35 Mit den Choedan Kai

Rand ritt ohne zurückzublicken über die breite Steinbrücke, die vom Caemlyn-Tor nach Norden führte. Die Sonne war eine blasse goldene Scheibe, die gerade an einem wolkenlosen Himmel aufgegangen war, aber die Luft war kalt genug, um seinen Atem in Nebel zu verwandeln, und die Winde vom See ließen seinen Umhang flattern. Aber er fühlte die Kälte nicht, es sei denn als etwas Fernes, das eigentlich nichts mit ihm zu tun hatte. Ihm war kälter, als der Winter jemals hätte bewirken können. Die Wächter, die in der Nacht gekommen waren, um ihn aus der Zelle zu holen, waren überrascht gewesen, ihn mit einem kleinen Lächeln vorzufinden. Er zeigte es noch immer, eine leichte Krümmung seiner Lippen. Nynaeve hatte mit dem letzten Rest Saidar ihres Gürtel seine Prellungen Geheilt, doch der behelmte Offizier, der am Fuß der Brücke die Straße betrat, ein stämmiger Mann mit derben Gesichtszügen, zuckte bei seinem Anblick zusammen, so als wäre sein Gesicht noch immer geschwollen und blau angelaufen.

Cadsuane beugte sich auf ihrem Sattel herunter, um mit dem Offizier ein paar leise Worte zu wechseln und ihm ein zusammengefaltetes Papier zu geben. Er sah sie stirnrunzelnd an und fing an zu lesen, dann riss er den Kopf hoch, um die Männer und Frauen, die geduldig hinter ihr auf ihren Pferden warteten, erstaunt anzustarren. Er fing erneut oben auf der Seite an, las und bewegte dabei lautlos die Lippen, als wollte er sich eines jeden Wortes vergewissern. Unterzeichnet und besiegelt von allen dreizehn Ratsherrinnen besagte der Befehl, dass weder die Friedensbunde überprüft noch die Packpferde durchsucht werden sollten. Die Namen aller sollten in den Büchern unkenntlich gemacht und der Befehl selbst verbrannt werden. Sie waren niemals nach Far Madding gekommen. Keine Aes Sedai, keine Atha'an Miere, keiner von ihnen.

»Es ist vorbei, Rand«, sagte Min sanft und lenkte ihren kräftigen Braunen näher an seinen grauen Wallach heran, obwohl sie schon so nahe bei ihm geblieben war wie Nynaeve bei Lan. Lans Prellungen und ein gebrochener Arm waren geheilt worden, bevor sie sich Rand zugewandt hatte. Mins Gesicht spiegelte die Sorge wider, die durch den Bund strömte. Sie überließ ihren Umhang dem Wind und tätschelte seinen Arm. »Du musst nicht länger darüber nachdenken.«

»Ich bin Far Madding dankbar, Min.« Seine Stimme war ausdruckslos, distanziert, genau wie damals, wenn er in den frühen Tagen nach Saidin gegriffen hatte. Er hätte sie gern für sie gewärmt, aber das schien jenseits seiner Möglichkeiten zu liegen. »Ich habe dort gefunden, was ich gebraucht habe.« Falls ein Schwert ein Erinnerungsvermögen hatte, würde es dem Schmiedefeuer vielleicht dankbar sein, sich aber niemals gern daran erinnern. Als man sie durchwinkte, ließ er den Grauen auf den Weg und hinauf in die Hügel gehen, und er sah sich nicht einmal um, bis die Bäume jeden Blick auf die Stadt verbargen.

Die Straße stieg in die Höhe und wand sich durch die bewaldeten, winterlichen Hügel, auf denen nur die Kiefern und der Zwerglorbeer grün und die meisten Äste kahl und grau waren, und plötzlich war die Quelle wieder da und wartete scheinbar direkt neben seinem Augenwinkel. Sie pulsierte und lockte und füllte ihn mit einem Hunger, als stünde er kurz vor dem Verhungern. Gedankenlos griff er danach und füllte die Leere in sich mit Saidin, und es war eine Lawine aus Feuer und ein Sturm aus Eis, und alles wurde von dem schmutzigen Makel durchdrungen, der die größere Wunde in seiner Seite schwären ließ. Er schwankte im Sattel, als sich in seinem Kopf alles drehte, und sein Magen verkrampfte sich, noch während er versuchte, die Lawine abzureiten, die seinen Verstand verbrennen, und auf den Ausläufern des Sturms zu gleiten, der seine Seele zerfetzen wollte. In der männlichen Hälfte der Macht gab es weder Vergeben noch Mitleid. Ein Mann kämpfte gegen sie an oder starb. Er konnte fühlen, wie sich die drei Asha'man hinter ihm ebenfalls füllten, Saidin tranken wie Männer, die gerade aus der Wüste kamen und Wasser gefunden hatten. In seinem Kopf seufzte Lews Therin vor Erleichterung.

Min zügelte ihr Pferd so nahe neben ihm, dass sich ihre Beine berührten. »Alles in Ordnung?«, fragte sie besorgt. »Du siehst krank aus.«

»Mir geht es gut«, sagte er zu ihr, und die Lüge betraf nicht nur seinen Magen. Er war Stahl und zu seiner Überraschung noch immer nicht hart genug. Er hatte sie nach Caemlyn schicken wollen, mit Alivia als Beschützerin. Falls die Frau mit den goldenen Haaren ihm beim Sterben helfen würde, musste er ihr vertrauen können. Er hatte sich seine Worte zurechtgelegt, aber nach einem Blick in Mins dunkle Augen war er nicht hart genug, sie von seiner Zunge formen zu lassen. Er lenkte den Grauen zwischen kahle Bäume und sagte über die Schulter gerichtet zu Cadsuane: »Das hier ist der Ort.«

Natürlich folgte sie ihm. Das taten sie alle. Harine hatte ihn kaum lange genug aus den Augen gelassen, um ein paar Stunden zu schlafen. Er hätte sie zurückgelassen, aber zu diesem Thema hatte Cadsuane ihm ihren ersten Rat gegeben. Ihr habt mit ihnen einen Handel abgeschlossen, mein Junge, das ist dasselbe, als hättet Ihr einen Vertrag unterzeichnet. Oder Euer Wort gegeben. Haltet es oder sagt ihnen, dass Ihr es brecht. Sonst seid Ihr nichts anderes als ein Dieb.

Barsch, auf den Punkt gebracht und in einem Tonfall, der keinen Zweifel über ihre Meinung zu Dieben aufkommen ließ. Er hatte nie versprochen, ihren Rat auch zu befolgen, aber sie hatte zu lange gezögert, ihm überhaupt als seine Ratgeberin zur Seite zu stehen, als dass er es riskieren wollte, sie so schnell wieder zu vertreiben, also ritten die Herrin der Wogen und die beiden anderen vom Meervolk mit Alivia, vor Verin und den anderen fünf Aes Sedai, die ihm die Treue geschworen hatten, und den vieren, die Cadsuanes Begleiterinnen waren. Sie würde ihn noch eher verlassen als ihre Anführerin, davon war er überzeugt, vielleicht sogar noch schneller.

Für die Augen eines jeden anderen war der Ort, an dem er vor der Einreise in Far Madding gegraben hatte, durch nichts zu erkennen. Er sah jedoch einen schmalen Lichtstrahl, der wie Laternenlicht durch die feuchte Erde des Waldbodens in die Höhe wuchs. Selbst ein Mann, der die Macht lenken konnte, hätte durch diesen Strahl hindurchgehen können, ohne ihn zu bemerken. Er machte sich nicht die Mühe abzusteigen. Mit Strängen aus Luft riss er die dicke Schicht aus verfaulenden Blättern und Zweigen beiseite und schaufelte feuchte Erde heraus, bis er ein langes, schmales, von Lederschnüren zusammengehaltenes Bündel freigelegt hatte. Erdklumpen hingen an dem Tuch, als er Callandor in seine Hand schweben ließ. Er hatte nicht gewagt, es nach Far Madding mitzunehmen. Ohne Scheide hätte er es am Brückentor zurücklassen müssen, eine gefährliche Flagge, die nur darauf wartete, seine Anwesenheit zu verkünden. Es war unwahrscheinlich, dass man in der ganzen Welt ein weiteres Schwert aus Kristall finden würde, und zu viele Leute wussten, dass der Wiedergeborene Drache eins besaß. Und da er es hier zurückgelassen hatte, war er in der finsteren, feuchten, engen Steinkiste unter der ... Nein. Das war vorbei. Vorbei. Lews Therin hechelte in den Schatten seines Verstandes.

Er schob Callandor unter den Sattelgurt und lenkte den Grauen herum, bis er den anderen gegenüberstand. Der eisige Wind ließ die Pferde die Schweife eng an die Körper gedrückt halten, aber gelegentlich stampfte eines mit dem Huf auf oder warf den Kopf nach oben; nach der langen Zeit der Untätigkeit im Stall warteten sie ungeduldig darauf, sich wieder bewegen zu können. Wegen den mit Juwelen verzierten Ter'angrealen, die Nynaeve trug, sah die Ledertasche, die an ihrer Schulter hing, ganz unauffällig aus. Jetzt, da die Zeit nahe war, strich sie über die ausgebeulte Tasche, ohne sich überhaupt bewusst zu sein, was sie da eigentlich tat. Sie versuchte ihre Furcht zu verbergen, aber ihr Kinn zitterte. Cadsuane sah ihn unbewegt an. Die Kapuze war ihr auf den Rücken gefallen, und manchmal versetzte ein etwas stärkerer Windstoß die goldenen Fische und Vögel und Sterne und Monde in Bewegung, die von ihrem Haarknoten baumelten.

»Ich werde die männliche Hälfte der Quelle vom Makel befreien«, verkündete er.

Die drei Asha'man, die nun wie die anderen Behüter einfache dunkle Mäntel und Umhänge trugen, tauschten aufgeregte Blicke, aber die Aes Sedai erschauderten. Nesune stieß ein Keuchen aus, das für die schlanke, vo —gelähnliche Schwester viel zu laut erschien.

Cadsuanes Gesichtsausdruck veränderte sich um keinen Deut. »Damit?«, sagte sie und wies mit einer skeptisch hochgezogenen Braue auf das Bündel unter seinem Bein.

»Mit den Choedan Kai«, erwiderte er. Dieser Name war ein weiteres Geschenk von Lews Therin, der in Rands Verstand nistete, als wäre er schon immer dort gewesen. »Ihr kennt sie als gewaltige Statuen, Sa'angreale, von denen die eine in Cairhien und die andere in Tremalking vergraben ist.« Als die Insel des Meervolks erwähnt wurde, riss Harine den Kopf hoch und die goldenen Medaillons ihrer Nasenkette klirrten leise. »Sie sind zu groß, um ohne weiteres bewegt werden zu können, aber ich besitze zwei Ter'angreale, die man Zugangsschlüssel nennt. Damit kann man die Choedan Kai von jedem Ort der Welt anzapfen.«

Gefährlich, stöhnte Lews Therin. Wahnsinn. Rand beachtete ihn nicht. Im Augenblick spielte einzig und allein Cadsuane eine Rolle.

Ihr Brauner wackelte mit einem Ohr und damit schien er begeisterungsfähiger zu sein als seine Reiterin. »Eines dieser Sa angreale ist für eine Frau gemacht«, sagte sie kühl. »Wer soll es Eurer Meinung nach benutzen? Oder erlauben Euch diese Schlüssel, aus beiden Kraft zu ziehen?«

»Nynaeve wird mit mir eine Verknüpfung eingehen.« Er hatte genug Vertrauen zu Nynaeve, um mit ihr eine Verknüpfung einzugehen, aber auch zu niemandem anderen. Sie war eine Aes Sedai, aber sie war die Seherin von Emondsfelde gewesen; er musste ihr vertrauen. Sie lächelte ihn an und nickte entschieden; ihr Kinn hatte aufgehört zu zittern. »Versucht nicht, mich davon abzuhalten, Cadsuane.« Sie sagte nichts, sondern musterte ihn bloß, ihre dunklen Augen wogen ab und urteilten.

»Verzeiht mir, Cadsuane«, brach Kumira das Schweigen, trieb ihren Schecken mit den Fersen an und ritt nach vorn. »Junger Mann, habt Ihr die Möglichkeit eines Fehlschlags bedacht? Habt Ihr über die Konsequenzen eines Fehlschlags nachgedacht?«

»Ich muss dieselbe Frage stellen«, sagte Nesune scharf. Sie saß kerzengerade im Sattel und sie erwiderte Rands Blick offen. »Nach allem, was ich gelesen habe, kann der Versuch, diese Sa'angreale zu benutzen, in einer Katastrophe enden. Zusammen könnten sie stark genug sein, um die Welt wie ein Hühnerei aufzuschlagen.«

Wie ein Hühnerei!, stimmte Lews Therin zu. Sie sind nie getestet worden, nie benutzt. Das ist Wahnsinn!, kreischte er. Du bist wahnsinnig! Wahnsinnig!

»Wie ich letztens erfahren habe«, sagte Rand zu den Schwestern, »hat ein Asha'man von fünfzig den Verstand verloren und musste wie ein tollwütiger Hund getötet werden. Mittlerweile werden es mehr sein. Es besteht ein Risiko, dies zu tun, aber es gibt nur möglicherweise und vielleicht. Wenn ich es nicht versuche, steht eines mit Sicherheit fest: Immer mehr Männer werden dem Wahnsinn verfallen, vielleicht Dutzende, vielleicht wir alle, und früher oder später werden es zu viele sein, um sie alle töten zu können. Möchtet ihr gern auf die Letzte Schlacht warten, während hundert wahnsinnige Asha'man umherziehen, oder zweihundert oder gar fünfhundert? Und ich bin dann vielleicht einer von ihnen? Wie lange wird die Welt das überstehen?« Er sprach zu den beiden Braunen Schwestern, beobachtete dabei aber Cadsuane. Der Blick ihrer fast schwarzen Augen wich keinen Moment von ihm. Er brauchte sie in seiner Nähe, aber wenn sie versuchte, es ihm auszureden, würde er ihren Rat ablehnen, ganz egal, welche Konsequenzen sich daraus ergaben. Und wenn sie versuchte, ihn aufzuhalten...? In seinem Inneren wütete Saidin.

»Wollt Ihr es hier machen?«, fragte sie.

»In Shadar Logoth«, erwiderte er, und sie nickte.

»Ein passender Ort«, sagte sie, »wenn wir schon riskieren, die Welt zu zerstören.«

Lews Therin schrie, ein leiser werdendes Heulen, das durch Rands Schädel hallte, während die Stimme in die Tiefen der Dunkelheit floh. Doch es gab keinen Ort, an dem man sich verstecken konnte. Keinen Ort der Sicherheit.

Das Wegetor, das er wob, öffnete sich nicht in der Ruinenstadt Shadar Logoth, sondern auf einem dünn bewaldeten, unregelmäßig geformten Hügel ein paar Meilen weiter nördlich, wo die Hufe der Pferde auf steinige Erde traten, die das Wachstum der blattlosen Bäume gehemmt hatte, und in unregelmäßigen Abständen kleine Schneehäufen lagen. Als Rand abstieg, fiel sein Blick auf den Ort, den man einst Aridhol genannt hatte und der jenseits der Baumwipfel undeutlich zu sehen war; Türme, die abrupt in Steintrümmern endeten, und weiße zwiebeiförmige Kuppeln, die ein ganzes Dorf hätten beherbergen können, wären sie unversehrt gewesen. Er schaute nicht lange hin. Trotz des kalten Morgenhimmels schafften es die blassen Kuppeln nicht, so zu funkeln, wie sie es eigentlich hätten tun sollen; es war, als würde ein Schatten auf den sich ausbreitenden Ruinen liegen. Selbst in dieser Entfernung zur Stadt hatte die zweite niemals heilende Wunde in seiner Seite angefangen, leicht zu pochen. Der Schnitt von Padan Fains Dolch, dem Dolch aus Shadar Logoth, pochte nicht im gleichen Pulsschlag wie die größere Wunde, über die er quer hinwegverlief, sondern vielmehr genau gegensätzlich, so dass sie einen abwechselnden Rhythmus bildeten.

Genau wie zu erwarten gewesen war, übernahm Cadsuane das Kommando und gab brüske Befehle. Auf die eine oder andere Weise taten Aes Sedai dies doch immer, wenn sich ihnen dazu auch nur die geringste Gelegenheit bot, und Rand versuchte nicht, sie daran zu hindern. Lan, Nethan und Bassane ritten in den Wald hinunter, um ihn zu durchsuchen, und die anderen Behüter beeilten sich, die Pferde an niedrigen Ästen festzubinden. Min stellte sich in ihre Steigbügel und zog Rands Kopf heran, so dass sie seine Augen küssen konnte. Ohne ein Wort zu verlieren gesellte sie sich dann zu den Männern mit den Pferden. Ihre Liebe zu ihm brandete durch den Bund, er übermittelte Zuversicht und ein Vertrauen, das so allesumfassend war, dass er ihr erstaunt hinterher starrte.

Eben kam, um Rands Pferd zu nehmen, und er grinste von einem Ohr zum anderen. Zusammen mit seiner Nase schienen diese Ohren noch die Hälfte seines Gesichts auszumachen, aber er war mittlerweile eher ein schlanker Junge als ein tölpelhafter. »Es wird wunderbar sein, die Macht ohne den Makel lenken zu können, mein Lord Drache«, sagte er aufgeregt. Rand schätzte Eben auf siebzehn Jahre, aber er klang viel jünger. »Wenn ich darüber nachdenke, möchte ich mich am liebsten übergeben.« Als er den Grauen wegbrachte, grinste er noch immer.

Die Macht tobte in Rand, und der Schmutz, der das reine Leben Saidins befleckte, sickerte in ihn hinein, widerwärtige Tunnel, die Wahnsinn und Tod bringen würden.

Cadsuane versammelte die Aes Sedai um sich und Alivia und die Windsucherinnen des Meervolks ebenfalls. Harine maulte lauthals darüber, dass sie ausgeschlossen wurde, bis ein ausgestreckter Finger Cadsuanes sie über den Hügel schreiten ließ. Moad, der seinen seltsamen blauen Steppmantel trug, setzte Harine auf einen Felsblock und redete beruhigend auf sie ein, obwohl sich seine Blicke manchmal auf die sie umgebenden Bäume richteten, und dann legte er immer die Hand auf den langen Elfenbeingriff seines Schwertes. Jahar kam von den Pferden und wickelte Callandor aus. Das Kristallschwert mit seinem langen, durchsichtigen Griff und der leicht gekrümmten Klinge funkelte im schwachen Sonnenlicht. Nach einer ungeduldigen Geste Merises beschleunigte er seine Schritte und gesellte sich zu ihr. Damer befand sich ebenfalls in dieser Gruppe, genau wie Eben. Cadsuane hatte nicht darum gebeten, Callandor benutzen zu dürfen. Aber man konnte sie gewähren lassen. Für den Augenblick jedenfalls.

»Diese Frau könnte die Geduld eines Steins auf die Probe stellen!«, murmelte Nynaeve und kam neben Rand zu stehen. Mit der einen Hand hielt sie den Riemen der Ledertasche fest, während die andere genauso fest um den dicken Zopf geschlossen war, der aus ihrer Kapuze herausragte. »In den Pfuhl des Verderbens mit ihr, sage ich! Bist du sicher, dass sich Min nicht wenigstens dieses eine Mal geirrt hat? Nun, ich schätze, wohl nicht. Trotzdem...! Wirst du wohl aufhören, so zu lächeln? Du würdest eine Katze nervös machen!«

»Eigentlich könnten wir genauso gut anfangen«, sagte er zu ihr, und sie blinzelte.

»Sollten wir nicht auf Cadsuane warten?« Niemand wäre auf die Idee gekommen, dass sie sich noch einen Augenblick zuvor über die Aes Sedai beschwert hatte. Wenn überhaupt hörte sie sich an, als wollte sie sie auf keinen Fall verärgern.

»Sie wird tun, was sie tun wird, Nynaeve. Mit deiner Hilfe werde ich das tun, was ich tun muss.«

Sie zögerte noch immer, drückte die Tasche an die Brust und warf besorgte Blicke zu den Frauen, die sich um Cadsuane versammelt hatten. Alivia verließ die Gruppe und eilte über den abschüssigen Boden auf sie zu; sie hielt den Umhang mit beiden Händen geschlossen.

»Cadsuane sagt, ich muss die Ter'angreale haben, Nynaeve«, sagte sie mit ihrem breiten seanchanischen Akzent. »Jetzt streitet nicht, dazu ist keine Zeit. Außerdem werdet Ihr nichts damit anfangen können, wenn Ihr mit ihm verknüpft seid.«

Diesmal konnte man den Blick, den Nynaeve den Frauen um Cadsuane zuwarf, beinahe mörderisch nennen, sie murmelte etwas, nahm aber Ringe und Armreife ab und gab Alivia auch den mit Juwelen verzierten Gürtel und die Halskette. Einen Augenblick später seufzte sie und löste das seltsame Armband, das mit flachen Kettchen mit den Fingerringen verbunden war. »Die könnt Ihr dann genauso gut auch nehmen. Ich schätze, ich brauche kein Angreal, wenn ich das mächtigste Sa'angreal benutze, das je erschaffen wurde. Aber ich will alle zurückhaben, verstanden?«, sagte sie wild.

»Ich bin keine Diebin«, erwiderte die Frau mit den Falkenaugen affektiert und schob die vier Ringe auf die Finger ihrer linken Hand. Seltsamerweise passte das Angreal, das den Eindruck erweckte, eigens für Nynaeve hergestellt worden sein, auch genauso mühelos an ihre viel größere Hand. Die beiden Frauen starrten das Ding an.

Ihm wurde bewusst, dass keiner von ihnen die Möglichkeit in Betracht zog, dass er versagen könnte. Er wünschte sich, er könnte so sicher wie sie sein. Aber was getan werden musste, musste getan werden.

»Willst du den ganzen Tag warten, Rand?«, fragte Nynaeve, als Alivia wieder zu Cadsuane ging, und zwar noch schneller, als sie gekommen war. Nynaeve zog den Umhang zurecht, setzte sich auf einen grauen Felsbrocken von der Größe einer kleinen Bank, zog die Tasche auf den Schoß und schlug die Lederklappe zurück.

Rand setzte sich ihr mit untergeschlagenen Beinen gegenüber auf den Boden, während sie die beiden Zugangsschlüssel hervorholte, zwei glatte weiße Statuen von jeweils einem Fuß Höhe, von denen jede eine durchsichtige Kugel in einer erhobenen Hand hielt. Sie gab ihm die Figur eines bärtigen Mannes in einem langen Gewand. Die Frau mit dem langen Gewand stellte sie neben ihren Füßen auf den Boden. Die Gesichter der Figuren waren heiter, stark und von der Weisheit des Alters geprägt.

»Du musst dich an den Punkt begeben, an dem du kurz davor stehst, die Quelle zu umarmen«, erklärte sie ihm und glättete Röcke, die nicht geglättet werden mussten. »Dann kann ich mit dir eine Verknüpfung eingehen.«

Mit einem Seufzen stellte Rand den Bärtigen ab und ließ Saidin los. Das wütende Feuer und das Eis verschwanden und mit ihnen die Widerlichkeit der Verunreinigung, die so glatt wie schmieriges Fett war. Aber mit ihnen schien auch das Leben zu schwinden und ließ die Welt blass und trostlos werden. Er stützte die Hände auf den Boden, um sich gegen die Übelkeit zu wappnen, die in dem Moment, in dem er die Quelle erneut ergriff, zuschlagen würde, aber plötzlich ließ ein anderes Schwindelgefühl die Welt sich drehen. Einen Herzschlag lang füllte ein undeutliches Gesicht seine Gedanken und verdrängte Nynaeve, das Gesicht eines Mannes, das beinahe erkennbar war. Licht, falls das je geschah, wenn er gerade Saidin ergriff ... Nynaeve beugte sich besorgt zu ihm herunter.

»Jetzt«, sagte er und griff durch den Bärtigen hindurch nach der Quelle, ohne sie festzuhalten. Er wollte vor Schmerzen brüllen, als lodernde Flammen ihn zu verbrennen schienen, während zugleich rasende Sturmwinde gefrorene Sandkörner über seine Haut peitschten. Nynaeve holte schnell tief Luft, wie er sehen konnte, darum wusste er, dass es nur einen winzigen Augenblick lang andauerte, doch es erschien ihm wie Stunden, bevor ...

Saidin strömte durch ihn hindurch, mit seiner ganzen lavaähnlichen Wut, dem atemraubenden Eis, seiner ganzen Fäulnis, und er konnte nicht einmal einen haarfeinen Strom kontrollieren. Er sah, wie der Strom aus ihm in Nynaeve hineinfloss. Das Gefühl, wie es in seinem Inneren brodelte, die tückischen Strömungen und der trügerische Untergrund, die ihn in einem Herzschlag zerstören konnten — es war eine Qual, dies alles fühlen zu müssen, ohne dagegen ankämpfen oder es kontrollieren zu können. Plötzlich wurde ihm klar, dass er sich ihr bewusst war, so wie er sich Min bewusst war, aber er konnte bloß an Saidin denken, das ihn unkontrolliert durchströmte.

Sie holte stockend Atem. »Wie kannst du das ertragen...?«, stieß sie heiser hervor. »Das ganze Chaos und die Wut und den Tod. Licht! Pass auf, du musst jetzt mit aller Kraft versuchen, die Ströme zu kontrollieren, während ich...« Er tat, was sie ihm befohlen hatte, in dem verzweifelten Bemühen, sein Gleichgewicht in dem niemals endenden Krieg mit Saidin zu finden, und sie schrie auf und zuckte zusammen. »Du solltest doch warten, bis ich...«, fing sie wütend an, um dann mit gereizter Stimme fortzufahren. »Nun, wenigstens bin ich es los.

Was schaust du mich mit so großen Augen an? Ich bin hier diejenige, der man die Haut abgezogen hat!«

»Saidar«, murmelte er von Staunen erfüllt. Es war so ... anders.

Verglichen mit dem Aufruhr von Saidin war Saidar ein träger Fluss, der ungehindert dahinströmte. Er griff in diesen Fluss hinein, und plötzlich kämpfte er gegen Strömungen, die ihn tiefer hineinziehen wollten, rasende Strudel, die ihn untertauchen wollten. Je stärker er kämpfte, desto stärker wurden die sich unablässig verändernden Ströme. Es war nur ein Augenblick vergangen, seit er versucht hatte, Saidar zu kontrollieren, und es kam ihm bereits so vor, als müsste er darin ertrinken, als würde es ihn in die Ewigkeit hinfortspülen. Nynaeve hatte ihn gewarnt und ihn angewiesen, was er tun müsste, aber es war so fremd erschienen, dass er es bis zu diesem Augenblick nicht richtig geglaubt hatte. Mit einer großen Anstrengung zwang er sich dazu, nicht länger gegen die Strömungen anzukämpfen, und sofort floss der Fluss wieder friedlich daher.

Das war die erste Schwierigkeit, gegen Saidin zu kämpfen, während man sich Saidar ergab. Die erste Schwierigkeit und der erste Schlüssel zu dem, was er tun müsste. Die männliche und die weibliche Hälfte der Wahren Quelle ähnelten sich und auch wiederum nicht, sie zogen sich an und stießen sich ab, kämpften gegeneinander, während sie zusammenarbeiteten, um das Rad der Zeit anzutreiben. Der Makel der männlichen Hälfte hatte sogar einen Zwilling. Die Wunde, die ihm Ishamael zugefügt hatte, klopfte in Übereinstimmung mit dem Makel, während die andere, die von Farns Klinge stammte, in Übereinstimmung mit dem Bösen pochte, das Aridhol vernichtet hatte.

Er zwang sich zu einem behutsamen Vorgehen, benutzte die gewaltige Kraft des ungewohnten Saidars, um es in die Richtung zu lenken, in die er es haben wollte, und webte unbeholfen eine Verbindung, eine Art Röhre, die an dem einen Ende die männliche Hälfte der Quelle berührte und mit dem anderen die in der Ferne liegende Stadt. Die Röhre musste aus unbeschmutztem Saidar bestehen. Eine aus Saidin gewobene Röhre würde möglicherweise zerspringen, wenn die Fäulnis schließlich tropfenweise hinausgepresst wurde — falls das so funktionierte, wie er hoffte. Er stellte es sich zumindest als Röhre vor, obwohl es das eigentlich gar nicht war. Das Gewebe formte sich nicht im mindesten so, wie er es erwartet hätte. Als hätte Saidar einen eigenen Willen, bildete das Gewebe Windungen und Spiralen, die ihn an eine Blume erinnerten. Es war nichts zu sehen, keine spektakulären Gewebe, die vom Himmel sanken. Die Quelle lag im Herzen der Schöpfung, war überall, selbst in Shadar Logoth. Die Röhre erstreckte sich über Entfernungen jenseits seiner Vorstellungskraft und hatte dennoch keine Länge. Es musste eine Röhre sein, ganz egal, wie ihr Erscheinungsbild auch aussah. Wenn nicht...

Er schöpfte Saidin, kämpfte damit, besiegte es in dem tödlichen Kampf, den er so gut kannte, und zwang es in das blumenartige Gewebe aus Saidar. Und es floss hindurch. Saidin und Saidar, ähnlich und gegensätzlich, konnten sich nicht vermischen. Der Strom aus Saidin rückte in sich zusammen, wich vor dem ihn umgebenden Saidar zurück, aber das Saidar drückte von allen Seiten dagegen und komprimierte ihn noch stärker und ließ ihn schneller fließen. Reines Saidin — rein bis auf die Fäulnis — kam mit Shadar Logoth in Kontakt.

Rand runzelte die Stirn. Hatte er sich geirrt? Es tat sich nichts. Außer... Die Wunden in seiner Seite schienen schneller zu pulsieren. Inmitten des Feuersturms und dem eiskalten Zorn von Saidin hatte es den Anschein, dass die Fäulnis in Bewegung geriet. Nur der Hauch einer Bewegung, die er möglicherweise gar nicht bemerkt hätte, hätte er sich nicht so angestrengt, um irgendetwas zu finden. Eine winzige Regung mitten im Chaos, aber alles bewegte sich in die gleiche Richtung.

»Mach weiter«, feuerte Nynaeve ihn an. Ihre Augen strahlten, als würde der Strom aus Saidar in ihrem Inneren schon reichen, damit sie Freude empfand.

Er schöpfte noch tiefer von beiden Hälften der Quelle, verstärkte die Röhre, während er noch mehr Saidin hineinzwängte, schöpfte von der Macht, bis nichts von dem, was er hätte tun können, noch mehr Erfolg gebracht hätte. Er wollte herausbrüllen, wie viel in ihn hineinströmte, so viel, dass er den Eindruck hatte, gar nicht mehr zu existieren, dass es nur noch die Eine Macht gab. Er hörte Nynaeve stöhnen, aber der mörderische Kampf mit Saidin beanspruchte ihn völlig.

Elza spielte an dem Großen Schlangenring an ihrem linken Zeigefinger herum und starrte den Mann an, dem sie zu dienen geschworen hatte. Er saß mit grimmigem Gesicht auf dem Boden und blickte stur geradeaus, als könnte er Nynaeve, die Wilde, die direkt vor ihm saß und wie die Sonne leuchtete, überhaupt nicht wahrnehmen. Vielleicht konnte er das tatsächlich nicht. Sie konnte fühlen, wie Saidar in reißenden Strömen ungeahnten Ausmaßes durch Nynaeve hindurchfloss. Alle Schwestern der Burg hätten zusammen nur einen Bruchteil dieses Ozeans bewältigen können. Sie beneidete die Wilde darum, aber vermutlich hätte die schiere Freude, die das auslöste, sie um den Verstand gebracht. Trotz der Kälte funkelten Schweißperlen auf Nynaeves Gesicht. Ihre Lippen standen offen und ihre großen Augen starrten verzückt auf eine Stelle jenseits des Wiedergeborenen Drachen.

»Ich fürchte, es wird bald beginnen«, verkündete Cadsuane. Die grauhaarige Schwester wandte sich von dem sitzenden Paar ab, stemmte die Hände in die Hüften und ließ einen sorgenvollen Blick über den Hügel schweifen.

»Das wird man in Tar Valon spüren, vielleicht sogar auf der anderen Seite der Welt. Alle auf eure Plätze.«

»Kommt, Elza«, sagte Merise, und plötzlich leuchtete das Licht Saidars um sie herum auf.

Elza ließ zu, in eine Verknüpfung mit der Schwester gezogen zu werden, aber sie zuckte zusammen, als Merise ihren Asha'man-Behüter in den Zirkel aufnahm. Er war auf düstere Weise wunderschön, aber das Kristallschwert in seinen Händen leuchtete mit einem kaum wahrnehmbaren Glimmen, und sie konnte das unglaubliche brodelnde Chaos fühlen, das Saidin sein musste. Obwohl Merise die Ströme kontrollierte, drehte der Saidin anhaftende Makel Elza den Magen um. Es war ein Misthaufen, der in schwüler Sommerhitze vor sich hinfaulte. Die andere Grüne war trotz ihrer Strenge eine wunderschöne Frau, aber ihre Lippen wurden schmal, als musste auch sie sich bemühen, sich nicht zu übergeben.

Überall auf dem Hügel bildeten sich die Zirkel. Sarene und Corele verknüpften sich mit dem alten Mann, mit Flinn, und Nesune, Beldeine und Daigian mit dem jungen Hopwil. Verin und Kumira bildeten sogar einen Zirkel mit der Wilden vom Meervolk; sie war sogar ziemlich stark, und jeder wurde gebraucht. Sobald ein Zirkel gebildet war, verließ er den Hügel; jeder verschwand in eine andere Richtung im Wald. Alivia, die seltsame Wilde, die keinen zusätzlichen Namen zu haben schien, ging mit wehendem Umhang und umgeben vom Glühen der Macht nach Norden. Die Frau mit den winzigen Falten um die Augen und der unglaublichen Stärke war wirklich beunruhigend. Elza hätte viel darum gegeben, die Ter'angreale, die sie trug, in ihrem Besitz zu haben.

Alivia und die drei Zirkel würden einen Verteidigungsring bilden, falls er gebraucht wurde, aber die größte Notwendigkeit lag direkt hier oben auf dem Hügel. Der Wiedergeborene Drache musste um jeden Preis beschützt werden. Diese Aufgabe hatte natürlich Cadsuane selbst übernommen, aber Merises Zirkel würde ebenfalls hier Stellung beziehen. Der Menge von Saidar nach zu urteilen, die Cadsuane schöpfte, musste sie ein eigenes Angreal haben. Es war mehr Saidar, als Elza und Merise zusammengerechnet genommen hatten, aber selbst das verblasste angesichts der Macht, die durch Callandor floss.

Elza schaute zum Wiedergeborenen Drachen herüber und holte tief Luft. »Merise, ich weiß, ich sollte nicht fragen, aber darf ich die Ströme vermischen?«

Sie hatte damit gerechnet, betteln zu müssen, aber die größere Frau zögerte nur einen Augenblick lang, bevor sie die Kontrolle an sie weitergab. Fast unverzüglich entspannten sich Merises Lippen, allerdings konnte man sie trotzdem niemals als weich bezeichnen. Feuer und Eis und Schmutz schössen in Elza empor und sie erschauderte. Was es auch kostete, der Wiedergeborene Drache musste die Letzte Schlacht erreichen.

Barmellin lenkte seinen Karren über die verschneite Straße nach Tremonsien und fragte sich, ob die alte Maglin in den Neun Ringen wohl den gewünschten Preis für den Pflaumenschnaps hinter ihm auf der Ladefläche zahlen würde. Er war nicht besonders zuversichtlich. Maglin hatte nicht viel Silber, der Pflaumenschnaps war nicht besonders gut, und so spät im Winter würde sie vielleicht bis zum Frühling warten wollen, bis es ihr wieder besser ging. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass der Tag sehr hell erschien. Fast wie ein Sommermittag statt einem Wintermorgen. Aber am seltsamsten von allem war, dass das Leuchten aus der riesigen Grube neben der Straße zu kommen schien, in der Arbeiter aus der Stadt bis zum vergangenen Jahr gegraben hatten. Dort unten sollte eine kolossale Statue sein, aber es hatte ihn nie genug interessiert, um selbst einen Blick hineinzuwerfen. Jetzt zügelte er seine Stute fast gegen seinen Willen und stieg in den Schnee, um bis zum Rand der Grube zu trotten. Sie war hundert Schritte tief und zehnmal so breit, und er musste die Hände vors Gesicht legen, um sich vor dem grellen Schein zu schützen, der aus ihrer Tiefe kam. Er blinzelte zwischen den Fingern hindurch und konnte eine glühende Kugel ausmachen, die wie eine zweite Sonne war. Plötzlich wurde ihm klar, dass es sich um die Eine Macht handeln musste.

Mit einem erstickten Aufschrei stapfte er durch den Schnee zurück zu seinem Karren und zog sich hastig hinauf, schlug Nisa mit den Zügeln, damit sie sich wieder in Bewegung setzte, noch während er versuchte, ihren Kopf herumzureißen, um zu seinem Bauernhof zurückzufahren. Er würde in seinem Haus bleiben und den Schnaps selbst trinken. Und zwar das ganze Fass.

Tief in Gedanken versunken spazierte Timna daher und nahm die brachliegenden Felder kaum wahr, die sämtliche Hügelseiten bis auf eine um sie herum bedeckten. Tremalking war eine große Insel, und so weit vom Meer entfernt roch der Wind nicht nach Salz, dennoch war es das Atha'an Miere, das ihr Sorgen bereitete. Sie verweigerten den Weg des Wassers, aber Timna war eine der Führerinnen, die auserwählt waren, sie vor sich selbst zu schützen, falls das möglich war. Das war sehr schwierig in der derzeitigen Situation, da sie alle so aufgeregt waren wegen ihrem Coramoor. Nur wenige blieben auf der Insel. Sogar die Statthalter, die sich stets genau wie die Atha'an Miere darüber beschwerten, vom Meer getrennt zu sein, hatten auf jedem zu findenden Schiff die Segel gesetzt, um nach ihm zu suchen.

Plötzlich erregte etwas auf dem unbebauten Hügel ihre Aufmerksamkeit. Eine riesige Steinhand ragte aus dem Boden und hielt eine durchsichtige Kugel von der Größe eines Hauses. Und diese Kugel leuchtete wie die prächtige Sommersonne.

Alle Gedanken an die Atha'an Miere waren verschwunden, als Timna ihren Umhang straffte und sich auf den Boden setzte. Der Gedanke, dass sie die Erfüllung einer Prophezeiung und das Ende der Illusion sah, ließ sie lächeln.

»Wenn Ihr wirklich eine der Auserwählten seid, werde ich Euch dienen«, sagte der bärtige Mann vor Cyndane voller Zweifel, aber sie bekam nicht mit, was er sonst noch zu sagen hatte.

Sie konnte es fühlen. So viel auf eine Stelle gerichtetes Saidar war ein Leuchtfeuer, das jede Frau auf der Welt, die die Macht lenken konnte, fühlen und finden würde. Also hatte er eine Frau für den anderen Zugangsschlüssel gefunden. Dabei wäre sie zusammen mit ihm dem Großen Herrn — dem Schöpfer!- gegenübergetreten. Sie hätte die Macht mit ihm geteilt, ihn die Welt an ihrer Seite beherrschen lassen. Und er hatte ihre Liebe zurückgewiesen, hatte sie zurückgewiesen!

Der Narr, der da vor ihr etwas plapperte, war ein wichtiger Mann, was solche Dinge an diesem Ort anging, aber sie hatte keine Zeit, sich seiner Vertrauenswürdigkeit zu versichern. Doch wenn sie das nicht tat, konnte sie ihn nicht so einfach zurücklassen und das Risiko eingehen, dass er anderen alles erzählte. Nicht, wenn sie Moridins Hand spüren konnte, die das Cour'souvra mit ihrer Seele liebkoste. Ein rasiermesserscharfer Strom Luft schnitt den Bart des Burschen in zwei Teile, als sie seinen Kopf nahm. Ein zweiter Strom stieß den Körper zurück, so dass das Blut, das wie eine Fontäne aus dem Halsstumpf schoss, nicht ihr Gewand beschmutzte. Bevor Kopf und Körper auf den Steinboden auftrafen, hatte sie schon ihr Wegetor gewoben. Ein Leuchtfeuer, das sie bestimmen konnte, das sie anlockte.

Als sie den hügeligen Wald betrat, dessen Boden von unregelmäßig geformten Schneehaufen bedeckt wurde und von dessen kahlen Bäumen dicke, braune Schlingpflanzen herabhingen, fragte sie sich, wo das Leuchtfeuer sie hingeführt hatte. Aber es spielte keine Rolle. Südlich von ihr strahlte das Leuchtfeuer, genug Saidar, um einen Kontinent auf einen Schlag zu verwüsten. Er würde dort sein, er und wer auch immer diese Frau war, mit der er sie betrogen hatte. Sorgfältig griff sie nach der Macht, um ein Gewebe für seinen Tod zu spinnen.

Blitze zuckten aus dem wolkenlosen Himmel, wie Cadsuane sie nie zuvor gesehen hatte. Nicht normal gezackte Blitze, sondern silberblaue Lanzen, die auf der Hügelkuppe einschlugen, auf der sie stand, die statt ihr den umgedrehten Schild trafen, den sie gewoben hatte, die fünfzig Fuß über ihrem Kopf mit ohrenbetäubendem Krachen niedergingen. Selbst innerhalb des Schildes knisterte die Luft und ihr Haar richtete sich auf. Ohne die Hilfe des Angreals, das von ihrem Haarknoten herabbaumelte und eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Haubenwürger hatte, wäre sie nicht in der Lage gewesen, den Schild aufrechtzuerhalten.

Ein zweiter goldener Vogel, eine Schwalbe, hing an einer dünnen Kette von ihrer Hand. »Dort«, sagte sie und zeigte in die Richtung, in die sie zu fliegen schien. Eine Schande, dass sie nicht feststellen konnte, aus welcher Entfernung die Macht gelenkt worden war, ob von einem Mann oder einer Frau, aber die Richtung würde reichen müssen. Sie hoffte, dass es keine ... Pannen geben würde. Dort draußen befanden sich auch ihre Leute. Doch wenn die Warnung zusammen mit einem Angriff kam, konnte es keinen Zweifel geben.

Das Wort hatte ihren Mund noch nicht ganz verlassen, als im Norden des Waldes auch schon eine Flammensäule in die Höhe wuchs, gefolgt von der nächsten und der übernächsten, eine schwankende Linie, die nordwärts raste. Callandor leuchtete in den Händen des jungen Jahars wie eine Flamme. Der Konzentration auf Elzas Gesicht nach zu urteilen sowie der Art und Weise, wie sie ihre Fäuste in ihre Röcke krallte, war überraschenderweise sie diejenige, die diese Ströme lenkte.

Merise ergriff eine Hand voll vom schwarzen Haar des Jungen und zog sanft an seinem Kopf. »Ruhig, mein Hübscher«, murmelte sie. »Oh, ganz ruhig, mein wunderschöner starker Mann.« Er lächelte sie an, es war ein hinreißendes Lächeln.

Cadsuane schüttelte kaum merklich den Kopf. Die Beziehung einer Schwester zu ihrem Behüter zu verstehen war immer schwierig, vor allem bei den Grünen, aber sie konnte nicht einmal annähernd ergründen, was sich zwischen Merise und ihrem Jungen abspielte.

Ihre eigentliche Aufmerksamkeit galt jedoch einem anderen Jungen. Nynaeve schwankte; sie stöhnte vor Ekstase, als diese unglaubliche Menge Saidar durch sie hindurchfloss, aber Rand saß da wie ein Stein, und Schweiß rann über sein Gesicht. Seine Augen war leer, wie polierte Saphire. War er sich überhaupt dessen bewusst, was um ihn herum geschah?

Die Schwalbe drehte sich unter ihrer Hand an ihrer Kette.

»Dort«, sagte sie und zeigte auf die Ruinen von Shadar Logoth.

Rand konnte Nynaeve nicht länger sehen. Er konnte überhaupt nichts mehr sehen, auch nichts mehr fühlen. Er schwamm in wogenden Flammenseen, kroch über zusammenbrechende Eisberge. Die Fäulnis floss wie die Gezeiten eines Ozeans und drohte ihn davonzuspülen. Wenn er auch nur einen Augenblick lang die Kontrolle verlor, würde sie alles mit sich reißen, was ihn ausmachte, und es ebenfalls in die Röhre spülen. Genauso schlimm —oder vielleicht sogar noch schlimmer — war die Tatsache, dass trotz des Stroms an Schmutz, der durch die seltsame Blume floss, der Makel auf der männlichen Hälfte der Quelle nicht abzunehmen schien. Er war wie Öl, das in einer so dünnen Schicht auf dem Wasser schwamm, dass man es erst dann bemerkte, wenn man die Oberfläche berührte; es bedeckte die Unermesslichkeit der männlichen Hälfte und war selbst ein Ozean für sich. Er musste durchhalten. Er musste es. Aber für wie lange? Wie lange konnte er durchhalten?

Falls er wieder rückgängig machen konnte, was al'Thor mit der Quelle angestellt hatte, überlegte Demandred, als er Shadar Logoth durch sein Tor betrat, es plötzlich und unvermittelt ungeschehen machte, würde das den Mann vielleicht töten oder zumindest die Fähigkeit zum Lenken der Macht aus ihm herausbrennen. Er hatte al'Thors Plan ergründet, sobald ihm klar geworden war, wo sich der Zugangsschlüssel befand. Ein brillantes Vorhaben, wie er neidlos anerkannte, aber wahnsinnig gefährlich. Lews Therin war ein großartiger Pläneschmied gewesen, wenn auch sicher nicht so brillant, wie alle immer behauptet hatten. Nicht annähernd so brillant wie Demandred.

Aber ein Blick auf die mit Geröll übersäte Straße, und er dachte nicht mehr daran, etwas zu verändern. Neben ihm erhob sich eine unvollständige blasse Kuppel, deren zerschmetterte Spitze sich etwa zweihundert Fuß oder noch höher über der Straße befand, und aus dem Himmel darüber fiel das Licht des Vormittags. Doch vom gezackten Rand der Ruine bis zur Straße hinunter war die Luft voller Schatten, so als würde bereits die Nacht hereinbrechen. Die Stadt... bebte. Er konnte es durch die Stiefelsohlen hindurch fühlen.

Feuer schoss im Wald empor, große durch Saidin verursachte Explosionen schleuderten mit Flammenzungen Bäume in die Luft, die auf ihn zurasten, aber er webte bereits ein Wegetor. Er sprang hinein, ließ es verschwinden und lief so schnell er konnte zwischen den von Schlingpflanzen umklammerten Bäumen hindurch, pflügte durch Schneefelder, stolperte über im Schlamm verborgene Steine, wurde aber nicht langsamer, nicht einen Moment lang. Er war Soldat gewesen. Noch immer rennend hörte er die erwarteten Explosionen, und er wusste, dass sie so sicher auf die Stelle zurasten, an der sein Tor entstanden war, wie sie in den Ruinen direkt auf ihn zugekommen waren. Aber sie waren jetzt weit genug von ihm entfernt, um keine Gefahr mehr darzustellen. Ohne das Tempo zu verringern, wandte er sich dem Zugangsschlüssel zu. Bei der Menge von Saidin, die hindurchströmte, hätte genauso gut ein flammender Pfeil am Himmel auf al'Thor zeigen können.

Falls niemand in diesem verfluchten Zeitalter keine weitere unbekannte Fähigkeit entdeckt hatte, musste al'Thor ein Gerät, ein Ter'angreal, in seinen Besitz gebracht haben, das einen Machtlenker aufspürte. So viel er über die Zeit wusste, welche die Menschen nun als die Zerstörung der Welt bezeichneten — nachdem er im Shayol Ghul eingekerkert worden war —, hätte jede Frau, die in der Lage war, ein Ter'angreal herzustellen, den Versuch unternommen, so etwas zu erschaffen. Im Krieg ließ sich die andere Seite immer etwas einfallen, mit dem man nicht gerechnet hatte, und man musste etwas dagegensetzen. Im Krieg war er immer gut gewesen. Aber zuerst musste er näher heran.

Plötzlich sah er zu seiner Rechten Leute voraus und ging hinter einem grauen Baumstamm in Deckung. Ein kahler alter Mann mit einem weißen Haarkranz hinkte zwischen zwei Frauen daher, von denen eine auf wilde, aufregende Weise schön war, während die andere schlichtweg atemberaubend aussah. Was taten sie hier im Wald? Wer waren sie? Freunde von al'Thor oder einfach nur Leute, die zur falschen Zeit am falschen Ort waren? Er zögerte, sie zu töten, wer sie auch waren. Jede Anwendung der Macht würde al'Thor warnen. Er würde warten müssen, bis sie vorbei waren. Der alte Mann drehte den Kopf, als suchte er etwas zwischen den Bäumen, aber Demandred bezweifelte, dass ein so hinfälliger Bursche so weit sehen konnte.

Plötzlich blieb der alte Mann stehen und stieß seine Hand genau in Demandreds Richtung nach vorn, und er sah sich unvermittelt gezwungen, ein Netz aus Saidin abzuwehren, das seinen Abwehrschild viel härter traf, als er eigentlich erwartet hatte; so hart, wie sein eigenes Gewebe es getan hätte. Der hinkende alte Mann war ein Asha'man! Und mindestens eine der Frauen musste das sein, was in diesem Zeitalter als Aes Sedai bezeichnet wurde, und sich mit dem Burschen zu einem Zirkel zusammengeschlossen haben.

Er versuchte, einen eigenen Angriff zu starten und sie zu zerschmettern, aber der Alte schleuderte ihm ohne Unterlass ein Gewebe nach dem anderen entgegen, und er konnte nichts anderes tun, als sie abzuwehren. Diejenigen, die die Bäume trafen, hüllten sie in Flammen oder ließen die Stämme zersplittern. Er war ein General, ein großer General, aber Generäle hätten es nicht nötig, an der Seite der Männer zu kämpfen, die sie befahlen! Fluchend zog er sich zwischen dem Prasseln brennender Bäume und dem Donner der Explosionen zurück. Fort von dem Schlüssel. Früher oder später musste der Alte ermüden und dann konnte er sich al'Thor widmen und ihn töten. Falls nicht einer der anderen es vor ihm schaffte. Er hoffte inständig, dass sie versagten.

Die Röcke bis zu den Knien gerafft, rannte Cyndane fluchend von ihrem dritten Wegetor fort, sobald sie es verlassen hatte. Sie konnte die Explosionen auf die Stelle zurasen hören, aber diesmal begriff sie, warum sie direkt auf sie zielten. Sie stolperte über im Schnee verborgene Ranken und stieß gegen Bäume. Sie hasste Wälder! Wenigstens waren ein paar der anderen da — sie hatte gesehen, dass die emporschießenden Feuersäulen auch in andere Richtungen rasten; sie spürte, dass Saidar an mehr als nur einem Ort gewoben wurde, und zwar voller Zorn —, aber sie betete zum Großen Herrn, dass sie Lews Therin als Erste erreichte. Denn ihr war klar geworden, dass sie ihn sterben sehen wollte, und dafür musste sie näher heran.

Osan'gar kauerte hinter einem umgestürzten Baumstamm und keuchte von der Anstrengung des Laufens. Die Monate, die er als Corlan Dashiva maskiert verbracht hatte, hatten ihm Leibesübungen nicht schmackhafter gemacht. Die Explosionen, die ihn um ein Haar getötet hätten, verklangen, fingen dann aber in der Ferne von vorn an, und er schob sich vorsichtig ein kleines Stück höher, um über den Stamm zu spähen. Nicht, dass er der Meinung war, dass ein Stück Holz großen Schutz bot. Er war nie Soldat gewesen, nein, wirklich nicht. Seine Talente, sein Genie lag anderswo. Er hatte die Trollocs erschaffen und somit auch die Myrddraal, die aus ihnen hervorgegangen waren, und viele andere Kreaturen, die die Welt erschüttert und seinen Namen berühmt gemacht hatten. Der Zugangsschlüssel pulsierte vor Saidin, aber er konnte fühlen, dass in andere Richtungen auch geringere Mengen gelenkt wurden.

Er hatte damit gerechnet, dass andere Auserwählte vor ihm hier waren, hatte gehofft, sie hätten die Aufgabe vor seinem Eintreffen erledigt, aber offensichtlich war das nicht der Fall. Denn genauso offensichtlich hatte al'Thor ein paar dieser Asha'man mitgebracht, und der Menge von Saidin nach zu urteilen, die sich in den auf ihn ge —richteten Explosionen befunden hatte, obendrein auch noch Callandor. Und vielleicht ein paar seiner zahmen so genannten Aes Sedai.

Er ging zurück in die Hocke und biss sich auf die Lippe. Dieser Wald war ein sehr gefährlicher Ort, mehr, als er erwartet hatte, und überhaupt nicht für ein Genie geeignet. Aber die Tatsache blieb bestehen, dass Moridin ihm schreckliche Angst einjagte. Der Mann hatte ihm immer Angst eingejagt, gleich von Anfang an. Er war verrückt vor Machthunger gewesen, bevor man sie in dem Stollen versiegelt hatte, und seit ihrer Befreiung schien er zu glauben, er sei der Große Herr. Wenn er jetzt die Flucht ergriff, würde Moridin dies herausfinden und ihn töten. Was aber noch schlimmer war, sollte al'Thor Erfolg haben, könnte sich der Große Herr dazu entscheiden, beide zu töten und Osan'gar gleich mit. Ihm war egal, ob die anderen starben, aber um sich selbst machte er sich große Sorgen.

Er war nicht gut darin, die Zeit am Sonnenstand zu schätzen, aber es war offensichtlich kurz vor Mittag. Er erhob sich vom Boden, putzte an dem Dreck auf seiner Kleidung herum, gab dann angewidert auf und fing an, in einer, wie er fand, verstohlenen Weise geduckt von einem Baum zum nächsten zu huschen. Immer auf den Schlüssel zu. Vielleicht würde einer der anderen den Mann ja erledigen, bevor er dort war, aber wenn nicht, würde er möglicherweise eine Gelegenheit finden, der Held zu sein. Natürlich mit aller gebotenen Vorsicht.

Verin verfolgte stirnrunzelnd die Erscheinung, die sich links von ihr einen Weg zwischen den Bäumen vorbei suchte. Ihr fiel keine andere Bezeichnung für eine Frau ein, die juwelenbeladen und in einem Gewand, das nacheinander jede Farbe von Schwarz bis Weiß annahm und manchmal auch durchsichtig wurde, durch den Wald spazierte! Sie beeilte sich nicht, aber sie ging in Richtung des Hügels, auf dem sich Rand befand. Und wenn sich Verin nicht sehr irrte, war sie eine der Verlorenen.

»Wollen wir sie bloß beobachten?«, flüsterte Shalon wütend. Sie war aufgebracht gewesen, dass sie nicht die Ströme verknüpfen durfte, als würde die Stärke einer Wilden bei Aes Sedai etwas zählen, und der stundenlange Marsch durch den Wald hatte ihre Laune nicht verbessert.

»Wir müssen etwas tun«, sagte Kumira leise, und Verin nickte.

»Ich habe gerade entschieden, was.« Eine Abschirmung. Eine gefangene Verlorene könnte sich als nützlich erweisen.

Sie webte die Abschirmung mit der vollen Kraft ihres Zirkels und sah entsetzt, wie sie abprallte. Die Frau umarmte bereits Saidar, obwohl um sie herum kein Licht aufflackerte, und sie war ungeheuer stark!

Dann hatte sie keine Zeit mehr zum nachdenken, denn die Frau mit dem goldenen Haar wirbelte herum und begann, die Macht zu lenken. Verin konnte die Gewebe nicht sehen, aber sie wusste, dass sie sich einem Angriff auf ihr Leben stellte, und sie war viel zu weit gekommen, um hier zu sterben.

Eben zog den Urnhang enger um seinen Körper und wünschte sich, er wäre besser darin, die Kälte zu ignorieren. Einfache Kälte konnte er ignorieren, aber nicht den Wind, der aufgekommen war, seit die Sonne ihren Zenit überschritten hatte. Die drei mit ihm verknüpften Schwestern überließen ihre Umhänge einfach den Böen, während sie alle Richtungen gleichzeitig im Auge zu behalten versuchten. Daigian führte den Zirkel — vermutlich seinetwegen —, aber sie schöpfte mit solch leichter Hand, dass er kaum einen Hauch von Saidin durch sich hindurchfließen spürte. Sie wollte sich dem nicht stellen, bevor es unbedingt nötig war. Er schob ihre Kapuze zurecht und sie lächelte ihn aus ihren Tiefen an. Der Bund übertrug ihre Zuneigung für ihn und die seine zu ihr, wie er vermutete. Mit der Zeit würde er für die kleine Aes Sedai vermutlich Liebe empfinden.

Der tosende Saidin-Strom weit hinter ihm überlagerte immer wieder seine Fähigkeit, andere aktive Machtlenker zu fühlen, aber er konnte spüren, wie andere die Macht lenkten. Die Schlacht hatte an anderer Stelle begonnen und bis jetzt waren sie vier nur umhergelaufen. Aber das störte ihn nicht besonders. Er war bei den Quellen von Dumai dabei gewesen und hatte gegen die Seanchaner gekämpft, und er hatte gelernt, dass es viel mehr Spaß machte, über Schlachten zu lesen, als sie zu schlagen. Was ihn jedoch störte, war der Umstand, dass man ihm nicht die Kontrolle über den Zirkel gegeben hatte. Natürlich hatte sie Jahar auch nicht, aber er war fest davon überzeugt, dass sich Merise damit amüsierte, Jahar einen Keks auf der Nase balancieren zu lassen. Damer hatte die Kontrolle über den Zirkel. Nur weil der Mann ein paar Jahre älter als er war — nun, es waren mehr als nur ein paar Jahre; er war älter als sein Vater —, war nun wirklich kein Grund, dass Cadsuane ihn wie einen ...

»Könnt Ihr mir helfen? Ich scheine mich verirrt zu haben und habe mein Pferd verloren.« Die Frau, die vor ihnen hinter einem Baum hervortrat, hatte nicht einmal einen Umhang. Stattdessen trug sie ein Gewand aus dunkelgrüner Seide, das so tief ausgeschnitten war, dass die Hälfte ihres üppigen Busens entblößt war. Locken schwarzen Haars umrahmten ein wunderschönes Gesicht mit grünen Augen, die funkelten, wenn sie lächelte.

»Ein seltsamer Ort für einen Ausritt«, sagte Beldeine misstrauisch. Die hübsche Grüne war nicht begeistert gewesen, als Cadsuane Daigian den Befehl übergeben hatte, und sie hatte jede sich bietende Gelegenheit ergriffen, um ihre Meinung über Daigians Entscheidungen kundzutun.

»Ich hatte nicht so weit reiten wollen«, sagte die Frau und kam näher. »Wie ich sehe, seid ihr alle Aes Sedai. Mit einem... Bräutigam? Wisst ihr, was hier vor sich geht?«

Plötzlich fühlte Eben, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich. Es war unmöglich, was er da fühlte! Die Frau mit den grünen Augen runzelte überrascht die Stirn und er tat das Einzige, das er tun konnte.

»Sie hält Saidin!«, rief er und stürzte sich auf sie, während er fühlte, wie Daigian tief von der Macht schöpfte.

Beim Anblick der Frau, die etwa hundert Schritte voraus zwischen den Bäumen stand, wurde Cyndane langsamer; es handelte sich um eine hochgewachsene Frau mit hellblonden Haaren, die einfach zusah, wie sie näher kam. Die Schlachten, die an anderen Orten mit der Macht ausgetragen wurden, machten sie misstrauisch, gaben ihr gleichzeitig aber auch neue Zuversicht. Die Frau war in einfache Wolle gekleidet, andererseits war sie mit Juwelen behängt, als wäre sie eine große Lady. Mit dem Saidar in ihr konnte Cyndane die feinen Fältchen an den Augenwinkeln der anderen Frau sehen. Also gehörte sie nicht zu denen, die sich Aes Sedai nannten. Aber wer war sie dann? Und warum stand sie da, als wollte sie Cyndane den Weg versperren? Es spielte keine Rolle. Jetzt die Macht zu benutzen würde sie verraten, aber sie hatte ja Zeit. Der Schlüssel leuchtete noch immer wie ein Leuchtfeuer der Macht. Lews Therin lebte noch. Ganz egal, wie wild die Augen der Frau blickten, falls sie wirklich glaubte, ein Hindernis zu sein, würde für sie ein Messer reichen. Und nur für den Fall, dass sie sich als das erwies, was man Wilde nannte, bereitete Cyndane ein kleines Geschenk für sie vor, ein umgedrehtes Gewebe, das sie nicht einmal sehen würde, bevor es zu spät war.

Plötzlich flammte das Licht Saidars um die Frau auf, aber der bereitgehaltene Feuerball schoss aus Cyndanes Hand, klein genug, um jeder Entdeckung zu entgehen, wie sie hoffte, aber groß genug, um ein Loch in die Frau zu brennen ...

In dem Augenblick, in dem das Gewebe aus Feuer die Frau erreichte, als es fast nahe genug war, um ihr Kleid anzusengen, löste es sich in seine Bestandteile auf. Die Frau tat nichts; das Netz löste sich einfach auf! Cyndane hatte noch nie von einem Ter'angreal gehört, das ein Gewebe zerstören konnte, aber es konnte sich nur darum handeln.

Dann schlug die Frau zurück und sie erlebte ihren zweiten Schock. Sie war stärker als Cyndane, bevor die Aelfinn und die Eelfinn sie in ihrer Gewalt gehabt hatten! Das war unmöglich; keine Frau konnte stärker sein. Sie musste auch ein Angreal haben. Der Schock dauerte nur die Zeit an, die es kostete, die Ströme der Frau zu durchtrennen. Offensichtlich wusste sie nicht, wie sie sie zurücknehmen musste. Vielleicht würde dieser Vorteil ausreichen. Sie würde Lews Therin sterben sehen! Die hoch gewachsene Frau zuckte zusammen, als die durchtrennten Ströme in sie hineinschnellten, aber noch während sie den Schlag hinnahm und mit den Füßen einen besseren Stand suchte, schlug sie erneut zu. Mit einem Knurren wehrte sich Cyndane und der Boden unter ihren Füßen bäumte sich auf. Sie würde ihn sterben sehen! Sie würde ihn sterben sehen!

Der hohe Hügel lag nicht in unmittelbarer Nähe des Zugangsschlüssels, trotzdem leuchtete der Schlüssel so hell in Moghediens Kopf, dass sie nach einem kleinen Schluck dieses gewaltigen Saidar-Stioms dürstete. So viel zu halten, nur der tausendste Teil einer solchen Menge, würde die schiere Ekstase sein. Sie dürstete danach, aber diese bewaldete Stellung war so nahe daran, wie sie vorhatte heranzugehen. Allein die Bedrohung von Moridins Händen, die ihr Cour'souvra liebkosten, hatte sie dazu getrieben, an diesen Ort zu reisen, und sie hatte es hinausgezögert und darum gebetet, dass alles vorbei sein würde, bevor man sie dazu gezwungen hatte. Sie hatte immer im Verborgenen gearbeitet, aber sie war noch nicht richtig da gewesen, als sie sich auch schon vor einem Angriff in Sicherheit bringen musste. In dem sich unter ihr im Licht der frühen Nachmittagssonne ausbreitenden Wald zuckten an weit voneinander entfernten Stellen mit Saidar gewobene Blitze und Flammensäulen auf; dazu kamen auch noch einige, die aus Saidin bestehen mussten. Schwarze Rauchwolken quollen von brennenden Baumstümpfen empor, ohrenbetäubende Explosionen hallten durch die Luft.

Es kümmerte sie nicht, wer da kämpfte, wer lebte und wer starb. Natürlich wäre es erfreulich gewesen, wenn Cyndane oder Graendal umgekommen wären. Oder gar beide. Moghedien würde das nicht passieren, sie würde sich nicht mitten über ein Schlachtfeld schleppen. Und als wäre das nicht schon schlimm genug gewesen, erhob sich noch etwas jenseits des leuchtenden Schlüssels, eine gewaltige abgeflachte Kuppel aus Finsternis mitten im Wald, so als hätte sich die Nacht in Stein verwandelt. Sie zuckte zusammen, als Bewegung in die schwarze Oberfläche kam, so als würde eine kleine Welle durch sie hindurchfahren. Die Kuppel wuchs deutlich sichtbar ein Stück in die Höhe. Reiner Wahnsinn, sich näher heranzuwagen, was auch immer es war. Moridin würde nicht wissen, was sie hier tat oder auch nicht.

Sie zog sich auf die Rückseite des Hügels zurück, fort von dem leuchtenden Schlüssel und der seltsamen Kuppel, setzte sich und tat das, was sie schon so oft in der Vergangenheit getan hatte. Aus den Schatten zusehen und überleben.

Rand schrie im Inneren seines Kopfes. Er war sich sicher, dass er schrie, dass Lews Therin schrie, aber in dem Chaos konnte er keine der beiden Stimmen ausmachen. Der widerwärtige Ozean des Makels schoss mit rasender Geschwindigkeit durch ihn hindurch. Flutwellen aus Verderbnis begruben ihn unter sich. Tobende Sturmwinde aus Schmutz rissen an ihm. Allein der Makel verriet ihm, dass er die Macht noch umarmt hielt. Saidin hätte sich verändern, aufflammen, ihn töten können, und er hätte es nicht bemerkt. Diese stinkende Flut überlagerte alles andere, und er klammerte sich mit den Fingernägeln fest, um zu verhindern, dass er davon fortgespült wurde. Der Makel war in Bewegung geraten. Das war alles, was jetzt zählte. Er musste durchhalten!

»Min, was könnt Ihr mir sagen?« Trotz ihrer Müdigkeit hielt sich Cadsuane auf den Beinen. Diesen Schild fast den ganzen Tag aufrechtzuerhalten hätte ausgereicht, um jeden zu erschöpfen.

Schon seit einiger Zeit war kein Angriff mehr auf die Hügelkuppe erfolgt, und tatsächlich schien das einzige Lenken der Macht, das sie spüren konnte, von Nynaeve und dem Jungen auszugehen. Elza schritt einen endlosen Kreis um den Kamm ab; sie war noch immer mit Merise und Jahar verknüpft, aber im Augenblick gab es nichts für sie zu tun, außer die Hügel in der Umgebung im Auge zu behalten. Jahar saß auf einem Stein und hielt das leicht glimmende Callandor in der Armbeuge. Merise saß neben ihm auf dem Boden, den Kopf auf die Knie gebettet, und er streichelte ihr übers Haar.

»Nun, Min?«, wollte Cadsuane wissen.

Das Mädchen schaute wütend von der Senke in dem steinigen Boden auf, in die Tomas und Moad sie und Harine hingesetzt hatten. Wenigstens hatten die Männer genug Verstand gehabt, um einzusehen, dass sie in diesem Kampf nichts tun konnten. Harine schaute mürrisch drein, und mehr als nur einmal hatte einer der Männer Min daran hindern müssen, zu dem jungen al'Thor zu gehen. Sie hatten ihr sogar die Messer abnehmen müssen, nachdem sie sie damit bedroht hatte.

»Ich weiß, dass er lebt«, murmelte das Mädchen, »und ich glaube, er leidet Schmerzen. Aber wenn ich genug spüre, um zu dem Schluss zu kommen, dass er Schmerzen hat, dann muss er Qualen durchleiden. Lasst mich zu ihm gehen.«

»Ihr würdet jetzt nur im Weg sein.«

Cadsuane ignorierte das Aufstöhnen des Mädchens und ging über den steinigen Boden zu Rand und Nynaeve hinüber, wandte aber einen Augenblick lang den Blick von ihnen. Selbst aus der Entfernung von einigen Meilen sah die schwarze Kuppel gewaltig aus, sie war mindestens tausend Fuß hoch. Und sie schwoll an. Ihre Oberfläche sah wie schwarzer Stahl aus, obwohl sie im Licht der Nachmittagssonne nicht funkelte. In ihrer Nähe schien das Licht sogar schwächer zu werden.

Rand saß in der gleichen Position wie zu Anfang da, eine reglose, blinde Statue mit schweißbedecktem Gesicht. Falls er Qualen erlitt, wie Min behauptete, ließ er sich jedenfalls nichts anmerken. Und wenn es so war, wusste Cadsuane sowieso nicht, was sie hätte tun können. Ihn jetzt in irgendeiner Weise zu stören würde möglicherweise schreckliche Konsequenzen haben. Cadsuane warf der totenschwarzen, wachsenden Kuppel einen Blick zu und grunzte. Vielleicht würde es schon schreckliche Konsequenzen haben, dass man ihn überhaupt damit hatte beginnen lassen.

Mit einem Aufstöhnen rutschte Nynaeve von ihrer Steinbank auf den Boden. Ihr Gewand war schweißgetränkt, Haarsträhnen klebten in ihrem feuchten Gesicht. Ihre Lider zitterten schwach, ihre Brüste wogten, als sie verzweifelt nach Luft schnappte. »Aufhören«, wimmerte sie. »Ich kann es nicht mehr ertragen.«

Cadsuane zögerte, etwas, woran sie nicht gewöhnt war. Das Mädchen konnte den Zirkel nicht verlassen, bis der junge al'Thor sie freigab, aber vorausgesetzt, diese Choedan Kai hatten nicht den gleichen Fehler wie Callandor, würde sie ausreichend dagegen geschützt sein, so viel Macht aufzunehmen, dass sie einen Schaden davontrug.

Andererseits diente sie als Kanal für mehr Saidar, als die ganze Weiße Burg mit sämtlichen ihrer im Besitz befindlichen Angreale und Sa'angreale fähig zu beherrschen gewesen wäre. Nachdem dies nun seit Stunden durch sie hindurchströmte, würde sie möglicherweise an körperlicher Erschöpfung sterben.

Sie kniete neben dem Mädchen nieder, legte die Schwalbe neben sich auf den Boden, nahm ihren Kopf in beide Hände und verringerte die Menge an Saidar, die sie in den Schild fließen ließ. Ihre Fähigkeiten im Heilen waren allenfalls durchschnittlich, aber sie würde einen Teil der Erschöpfung des Mädchens fortspülen, ohne selbst zusammenzubrechen. Dabei war sie sich des geschwächten Schildes über ihnen ständig bewusst, und sie beeilte sich, die Gewebe zu formen.

Osan'gar erreichte die Hügelkuppe, ließ sich zu Boden fallen und lächelte, als er zur Seite kroch, um hinter einem Baum in Deckung zu gehen. Von dieser Position aus konnte er mit dem Saidin in ihm den benachbarten Hügel deutlich sehen — genau wie die Leute, die sich dort befanden. Es waren weniger als erwartet. Eine Frau zog langsam ihre Runden um den Kamm und beobachtete die Bäume, aber alle anderen bewegten sich nicht. Narishma saß mit dem glühenden Callandor in den Händen da, eine Frau hatte den Kopf auf sein Knie gebettet. Dann waren da noch zwei andere Frauen, eine kniete über der anderen, aber sie beide wurden größtenteils vom Rücken eines Mannes verdeckt. Er brauchte das Gesicht des Mannes nicht zu sehen, um al'Thor zu erkennen. Der Schlüssel auf dem Boden neben ihm verriet ihn. Für Osan'gars Augen leuchtete er strahlend hell. In seinem Kopf überstrahlte er die Sonne, tausend Sonnen. Was er damit hätte machen können! Eine Schande, dass er zusammen mit al'Thor vernichtet werden musste. Aber er konnte noch immer Callandor an sich nehmen, nachdem al'Thor tot war. Keiner der Auserwählten besaß auch nur so etwas wie ein Angreal Selbst Moridin würde vor ihm erzittern, sobald er das Kristallschwert besaß. Nae'blis? Sie würden Osan'gar zum Nae'blis machen, nachdem er al'Thor vernichtet und all das, was er hier getan hatte, wieder ungeschehen gemacht hatte. Mit einem leisen Lachen wob er Baalsfeuer. Wer hätte je gedacht, dass er sich als Held des Tages erweisen würde?

Elza schritt langsam daher und musterte die bewaldeten Hügel ringsum. Plötzlich verharrte sie. Im Augenwinkel hatte sie eine winzige Bewegung gesehen. Langsam drehte sie den Kopf, aber nicht bis zu dem Hügel, auf dem sie das Aufblitzen gesehen hatte. Der Tag war für sie sehr schwierig gewesen. Während ihrer Gefangenschaft in den Aielzelten in Cairhien war ihr bewusst geworden, dass es für den Wiedergeborenen Drachen an erster Stelle darauf ankam, sich der Letzten Schlacht zu stellen. Das war plötzlich so unfassbar offensichtlich gewesen, dass es sie erstaunt hatte, dass ihr das vorher nicht bewusst gewesen war. Jetzt war es ihr klar, so klar wie Saidar das Gesicht des Mannes erhellte, der sich auf dem Hügel zu verstecken versuchte, während er an einem Baumstamm vorbei spähte. Heute war sie gezwungen gewesen, gegen die Auserwählten zu kämpfen. Sicherlich würde der Große Herr es verstehen, falls sie tatsächlich einen von ihnen getötet hatte, aber Corlan Dashiva war nur ein Asha'man. Dashiva richtete die Hand auf den Hügel, auf dem sie stand, und sie schöpfte so tief sie konnte aus Callandor in Jahars Händen. Saidin war ihrer Meinung nach gut für Zerstörungszwecke zu gebrauchen. Ein gewaltiger aufblitzender Feuerball in Rot, Gelb und Blau hüllte die andere Hügelkuppe ein. Als die Flammen verschwanden, endete sie in einem glatten Plateau, das fünfzig Schritte niedriger als der alte Kamm war.

Moghedien wusste nicht, warum sie so lange geblieben war. In zwei Stunden ging die Sonne unter und der Wald war still. Bis auf den Schlüssel konnte sie kein angewandtes Saidar mehr fühlen. Das schloss nicht aus, dass jemand noch kleine Mengen benutzte, aber das war nicht mit dem Zorn vergleichbar, der zuvor hier gewütet hatte. Die Schlacht war zu Ende, die anderen Auserwählten tot oder besiegt auf der Flucht. Die Niederlage war offensichtlich, da der Schlüssel noch immer in ihrem Kopf loderte. Es war erstaunlich, dass die Choedan Kai die ununterbrochene Benutzung auf dieser Stufe überstanden hatten.

Sie lag oben auf ihrem Aussichtspunkt auf dem Bauch, das Kinn auf die Hände gestützt, und betrachtete die große Kuppel. Schwarz schien sie nicht länger richtig zu beschreiben. Es gab keinen richtigen Begriff mehr dafür, aber Schwarz war eine vergleichsweise schwache Farbe. Es war nun eine Halbkugel, die sich wie ein Berg zwei Meilen oder mehr in den Himmel erhob. Sie wurde von einer tiefen Schattenschicht umgeben, so als würde sie das letzte Licht aus der Luft saugen. Moghedien konnte nicht begreifen, warum sie keine Angst hatte. Das Ding würde möglicherweise wachsen, bis es die ganze Welt einhüllte, vielleicht würde es — so wie Aran'gar gemeint hatte — die Welt auch zerschmettern. Aber falls das geschah, würde es keinen sicheren Ort geben, keine Schatten, in denen sich die Spinne verbergen konnte.

Plötzlich wand sich etwas aus der dunklen, glatten Oberfläche heraus, etwas, das an eine Flamme erinnerte, falls Flammen schwärzer als schwarz sein konnten, gefolgt von der nächsten und der übernächsten, bis die Kuppel von brodelndem stygischen Feuer bedeckt wurde. Das Tosen zehntausender Donnerschläge ließ Moghedien die Hände auf die Ohren schlagen und in dem Getöse lautlos aufkreischen, dann brach die Kuppel in der Zeit eines Herzschlages in sich zusammen, schrumpfte auf die Größe einer Nadelspitze, löste sich in Nichts auf. Dann heulte der Wind auf und raste auf die Stelle zu, an der sich die verschwundene Kuppel befunden hatte. Er schleifte Moghedien über den steinigen Boden, ganz egal, wie verzweifelt sie sich auch bemühte, sich irgendwo festzuhalten, schleuderte sie gegen Bäume und hob sie in die Luft. Seltsamerweise verspürte sie noch immer keine Furcht. Wenn sie dies überlebte, würde sie niemals wieder Furcht empfinden.

Cadsuane ließ das Ding, das einmal ein Ter'angreal gewesen war, zu Boden fallen. Man konnte es nicht länger als die Statue einer Frau bezeichnen. Das Gesicht drückte noch immer die gleiche erhabene Weisheit aus wie zuvor, aber die Figur war in zwei Stücke zerbrochen; die eine Seite war geschmolzen und so klumpig wie aufgekochtes Wachs, und der Arm mit der Kristallkugel lag nun in Splittern um das zerstörte Ding herum. Die männliche Figur war unversehrt und steckte bereits in ihrer Satteltasche. Callandor war ebenfalls gesichert. Es war besser, keine Versuchungen auf der offenen Hügelspitze liegen zu lassen. Wo sich einst Shadar Logoth befunden hatte, klaffte nun eine gewaltige Öffnung im Wald, die perfekt kreisförmig und so groß war, dass Cadsuane trotz der dicht über dem Horizont stehenden Sonne sehen konnte, wie die gegenüberliegende Seite schräg in die Tiefen der Erde führte.

Lan führte sein hinkendes Schlachtross den Abhang hinauf und ließ die Zügel fallen, als er Nynaeve auf dem Boden ausgestreckt liegen und bis zum Kinn mit ihrem Umhang zugedeckt sah. Der junge al'Thor lag ebenfalls in seinen Umhang eingewickelt an ihrer Seite, Min lag zusammengekrümmt neben ihm, den Kopf auf seiner Brust. Sie hielt die Augen geschlossen, aber ihrem schmalen Lächeln nach zu urteilen schlief sie nicht. Lan hatte kaum einen Blick für sie übrig, als er die letzten Schritte rannte und sich auf die Knie fallen ließ, um Nynaeves Kopf sanft in seine Armbeuge zu betten. Sie regte sich genauso wenig wie der Junge.

»Sie sind nur ohnmächtig«, erklärte Cadsuane. »Corele sagt, es wäre besser, sie sich allein erholen zu lassen.« Und wie lange das dauern würde, da hatte Corele sich nicht festlegen wollen. Genauso wenig wie Damer. Die Wunden in der Seite des Jungen hatten sich nicht verändert, obwohl Damer fest damit gerechnet hatte. Es war alles sehr beunruhigend.

Den Hügel ein Stück weiter hinauf beugte sich der kahle Asha'man über eine stöhnende Beldeine, und seine Finger zuckten über sie hinweg, während er sein seltsames Heilgewebe webte. Er hatte in der vergangenen Stunde viel zu tun gehabt. Alivia konnte nicht aufhören, den Arm, der gebrochen und bis auf den Knochen verbrannt gewesen war, ungläubig anzustarren und ihn zu beugen und dehnen. Sarene ging auf unsicheren Beinen, aber das war nur die Müdigkeit. Sie war unten im Wald beinahe gestorben und diese Erfahrung stand ihr noch immer in die weit aufgerissenen Augen geschrieben. Weiße Schwestern waren nicht an solche Dinge gewöhnt.

Nicht jeder hatte so viel Glück gehabt. Verin und die Meervolk-Frau saßen neben der mit einem Umhang verhüllten Kumira; ihre Lippen bewegten sich im stummen Gebet für ihre Seele, und Nesune versuchte ungeschickt die schluchzende Daigian zu trösten, die den Leichnam des jungen Eben in den Armen hielt und ihn wie ein Baby wiegte. Grüne waren an leidvolle Erfahrungen gewöhnt, aber Cadsuane gefiel es nicht, zwei ihrer Leute für nicht mehr als ein paar angesengte Verlorene und einen toten Renegaten verloren zu haben.

»Sie ist sauber«, sagte Jahar zum wiederholten Male. Diesmal war Merise diejenige, die saß, während sein Kopf in ihrem Schoß ruhte. Ihre blauen Augen blickten so streng wie immer, aber sie streichelte zärtlich sein Haar. »Sie ist sauber.«

Cadsuane wechselte mit Merise über den Kopf des Jungen hinweg einen Blick. Damer und Jahar sagten übereinstimmend das Gleiche, der Makel war weg, aber wie konnten sie nur sicher sein, dass nicht eine Kleinigkeit zurückgeblieben war? Merise hatte ihr gestattet, eine Verknüpfung mit dem Jungen einzugehen, und sie konnte nichts von dem fühlen, was die anderen Grünen beschrieben hatten, aber wie sollten sie nur sicher sein können? Saidin war so fremdartig, dass sich in diesem verrückten Chaos alles Mögliche verbergen konnte.

»Ich will sofort aufbrechen, sobald die restlichen Behüter eingetroffen sind«, verkündete sie. Es gab zu viele Fragen, für die sie keine befriedigenden Antworten hatte, aber sie hatte jetzt den jungen al'Thor, und sie beabsichtigte nicht, ihn wieder zu verlieren.

Die Nacht brach herein. Oben auf dem Hügel wehte der Wind Staub über die Fragmente dessen, was einst ein Ter'angreal gewesen war. In der Tiefe lag die Gruft von Shadar Logoth geöffnet dar, um der Welt Hoffnung zu geben. Und auf dem fernen Tremalking verbreitete sich die Nachricht, dass die Zeit der Illusionen zu einem Ende gekommen war.

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