur damit er die Aes Sedai wie Domäne an die Leine legen kann. Schlaf gut und träume etwas Schönes, Elayne. Schöne Träume sind viel wertvoller, als die Menschen wissen.« Und sie war verschwunden, zurückgekehrt in die wache Welt.
Einen Augenblick lang stand Elayne da und starrte auf die Stelle, wo Egwene gestanden hatte. Wovon hatte sie gesprochen? Rand würde das niemals tun! Und nur wenn er es aus Liebe zu ihr tat, er würde es nicht tun! Sie stieß den steinharten Knoten im hinteren Teil ihres Bewusstseins an. Da er so weit weg war, leuchteten die goldenen Adern nur in der Erinnerung. Er würde das sicher nicht tun. Voller Sorge kehrte sie aus dem Traum zurück in ihren schlafenden Körper.
Sie brauchte Schlaf, aber sie war noch nicht richtig in ihrem Körper, als auch schon Sonnenlicht auf ihre Lider fiel. Welche Stunde war es? Sie hatte Termine wahrzunehmen, Pflichten zu erfüllen. Sie wollte einen Monat lang schlafen. Sie rang mit der Pflicht, aber die Pflicht siegte. Vor ihr lag ein arbeitsreicher Tag. Jeder Tag war ein arbeitsreicher Tag. Sie öffnete die Augen; sie fühlten sich an, so als hätte sie überhaupt nicht geschlafen. Dem Winkel des durch das Fenster einfallenden Lichts nach zu urteilen, war Sonnenaufgang schon lange vorbei. Sie hätte einfach hier liegen bleiben können. Pflicht. Aviendha bewegte sich im Schlaf und Elayne stieß sie fest in die Rippen. Wenn sie schon wach sein musste, dann sollte Aviendha auch nicht herumtrödeln dürfen.
Aviendha erwachte mit einem Ruck und reckte sich nach dem Messer, das auf dem kleinen Tisch neben dem Bett lag. Bevor ihre Hand den dunklen Horngriff berührte, ließ sie sie zurückfallen. »Etwas hat mich geweckt«, murmelte sie. »Ich dachte, eine Shaido würde ... sieh dir die Sonne an! Warum hast du mich so lange schlafen lassen?«, wollte sie wissen und kroch auf allen vieren aus dem Bett. »Nur weil ich bei dir bleiben darf« — die Worte kamen einen Augenblick lang gedämpft, als sie sich das vom Schlaf zerknitterte Unterhemd über den Kopf streifte — »heißt das nicht, dass Monaelle mich nicht mit der Rute schlägt, wenn sie mich für faul hält. Willst du den ganzen Tag liegen bleiben?«
Stöhnend kroch Elayne aus dem Bett. Essande wartete bereits an der Tür zum Ankleidezimmer; sie weckte Elayne nie, es sei denn, Elayne dachte daran, es zu befehlen. Elayne ergab sich der beinahe stummen Hilfe der weißhaarigen Frau, während sich Aviendha allein anzog, aber ihre Schwester machte Essandes Stille wieder wett, indem sie lachend Kommentare abgab. So dass sie sich wieder wie ein Baby fühlen musste, da sie doch ein anderer anzog, oder dass sie möglicherweise vergaß, wie man sich allein anzog und jemanden brauchte, um sie anzukleiden. Sie hatte das so ziemlich jeden Morgen getan, seit sie angefangen hatte, dasselbe Bett zu teilen. Aviendha fand das alles sehr witzig. Elayne sagte kein Wort, sie antwortete nur auf die Vorschläge der Ankleidefrau bezüglich ihrer Kleidung, bis der letzte Perlmuttknopf zugeknöpft war und sie sich in Spiegel betrachtete.
»Essande«, sagte sie dann beiläufig, »sind Aviendhas Kleider bereit?« Das Gewand aus blauem Tuch mit den silbernen Stickereien würde für das ausreichen, was sie heute zu erledigen hatte.
Essandes Miene hellte sich auf. »Lady Aviendhas hübsche Seide und Spitze, meine Lady? O ja. Alles ausgebürstet und gewaschen und gebügelt und weggeräumt.« Sie zeigte auf die Garderoben, die die eine Wand säumten.
Elayne lächelte ihre Schwester über die Schulter an. Aviendha starrte die Garderoben an, als enthielten sie giftige Vipern, schluckte dann und beeilte sich, das dunkle zusammengefaltete Tuch um den Kopf zu binden.
Als Elayne Essande entlassen hatte, sagte sie: »Nur für den Fall, dass du sie brauchst.«
»Gut«, murmelte Aviendha und legte ihre silberne Halskette um. »Keine Witze mehr über die Frau, die dich anzieht.«
»Gut. Oder ich befehle ihr, dich anzuziehen. Das wäre bestimmt amüsant.«
Aviendha murmelte etwas beinahe Unverständliches über Leute, die keinen Humor hatten; sie war offensichtlich anderer Meinung. Elayne rechnete halb damit, dass sie verlangte, alle für sie besorgten Gewänder wegzugeben. Eigentlich überraschte sie es, dass sie es nicht schon längst getan hatte.
Das für Aviendha im Wohnzimmer bereitgestellte Frühstück bestand aus gepökeltem Schinken mit Rosinen, mit getrockneten Pflaumen gekochte Eier, gedörrtem Fisch mit Piniennüssen, frischem Brot mit Butter und Tee mit so viel Honig, dass er so dick wie Sirup war. Nun, das war etwas übertrieben, aber so hatte es den Anschein. Elayne nahm keine Butter auf ihr Brot, nur ganz wenig Honig im Tee und statt dem Rest heißen Haferbrei mit Krautern, die angeblich besonders gesund sein sollten. Sie fühlte sich nicht, als wäre sie schwanger, ganz egal was Min Aviendha gesagt hatte, aber sie hatte es auch Birgitte erzählt, sobald sie mit ihrem Trinkgelage angefangen hatten. Dank der Bemühungen ihrer Behüterin, Dyelins und Reene Harfors sah sie sich nun mit einer Kost konfrontiert, die »für eine Frau in ihrem Zustand« angemessen war. Wenn sie sich aus der Küche etwas Süßes kommen ließ, kam das aus unerfindlichen Gründen nie bei ihr an, und wenn sie sich selbst dort hinunterschlich, schenkten die Köche ihr solch missbilligende Blicke, dass sie sich unverrichteter Dinge wieder davonstahl.
Eigentlich trauerte sie dem gewürzten Wein und den Süßigkeiten und den anderen Dingen, die ihr nun verboten waren, gar nicht nach — zumindest nicht sehr, ausgenommen in jenen Augenblicken, in denen Aviendha sich einen Pudding oder ein Stück Kuchen reinschaufelte. Aber jeder im Palast wusste, dass sie schwanger war. Und das bedeutete natürlich, dass sie auch wussten, wie sie in diesen Zustand gekommen war, wenn nicht durch wen.
Die Männer waren nicht so schlimm, wenn man davon absah, dass sie es wussten, und sie ivusste, dass sie es wussten, aber die Frauen machten sich nicht die Mühe, es zu verbergen. Ob sie es akzeptierten oder verurteilten, die eine Hälfte sah sie an, als wäre sie ein leichtes Mädchen, während die andere Hälfte es nachdenklich tat. Sie zwang sich, den Haferbrei herunterzuschlucken — eigentlich war er gar nicht so übel, aber sie hätte wirklich gern etwas von dem Schinken gehabt, den Aviendha aufschnitt, oder von den Eiern mit Pflaumen —, löffelte Haferbrei in den Mund und freute sich fast schon auf die morgendliche Übelkeit, damit sie ihren aufgewühlten Magen mit Birgitte teilen konnte.
Der erste Besucher, der an diesem Morgen ihre Gemächer besuchte, war unter den Frauen des Palasts der aussichtsreichste Kandidat für die Vaterschaft ihres gerade empfangenen Kindes.
»Meine Königin«, sagte Hauptmann Mellar und zog den mit einer Feder geschmückten Hut schwungvoll vom Kopf und verbeugte sich anmutig. »Der Erste Schreiber erwartet das Vergnügen der Gesellschaft Eurer Majestät.« Die dunklen Augen des Hauptmanns, die nie zu blinzeln schienen, verkündeten, dass er niemals Träume von den Männern haben würde, die er tötete, und die mit Spitze gesäumte Schärpe quer über seiner Brust und die Spitze an Kragen und Ärmeln ließ ihn nur noch härter aussehen. Aviendha wischte sich mit der Serviette Fett vom Kinn und betrachtete ihn ausdruckslos. Die beiden Gardistinnen zu beiden Seiten der Tür verzogen kaum merklich das Gesicht. Mellar hatte bereits den Ruf, Gardistinnen in den Hintern zu kneifen, zumindest die hübscheren unter ihnen, ganz zu schweigen davon, dass er sich in den Schenken der Stadt über ihre Fähigkeiten verächtlich machte. In den Augen der Gardistinnen war Letzteres viel schlimmer.
»Ich bin noch nicht die Königin, Hauptmann«, sagte Elayne kurz angebunden. Sie versuchte, sich bei dem Mann immer so kurz wie möglich zu fassen. »Wie geht es mit der Rekrutierung meiner Leibwache voran?«
»Bis jetzt sind es nur zweiunddreißig, meine Lady.« Den Hut noch immer in den Händen, legte der scharf gesichtige Mann beide Hände auf den Schwertgriff; seine lässige Haltung war kaum passend in der Gegenwart der Frau, die er seine Königin genannt hatte. Genauso wenig wie sein Grinsen. »Lady Birgitte hat strenge Anforderungen. Nicht viele Frauen erfüllen sie. Gebt mir zehn Tage und ich finde hundert Männer, die besser sind und Euch genauso in ihren Herzen bewahren, wie ich das tue.«
»Ich glaube nicht, Hauptmann Mellar.« Es kostete sie Mühe, nicht kühl zu klingen. Er musste die Gerüchte gehört haben, die über sie und ihn im Umlauf waren. Konnte er glauben, dass sie, nur weil sie sie nicht bestritten hatte, ihn tatsächlich attraktiv fand? Sie schob die zur Hälfte geleerte Schüssel mit Haferbrei von sich und unterdrückte einen Schauder. Zweiunddreißig, bis jetzt? Die Zahlen wuchsen schnell. Einige der Jäger des Horns, die einen Rang verlangt hatten, waren zu dem Schluss gekommen, dass der Dienst in Elaynes Leibwache einen gewissen Reiz hatte. Sie sah ein, dass die Frauen nicht Tag und Nacht Dienst schieben konnten, aber ganz egal, was Birgitte sagte, das Ziel von einhundert erschien übertrieben. Doch schon die Andeutung, dass auch weniger reichten, ließ die Frau stur reagieren. »Bitte sagt dem Ersten Sekretär, ich lasse bitten«, sagte sie. Er schenkte ihr eine weitere schwungvolle Verbeugung.
Sie stand auf, um ihm zu folgen, und als er einen der mit einem geschnitzten Löwen verzierten Türflügel öffnete, legte sie ihm die Hand auf den Arm und lächelte. »Nochmals danke, dass Ihr mir das Leben gerettet habt, Hauptmann«, sagte sie, und diesmal lag genug Wärme in ihrer Stimme.
Der Bursche grinste sie doch tatsächlich unverschämt an! Die Gardistinnen starrten reglos geradeaus, sowohl jene, die sie draußen im Korridor sehen konnte, bevor sich die Tür hinter ihm schloss, als auch die, die drinnen stationiert waren, und als sich Elayne umdrehte, starrte Aviendha sie mit fast dem gleichen ausdruckslosen Blick an, den sie für Mellar übrig gehabt hatte. Es lag ein gewisses Gefühl darin: reines Erstaunen. Elayne seufzte.
Sie ging über den Teppich, beugte sich herunter und legte den Arm um ihre Schwester, dann sprach sie so leise, dass nur sie es hören konnte. Sie vertraute den Frauen ihrer Leibwache Dinge an, die sie sonst nur wenigen mitteilte, aber es gab einige Angelegenheiten, die sie ihnen nicht zu sagen wagte. »Ich sah eine vorbeigehende Dienerin, Aviendha. Dienerinnen klatschen noch mehr als Männer. Je mehr glauben, dass es Doilin Meilars Kind ist, desto ungefährdeter wird es sein. Falls nötig lasse ich mir von dem Mann sogar in den Hintern kneifen.«
»Ich verstehe«, sagte Aviendha langsam und betrachtete ihren Teller so aufmerksam, als würde sie etwas anderes als die Eier und Pflaumen sehen, die sie nun mit dem Löffel hin und her schob.
Meister Norry präsentierte seine gewöhnliche Mischung aus alltäglichem Palastbetrieb und Stadtleben, Einzelheiten aus seiner Korrespondenz mit ausländischen Hauptstädten und den Informationen von Kaufleuten und Bankiers und anderen Leuten, die außerhalb der Grenzen zu tun hatten, aber seine erste Neuigkeit war bei weitem die für Elayne wichtigste, wenn nicht sogar die interessanteste.
»Die beiden wichtigsten Bankiers der Stadt sind ... zugänglich geworden, meine Lady«, sagte er mit seiner staubtrockenen Stimme. Die Ledermappe an die Brust gedrückt, warf er Aviendha einen Seitenblick zu. Er hatte sich noch immer nicht an ihre Gegenwart bei seinen Berichten gewöhnt. Oder an die Leibwächterinnen. Aviendha fletschte die Zähne und er blinzelte und hustete dann in seine knochige Hand. »Meister Hoffley und Frau Andscale waren zuerst etwas ... zögerlich, aber sie kennen den Markt für Alaun genauso gut wie ich. Man kann zwar noch nicht mit Sicherheit sagen, dass ihre Schatzkammern nun die Euren sind, aber ich habe in die Wege geleitet, dass zwanzigtausend Goldkronen in die Schatzkammer des Palasts gebracht werden, und wenn nötig gibt es noch mehr.«
»Informiert die Lady Birgitte«, sagte Elayne und verbarg ihre Erleichterung. Birgitte hatte noch nicht genug Gardesoldaten in Dienst gestellt, um eine Stadt von der Größe Caemlyns verteidigen, geschweige denn etwas anderes tun zu können, aber vor dem Frühling waren keine Einkünfte von ihren Gütern zu erwarten, und die Söldner waren teuer. Jetzt würde sie die Männer nicht wegen mangelndem Gold verlieren, bevor Birgitte die nötigen Männer für ihren Ersatz rekrutieren konnte. »Weiter, Meister Norry.«
»Ich fürchte, den Abwasserkanälen muss eine hohe Priorität eingeräumt werden, meine Lady. Die Ratten vermehren sich in ihnen, als wäre es schon Frühling, und ...«
Er warf alles zusammen, so wie er es für wichtig hielt. Norry schien es als persönliche Niederlage aufzufassen, dass er immer noch nicht in Erfahrung gebracht hatte, wer Elenia und Naean befreit hatte, dabei war seit ihrer Rettung nicht mal eine ganze Woche verstrichen. Der Getreidepreis stieg in exorbitante Höhen, genau wie bei allen Lebensmitteln, und es war bereits abzusehen, dass die Reparaturen des Palastdaches länger dauern und teurer sein würden, als die Steinmetze veranschlagt hatten, aber Lebensmittel wurden immer teurer, während der Winter seinen Verlauf nahm, und Steinmetze kosteten immer mehr, als sie veranschlagt hatten. Norry räumte ein, dass die letzten Briefe aus Neu-Braem mehrere Tage alt waren, aber die Grenzländer waren anscheinend damit zufrieden, dort zu bleiben, wo sie waren, was er nicht verstehen konnte. Jedes Heer, vor allem eines, das angeblich so groß war, hätte das Umland mittlerweile völlig leerplündern müssen. Elayne verstand es auch nicht, aber sie war zufrieden, dass es so war. Gerüchte aus Cairhien, dass Aes Sedai Rand den Lehnseid schworen, gaben Egwenes Sorgen wenigstens einen Grund, obwohl es sehr unwahrscheinlich erschien, dass eine Schwester tatsächlich so etwas tat. Norrys Einschätzung zufolge war das die uninteressanteste Neuigkeit, aber Elayne sah das anders. Rand konnte es sich nicht leisten, sich die Schwestern um Egwene abspenstig zu machen. Er konnte es sich nicht leisten, sich überhaupt eine Aes Sedai abspenstig zu machen. Aber er schien immer wieder Möglichkeiten zu finden, es zu tun.
Kurz nach Halwin Norry kam Reene Harfor herein, nickte den Gardistinnen an der Tür zu und schenkte Aviendha ein offenes Lächeln. Falls die pummelige grauhaarige Frau je missbilligt hatte, dass Elayne Aviendha eine Schwester nannte, hatte sie es sich nie anmerken lassen, und mittlerweile schien sie es ehrlich zu begrüßen. Aber auch wenn sie lächelte, war ihr Bericht viel ernster als alles, was der Erste Sekretär zu berichten gehabt hatte.
»Jon Skellit wird von Haus Arawn bezahlt, meine Lady«, sagte Reene, und ihr rundes Gesicht war streng genug, um einem Henker gehören zu können. »Er ist jetzt zweimal dabei gesehen worden, wie er von Männern Geldbörsen angenommen hat, von denen man weiß, dass sie Arawn unterstützen. Und es besteht kein Zweifel, dass Ester Norham in jemandes Diensten steht. Sie stiehlt nicht, aber sie hat über fünfzig Goldkronen unter einer losen Bodendiele versteckt, und gestern Abend hat sie zehn Kronen hinzugefügt.«
»Verfahrt mit ihnen wie mit den anderen«, sagte Elayne traurig. Bis jetzt hatte die Haushofmeisterin neun Spione enttarnt, bei denen sie sich sicher war, und vier davon wurden von Leuten beschäftigt, deren Identität sie noch nicht hatte aufdecken können. Dass Reene überhaupt welche gefunden hatte, reichte schon aus, um Elayne zu ärgern, aber bei dem Barbier und der Friseurin war das etwas anderes. Beide hatten schon in den Diensten ihrer Mutter gestanden. Eine Schande, dass sie es nicht für angebracht gehalten hatten, ihre Loyalität auf Morgases Tochter zu übertragen.
Aviendha verzog das Gesicht, als Frau Harfoor murmelte, sie würde sich darum kümmern, aber es war sinnlos, die Spione zu entlassen oder sie zu töten, wie es die Aiel vorgeschlagen hatte. Sie würden bloß von Spionen ersetzt, die sie nicht kannte. Ein Spion ist das Werkzeug deines Feindes, bis du seine Identität kennst, hatte ihre Mutter gesagt, aber dann ist er dein Werkzeug. Und Thom hatte gesagt: Entdeckst du einen Spion, dann wickle ihn ein und füttere ihn mit einem Löffel. Man würde den Männern und Frauen, die sie verraten hatten, »erlauben«, das zu entdecken, was sie für angebracht hielt, und nicht alles würde der Wahrheit entsprechen, so wie die Zahl der Leute, die Birgitte rekrutiert hatte.
»Und die andere Angelegenheit, Frau Harfor?«
»Noch nichts, meine Lady, aber ich bin sehr zuversichtlich«, sagte Reene noch grimmiger als zuvor. »Ich bin sehr zuversichtlich.«
Nach der Haushofmeisterin kamen zwei Kaufmannsdelegationen, zuerst eine große Gruppe Kandori mit edelsteinbesetzten Ohrringen und silbernen Gildenketten über der Brust und im Anschluss ein halbes Dutzend Illianer, deren schlichte Mäntel und Gewänder nur einen Hauch von Stickereien aufwiesen. Sie benutzte einen der kleinen Audienzräume. Die Wandteppiche, die den Marmorkamin flankierten, zeigten Jagdszenen und nicht den Weißen Löwen, und die polierten hölzernen Wandvertäfelungen waren nicht mit Schnitzwerk verziert. Es handelte sich um Kaufleute, nicht um Diplomaten, obwohl sich einige von ihnen anscheinend herabgesetzt fühlten, weil sie ihnen nur Wein anbot und nicht mit ihnen trank. Sowohl Kandori wie auch Illianer betrachteten die beiden Gardesoldatinnen misstrauisch, die ihr in den Raum gefolgt waren und sich an der Tür postiert hatten, obwohl sie mittlerweile von dem Anschlag auf ihr Leben gehört haben mussten. Sechs weitere Leibwächterinnen warteten draußen vor der Tür.
Die Kandori musterten Aviendha verstohlen, wenn sie Elayne nicht aufmerksam zuhörten, und die Illianer vermieden nach dem ersten überraschten Blick jeden Augenkontakt mit ihr. Zweifellos maßen sie der Anwesenheit einer Aiel Bedeutung zu, selbst wenn sie nur in einer Ecke auf dem Boden saß und schwieg, aber sowohl Kandori wie auch Illianer wollten das Gleiche, nämlich die Versicherung, dass Elayne den Wiedergeborenen Drachen auf keinen Fall verärgerte, damit er nicht seine Heere und Aiel losschickte, um Andor zu verwüsten, was den Handel empfindlich stören würde; natürlich sagten sie es nicht geradeheraus. So wie sie auch nicht erwähnten, dass sowohl die Aiel wie auch die Legion des Drachen nicht weit von Caemlyn entfernt große Heerlager unterhielten. Die höflichen Fragen nach ihren weiteren Plänen, nachdem sie nun das Drachenbanner und die Banner des Lichts aus Caemlyn entfernt hatte, reichten aus. Sie sagte ihnen, was sie allen sagte, dass Andor sich mit dem Wiedergeborenen Drachen verbünden würde, aber nicht seine Unterwerfung darstellte. Im Gegenzug wünschten sie ihr alles Gute und deuteten an, dass sie ihren Anspruch auf den Löwenthron von ganzem Herzen unterstützten, ohne das jedoch mit deutlichen Worten zu sagen. Schließlich wollten sie im Falle ihres Scheiterns von demjenigen, der die Krone eroberte, weiterhin in Andor willkommen geheißen werden.
Nachdem die Illianer ihre Verbeugungen und Hofknickse gemacht und gegangen waren, schloss Elayne einen Augenblick lang die Augen und massierte sich die Schläfen. Vor dem Mittagessen stand noch ein Treffen mit einer Delegation der Glasmacher auf der Tagesordnung, danach fünf weitere mit Kaufleuten und Handwerkern; es war ein geschäftiger Tag, voller glattzüngiger Plattitüden und Doppeldeutigkeiten. Und da Nynaeve und Merilille weg waren, war sie am Abend mit dem Unterricht für die Windsucherinnen dran, eine bestenfalls weniger angenehme Erfahrung als die schlimmste Audienz mit Kaufleuten. Was ihr nur wenig Zeit lassen würde, um das Ter 'angreal zu studieren, das sie aus Ebou Dar mitgebracht hatten, bevor sie dann so müde war, dass sie nicht länger die Augen offen halten konnte. Es war peinlich, wenn Aviendha sie halb zum Bett tragen musste, aber sie konnte nicht kürzer treten. Es gab zu viel zu tun und der Tag hatte nicht genug Stunden.
Bis zur Ankunft der Glasmacher war fast noch eine Stunde Zeit, aber Aviendha hatte für ihren Vorschlag, jetzt einen Blick auf die Gegenstände aus Ebou Dar zu werfen, nicht mal ein Lächeln übrig.
»Hat Birgitte mit dir gesprochen?«, wollte Elayne wissen, während ihre Schwester sie eine schmale Treppe beinahe hinaufzerrte. Vier Gardistinnen gingen voraus und die anderen folgten ihnen, und sie alle ignorierten beflissen ihre Unterhaltung mit Aviendha. Obwohl sie den Eindruck hatte, dass Rasoria Domanche, eine stämmige Jägerin des Horns mit blauen Augen und blonden Haaren, wie man es gelegentlich unter Tairenern fand, leicht schmunzelte.
»Brauche ich sie, um zu wissen, dass du zu viele Stunden im Palast verbringst und zu wenig schläfst?«, erwiderte Aviendha verächtlich. »Du brauchst frische Luft.«
Die Luft in dem hohen Säulengang war mit Sicherheit frisch. Und kühl, obwohl die Sonne hoch am grauen Himmel stand. Ein kalter Wind wehte um die glatten Säulen, so dass die Gardistinnen, die bereit standen, sie vor den Tauben zu beschützen, ihre befiederten Hüte festhalten mussten. Elayne weigerte sich störrisch, die kühle Brise zu ignorieren.
»Dyelin hat mit dir geredet«, murmelte sie zitternd. Dyelin behauptete, eine Schwangere würde jeden Tag lange Spaziergänge brauchen. Sie hatte es eilig gehabt, Elayne daran zu erinnern, dass sie, ob nun Tochter-Erbin oder nicht, zurzeit eigentlich nur die Hohe Herrin von Haus Trakand war, und falls die Hohe Herrin von Trakand mit der Hohen Herrin von Taravin sprechen wollte, dann entweder nur, wenn sie die Palastkorridore erklomm, oder gar nicht.
»Monaelle hat sieben Kinder geboren«, erwiderte Aviendha. »Sie sagt, ich muss dafür sorgen, dass du an die frische Luft kommst.« Obwohl sie nur ihr Schultertuch hochgezogen hatte, gab es keinerlei Anzeichen, dass sie den Wind fühlte. Aber Aiel waren so gut wie die Schwestern darin, die Elemente zu ignorieren. Elayne verschränkte die Arme und schaute finster drein.
»Hör auf zu schmollen, Schwester«, sagte Aviendha. Sie zeigte nach unten auf einen der Stallhöfe, der hinter den weißen Ziegeldächern noch gerade eben zu sehen war. »Schau, Reanne Corly sieht bereits nach, ob Merilille Ceandevin zurückkehrt.« Der vertraute waagerechte Strich aus Licht erschien auf dem Stallhof und rotierte zu einer zehn Fuß breiten und hohen Öffnung in der Luft.
Elayne sah mürrisch auf Reannes Kopf hinunter. Sie schmollte nicht. Vielleicht hätte sie Reanne das Schnelle Reisen nicht beibringen sollen, da die Kusine noch keine Aes Sedai war. Aber keine der anderen Schwestern war stark genug, um das Muster weben zu können, und wenn es die Windsucherinnen lernen durften, dann hatten ihrer Meinung nach die paar Kusinen, die dazu in der Lage waren, das gleiche Recht dazu. Davon abgesehen konnte sie nicht alles allein machen. Licht, war der Winter so kalt gewesen, bevor sie gelernt hatte, sich weder von Hitze noch von Kälte berühren zu lassen?
Zu ihrer Überraschung ritt Merilille durch das Wegetor und schüttelte Schnee von ihrem mit dunklem Pelz gesäumten Umhang, gefolgt von den Gardesoldaten, die man vor sieben Tagen zusammen mit ihr losgeschickt hatte. Zaida und die Windsucherinnen hatten ihr Verschwinden sehr unwirsch aufgenommen, um es höflich auszudrücken, aber die Graue hatte sich förmlich auf die Gelegenheit gestürzt, ihnen für kurze Zeit zu entkommen. Es war nötig gewesen, jeden Tag nach ihr Ausschau zu halten und ein Tor an derselben Stelle zu öffnen, doch Elayne hatte sie bestenfalls in einer Woche zurückerwartet. Als der letzte der zehn Soldaten mit den roten Umhängen den Hof betrat, stieg die schlanke Graue Schwester aus dem Sattel, gab ihre Zügel einem Stallmädchen und eilte mit einer solchen Hast in den Palast, dass das Mädchen ihr kaum den Weg frei machen konnte.
»Ich genieße die frische Luft«, sagte Elayne, die nur mühsam ein Zähneklappern unterdrücken konnte, »aber wenn Merilille zurück ist, muss ich nach unten.« Aviendha zog die Brauen zusammen, als würde sie vermuten, dass die Ablenkung nicht zufällig geschah, aber sie war die Erste, die in Richtung Treppe ging. Merililles Rückkehr war wichtig und ihrer Eile nach zu urteilen brachte sie entweder sehr gute oder schlimme Neuigkeiten.
Als Elayne und ihre Schwester das Wohnzimmer betraten — natürlich gefolgt von zwei Gardistinnen, die zu beiden Seiten der Tür Aufstellung nahmen —, erwartete Merilille sie bereits. Ihr feuchter Umhang lag über einer Stuhllehne, die hellgrauen Reithandschuhe steckten hinter ihrem Gürtel, und ihr schwarzes Haar hätte eine Bürste gebrauchen können. Mit den purpurfarbenen Halbmonden unter den Augen sah Merililles blasses Gesicht so müde aus, wie Elayne sich fühlte.
So schnell sie vom Stallhof hinaufgekommen war, war sie dennoch nicht allein. Birgitte stand stirnrunzelnd da, eine Hand auf den verzierten Kaminsirns gelegt. Mit der anderen hielt sie ihren langen goldenen Zopf; dabei sah sie fast wie Nynaeve aus. Heute trug sie ausladende dunkelgrüne Hosen und ihren kurzen roten Mantel, eine Kombination, die die Augen schmerzen ließ. Und Hauptmann Mellar verbeugte sich artig vor Elayne und wedelte mit dem mit einer weißen Feder geschmückten Hut herum. Er hatte hier nichts zu suchen, aber sie ließ ihn bleiben und schenkte ihm sogar ein Lächeln. Ein herzliches Lächeln.
Die pummelige junge Dienerin, die gerade ein großes Silbertablett auf einer Anrichte abgestellt hatte, blinzelte und starrte Mellar mit großen Augen an, bevor sie sich daran erinnerte, vor dem Gehen einen Hofknicks zu machen. Elayne behielt das Lächeln bei, bis sich die Tür geschlossen hatte. Was auch immer ihr Baby beschützte, sie war bereit, es zu tun. Auf dem Tablett standen heißer gewürzter Wein für alle und dünner Tee für sie. Nun, wenigstens war er heiß.
»Ich hatte ziemliches Glück«, sagte Merilille seufzend, als sie saß, und warf Mellar über den Weinpokal einen argwöhnischen Blick zu. Sie kannte die Geschichte, wie er Elaynes Leben gerettet hatte, aber sie war aufgebrochen, bevor die Gerüchte begannen. »Wie sich herausstellte, hatte Reanne ihr Wegetor keine fünf Meilen von den Grenzländern entfernt geöffnet. Sie sind seit ihrer Ankunft nicht weitergezogen.« Sie rümpfte die Nase. »Bei jedem anderen Wetter wäre der Gestank der Latrinen und des Pferdedungs überwältigend gewesen. Ihr hattet Recht, Elayne. Alle vier Herrscher sind da, in vier ein paar Meilen voneinander entfernt liegenden Lagern. In jedem ist ein Heer. Ich fand die Schienarer am ersten Tag und ich verbrachte die meiste Zeit mit Gesprächen mit Easar von Schienar und den anderen dreien. Wir trafen uns jeden Tag in einem anderen Lager.«
»Ich hoffe, Ihr habt auch etwas Zeit darauf verwendet, Euch umzusehen«, sagte Birgitte respektvoll von ihrer Position vor dem Kamin. Sie behandelte jede Aes Sedai mit Respekt. Nur die nicht, mit der sie verbunden war. »Wie viele sind es?«
»Ich nehme nicht an, dass Ihr eine korrekte Zahl habt«, warf Mellar ein und klang, als würde er es auch nicht erwarten. Dieses eine Mal lag auf seinem schmalen Gesicht kein Lächeln. Er sah in seinen Weinpokal und zuckte mit den Schultern. »Doch was auch immer Ihr gesehen habt, könnte von Wert sein. Falls es genug sind, könnten sie verhungern, bevor sie Caemlyn bedrohen. Ohne Proviant besteht das größte Heer der Welt nur aus wandelnden Leichen.« Er lachte. Birgitte starrte ihn finster an, aber Elayne hob kaum merklich ihre Hand und bedeutete der anderen Frau, den Mund zu halten.
»Sie haben nicht viele Vorräte, Hauptmann«, sagte Merilille kühl und setzte sich trotz ihrer offensichtlichen Erschöpfung aufrecht hin, »aber sie sind auch noch nicht am Verhungern. Ich würde mich nicht darauf verlassen, dass es so weit kommt, was das angeht.« Nach der kurzen Trennung vom Meervolk hatten ihre großen Augen den ständig überraschten Ausdruck verloren, und trotz ihrer aalglatten Aes Sedai-Beherrschung war es offensichtlich, dass sie beschlossen hatte, Doilin Mellar nicht zu mögen, ganz egal, wessen Leben er gerettet hatte. »Was ihre Zahl angeht, ich würde sagen, es sind etwas mehr als zweihunderttausend Mann, und ich bezweifle, dass außer ihren Offizieren jemand genauere Angaben machen könnte. Selbst hungrig sind das eine Menge Schwerter.« Mellar zuckte erneut mit den Schultern; der Aes Sedai-Blick schien ihm nichts auszumachen.
Die schlanke Graue sah ihn nicht wieder an, ignorierte ihn aber auch nicht; als sie fortfuhr, schien er für sie so etwas wie ein weiteres Möbelstück geworden zu sein. »Es sind mindestens zehn Schwestern bei ihnen, Elayne, obwohl sie große Anstrengungen unternehmen, diese Tatsache zu verbergen. Ich glaube nicht, dass es Anhängerinnen Egwenes sind, aber sie müssen auch nicht auf Elaidas Seite stehen. Ich fürchte, viele Schwestern verhalten sich abwartend, bis die Schwierigkeiten der Burg geregelt sind.« Sie seufzte wieder, und diesmal vermutlich nicht aus Müdigkeit.
Mit einer Grimasse stellte Elayne ihre Teetasse zur Seite. Die Küche hatte keinen Honig mitgeschickt und sie mochte ihn nicht bitter. »Was wollen sie, Merilille? Die Herrscher, meine ich, nicht die Schwestern.« Zehn Schwestern machten dieses Heer zehnmal so gefährlich, vor allem für Rand. Nein, für jeden. »Sie sitzen doch nicht die ganze Zeit im Schnee, nur weil es ihnen Spaß macht.«
Die Graue spreizte die zierlichen Hände. »Ich kann nur Vermutungen anstellen, was die lange Sicht angeht. Was das Hier und Jetzt angeht, wollen sie Euch treffen, und zwar so bald wie möglich. Nach ihrer Ankunft in der Nähe von Neu-Braem haben sie Reiter nach Caemlyn ausgeschickt, aber zu dieser Jahreszeit könnte es noch eine Woche oder länger dauern, bis sie hier eintreffen. Tenobia von Saldaea ist die Bemerkung entschlüpft — oder sie hat so getan —, dass ihnen bekannt ist, dass Ihr in Verbindung mit einer gewissen Person steht oder sie zumindest näher kennt, an der sie offensichtlich ein Interesse haben. Sie wissen irgendwoher von Eurer Anwesenheit in Fahne, als dort gewisse Dinge geschahen.« Mellar runzelte verwirrt die Stirn, aber niemand klärte ihn auf. »Ich habe wegen der anderen Schwestern nicht enthüllt, dass wir das Schnelle Reisen beherrschen, aber ich sagte, ich könnte bald mit einer Antwort zurück sein.«
Elayne wechselte einen Blick mit Birgitte, die ebenfalls mit den Schultern zuckte, obwohl es in ihrem Fall weder aus Gleichgültigkeit noch Geringschätzung geschah. Elayne hatte gehofft, die Grenzländer gegen ihre Konkurrenten bei der Thronanwärterschaft ins Spiel bringen zu können, aber das größte Problem bestand darin, dass sie nicht wusste, wie sie als die Hohe Herrin von Trakand und Tochter-Erbin einer toten Königin etablierten Herrschern gegenübertreten sollte. Birgittes Schulterzucken besagte, sei dankbar, dass sich dieses Problem gelöst hat, aber Elayne fragte sich, wie die Leute aus den Grenzlanden etwas erfahren hatten, das nur ganz wenigen bekannt war. Und wenn sie es wussten, wie viele dann noch? Sie würde ihr ungeborenes Kind beschützen!
»Wärt Ihr bereit, unverzüglich zurückzureiten, Merilille?«, fragte sie. Die Schwester erklärte sich sofort einverstanden, und der Ausdruck in ihren Augen deutete an, dass sie jede Art von Gestank ertragen würde, wenn sie nur den Windsucherinnen noch eine Zeit lang aus dem Weg gehen konnte. »Dann reiten wir zusammen. Wenn sie sich bald mit mir treffen wollen, gibt es dafür keinen besseren Tag als heute.« Sie wussten zu viel, um das herauszuschieben. Nichts durfte ihr Kind bedrohen. Nichts!