19 Drei Frauen

Der Wind kam aus dem Norden und die Sonne stand noch nicht ganz über dem Horizont, was den Einheimischen zufolge immer Regen bedeutete. Der wolkenverhangene Himmel sah in der Tat bedrohlich aus, als Mat über den Mol Hara ging. Die Gäste im Schankraum der Wanderin hatten gewechselt, diesmal waren keine Sul'dam oder Damane anwesend, aber das Haus war trotzdem voller Seanchaner und Pfeifenrauch, obwohl die Musiker noch nicht aufgetaucht waren. Die meisten der Anwesenden frühstückten, manche betrachteten die Schüsseln argwöhnisch, als wären sie sich nicht sicher, was sie da eigentlich essen sollten — er hatte sich selbst so gefühlt, als man ihm den seltsamen weißen Haferbrei vorgesetzt hatte, den die Ebou Dari gern zum Frühstück aßen —, aber nicht jeder konzentrierte sich auf sein Essen. Drei Männer und eine Frau in jenen langen bestickten Gewändern, deren Köpfe alle in der Mode des niederen Adels rasiert waren, saßen an einem Tisch und spielten Karten und rauchten ihre Pfeife. Die Goldmünzen auf dem Tisch erregten einen Augenblick lang Mats Aufmerksamkeit; sie spielten um hohe Einsätze. Der größte Münzenstapel befand sich vor einem zierlichen dunkelhaarigen Mann, dessen Hautfarbe so dunkel wie Anaths war und der seine Gegner um den sehr langen Stiel einer silberbeschlagenen Pfeife herum wölfisch angrinste. Mat hatte aber sein eigenes Gold und sein Glück beim Kartenspiel war nie so gut gewesen wie beim Würfeln.

Frau Anan war wegen einer Besorgung schon vor Tagesanbruch ausgegangen, wie ihm ihre Tochter Marah erzählte, der sie die Leitung überlassen hatte. Sie war eine auf hübsche Weise mollige Frau mit schönen großen Augen, die die gleiche haselnussbraune Färbung aufwiesen wie die ihrer Mutter, und sie trug ihre Röcke auf der linken Seite bis zur Mitte des Oberschenkels hochgenäht, was Frau Anan während seines Aufenthalts in dem Gasthaus jedenfalls nicht erlaubt hätte. Marah war nicht besonders erfreut, als sie ihn zu sehen bekam; sie legte die Stirn in Falten, sobald sie ihn näher kommen sah. Als er hier gewohnt hatte, waren zwei Männer von seiner Hand gestorben; Diebe, die versucht hatten, ihm den Schädel einzuschlagen. Darüber hatte es nicht den geringsten Zweifel gegeben, aber solche Dinge passierten in der Wanderin einfach nicht. Sie hatte ihm bei seinem Auszug deutlich zu verstehen gegeben, dass sie froh war, ihn gehen zu sehen.

Und Marah interessierte sich nicht besonders dafür, was er jetzt hier wollte, und er konnte es auch nicht richtig erklären. Allein Frau Anan wusste, was in der Küche verborgen war — das hoffte er zumindest inbrünstig —, und er würde dies bestimmt nicht im Schankraum herausposaunen. Also erfand er die Geschichte, dass er die gute Küche vermisse, außerdem betrachtete er den eindeutig zurechtgenähten Rock und deutete an, dass er es noch mehr vermisst habe, sie sehen zu können. Er konnte nicht begreifen, warum die Entblößung eines Stücks Unterrocks in Ebou Dar als skandalös galt, wo doch jede Frau ihren halben Busen allen Blicken preisgab, aber falls sich Marah abenteuerlustig fühlte, konnten ein paar Schmeicheleien ihm vielleicht den Weg ebnen. Er schenkte ihr sein schönstes Lächeln.

Marah hörte ihm nur mit geringer Aufmerksamkeit zu und hielt eine vorbeigehende Dienstmagd fest, eine wahre Katze von einer Frau mit rauchigen Augen, die er gut kannte. »Lufthauptmann Yulans Becher ist fast leer, Caira«, sagte Marah ärgerlich. »Du solltest doch dafür sorgen, dass er voll bleibt! Wenn du deine Arbeit nicht tun kannst, Mädchen, es gibt in Ebou Dar genug, die das schaffen!« Caira, die ein paar Jahre älter als Marah war, machte einen spöttischen Hofknicks. Und warf Mat einen finsteren Blick zu. Bevor Caira sich wieder erheben konnte, schnappte sich Marah einen Jungen, der gerade mit einem mühsam balancierten Tablett voller schmutzigem Geschirr vorbeieilte. »Hör auf herumzutrödeln, ROSS!«, fauchte sie. »Es wartet genug Arbeit! Erledige sie, oder ich schicke dich in die Ställe, und da wird es dir nicht gefallen, das kann ich dir sagen!«

Marahs jüngster Bruder sah sie böse an. »Ich kann den Frühling kaum erwarten, wenn ich wieder auf den Booten arbeiten kann«, murmelte er mürrisch. »Du bist unausstehlich, seit Frielle geheiratet hat, nur weil sie jünger als du ist und dich noch keiner gefragt hat.«

Sie schlug nach seinem Kopf, aber er wich ihr mühelos aus, obwohl die aufeinander gestapelten Becher und Teller klirrten und beinahe umgefallen wären. »Warum steckst du deine Unterröcke nicht an den Fischerdocks hoch?«, rief er und schoss davon, bevor sie noch einmal nach ihm schlagen konnte.

Mat seufzte, als sie ihm endlich ihre volle Aufmerksamkeit widmete. Unterröcke hochzustecken war ihm neu, aber Marahs Gesichtsausdruck verriet ihm genug. Eigentlich hätte kochend heißer Dampf aus ihren Ohren schießen müssen. »Wenn Ihr essen wollt, müsst Ihr später noch mal wiederkommen. Wenn Ihr wollt, könnt Ihr auch warten. Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird, bis man Euch bedienen kann.«

Ihr Lächeln war hämisch. Niemand würde freiwillig in diesem Schankraum warten. Jeder Sitz war von einem Seanchaner belegt, noch mehr standen herum, genug, dass die Mägde gezwungen waren, sich vorsichtig einen Weg zu bahnen und die Tabletts mit dem Essen und Getränken dabei hochzuhalten. Caira füllte den Becher des kleinen dunklen Mannes nach und schenkte ihm eines jener heißen Lächeln, die sie früher für Mat reserviert hatte. Er wusste nicht, warum sie wütend auf ihn war, aber er hatte im Augenblick genug Frauen in seinem Leben, um die er sich kümmern musste. Was war überhaupt ein Lufthauptmann? Er würde es herausfinden müssen. Später.

»Ich warte in der Küche«, sagte er Marah. »Ich will Enid sagen, wie sehr mir ihr Essen geschmeckt hat.«

Sie fing an zu protestieren, aber eine Seanchanerin hob ihre Stimme und verlangte Wein. Mit einer blauen und grünen Rüstung bekleidet und einem grimmigen Blick und einem Helm mit zwei Federn versehen, wollte sie ihren Becher sofort. Alle Mägde schienen beschäftigt zu sein, also warf Marah ihm einen letzten bösen Blick zu und eilte los, wobei sie versuchte, ein freundliches Lächeln aufzusetzen. Was ihr nicht besonders gut gelang. Mat pflanzte seinen Stab auf den Boden und verbeugte sich hinter ihrem Rücken.

Die guten Düfte, die sich in dem Schankraum mit süßem Pfeifenrauch vermengten, durchdrangen die Küche — bratender Fisch, hackendes Brot, brutzelndes Fleisch auf den Spießen. Die Eisenherde und Backöfen und das Feuer in dem langen Ziegelkamin hatten den Raum erhitzt und die sechs schwitzenden Frauen und drei Kesseljungen flitzten unter der Aufsicht der Köchin umher. Enid trug die schneeweiße Schürze, als wäre sie der Wappenrock ihres Amtes, und sie beherrschte ihr Königreich mit dem langstieligen Löffel, den sie schwang; sie war die dickste Frau, die Mat je gesehen hatte. Er glaubte nicht, dass er es geschafft hätte, sie mit beiden Armen zu umfassen, wenn er gewollt hätte. Sie erkannte ihn sofort und ein durchtriebenes Grinsen teilte ihr breites, olivfarbenes Gesicht.

»Also habt Ihr herausgefunden, dass ich Recht hatte«, sagte sie und zeigte mit dem Löffel auf ihn. »Ihr habt die falsche Melone gedrückt, und es stellte sich heraus, dass die Melone ein getarnter Drachenfisch und Ihr bloß ein dickes Schwein wart.« Sie warf den Kopf in den Nacken und quietschte, vor Lachen.

Mat zwang sich ein Grinsen ab. Blut und verfluchte Asche noch mal! Es wusste tatsächlich jeder! Ich muss aus dieser verdammten Stadt raus, dachte er grimmig, oder ich muss mir für den Rest meines Lebens anhören, wie sie über mich lachen!

Plötzlich erschienen seine Sorgen wegen des Goldes lächerlich. Die grauen Bodenfliesen vor den Herden erschienen völlig in Ordnung und unterschieden sich durch nichts von den anderen in der Küche. Man musste den richtigen Trick kennen, um sie anzuheben. Lopin und Nerim hätten ihm gesagt, wenn auch nur eine Münze zwischen ihren Besuchen verschwunden wäre. Falls jemand in ihrem Gasthaus zu stehlen versucht hätte, hätte Frau Anan den Schuldigen gejagt und ihm die Haut abgezogen. Er konnte sich genauso gut auf den Weg machen. Vielleicht würde Aludras Willenskraft zu dieser Stunde weniger standhaft sein. Vielleicht würde sie ihm ein Frühstück zubereiten. Er hatte sich aus dem Palast gestohlen, ohne vorher zu frühstücken.

Um keine Neugier wegen seines Besuchs zu erwecken, erzählte er Enid, wie sehr er ihren Bratfisch genossen hatte, um wie vieles er doch besser war als der, den man im Tarasin-Palast servierte, und dabei musste er nicht einmal übertreiben. Enid war ein wahres Wunder. Die Frau strahlte förmlich und zu seiner Überraschung holte sie einen Fisch aus einem Ofen und reichte ihm diesen auf einem Teller. Jemand im Schankraum würde warten können, sagte sie und stellte den Teller ans Ende des langen Arbeitstisches der Küche. Eine Bewegung ihres Löffels veranlasste einen Kesseljungen, einen Hocker zu bringen.

Als Mat den mit goldener Kruste versehenen Plattfisch ansah, lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Aludra würde vermutlich jetzt genauso wenig schwach sein wie zu jeder anderen Zeit. Und wenn sie sich über die frühe Störung ärgerte, würde sie ihm vielleicht kein Frühstück machen. Sein Magen knurrte laut. Er hängte den Umhang auf einen Haken neben der Tür zum Stall, stellte seinen Wanderstab darunter, verstaute den Hut unter dem Hocker und strich die Spitze zurück, um sie vom Teller fern zu halten.

Als Frau Anan durch die Tür zum Stall kam, den Umhang abnahm und Regentropfen auf den Boden schüttelte, war nichts mehr übrig außer einem scharfen Geschmack auf seiner Zunge und weißen Gräten auf dem Teller. Seit er nach Ebou Dar gekommen war, hatte er gelernt, eine Reihe seltsamer Dinge zu genießen, aber die Augen ließ er liegen. Sie befanden sich beide auf derselben Seite des Fischkopfs!

Noch während er sich den Mund mit der Leinenserviette abtupfte, schlüpfte hinter Frau Anan eine weitere Frau in den Raum. Sie schloss schnell die Tür hinter sich und ließ den feuchten Umhang an und die Kapuze hochgeschlagen. Im Aufstehen konnte er einen Blick auf das von der Kapuze verborgene Gesicht erhäschen und stieß beinahe den Hocker um. Allerdings überspielte er das ganz gut, wie er fand, da er vor den Frauen einen Kratzfuß machte, aber in seinem Kopf drehte sich alles.

»Es ist schön, dass Ihr da seid«, sagte Frau Anan energisch und gab ihren Umhang einem Kesseljungen.

»Sonst hätte ich nach Euch geschickt. Enid, bitte räum die Küche und pass an der Tür auf. Ich muss mit dem jungen Lord allein sprechen.«

Die Küchenchefin scheuchte die Köche und Kesseljungen raus auf den Stallhof, und trotz der gemurmelten Proteste wegen des Regens und des Stöhnens über das anbrennende Essen war es augenscheinlich, dass sie genauso daran gewöhnt waren wie Enid. Sie warf Frau Anan und ihrer Begleiterin nicht mal einen Blick zu, bevor sie durch die Tür in den Schankraum eilte und dabei den langen Löffel wie ein Schwert hielt.

»Welch eine Überraschung«, sagte Joline Maza und schlug die Kapuze zurück. Ihr dunkles Wollgewand mit dem tiefen Ausschnitt nach der örtlichen Mode saß schlecht und sah abgetragen und mitgenommen aus. Aber ihr selbst war davon nichts anzumerken; sie wirkte, als hätte sie nicht eine Sorge auf der ganzen Welt. »Als Frau Anan mir erzählte, sie würde einen Mann kennen, der mich möglicherweise mitnimmt, wenn er Ebou Dar verlässt, hätte ich nie gedacht, dass sie Euch damit meint.« Hübsch und mit braunen Augen versehen war ihr Lächeln fast so warm wie das von Caira. Und ihr altersloses Gesicht schrie förmlich Aes Sedai. Während auf der anderen Seite einer Tür, die von einer Köchin mit ihrem Löffel verteidigt wurde, Dutzende Seanchaner lauerten.

Joline zog den Umhang aus und hängte ihn an einen der Haken und Frau Anan gab einen gereizten Laut von sich. »Hier ist es noch nicht sicher, Joline«, sagte sie und hörte sich an, als würde sie eher mit einer ihrer Töchter reden als mit einer Aes Sedai. »Bis ich Euch...«

Plötzlich ertönte Lärm vor der Tür zum Schankraum. Enid protestierte lauthals, niemand dürfe eintreten, und eine beinahe genauso laute Stimme mit seanchanischem Akzent verlangte, sie solle den Weg frei machen.

Mat ignorierte den Protest seines Beins, bewegte sich schneller, als er jemals sich im Leben bewegt zu haben glaubte, packte Joline an der Taille, ließ sich auf die Bank neben der Tür zum Stallhof fallen und zerrte die Aes Sedai auf seinen Schoss. Er zog sie dicht an sich und tat so, als würde er sie küssen. Es war eine idiotische Weise, um ihr Gesicht verbergen zu wollen, aber ihm fiel nichts Besseres ein, wenn er ihr keinen Umhang über den Kopf werfen wollte. Sie keuchte indigniert auf, aber als sie endlich die seanchanische Stimme bemerkte, weiteten sich ihre Augen vor Furcht, und sie schlang die Arme um ihn. Mat betete, dass sein Glück anhielt, und sah zu, wie sich die Tür öffnete.

Mit lauten Protesten und wildem Herumgefuchtel ihres Löffels wich Enid rücklings vor einem So'jhin mit nassem Umhang zurück. Der schwergewichtige Mann, dessen kurzer Haarschopf nicht einmal annähernd bis zu seinen Schultern reichte, wehrte die meisten Schläge stirnrunzelnd mit einer Hand ab und ignorierte die wenigen, bei denen ihm das nicht gelang. Er war der erste So'jhin, den Mat je mit Bart gesehen hatte; er verlieh ihm ein schiefes Aussehen, da er von der rechten Kinnseite die linke hinaufwucherte, bevor am Ohr die rasierte Haut begann. Eine hoch gewachsene Frau mit durchdringenden blauen Augen in einem blassen Gesicht folgte ihm. Sie warf einen aufwendig bestickten blauen Umhang zurück, der an ihrer Kehle von einer großen, wie ein Silberschwert geformten Nadel gehalten wurde, und enthüllte ein Faltengewand aus einem helleren Blau. Ihr kurzes dunkles Haar bestand nur aus einem kreisrunden Schöpf, der Rest um ihre Ohren war rasiert. Immerhin war sie besser als eine Sul'dam mit einer Damane. Eine winzige Kleinigkeit zumindest. Enid begriff, dass die Schlacht verloren war, und wich vor dem Mann zurück, aber nach der Art und Weise zu urteilen, wie sie ihren Löffel gepackt hielt, war klar, dass sie bereit war, ihn sofort anzuspringen, sollte Frau Anan den Befehl dazu geben.

»Vorn ein Bursche haben gesagt, er haben die Gastwirtin hinten eintreten sehen«, verkündete der So'jhin. Seine Aufmerksamkeit war auf Setalle gerichtet, aber er behielt Enid misstrauisch im Auge. »Falls Ihr sein Setalle Anan, dann wisst, dass das hier sein der Kapitän der Grünen Lady Egeanin Tamarath, und sie haben einen von der Hochlady Suroth Sabelle Meldarath persönlich unterzeichneten Befehl, der ihr Gemächer zuweisen.« Sein Tonfall änderte sich und wurde weniger zu einem Befehl als vielmehr zur Stimme eines Mannes, der eine Unterkunft suchte. »Natürlich Eure besten Räume, mit einem guten Bett, einem Blick auf den Platz da draußen und Kamin, der nicht qualmen.«

Mat zuckte zusammen, als der Mann sprach, und Joline, die deshalb vielleicht zu dem Schluss gekommen war, dass jemand auf sie zukam, drückte ihre Lippen auf seinen Mund und stöhnte vor Furcht. In ihren Augen funkelten unvergessene Tränen und sie zitterte in seinen Armen. Die Lady Egeanin Tamarath schaute zur Bank, auf der Joline stönnte, verzog angewidert das Gesicht und stellte sich so hin, dass sie das Paar nicht ansehen musste. Es war jedoch der Mann, der Mat interessierte. Wie beim Licht konnte ein Illianer zu einem So'jhin werden? Und der Bursche kam ihm auch noch irgendwie bekannt vor. Vermutlich ein weiteres jener Tausende von seit langer Zeit toten Gesichtern, an die er sich widerwillig erinnerte.

»Ich bin Setalle Anan und meine besten Räume sind von Himmelslord Abaldar Yulan belegt«, erklärte Frau Anan ruhig, weder vom So'jhin noch von der Angehörigen des Blutes eingeschüchtert. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Meine zweitbesten Räume werden von Bannergeneral Furyk Karede bewohnt.

Von der Totenwache. Ich weiß nicht, ob ein Kapitän der Grünen im Rang höher steht, aber das ist auch egal, denn Ihr werdet untereinander ausmachen müssen, wer bleibt und wer gehen muss. Ich halte mich an die feste Regel, keine seanchanischen Gäste vor die Tür zu setzen. So lange sie ihre Miete zahlen.«

Mat erstarrte und wartete auf den Zornausbruch —Suroth hätte sie für weniger auspeitschen lassen! —, aber Egeanin lächelte. »Es ist ein Vergnügen, mit jemandem zu tun zu haben, der ein bisschen Mut hat«, sagte sie mit einem breiten Akzent. »Ich glaube, Frau Anan, wir werden prächtig miteinander auskommen. Solange Ihr es mit dem Mut nicht übertreibt. Der Kapitän gibt die Befehle, die Mannschaft gehorcht, aber ich habe niemals einen über mein Deck kriechen lassen.« Mat runzelte die Stirn. Ein Schiffsdeck. Warum ließ ihn das nachdenklich werden? Manchmal waren diese alten Erinnerungen ein Ärgernis.

Frau Anan nickte, ohne den Blick zu senken. »Ganz wie Ihr meint, meine Lady. Aber ich hoffe, Ihr vergesst nicht, dass die Wanderin mein Schiff ist.« Glücklicherweise hatte die Seanchanerin Humor. Sie lachte.

»Dann seid der Kapitän Eures Schiffes«, sagte sie mit einem Kichern, »und ich bin der Kapitän der Goldenen.« Seufzend schüttelte sie den Kopf. »Das Licht sei mein Zeuge, ich nehme an, dass ich hier nur wenige im Rang übertreffe, aber Suroth wird mich in der Nähe haben wollen, also wird jemand ausziehen müssen, falls er nicht teilen will.« Plötzlich legte sie die Stirn in Falten, warf Mat und Joline einen flüchtigen Seitenblick zu und schürzte angewidert die Lippen. »Ich hoffe, Ihr lasst das nicht überall durchgehen, Frau Anan?«

»Ich versichere Euch, dass Dir so etwas nie wieder unter meinem Dach zu sehen bekommen werdet«, entgegnete die Wirtin ungerührt.

Der So'jhin starrte Mat und die Frau auf seinem Schoss stirnrunzelnd an; Egeanin musste an seinem Ärmel zupfen, bevor er zusammenzuckte und ihr in den Schankraum folgte. Mat grunzte verächtlich. Der Bursche konnte so lange vorgeben, genauso empört zu sein wie seine Herrin, wie er wollte; Mat hatte von den Festen in Illian gehört, und sie waren fast so schlimm wie jene in Ebou Dar, wenn es darum ging, dass Leute nur halb oder noch weniger bekleidet herumliefen. Von Da'covale oder jenen Shea-Tänzerinnen, von denen die Soldaten immer erzählten, ganz zu schweigen.

Als sich die Tür hinter dem Paar schloss, versuchte er Joline sanft von seinem Schoss zu drängen, aber sie klammerte sich an ihm fest, vergrub ihr Gesicht an seiner Schulter und schluchzte leise. Enid stieß einen tiefen Seufzer aus und sackte gegen den Arbeitstisch, als hätten sich ihre Knochen in Pudding verwandelt. Selbst Frau Anan schien erschüttert zu sein. Sie ließ sich auf den Hocker fallen, den Mat zuvor benutzt hatte, und verbarg das Gesicht in den Händen. Aber das dauerte nur einen Augenblick lang, dann stand sie wieder auf den Füßen.

»Enid«, sagte sie energisch, »zähl bis fünfzig und hol alle aus dem Regen raus.« Niemand hätte geahnt, dass sie eben noch am ganzen Leib gezittert hatte. Sie nahm Jolines Umhang vom Haken, nahm aus einem Kästchen auf dem Kaminsims einen langen Holzspan und bückte sich, um ihn am Feuer unter den Spießen zu entzünden. »Wenn du mich brauchst, ich bin im Keller, aber sollte jemand nach mir fragen, dann hast du keine Ahnung, wo ich bin. Bis ich etwas anderes sage, geht außer dir und mir keiner mehr da runter.«

Enid nickte, als wäre das völlig normal. »Bringt sie«, sagte die Wirtin zu Mat, »und trödelt nicht herum. Tragt sie, wenn es sein muss.«

Er musste sie tragen. Noch immer beinahe lautlos weinend, ließ Joline weder seinen Hals los noch nahm sie den Kopf von seiner Schulter. Glücklicherweise war sie nicht schwer, trotzdem breitete sich ein dumpfer Schmerz in seinem Bein aus, als er Frau Anan mit seiner Last zur Kellertür folgte. Vielleicht hätte er es sogar genossen, hätte sich Frau Anan nicht bei allem so viel Zeit gelassen.

Als gäbe es im Umkreis von hundert Meilen nicht einen Seanchaner, entzündete sie eine Lampe, die auf einem Bord neben der massiven Tür stand, und blies sorgfältig den Span aus, bevor sie den langen Glaszylinder wieder aufsetzte und dann den qualmenden Span auf einem kleinen Blechtablett ablegte. Ohne jede Eile zog sie einen langen Schlüssel aus der Gürteltasche, öffnete das Eisenschloss und bedeutete ihm endlich, durch die Tür zu gehen. Die dahinterliegenden Stufen waren breit genug, um ein Fass hinunterrollen zu können, aber sie waren auch tief und verschwanden in der Dunkelheit. Er gehorchte, wartete aber auf der zweiten Stufe, während sie die Tür hinter sich zuzog und abschloss, um dann mit hoch erhobener Lampe voraus zu gehen. Das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte, war ein Sturz.

»Tut Ihr das oft?«, fragte er und rückte Joline zurecht. Sie hatte aufgehört zu weinen, klammerte sich aber noch immer zitternd an ihm fest. »Ich meine, Aes Sedai zu verstecken?«

»Ich hatte Gerüchte gehört, dass noch immer eine Schwester in der Stadt sein soll«, erwiderte Frau Anan, »und ich konnte sie vor den Seanchanern finden. Ich durfte ihnen keine Schwester überlassen.« Sie warf ihm über die Schulter einen grimmigen Blick zu, als wollte sie ihn herausfordern, ihr zu widersprechen. Er wollte es, aber er konnte sich nicht dazu überwinden, die Worte auszusprechen. Vermutlich hätte auch er jedem geholfen, vor den Seanchanern zu entkommen, wenn er dazu in der Lage gewesen wäre, und er schuldete Joline Maza etwas.

Die Wanderin war ein gut ausgestattetes Gasthaus und der dunkle Keller war riesig. Auf der Seite liegende, sich hoch auftürmende Fässer mit Wein und Ale bildeten lange Gänge, auf dem Steinboden stapelten sich Lattenkisten mit Kartoffeln und Steckrüben, Reihen hoher Regale enthielten Säcke mit getrockneten Bohnen und Erbsen und Pfefferschoten, und das Licht allein wusste, was in den Bergen aus geschlossenen Kisten war. Es schien nur wenig Staub zu geben, aber die Luft hatte den trockenen Geruch, wie man ihn in abgeschlossenen Lagerräumen findet.

Auf einem frei geräumten Regalbrett entdeckte Mat seine sauber zusammengefaltete Kleidung — falls nicht noch eine andere Person hier ihre Sachen aufbewahrte —, aber ihm blieb keine Gelegenheit, sie sich anzusehen. Frau Anan führte sie zum anderen Kellerende, wo er Joline auf ein aufrecht stehendes Fass setzte. Er musste sich mit sanfter Gewalt von ihren Armen befreien und sie hockte zusammengesunken da. Schniefend zog sie ein Taschentuch aus dem Ärmel und tupfte sich die rot geränderten Augen ab. Mit ihrem verschmierten Gesicht erfüllte sie kaum das Bild einer Aes Sedai, wie man sie sich vorstellte, von dem abgetragenen Gewand ganz zu schweigen.

»Ihr Mut ist gebrochen«, sagte Frau Anan und stellte die Lampe auf einem anderen Fass ab. In der Nähe standen andere leere Fässer, die auf ihre Rückkehr zur Brauerei warteten. Die Stelle kam dem am nächsten, was Mat in diesem Keller an freiem Platz entdeckt hatte. »Sie hat sich seit der Ankunft der Seanchaner versteckt. Als sie sich in den letzten Tagen entschieden, die Suche von den Straßen auf die Häuser auszuweiten, mussten ihre Behüter sie mehrmals an andere Orte bringen. Ich schätze, das dürfte reichen, um jedermanns Mut zu brechen. Aber ich bezweifle, dass sie hier suchen werden.«

Wenn man an all die Offiziere oben dachte, hatte sie vermutlich sogar Recht. Trotzdem war Mat froh, dass nicht er dieses Risiko eingehen musste. Er ging vor Joline in die Hocke; ein stechender Schmerz durchzuckte sein Bein und er grunzte. »Ich werde Euch helfen, wenn ich kann«, sagte er. Zwar wusste er nicht, wie er das anstellen sollte, aber da war diese Schuld. »Seid froh, dass ihr so viel Glück hattet, ihnen die ganze Zeit entgehen zu können. Teslyn hatte da weniger Glück.«

Joline riss das Taschentuch von den Augen und starrte ihn böse an. »Glück?«, stieß sie wütend hervor. Wäre sie keine Aes Sedai gewesen, hätte er gesagt, sie würde schmollen, so wie sie die Unterlippe vorschob. »Ich hätte entkommen können! Soweit ich weiß, herrschte am ersten Tag heillose Verwirrung. Aber ich war bewusstlos. Fen und Blaeric haben es gerade noch geschafft, mich aus dem Palast zu tragen, bevor es dort vor Seanchanern wimmelte, doch zwei Männer mit einer reglosen Frau in der Mitte zogen zu viel Aufmerksamkeit auf sich, als dass sie es bis zu den Stadttoren hätten schaffen können, bevor diese gesichert wurden. Ich bin froh, dass Teslyn erwischt wurde! Froh! Sie hat mir etwas verabreicht; da bin ich mir sicher! Darum konnten Fen und Blaeric mich nicht wecken, darum musste ich in Ställen schlafen und mich in Gassen verbergen, immer in der Angst, dass mich diese Ungeheuer finden. Es geschieht ihr recht!«

Die Tirade ließ Mat blinzeln. Er glaubte nicht, jemals zuvor so viel Gift in einer Stimme gehört zu haben, nicht einmal in den alten Erinnerungen. Frau Anan sah Joline missbilligend an und ihre Hand zuckte.

»Egal, ich werde Euch so gut helfen, wie ich kann«, sagte er eilig und richtete sich auf, um sich zwischen die beiden Frauen zu stellen. Er hätte es Frau Anan durchaus zugetraut, Joline zu schlagen, ob sie nun eine Aes Sedai war oder nicht. Und Joline schien nicht in der Stimmung zu sein, an die Möglichkeit zu denken, dass oben Damane sein konnten, die spürten, was auch immer sie zur Vergeltung tat. Es war eine Binsenwahrheit: der Schöpfer erschuf die Frauen, damit das Leben der Männer nicht zu einfach war. Wie beim Licht sollte er nur eine Aes Sedai aus Ebou Dar schaffen? »Ich stehe in Eurer Schuld.«

Ein paar winzige Falten entstanden auf Jolines Stirn. »In meiner Schuld?«

»Die Nachricht mit der Bitte, Nynaeve und Elayne zu warnen«, sagte er langsam. Er befeuchtete die Lippen und fügte hinzu: »Die Ihr auf meinem Kissen hinterlegt habt.«

Sie winkte ab, aber ihre auf sein Gesicht gerichteten Augen blinzelten nicht einmal. »Alle Schulden sind an dem Tag beglichen, an dem Ihr mir helft, aus den Stadtmauern herauszukommen, Meister Cauthon«, sagte sie in einem Tonfall, der so hoheitsvoll wie der einer Königin war.

Mat schluckte. Den Zettel mit der Botschaft hatte man in seine Manteltasche gesteckt und nicht auf seinem Kissen zurückgelassen. Und das bedeutete, er hatte sich in der Person geirrt, der er dafür etwas schuldete.

Er ging, ohne Joline der Lüge zu bezichtigen — es wäre selbst dann eine Lüge gewesen, wenn sie nur seinen Fehler nicht korrigiert hätte —, und er sagte es auch Frau Anan nicht. Das war sein Problem. Es bereitete ihm Übelkeit. Er wünschte sich, er hätte es nie herausgefunden.

Wieder zurück im Tarasin-Palast begab er sich auf direktem Weg in Tylins Gemächer und breitete seinen Umhang über einen Stuhl, um ihn zu trocknen. Regen prasselte gegen die Scheiben. Er legte seinen Hut auf eine der mit Schnitzereien versehenen, vergoldeten Kommoden, rieb sich mit einem Handtuch Gesicht und Hände trocken und überlegte, den Mantel zu wechseln. An ein paar Stellen war der Regen durch den Umhang gedrungen. Hier und da war sein Mantel feucht. Feucht. Beim Licht!

Er stöhnte angewidert, ballte das gestreifte Handtuch zusammen und schleuderte es aufs Bett. Er schindete Zeit, hoffte sogar, dass Tylin unerwartet hereinkam und dem Bettpfosten einen Stich versetzte, nur damit er das aufschieben konnte, was er nun zu tun hatte. Was er tun musste. Joline hatte ihm keine andere Wahl gelassen.

Der Grundriss des Palasts war einfach, wenn man es so sehen wollte. Diener lebten in der untersten Etage, wo sich die Küchen befanden, und unten in den Kellergewölben. Die nächste Etage enthielt die öffentlichen Repräsentationsräume und die engen Bürosruben der Schreiber, und die dritte Unterkünfte für die weniger angesehenen Gäste; diese Etage wurde zurzeit hauptsächlich vom seanchanischen Blut bevölkert. In der obersten Etage befanden sich Tylins Gemächer sowie die für Ehrengäste wie Suroth und Tuon und ein paar andere. Aber selbst Paläste hatten Dachböden.

Mat blieb vor einer Treppe stehen, die hinter einer unscheinbaren Ecke verborgen war, und holte tief Luft, bevor er langsam nach oben stieg. Der große fensterlose Raum am oberen Treppenabsatz, dessen Decke niedrig war und dessen Boden aus grob bearbeiteten Brettern bestand, war leer geräumt worden. Den frei gewordenen Platz hatte man mit winzigen hölzernen Verschlagen gefüllt, von denen jeder über eine eigene Tür verfügte. Einfache Stehlampen aus Eisen erhellten die Korridore dazwischen. Der Regen, der auf die Dachziegel prasselte, war hier, direkt über seinem Kopf, sehr laut. Auf der obersten Stufe verharrte er erneut und atmete erst weiter, als er begriff, dass er keine Schritte hören konnte. In einem der kleinen Räume weinte eine Frau, aber keine Sul'dam erschien und wollte wissen, was er hier zu suchen hatte. Vermutlich würden sie von seinem Besuch erfahren, aber nicht, bevor er herausgefunden hatte, was er wissen musste, wenn er sich beeilte.

Das Problem war nur, dass er nicht wusste, welches ihr Zimmer war. Er ging zum ersten und öffnete die Tür lange genug, um einen Blick hineinzuwerfen. Eine Atha'an Miere in einem grauen Kleid saß auf einem schmalen Bett, die Hände im Schoß gefaltet. Das Bett und ein Waschständer mit einer Schüssel und einem kleinen Spiegel nahmen den größten Teil des Platzes ein. An Holzpflöcken an den Wänden hingen mehrere graue Gewänder. Die aus Segmenten bestehende silberne Leine eines Adam führte von dem Silberkragen um ihren Hals zu einem silbernen Armreifen, der an einem Haken hing. Sie konnte jede Ecke des Raums erreichen. Die kleinen Löcher, die von ihren Ohrringen und dem Nasenring stammten, hatten noch keine Zeit zum Heilen gehabt. Sie sahen aus wie Wunden. Als sich die Tür öffnete, schreckte sie mit Furcht erfülltem Gesichtsausdruck hoch, der sich in Nachdenklichkeit verwandelte. Und vielleicht Hoffnung.

Er schloss die Tür, ohne ein Wort zu verlieren. Ich kann nicht alle retten, dachte er beklommen. Ich kann es nicht! Licht, wie er das hasste. Die nächsten Türen enthüllten identische Räume und drei weitere Frauen aus dem Meervolk, von denen eine laut schluchzend auf dem Bett lag, dann kam eine schlafende blonde Frau, und bei allen hing ihr A'dam lose an einem Haken. Er drückte die letzte Tür so leise zu, als wollte er Frau al'Vere einen Kuchen direkt unter ihrer Nase stehlen. Vielleicht handelte es sich bei der blonden Frau ja um keine Seanchanerin, aber dieses Risiko wollte er nicht eingehen. Ein Dutzend Türen später atmete er erleichtert auf, schlüpfte hinein und zog hinter sich die Tür zu.

Teslyn Baradon lag auf dem Bett, das Gesicht auf ihre Hände gestützt. Nur ihre dunklen Augen bewegten sich. Sie sagte kein Wort, starrte ihn nur an, als wollte sie Löcher in seinen Schädel bohren.

»Ihr habt eine Nachricht in meine Manteltasche gesteckt«, sagte er leise. Die Wände waren dünn; er konnte das Schluchzen der Frau noch immer hören. »Warum?«

»Elaida will diese Mädchen so sehr haben, wie sie Zepter und Stola haben wollte«, sagte Teslyn geradeheraus, ohne sich zu bewegen. Ihrer Stimme haftete noch immer etwas von ihrer Grobheit an, aber weniger, als er in Erinnerung hatte. »Vor allem Elayne. Ich wollte Elaida... Unannehmlichkeiten bereiten, falls das möglich war. Es ihr wirklich schwer machen.« Sie stieß ein leises, mit Bitterkeit gefärbtes Lachen aus. »Ich habe sogar Joline mit Spaltwurzel betäubt, damit sie den Mädchen nicht in die Quere kam. Und seht, was es mir eingebracht hat. Joline konnte entkommen und ich...« Ihre Augen bewegten sich wieder, ihr Blick glitt zu dem silbernen Armreifen auf dem Haken.

Seufzend lehnte sich Mat neben den Kleidern gegen die Wand. Sie wusste, was auf dem Zettel gestanden hatte, eine Warnung für Nynaeve und Elayne. Licht, wie er gehofft hatte, dass sie es nicht wusste, dass ihm jemand anderes den verdammten Zettel in die Tasche gesteckt hatte. Es hätte sowieso nichts bewirkt. Beide wussten, dass Elaida hinter ihnen her war. Die Nachricht hatte nichts geändert! Die Frau hatte ihnen eigentlich gar nicht helfen wollen, sie wollte Elaida bloß Unannehmlichkeiten bereiten. Er konnte mit reinem Gewissen gehen. Blut und Asche! Er hätte niemals mit ihr sprechen sollen. Jetzt, da er es getan hatte...

»Ich werde Euch bei der Flucht helfen, wenn ich kann«, sagte er zögernd.

Sie blieb reglos auf dem Bett liegen. Weder ihre Miene noch ihre Stimme veränderten sich. Sie hätte genauso gut etwas Einfaches und Unwichtiges erklären können. »Selbst wenn Ihr den Kragen entfernen könnt, werde ich nicht weit kommen, vielleicht nicht mal aus dem Palast. Und selbst wenn, kommt keine Frau, die die Macht lenkt, ohne ein Adam durch die Stadttore. Ich habe dort selbst Wache gestanden und ich weiß es.«

»Ich lasse mir etwas einfallen«, murmelte er und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Sich etwas einfallen lassen? Was denn? »Licht, Ihr hört Euch an, als wolltet Ihr nicht fliehen.«

»Ihr meint es tatsächlich ernst«, flüsterte sie so leise, dass er sie beinahe nicht verstanden hätte. »Ich dachte, Ihr wärt nur gekommen, um mich zu verspotten.« Sie setzte sich langsam auf und schwang die Füße auf den Boden. Ihr Blick fixierte ihn und ihre Stimme nahm einen drängenden Tonfall an. »Wz7/ ich entkommen? Tue ich etwas, das ihnen gefällt, gibt mir die Sul'dam eine Süßigkeit. Ich ertappe mich dabei, dass ich mich auf diese Belohnungen freue.« Atemloses Entsetzen schlich sich in ihre Stimme. »Nicht, weil ich Süßigkeiten mag, sondern weil ich die Sul'dam erfreut habe.« Eine einzelne Träne rann aus ihrem Auge. Sie atmete tief ein. »Wenn Ihr mir zur Flucht verhelft, tue ich alles, worum Ihr mich bittet, solange es keinen Verrat an der Weißen...« Sie biss die Zähne zusammen, setzte sich ganz gerade hin und starrte durch ihn hindurch. Sie nickte abrupt, wie zur Selbstbestätigung. »Helft mir zu fliehen und ich werde alles tun, worum Ihr mich bittet.«

»Ich werde tun, was ich kann«, sagte er zu ihr. »Ich muss mir eine Möglichkeit einfallen lassen.«

Sie nickte, als hätte er das Versprechen abgegeben, um Mitternacht zu fliehen. »Hier im Palast wird noch eine Schwester gefangen gehalten. Edesina Azzedin. Sie muss mit uns kommen.«

»Noch eine?«, fragte Mat. »Ich dachte, ich hätte drei oder vier gesehen, Euch eingeschlossen. Aber egal, ich weiß nicht einmal, ob ich Euch rausschaffen kann, geschweige denn...«

»Die anderen werden... verändert.« Teslyn kniff den Mund zusammen. »Guisin und Mylen — ich kannte sie als Sheraine Caminelle, aber sie hört jetzt nur noch auf Mylen —, diese beiden würden uns verraten. Edesina ist noch immer sie selbst. Ich werde sie nicht zurücklassen, selbst wenn sie eine Rebellin ist.«

»Hört zu«, sagte Mat mit einem beschwichtigenden Lächeln, »ich habe gesagt, dass ich versuchen werde, Euch herauszubekommen, aber ich sehe nicht die geringste Möglichkeit, wie ich zwei von Eurer Sorte...«

»Es wäre besser, wenn Ihr jetzt geht«, unterbrach sie ihn erneut. »Männer sind hier oben nicht erlaubt, davon abgesehen werdet Ihr Verdacht erregen, sollte man Euch hier finden.« Sie sah ihn an und schnaubte. »Es wäre hilfreich, wenn Ihr Euch nicht so farbenprächtig kleiden würdet. Zehn betrunkene Kesselflicker könnten nicht so viel Aufmerksamkeit erregen, wie Ihr es tut. Geht jetzt. Schnell. Geht!«

Er ging und murmelte dabei leise vor sich hin. Ganz wie eine Aes Sedai. Man bot ihr Hilfe an, und ehe man sich's versah, ließ sie einen mitten in der Nacht eine Felswand erklimmen, um ganz allein fünfzig Leute aus einem Kerker zu befreien. Das war ein anderer Mann gewesen, der schon lange tot war, aber er erinnerte sich daran, und es passte. Blut und verdammte Asche! Er wusste nicht, wie er eine Aes Sedai retten sollte, und sie wollte ihn gleich zwei retten lassen!

Er umrundete die unauffällige Ecke am Fuß der Treppe und wäre beinahe in Tuon hineingelaufen.

»Damanezwinger sind für Männer verboten«, sagte sie und schaute kalt durch den Schleier zu ihm hoch. »Man könnte Euch schon dafür bestrafen, dass Ihr sie betreten habt.«

»Ich suchte nach einer Windsucherin, Hochlady«, sagte er hastig, machte einen Kratzfuss und dachte schneller als je zuvor in seinem Leben nach. »Sie hat mir einst einen Gefallen erwiesen, und ich dachte mir, sie würde vielleicht gern etwas aus der Küche haben wollen. Ein paar Pasteten oder dergleichen. Ich habe sie aber nicht zu Gesicht bekommen. Ich vermute, sie wurde nicht gefangen, als...« Er verstummte und starrte sie an. Die strenge Maske, zu der das Gesicht des Mädchens immer erstarrt war, zerschmolz zu einem Lächeln. Sie war wirklich wunderschön.

»Das ist sehr freundlich von Euch«, sagte sie. »Es ist gut zu wissen, dass Dir freundlich zu Damane seid. Aber Ihr müsst aufpassen. Es gibt Männer, die sich Damane tatsächlich ins Bett holen.« Ihr voller Mund verzog sich angewidert. »Ihr könnt nicht wollen, dass man Euch für abartig hält.« Der strenge Ausdruck legte sich wieder auf ihr Gesicht. Alle Gefangenen würden auf der Stelle exekutiert.

»Danke für Eure Warnung, Hochlady«, sagte er etwas unsicher. Was für eine Art Mann würde es mit einer Frau an einer Leine machen wollen?

Soweit es sie betraf, war er schlichtweg verschwunden. Sie rauschte einfach den Korridor entlang, als würde sie niemanden wahrnehmen. Doch dieses eine Mal verschwendete er keinen Gedanken an die Hochlady Tuon. Da war eine Aes Sedai, die sich im Keller der Wanderin verbarg, und zwei, die Domäne-Leinen trugen, und sie alle erwarteten von Mat Cauthon, dass er ihnen den Hals rettete. Er war fest davon überzeugt, dass Teslyn dieser Edesina alles berichtete, sobald sie konnte. Drei Frauen, die möglicherweise ungeduldig werden würden, wenn er sie nicht bald in Sicherheit brachte. Frauen redeten gern, und wenn sie lange genug redeten, ließen sie Dinge herausschlüpfen, die besser ungesagt blieben. Ungeduldige Frauen redeten sogar noch mehr als der Rest. Die Würfel rollten nicht in seinem Kopf umher, aber er konnte beinahe eine Uhr ticken hören. Und die Scharfrichteraxt würde die Stunde schlagen. Schlachten konnte er im Schlaf planen, aber hierbei schienen die alten Erinnerungen nicht viel zu helfen. Er brauchte einen Planer, jemand, der darin Erfahrung hatte und auf Umwegen nachdenken konnte. Es war Zeit, sich mit Thom an einen Tisch zu setzen und mit ihm zu sprechen. Und mit Juilin.

Er machte sich auf die Suche nach ihnen und begann unbewusst ›Ich bin ganz unten am Grund des Brunnens‹ zu summen. Nun, genau da war er auch, und die Nacht brach herein und der Regen prasselte vom Himmel. Wie so oft stieg aus jenen alten Erinnerungen ein anderer Liedtitel empor. Ein Lied vom Hof von Takedo in Farashelle, vor mehr als tausend Jahren von Artur Falkenflügel zerschmettert. Die vergangene Zeit hatte die Melodie erstaunlich wenig verändert. Damals hatte es ›Der letzte Kampf bei Mandenhar‹ geheißen. Aber es passte auf beide Arten verdammt gut.

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