12 Eine Lilie im Winter

Ein weiterer Diener fiel beinahe auf die Nase, weil er sich so tief verbeugte, und Elayne seufzte, als sie durch die Palastkorridore rauschte. Das hieß, sie versuchte zu rauschen. Die Tochter-Erbin von Andor, imposant und erhaben. Sie wollte rennen, obwohl ihre dunkelblauen Röcke sie vermutlich bei dem Versuch hätten stolpern lassen. Sie konnte förmlich spüren, wie die staunenden Blicke des stämmigen Mannes ihr und ihren Begleiterinnen folgten. Ein geringfügiges Ärgernis, und eines, das vergehen würde, ein Sandkorn in ihrem Halbschuh. Der verdammte Rand al'Thor, der verflucht noch mal zu wissen glaubt, was für alle am besten wäre, ist wie ein juckender Ausschlag auf meinem Rücken! dachte sie. Wenn es ihm diesmal gelang, ihr aus dem Weg zu gehen, dann...!

»Denkt daran«, sagte sie entschieden. »Er erfährt nichts über Spione oder Spaltwurzel oder sonst etwas davon!« Das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte, war seine Entscheidung, sie zu ›retten‹. Männer kamen auf solchen Unsinn; Nynaeve nannte es ›mit den Haaren auf der Brust denken‹. Licht, er würde vermutlich versuchen, die Aiel und Saldaeaner zurück in die Stadt zu holen! In den Palast! So bitter es auch war, dies zugeben zu müssen, sie konnte ihn nicht aufhalten, wenn er es versuchte, jedenfalls nicht ohne einen Krieg anzufangen, und möglicherweise nicht mal dann.

»Ich sage ihm nie Dinge, die er nicht zu wissen braucht«, bemerkte Min und betrachtete stirnrunzelnd eine schmächtige Dienerin mit weit aufgerissenen Augen, deren Hofknicks dazu führte, dass sie beinahe auf den rotbraunen Fliesenboden fiel. Elayne warf Min einen Blick zu und erinnerte sich an die Zeit, in der sie selbst Kniebundhosen getragen hatte, und sie fragte sich, ob sie es nicht noch einmal versuchen konnte. Sie boten mit Sicherheit größere Bewegungsfreiheit als Röcke. Allerdings nicht die hochhackigen Stiefel, entschied sie wohlüberlegt. Sie machten Min beinahe so groß wie Aviendha, aber selbst Birgitte schwankte in ihnen, und mit den eng anliegenden Hosen und einem Mantel, der kaum ihre Hüften bedeckte, bot Min definitiv einen skandalösen Anblick.

»Du lügst ihn an?« Aviendhas Tonfall war voller Misstrauen. Sogar die Art und Weise, wie sie ihr dunkles Schultertuch zurechtrückte, kündete von Missbilligung, und sie starrte Min an Elayne vorbei an.

»Natürlich nicht«, erwiderte Min scharf und starrte zurück. »Nur wenn es unbedingt nötig ist.« Aviendha kicherte, dann sah sie überrascht aus, dass sie es getan hatte, und setzte eine steinerne Miene auf.

Was sollte sie mit ihnen machen? Sie mussten einander mögen. Sie mussten es einfach. Aber die beiden Frauen hatten sich seit ihrem Zusammentreffen wie fremde Katzen in einem kleinen Zimmer angestarrt. Oh, sie hatten allem zugestimmt — sie hatten keine andere Wahl gehabt, da keine von ihnen auch nur erahnen konnte, wann ihnen der Mann das nächste Mal zur Verfügung stand —, aber sie hoffte, dass sie einander nicht wieder zeigten, wie geschickt sie mit ihren Messern umgehen konnten. Ganz beiläufig, ohne jede angedeutete Drohung, aber auch ganz offen. Andererseits hatte Aviendha die Zahl der Messer, die Min am Leib trug, durchaus beeindruckt.

Ein junger Diener, der ein Tablett mit hohen Zylindem für die Kandelaber trug, verbeugte sich, als sie vorbeirauschte. Unglücklicherweise starrte er sie so gebannt an, dass er vergaß, auf seine Last zu achten. Das Geräusch auf den Bodenfliesen zersplitternden Glases hallte durch den Korridor.

Elayne seufzte erneut. Sie hoffte, dass sich jeder bald an die neue Ordnung der Dinge gewöhnt hatte. Natürlich war nicht sie allein das Objekt der Aufmerksamkeit, oder Aviendha oder selbst Min, obwohl sie sicher einen Teil davon auf sich zog. Nein, es waren Caseille und Deni, die ihnen dichtauf folgten, die Diener stolpern und die Augen aufreißen ließen. Sie hatte jetzt acht Leibwächterinnen und diese beiden hatten vor ihrer Tür Wache gestanden, als sie aufgewacht war.

Einige der ungläubigen Blicke rührten vermutlich daher, dass Elayne überhaupt von einer Leibwache begleitet wurde, aber mit Sicherheit lag es daran, dass es Frauen waren. Daran hatte sich noch keiner gewöhnt. Aber Birgitte hatte gesagt, sie würde dafür sorgen, dass sie wie eine Zeremonienwache aussahen, und das hatte sie auch getan. Nachdem sie Elaynes Gemächer in der vergangenen Nacht verlassen hatte, musste sie jede Näherin und Hutmacherin des Palasts an die Arbeit gesetzt haben. Jede der Frauen trug einen hellroten Hut mit einer langen weißen Feder, die sich flach an die breite Krempe schmiegte, sowie eine breite, mit Spitze abgesetzte rote Schärpe quer über der Brust, auf der drohend aufgerichtete Weiße Löwen marschierten. Die mit weißen Kragen versehenen scharlachroten Mäntel waren aus Seide und der Schnitt war etwas verändert worden, sodass sie besser saßen und kurz über den Knien der scharlachroten Kniebundhosen endeten, deren Außenseiten von einem weißen Streifen geschmückt wurden. Aus Ärmeln und Kragen quoll weiße Spitze, und ihre schwarzen Stiefel waren gewachst worden, bis sie glänzten. Sie sahen ziemlich schneidig aus und selbst die immer so gelassene Deni stolzierte ein wenig. Elayne vermutete, dass sie noch stolzer sein würden, sobald die Schwertgürtel und Scheiden mit dem Golddraht und die lackierten Helme und Brustpanzer fertig waren. Birgitte ließ die Brustpanzer für die Frauen passend machen, und Elayne war fest davon überzeugt, dass das den Waffenschmieden des Palasts mit Sicherheit fast die Augen aus dem Kopf getrieben hatte!

Im Augenblick war Birgitte fleißig damit beschäftigt, Frauen zu befragen, um die zwanzig für die Leibwache benötigten zusammenzubekommen. Elayne konnte fühlen, wie sie sich konzentrierte; da es keinerlei Anzeichen körperlicher Aktivitäten gab, musste es das sein, es sei denn, sie würde lesen oder Steine spielen, und sie gönnte sich nur selten einen Augenblick für sich selbst. Elayne hoffte, sie würde es auch bei den zwanzig belassen. Und sie hoffte, dass Birgitte beschäftigt genug war, dass sie nichts bemerkte, bis es dann zu spät war, wenn sie den Bund verhüllte. Wenn sie nur daran dachte, was für Sorgen sie sich gemacht hatte, Birgitte könnte spüren, wenn sie etwas tat, mit dem sie nicht einverstanden war. Und dabei hatte die Lösung in einer einfachen Frage an Vandene gelegen. Die Antwort war eine traurige Erinnerung daran gewesen, wie wenig sie doch eigentlich darüber wusste, eine Aes Sedai zu sein, vor allem über solche Dinge, die für die anderen Schwestern eine Selbstverständlichkeit waren. Anscheinend wusste jede Schwester, die einen Behüter hatte, wie das zu bewerkstelligen war, selbst jene, die zölibatär lebten.

Es war schon seltsam, wie sich manche Dinge regelten. Wären da nicht die Leibwächterinnen und die Frage gewesen, wie es zu schaffen war, sowohl ihnen als auch Birgitte aus dem Weg zu gehen, wäre sie nie auf die Idee gekommen, danach zu fragen, hätte sie nie gelernt, wie man den Bund für solche Gelegenheiten verhüllen konnte. Nicht, dass sie in absehbarer Zeit geplant hätte, ihren Leibwächterinnen zu entkommen, aber es war besser, rechtzeitig vorbereitet zu sein. Birgitte würde ihr und Aviendha mit Sicherheit nicht erlauben, allein in die Stadt zu gehen, ob nun am Tag oder in der Nacht. Das war vorbei.

Ihre Ankunft vor Nynaeves Tür verdrängte jeden Gedanken an Birgitte. Mal davon abgesehen, dass sie den Bund erst im letzten Augenblick verhüllen durfte. Rand war auf der anderen Seite der Tür. Rand, der manchmal ihren Verstand so durcheinander brachte, dass sie sich fragte, ob sie wie eine dieser dummen Puten aus einem Roman war, die wegen eines Mannes die Beherrschung verloren. Sie war immer der Ansicht gewesen, dass diese Geschichten nur von Männern geschrieben sein konnten. Aber manchmal machte Rand sie sprachlos. Wenigstens bekam er das nicht mit, wofür sie dem Licht dankte.

»Wartet hier draußen und lasst niemanden hinein«, befahl sie den Gardistinnen. Sie konnte jetzt keine Unterbrechungen gebrauchen. Mit etwas Glück waren ihre Leibwächter neu genug, dass keinem auffiel, was ihre schönen Uniformen zu bedeuten hatten. »Es wird nur ein paar Minuten dauern.«

Sie salutierten schneidig, führten den Arm quer über die Brust und stellten sich beiderseits der Tür auf; Caseille mit steinernem Gesicht und der Hand auf dem Schwertgriff, Deni mit schmalem Lächeln und der langen Keule in beiden Händen. Elayne war fest davon überzeugt, dass die stämmige Frau glaubte, Min hätte sie hergebracht, damit sie ihren heimlichen Geliebten treffen konnte. Vermutlich war auch Caseille dieser Ansicht. Sie waren nicht mal annähernd so diskret vor den beiden Frauen gewesen, wie sie es hätten sein sollen; keiner hatte seinen Namen erwähnt, aber es hatte genug von ›er hat dies getan‹ und ›er hat das getan‹ gegeben. Wenigstens hatte keine von ihnen versucht, sich zu entschuldigen, um Birgitte Meldung zu machen. Wenn sie ihre Leibwächterinnen waren, dann waren sie ihre Leibwächterinnen und nicht Birgittes. Nur dass sie Birgitte nicht raushalten würden, wenn sie den Bund zu früh verhüllte.

Elayne begriff, dass sie zögerte. Der Mann, von dem sie jede Nacht träumte, war auf der anderen Seite der Tür, und sie stand hier wie ein Schulmädchen. Sie hatte so lange gewartet und so viel gewollt und jetzt hatte sie beinahe Angst. Sie würde hier nicht scheitern. Mit einer bewussten Anstrengung riss sie sich zusammen.

»Seid ihr bereit?« Ihre Stimme war nicht so fest, wie sie es sich gewünscht hätte, aber wenigstens zitterte sie nicht. In ihrem Bauch tanzten Schmetterlinge von der Größe von Füchsen. Das war schon lange nicht mehr geschehen.

»Natürlich«, sagte Aviendha, aber sie musste vorher schlucken.

»Ich bin soweit«, sagte Min leise.

Sie traten ohne anzuklopfen ein und schlössen die Tür schnell hinter sich.

Nynaeve sprang mit weit aufgerissenen Augen auf, bevor sie das Wohnzimmer richtig betreten hatten, aber Elayne bemerkte weder sie noch Lan richtig, obwohl der süße Duft der Pfeife des Behüters den Raum füllte. Rand war leibhaftig da; irgendwie war es ihr schwer gefallen, es tatsächlich glauben zu können. Die schreckliche Verkleidung, die Min beschrieben hatte, war abgesehen von der schäbigen Kleidung und den primitiven Handschuhen verschwunden und er war... wunderschön.

Auch er sprang bei ihrem Anblick vom Stuhl hoch, aber bevor er richtig stand, taumelte er, griff mit beiden Händen nach dem Tisch und würgte mehrmals.

Elayne umarmte die Quelle und trat einen Schritt auf ihn zu, dann blieb sie stehen und überwand sich, die Macht wieder loszulassen. Ihre Fähigkeiten auf dem Gebiet des Heilens waren minimal, außerdem hatte Nynaeve genauso schnell reagiert wie sie. Plötzlich umgab sie der Schein Saidars und sie streckte beide Hände nach Rand aus.

Er wich vor ihr zurück und winkte ab. »Das ist nichts, was du Heilen könntest, Nynaeve«, sagte er grob. »Aber wie dem auch sei, es sieht so aus, als würdest du deinen Willen bekommen.« Sein Gesicht war eine starre Maske, die jegliche Gefühle verbarg, aber Elayne hatte den Eindruck, dass seine Augen sie förmlich auffraßen. Und Aviendha auch. Sie war überrascht, als sie feststellte, dass es sie froh stimmte. Sie hatte gehofft, dass es so sein würde, hatte gehofft, es würde ihr um ihrer Schwester willen gelingen, und jetzt erwies sich jede Bemühung als unnötig. Es kostete ihn eine sichtliche Anstrengung, sich aufrecht hinzustellen, ebenso wie den Blick von ihr und Aviendha zu lösen, allerdings versuchte er, beides zu verbergen. »Min, wir müssten schon längst wieder weg sein«, sagte er.

Elayne blieb der Mund offen stehen. »Hast du geglaubt, du könntest einfach wieder gehen, ohne mit mir, mit uns zu sprechen?«, stieß sie mühsam hervor.

»Männer!«, sagten Min und Aviendha beinahe zugleich und warfen einander überraschte Blicke zu. Hastig nahmen sie die verschränkten Arme runter. Obwohl sie sich in fast jeder Hinsicht voneinander unterschieden, waren sie einen Augenblick lang beinahe Spiegelbilder weiblicher Verachtung gewesen.

»Die Männer, die mich in Cairhien töten wollten, würden diesen Palast in einen Schlackehaufen verwandeln, wenn sie wüssten, dass ich hier bin«, sagte Rand ruhig. »Vielleicht auch schon, wenn sie nur den Verdacht hätten. Ich nehme an, Min hat euch gesagt, dass es Asha'man waren. Vertraut keinem von ihnen. Dreien vielleicht ausgenommen. Damer Flinn, Jahar Narishma und Eben Hopwil. Ihnen könnt ihr möglicherweise vertrauen. Was den Rest angeht...« Er ballte die behandschuhten Fäuste, scheinbar ohne dass es ihm bewusst war. »Manchmal wendet sich das Schwert in der Hand gegen einen selbst, aber ich brauche dieses Schwert. Haltet euch von jedem Mann in einem schwarzen Mantel fern. Hört zu, jetzt ist nicht die Zeit für eine Unterhaltung. Es ist besser, wenn ich jetzt gehe.« Sie hatte sich geirrt. Er war nicht genau so, wie sie von ihm geträumt hatte. Manchmal war in ihm eine gewisse Jungenhaftigkeit gewesen, aber die war verschwunden, als hätte man sie ausgebrannt. Sie trauerte seinetwegen darum, denn sie glaubte nicht, dass er es tat — oder dazu imstande war.

»In einer Sache hat er Recht«, sagte Lan um seinen Pfeifenstiel herum im gleichen ruhigen Tonfall. Noch ein Mann, der nie ein Junge gewesen zu sein schien. Die Augen unter dem geflochtenen Lederband, das seine Brauen umgab, waren wie blaues Eis. »Jeder in seiner Nähe ist in großer Gefahr. Jeder.« Aus irgendeinem Grund schnaubte Nynaeve. Dann legte sie die Hand auf eine Ledertasche auf dem Tisch, deren Inhalt sie ausbeulte, und verzog die Lippen zu einem Lächeln. Obwohl das Lächeln einen Augenblick später wieder in sich zusammenfiel.

»Fürchten meine Erstschwester und ich die Gefahr?«, wollte Aviendha wissen und stemmte die Fäuste in die Hüften, Ihr Schulterruch rutschte herunter und fiel zu Boden, aber sie war so konzentriert, dass sie es nicht zu bemerken schien. »Dieser Mann schuldet uns Toh, Aan'allein, so wie wir es ihm schulden. Das muss geklärt werden.«

Min breitete die Hände aus. »Ich weiß nicht, was jetzt Toh mit der Sache zu tun haben soll, aber ich gehe nirgendwohin, bevor du mit ihnen gesprochen hast, Rand!« Sie gab vor, Aviendhas wütenden Blick nicht zu bemerken.

Seufzend lehnte sich Rand gegen die Tischkante und fuhr sich mit den behandschuhten Fingern durch die dunklen, roten Locken, die bis zum Nacken reichten. Er schien lautlos mit sich zu diskutieren.

»Es hat mir Leid, dass du die Sul'dam und Damane am Ende aufgezwungen bekommen hast«, sagte er schließlich. Es hörte sich an, als würde es ihm tatsächlich Leid tun, gewissermaßen; er hätte genauso gut die Kälte bedauern können. »Taim sollte sie den Schwestern übergeben, von denen ich annahm, dass sie bei dir sind. Aber ich schätze, jeder kann einen solchen Fehler machen. Vielleicht glaubte er ja, dass all diese Seherinnen und Weisen Frauen, die Nynaeve zusammengesucht hat, Aes Sedai sind.« Sein Lächeln war dünn. Es reichte nicht bis zu seinen Augen.

»Rand«, sagte Min in einem leisen, warnenden Tonfall.

Er hatte die Unverschämtheit, sie fragend anzusehen, als würde er sie nicht verstehen. Und er fuhr ungerührt fort. »Aber egal, ihr scheint genug von ihnen zu haben, um eine Hand voll Frauen in Gewahrsam zu halten, bis ihr sie den... anderen Schwestern übergeben könnt, denen bei Egwene. Die Dinge laufen nie genau so ab, wie man es erwartet, nicht wahr? Hätte je einer gedacht, dass aus ein paar Schwestern, die Elaida fortlaufen, eine Rebellion gegen die Weiße Burg entstehen würde? Mit Egwene als Amyrlin! Und der Bande der Roten Hand als ihr Heer. Ich schätze, Mat kann eine Weile bei ihnen bleiben.« Aus irgendeinem Grund blinzelte er und berührte die Stirn, dann machte er in diesem aufreizend beiläufigen Tonfall weiter. »Nun, überall nehmen die Dinge seltsame Wendungen. Bei diesem Tempo würde es mich nicht überraschen, wenn meine Freunde in der Burg genug Mut aufbringen, in die Öffentlichkeit zu treten.«

Elayne sah Nynaeve mit einer hochgezogenen Braue an. Seherinnen und Weise Frauen? Die Bande war Egwenes Heer und Mat war bei ihr? Nynaeves Versuch, naive Unschuld zu zeigen, ließ sie wie die personifizierte Schuld aussehen. Elayne vermutete, dass es keine Rolle spielte. Er würde die Wahrheit früh genug erfahren, falls man ihn überreden konnte, sich zu Egwene zu begeben. Davon abgesehen hatte sie Wichtigeres mit ihm zu regeln. Egal, wie beiläufig sich dieser Mann auch gab, er plapperte einfach drauflos, warf ihnen alle möglichen Brocken hin in der Hoffnung, sie abzulenken.

»So leicht kommst du uns nicht davon, Rand.« Elayne fasste ihre Röcke fester, um zu verhindern, dass sie ihm mit dem Finger drohte. Oder mit der Faust; sie war sich nicht sicher, welches von beiden es sein würde. Die anderen Schwestern? Die echten Aes Sedai, hatte er sagen wollen. Wie konnte er es wagen? Und seine Freunde in der Burg! War es denn möglich, dass er noch immer Alviarins seltsamem Brief Glauben schenkte? Ihre Stimme war kühl und beherrscht, sie duldete keinen Unsinn. »Nichts davon spielt im Augenblick eine Rolle, gar nichts. Du und Aviendha und Min und ich, das ist es, worüber wir reden müssen. Und das werden wir auch. Und zwar wir alle, Rand al'Thor, und du wirst den Palast nicht verlassen, bis das geschehen ist!«

Einen langen Augenblick sah er sie bloß an, ohne dass sich seine Miene veränderte. Dann holte er hörbar Luft und sein Gesicht wurde zu Stein. »Elayne, ich liebe dich.« Ohne Pause fuhr er dann fort und die Worte strömten aus ihm hervor wie Wasser aus einem geborstenen Damm. Und sein Gesicht blieb versteinert.

»Aviendha, ich liebe dich. Min, ich liebe dich. Und nicht eine Spur mehr oder weniger als die anderen beiden. Ich will nicht eine von euch haben, ich will alle drei. So, jetzt wisst ihr es. Ich bin ein Wüstling. Jetzt könnt ihr alle gehen und nicht zurücksehen. Es ist sowieso Wahnsinn. Ich kann es mir nicht leisten, irgendjemanden zu lieben!«

»Rand al'Thor«, kreischte Nynaeve, »das ist das Ungeheuerlichste, was ich jemals aus deinem Mund gehört habe! Allein schon die Vorstellung, drei Frauen zu sagen, dass du sie liebst! Du bist schlimmer als ein Wüstling! Du wirst dich auf der Stelle entschuldigen!« Lan hatte sich die Pfeife aus dem Mund gerissen und starrte Rand an.

»Ich liebe dich, Rand«, sagte Elayne einfach, »und auch wenn du mich nicht gefragt hast, will ich dich heiraten.« Sie errötete leicht, aber sie hatte ohnehin vor, in Kürze noch viel forscher zu sein, also ging sie davon aus, dass das jetzt kaum zählte. Nynaeves Lippen bewegten sich, aber sie brachte keinen Ton hervor.

»Mein Herz liegt in deinen Händen, Rand«, sagte Aviendha und sprach seinen Namen wie eine seltene Kostbarkeit aus. »Solltest du einen Brautschleier für meine Erstschwester und mich machen, werde ich ihn aufheben.« Und auch sie errötete und versuchte es zu verbergen, indem sie sich bückte und ihr Schultertuch vom Boden aufhob und es über ihre Arme drapierte. Nach den Aielbräuchen hätte sie nicht ein Wort davon sagen dürfen. Endlich brachte Nynaeve einen Laut hervor. Ein Quieken.

»Wenn du immer noch nicht begriffen hast, dass ich dich liebe«, sagte Min, »dann bist du blind, taub und tot!« Sie errötete nicht; in ihren Augen blitzte es durchtrieben auf und sie schien gleich lachen zu müssen. »Und was diese Heirat angeht, nun, das machen wir drei unter uns aus, also ist das kein Problem!« Nynaeve umklammerte ihren Zopf mit beiden Händen und zog fest daran, während sie durch die Nase schnaufte. Lan hatte mit dem intensiven Studium des Inhalts seines Pfeifenkopfes begonnen.

Rand betrachtete die drei, als hätte er noch nie zuvor eine Frau gesehen und würde sich fragen, was sie wohl darstellten. »Ihr seid alle verrückt«, sagte er schließlich. »Ich würde jede von euch heiraten — euch alle, und das Licht stehe mir bei! —, aber das ist unmöglich und das wisst ihr auch.« Nynaeve sackte auf den Stuhl und schüttelte den Kopf. Sie murmelte etwas vor sich hin, aber alles, was Elayne verstehen konnte, waren ein paar Worte über den Frauenzirkel, dessen Mitglieder ihre Zungen verschluckten.

»Wir müssen noch etwas anderes besprechen«, sagte sie. Licht, Min und Aviendha sahen aus, als würden sie ein Stück Kuchen anstarren! Es kostete sie Mühe, ihr Lächeln etwas weniger... begierig aussehen zu lassen. »In meinen Gemächern, würde ich sagen. Wir müssen Nynaeve und Lan nicht länger belästigen.« Denn sie hatte Angst, dass Nynaeve versuchen würde, sie aufzuhalten, wenn sie davon erfuhr. Die Frau war schnell darin, ihre Autorität ins Spiel zu bringen, wenn es um Angelegenheiten der Aes Sedai ging.

»Ja«, sagte Rand langsam. Und fügte dann seltsamerweise hinzu: »Ich habe gesagt, du hast gewonnen, Nynaeve. Ich werde nicht gehen, ohne vorher noch einmal mit dir gesprochen zu haben.«

»Oh!« Nynaeve schaute auf, als würde sie aus einem Traum erwachen. »Ja, natürlich nicht. Ich habe ihn aufwachsen gesehen«, plapperte sie und schenkte Elayne ein verunglücktes Lächeln. »Fast von Anfang an. Ich habe seine ersten Schritte verfolgt. Er kann nicht gehen, ohne vorher mit mir ein nettes, langes Gespräch zu führen.«

Elayne musterte sie misstrauisch. Beim Licht, sie hörte sich an wie eine in die Jahre gekommene Amme. Obwohl Lini niemals dummes Zeug gebrabbelt hatte. Elayne hoffte, dass Lini am Leben war und es ihr gut ging. Aber sie fürchtete, dass keines von beidem zutraf. Warum benahm sich Nynaeve nur so? Die Frau führte etwas im Schilde, und wenn sie ihre Stellung nicht dazu ausnutzte, es zu tun, musste es sich um etwas handeln, von dem selbst sie wusste, dass es falsch war.

Plötzlich schien Rand zu flackern, so als würde die um ihn herum befindliche Luft vor Hitze schimmern, und Elayne vergaß alles. Im nächsten Augenblick war er... jemand anderer, kleiner, stämmiger, derb und unzivilisiert. Und so abscheulich anzusehen, dass sie nicht einmal darüber nachdachte, dass er die männliche Hälfte der Macht benutzt hatte. Fettiges schwarzes Haar fiel in ein ungesund bleiches Gesicht, das von Warzen übersät war, einschließlich der auf der Knollennase über den wulstigen, schlaffen Lippen, die scheinbar jeden Augenblick lossabbern wollten. Er kniff die Augen zu und schluckte, dann griff er nach den Armlehnen des Stuhls, als könnte er es nicht ertragen, so von ihnen angestarrt zu werden.

»Du siehst immer noch gut aus, Rand«, sagte sie sanft.

»Ha!«, machte Min. »Dieses Gesicht würde eine Ziege in Ohnmacht fallen lassen!« Nun, das würde es tatsächlich, aber sie hätte es nicht zu sagen brauchen.

Aviendha lachte. »Min Farshaw, du hast Sinn für Humor. Dieses Gesicht würde eine ganze Ziegenherde in Ohnmacht fallen lassen.« Oh, beim Licht, das würde es tatsächlich*. Elayne konnte gerade noch rechtzeitig ein Kichern unterdrücken.

»Ich bin, wer ich bin«, sagte Rand und stemmte sich aus dem Stuhl hoch. »Ihr könnt es bloß nicht sehen.«

Als die stämmige Deni Rand das erste Mal in seiner Verkleidung erblickte, erstarrte das Lächeln auf ihrem Gesicht. Caseille blieb der Mund offen stehen. So viel zu dem geheimen Stelldichein mit einem Liebhaber, dachte Elayne und kicherte in Gedanken. Sie war fest davon überzeugt, dass er genauso viele Blicke wie die Gardistinnen auf sich zog, während er mit mürrischer Miene zwischen ihnen herschlurfte. Auf jeden Fall würde niemand einen Verdacht hegen, wer er wirklich war. Die Dienerschaft in den Korridoren würde vermutlich glauben, dass man ihn wegen irgendeines Verbrechens festgenommen hatte. Auf jeden Fall sah er aus wie ein Verbrecher. Caseille und Deni behielten ihn so scharf im Auge, als würden sie diese Meinung teilen.

Als den Gardistinnen klar wurde, dass sie vor Elaynes Gemächern warten sollten, während er die drei Frauen hinein begleitete, hätten sie beinahe den Befehl verweigert. Plötzlich erschien Rands Verkleidung nicht länger lustig. Caseilles Lippen zogen sich zu einem dünnen Strich zusammen und Denis breites Gesicht erstarrte zu sturem Unbehagen. Um ein Haar hätte Elayne ihnen den Großen Schlangenring unter die Nasen halten müssen, bevor sie stirnrunzelnd neben der Tür ihre Position einnahmen. Sie drückte die Tür leise ins Schloss und versperrte den Blick auf ihre mürrischen Mienen, dabei hätte sie sie am liebsten zugeknallt. Licht, der Mann hätte auch eine etwas weniger anstößige Gestalt als Tarnung auswählen können.

Und was ihn anging, er begab sich schnurstracks zu dem Tisch mit den Intarsien und lehnte sich dagegen, während die Luft um ihn herum schimmerte und er wieder er selbst wurde. Die Drachenschädel auf seinen Handrücken schimmerten scharlachrot und golden metallisch. »Ich brauche etwas zu trinken«, murmelte er mit belegter Stimme und erspähte einen hochhalsigen Silberkrug auf dem langen Beistelltisch an der Wand.

Er ging auf unsicheren Beinen darauf zu — wobei er noch immer jeden Blick auf Elayne, Min oder Aviendha vermied —, und goss einen Silberbecher voll, den er mit einem großen Schluck bis zur Hälfte leerte. Der gewürzte Wein war dort stehen geblieben, als man das Frühstück abgeräumt hatte. Mittlerweile musste er eiskalt sein. Elayne hatte nicht erwartet, so bald in ihre Gemächer zurückzukehren, und das Feuer im Kamin glomm nur noch unter der Asche. Aber so weit sie sehen konnte, machte er keinerlei Anstalten, den Wein mit Hilfe der Macht zu erwärmen. Sie hätte zumindest den aufsteigenden Dampf gesehen. Und warum war er zu dem Wein gegangen, statt ihn mit der Macht zu holen? Sonst hatte er doch immer Weinbecher und Lampen durch die Luft schweben lassen.

»Geht es dir gut, Rand?«, fragte sie. »Ich meine, bist du krank?« Bei dem Gedanken daran, welche Krankheit ihm möglicherweise zusetzte, verkrampfte sich ihr Magen. »Nynaeve kann...«

»Mir geht es so gut, wie es geht«, erwiderte er tonlos. Noch immer mit dem Rücken zu ihnen. Er leerte den Becher und füllte ihn nach. »Also, was wollt ihr mir sagen, das Nynaeve nicht mitbekommen soll?«

Elayne wechselte einen überraschten Blick mit Min und Aviendha. Wenn er ihre Ausrede durchschaut hatte, dann hatte es Nynaeve erst recht. Warum hatte sie sie gehen lassen? Aviendha schüttelte überrascht den Kopf. Min schüttelte ihn ebenfalls, aber mit einem Grinsen, das besagte, dass man gelegentlich mit so etwas rechnen musste. Elayne verspürte einen kleinen Stich der... nein, es war keine Eifersucht, für sie drei kam Eifersucht nicht in Frage. Es war vielmehr Wut darüber, dass Min so viel Zeit mit ihm verbracht hatte und sie nicht. Nun, wenn er Überraschungen haben wollte...

»Wir wollen den Behüterbund mit dir eingehen«, erklärte sie und strich die Röcke glatt, während sie Platz nahm. Min setzte sich auf die Tischkante und ließ die Beine baumeln, und Aviendha setzte sich mit überkreuzten Beinen auf den Teppich, wobei sie vorher sorgfältig ihre schweren wollenen Röcke ausbreitete. »Wir drei. Natürlich fragen wir dich vorher, so wie es sich gehört.«

Er fuhr herum. Wein spritzte aus dem Becher und noch mehr aus dem Krug, bevor er ihn wieder in die aufrechte Stellung brachte. Mit einem gemurmelten Fluch trat er hastig aus dem sich auf dem Teppich ausbreitenden feuchten Fleck und stellte den Krug zurück auf das Tablett. Die Vorderseite seines groben Mantels wurde ebenfalls von einem großen feuchten Fleck und Tropfen dunklen Weins geschmückt, die er mit der freien Hand wegzuwischen versuchte. Sehr gut!

»Du bist wirklich nicht bei Verstand«, knurrte er. »Du weißt genau, was mir bevorsteht. Du weißt, was das für jeden bedeutet, mit dem ich durch den Bund verknüpft wäre. Selbst wenn ich nicht wahnsinnig werden sollte, wird sie meinen Tod miterleben müssen! Und was soll das heißen, ihr drei? Min kann die Macht nicht lenken. Und davon abgesehen ist euch Alanna Mosvani zuvorgekommen und sie hat sich nicht die Mühe gemacht und vorher gefragt. Sie und Verin haben ein paar Mädchen von den Zwei Flüssen in die Weiße Burg geholt. Ich bin schon seit Monaten mit ihr verbunden.«

»Und das hast du mir vorenthalten, du wollköpfiger Schafhirte?«, rief Min. »Hätte ich das gewusst...!« Sie zog ein schlankes Messer aus dem Ärmel, starrte es wütend an und steckte es mürrisch zurück. Diese Heilmethode wäre genauso verheerend für Rand wie für Alanna gewesen.

»Das war ein Verstoß gegen die Sitten«, sagte Aviendha nachdenklich. Sie veränderte die Stellung auf dem Teppich und fummelte an ihrem Gürtelmesser herum.

»Und ob«, erwiderte Elayne grimmig. Dass eine Schwester überhaupt so etwas einem Mann antun konnte, war widerwärtig. Dass Alanna es Rand angetan hatte...! Sie erinnerte sich an die dunkle, wilde Grüne mit dem unberechenbaren Humor und dem gleichermaßen unberechenbaren Temperament. »Alanna schuldet ihm mehr Toh, als sie in ihrem ganzen Leben zurückzahlen könnte! Und uns ebenfalls. Und selbst wenn ich sie in die Finger bekomme, wird sie sich wünschen, ich hätte sie auf der Stelle umgebracht!«

»Nachdem wir sie in die Finger bekommen haben«, sagte Aviendha und nickte, um es zu unterstreichen.

»Also.« Rand blickte in seinen Wein. »Du siehst, dass es sinnlos ist. Ich... ich finde, ich sollte jetzt lieber zu Nynaeve zurückgehen. Kommst du, Min?« All dem zum Trotz, was sie ihm gesagt hatten, klang er, als würde er es nicht so richtig glauben, als könnte Min ihn jetzt verlassen. Es hörte sich nicht so an, als hätte er Angst davor; es klang einfach nur resigniert.

»Es ist nicht sinnlos«, sagte Elayne beschwörend. Sie beugte sich vor und versuchte ihn mit der Kraft ihrer Persönlichkeit dazu zu bringen, dass er ihre Worte akzeptierte. »Ein Bund schließt einen anderen nicht aus. Schwestern verbinden sich nicht mit demselben Mann, weil es so Brauch ist, Rand, weil sie ihn nicht teilen wollen, und nicht, weil das nicht möglich wäre. Es verstößt nicht einmal gegen das Burggesetz.« Natürlich waren manche Bräuche so mächtig wie ein Gesetz, zumindest in den Augen der Schwestern. Nynaeve schien jeden neuen Tag mehr daran interessiert zu sein, die Bräuche und Erhabenheit der Aes Sedai aufrechtzuerhalten. Wenn sie hiervon erfuhr, würde sie vermutlich an die Decke gehen. »Nun, wir wollen dich teilen! Wir werden dich teilen, wenn du einverstanden bist.«

Wie leicht es ihr doch fiel, das zu sagen! Einst war sie der festen Überzeugung gewesen, so etwas unmöglich über die Lippen bringen zu können. Bis sie begriffen hatte, dass sie Aviendha genauso sehr liebte wie ihn, nur eben auf eine andere Weise. Das Gleiche galt für Min; eine weitere Schwester, selbst wenn sie einander nicht adoptiert hatten. Sollte sich ihr die Gelegenheit bieten, würde sie Alanna dafür auspeitschen, dass sie ihn berührt hatte, aber bei Aviendha und Min war das etwas anderes. Sie waren ein Teil von ihr. In gewisser Weise waren die anderen Frauen sie und umgekehrt.

Sie senkte die Stimme. »Ich bitte dich, Rand. Wir bitten dich. Bitte lass uns den Bund eingehen.«

»Min«, murmelte er beinahe anklagend. Sein auf Mins Gesicht gerichteter Blick war voller Verzweiflung. »Du hast das gewusst, nicht wahr? Du wusstest, wenn ich sie sehen sollte...« Er schüttelte den Kopf, unfähig oder unwillig weiterzusprechen.

»Von dem Bund wusste ich nichts, bis sie es mir vor einer Stunde sagten«, erklärte sie und erwiderte seinen Blick mit dem zärtlichsten Ausdruck in den Augen, den Elayne je gesehen hatte. »Aber ich wusste, ich hoffte, was passieren würde, solltest du sie wiedersehen. Manche Dinge müssen einfach sein, Rand. Sie müssen es einfach.«

Rand starrte in den Weinbecher. Momente schienen sich zu Stunden auszudehnen. Schließlich stellte er den Becher zurück. »Also gut«, sagte er leise. »Ich kann nicht sagen, dass ich das nicht will, weil ich es tue. Soll das Licht mich dafür zu Asche verbrennen! Aber denkt an den Preis. Denkt an den Preis, den ihr zahlen müsst.«

Elayne musste nicht über den Preis nachdenken. Der war ihr von Anfang an klar gewesen, sie hatte ihn mit Aviendha besprochen, um sicherzugehen, dass auch sie ihn verstand. Sie hatte ihn Min erklärt. Nimm dir, was du willst, und bezahle dafür, lautete ein altes Sprichwort. Keine von ihnen musste über den Preis nachdenken; sie kannten ihn und waren bereit, ihn zu zahlen. Aber es galt keine Zeit zu verschwenden. Selbst jetzt hielt sie ihn durchaus dazu fähig, dass ihm der Preis plötzlich zu hoch war und er sich dagegen entschied. Als wäre das seine Entscheidung!

Sie öffnete sich Saidar, ging mit Aviendha eine Verknüpfung ein und teilte mit ihr ein Lächeln. Wie immer war es eine Freude, mit ihrer Schwester Gefühle und physische Wahrnehmungen zu teilen; das war nun wesentlich intimer geworden, so wie die Fähigkeit, einander bewusst zu sein, viel stärker geworden war. Es ähnelte dem, was sie bald mit Rand teilen würden. Elayne hatte das sehr sorgfältig geplant, es aus jeder Richtung genau studiert. Dabei war ihr das, was sie von den Adoptions-Geweben der Aiel gelernt hatte, von großem Nutzen gewesen. Diese Zeremonie hatte sie überhaupt erst auf die Idee gebracht.

Sie wob sorgfältig Geist, ein Strom aus über hundert Strängen, von denen jeder genau den ihm zustehenden Platz erhielt, und hüllte die auf dem Boden sitzende Aviendha mit dem fertigen Gewebe ein, dann wiederholte sie es bei der auf der Tischkante sitzenden Min. In gewisser Weise handelte es sich gar nicht um zwei verschiedene Gewebe. Sie leuchteten mit einer präzisen Gleichförmigkeit, und wenn sie das eine betrachtete, kam es ihr so vor, als würde sie gleichzeitig das andere sehen. Es handelte sich nicht um die Gewebe der Adoptionszeremonie, aber sie unterlagen denselben Prinzipien. Sie verbanden miteinander; was eine mit diesem Gewebe verwobene Person erlebte, erlebten alle damit verwobenen. Sobald die Gewebe an Ort und Stelle waren, übergab sie die Führung des aus zwei Frauen bestehenden Zirkels an Aviendha. Die bereits erschaffenen Gewebe blieben bestehen und Aviendha wob sofort identische Gewebe um Elayne und auch um Min. Das zweite vermengte sie mit dem ersten, bis es von Elaynes nicht mehr zu unterscheiden war, dann reichte sie die Kontrolle zurück. Nach viel Übung gelang ihnen dies nun beinahe mühelos. Vier Gewebe, das heißt, nun waren es drei, aber sie schienen alle dieselben zu sein.

Alles war bereit. Aviendha war wie ein Fels in der Brandung, das personifizierte Selbstbewusstsein, so stark wie alles, was Elayne je von Birgitte wahrgenommen hatte. Min hielt die Knöchel übereinander geschlagen und den Tischrand umklammert; sie konnte die Ströme nicht wahrnehmen, zeigte aber ein selbstsicheres Lächeln, das lediglich etwas dadurch verdorben wurde, dass sie sich mit der Zunge über die Lippen fuhr. Elayne holte tief Luft. Ihren Augen bot sich das Bild eines Netzes aus Geist, das die feinste Spitzenstickerei grob erscheinen ließ. Wenn es jetzt nur so funktionierte, wie sie angenommen hatte.

Sie griff gleichzeitig nach allen Geweben und zog sie in schmalen Bahnen bis zu Rand, wobei sie die drei Stränge zu einem verwob und daraus den Behüterbund erschuf. Sie hüllte Rand so sanft damit ein, als würde sie ein Baby mit seiner Decke zudecken. Der an den Faden eines Spinnennetzes erinnernde Strang aus Geist umhüllte Rand, drang in ihn ein. Er blinzelte nicht einmal, aber es war vollbracht. Sie ließ Saidar los. Das war es.

Er starrte sie ausdruckslos an und führte langsam die Finger an die Schläfen.

»Oh, Licht, Rand, die Schmerzen«, murmelte Min mit gequälter Stimme. »Ich habe es nicht gewusst, ich hatte ja keine Ahnung. Wie kannst du das ertragen? Da sind Schmerzen, von denen du nicht einmal zu wissen scheinst, als hättest du so lange mit ihnen gelebt, dass sie ein Teil von dir geworden sind. Diese Reiher auf deinen Händen; du spürst noch immer, wie sie sich dir eingebrannt haben. Diese Dinger auf deinen Armen schmerzen! Und deine Seite! Warum weinst du nicht, Rand? Warum weinst du nicht?«

»Er ist der Car'a'carn«, sagte Aviendha lachend. »So stark wie das Dreifache Land!« Der Stolz stand ihr ins Gesicht geschrieben — oh, sie war so stolz —, aber noch während sie lachte, rannen ihr Tränen über die von der Sonne verbrannten Wangen. »Die Adern aus Gold. Oh, die Adern aus Gold. Du liebst mich, Rand.«

Elayne starrte ihn einfach nur an, fühlte ihn in ihrem Kopf. Die Schmerzen der Wunden und Verletzungen, die er tatsächlich vergessen hatte. Die Anspannung und der Unglaube; das Staunen. Aber seine Gefühle waren zu unnachgiebig, wie ein erstarrender Bernsteintropfen, fast schon wie ein Stein. Doch sie wurden von goldenen Adern durchzogen, die pulsierten und aufglühten, wenn er Min ansah. Oder Aviendha. Oder sie. Er liebte sie tatsächlich. Er liebte sie alle drei. Und darüber hätte Elayne am liebsten vor Freude gelacht. Andere Frauen würden ihre Zweifel haben, aber sie würde immer wissen, dass seine Liebe wahrhaftig war.

»Möge das Licht geben, dass ihr wisst, was ihr getan habt«, sagte er leise. »Möge das Licht geben, dass ihr nicht...« Der Bernstein wurde noch etwas härter. Er war davon überzeugt, dass sie verletzt werden würden, und er stählte sich bereits dagegen. »Ich... ich muss jetzt gehen. Wenigstens weiß ich nun, dass es euch allen gut geht; ich muss mir wegen euch keine Sorgen machen.« Plötzlich grinste er; beinahe hätte er jungenhaft ausgesehen, wenn das Grinsen seine Augen erreicht hätte. »Nynaeve wird schon glauben, ich hätte mich verdrückt, ohne noch einmal bei ihr vorbeizuschauen. Nicht, dass sie ein bisschen Aufregung nicht verdient hätte.«

»Rand, da ist noch etwas«, sagte Elayne und hielt inne, um zu schlucken. Licht, und sie hatte gedacht, dass das der leichte Teil werden würde.

»Ich schätze, Aviendha und ich sollten uns miteinander unterhalten, solange wir Gelegenheit haben«, sagte Min hastig und sprang vom Tisch. »An irgendeinem Ort, wo wir ungestört sind. Wenn ihr uns entschuldigt?«

Aviendha erhob sich anmutig vom Teppich und glättete die Röcke. »Ja. Min Farshaw und ich müssen mehr über einander erfahren.« Sie warf Min einen zweifelnden Blick zu und richtete das Schultertuch, aber sie gingen mit untergehakten Armen.

Rand sah ihnen misstrauisch nach, als wüsste er, dass ihr Gehen Teil eines Plans war. Ein in die Ecke getriebener Wolf. Aber diese goldenen Adern leuchteten in ihrem Verstand.

»Da gibt es etwas, das sie von dir bekommen haben und ich noch nicht«, begann Elayne und verschluckte sich, während das aufsteigende Blut ihre Wangen beinahe verbrannte. Blut und Asche! Wie machten andere Frauen das bloß? Sorgfältig musterte sie das Bündel aus Gefühlen in ihrem Inneren, das ihn darstellte, und das Bündel, das Birgitte war. Noch immer keine Veränderung bei dem zweiten. Sie stellte sich vor, es in ein Taschentuch einzuwickeln, welches sie fest zusammenknotete, und Birgitte war verschwunden. Nur noch Rand war da. Und die leuchtenden goldenen Adern. In ihrem Bauch schlugen Schmetterlinge mit der Größe von Wolfshunden heftig mit den Flügeln. Sie schluckte schwer und holte tief Luft. »Du wirst mir bei den Knöpfen helfen müssen«, sagte sie unsicher. »Ich kann dieses Gewand nicht allein ausziehen.«

Als Min mit der Aielfrau in den Korridor hinaustrat, nahmen die beiden Gardistinnen Haltung an, aber nachdem Min die Tür wieder geschlossen hatte und ihnen klar wurde, dass sonst niemand mehr den Raum verließ, kam Bewegung in sie.

»Sie kann doch unmöglich so einen schlechten Geschmack haben«, murmelte die Stämmige mit dem müden Blick kaum verständlich; ihre Fäuste schlössen sich fester um die lange Keule. Min glaubte nicht, dass das jemand hatte hören sollen.

»Zu viel Mut und viel zu viel Naivität«, knurrte die Schlanke, die etwas von einem Mann an sich hatte. »Davor hat uns der Generalhauptmann gewarnt.« Sie legte die Hand in dem schweren Panzerhandschuh auf den Löwenkopfknauf.

»Wenn Ihr jetzt da hinein geht, wird sie Euch vermutlich die Haut abziehen«, sagte Min vergnügt. »Habt Ihr sie je wütend erlebt? Sie könnte einen Bären zum Weinen bringen!«

Aviendha löste sich von Min und trat einen Schritt zur Seite. Allerdings war ihr finsterer Blick auf die Gardistin gerichtet. »Bezweifelt ihr, dass meine Schwester mit einem einzigen Mann fertig werden kann? Sie ist Aes Sedai und hat das Herz einer Löwin. Und ihr habt einen Eid geschworen, ihr zu folgen! Dir folgt ihr, wohin sie euch führt, und steckt nicht eure Nasen in ihren Ärmel.«

Die Gardistinnen tauschten einen langen Blick aus. Die massigere Frau zuckte mit den Schultern. Die Drahtige schnitt eine Grimasse, aber sie nahm die Hand von dem Türknauf. »Ich habe den Eid geschworen, dieses Mädchen zu beschützen«, sagte sie mit harter Stimme, »und das werde ich auch tun. Und jetzt geht ihr Mädchen mit euren Puppen spielen und lasst mich meine Arbeit hin.«

Min überlegte, ein Messer zu ziehen und es auf diese angeberische Art über die Finger rollen zu lassen, die ihr Thom Merrilin beigebracht hatte. Nur um ihr zu zeigen, wer hier das Kind war. Die schlanke Frau war nicht jung, aber in ihrem Haar war keine graue Strähne zu entdecken, und sie sah ziemlich kräftig aus. Und schnell. Min hätte gern geglaubt, dass einiges von der Masse der anderen Frau Fett war, aber sie wusste es besser. Sie konnte bei keiner von ihnen Bilder oder Auren sehen, aber die beiden sahen nicht im Mindesten so aus, als fürchteten sie sich davor, das zu tun, was sie für nötig hielten. Nun, wenigstens ließen sie Elayne und Rand allein. Vielleicht war das Messer doch unnötig.

Aus dem Augenwinkel sah sie, dass die Aiel zögernd die Hand vom Gürtelmesser nahm. Wenn die Frau nicht bald aufhörte, ihr alles wie ein Spiegelbild nachzumachen, würde sie doch noch glauben, dass mehr an diesem Hokuspokus mit der Macht war, als man ihr gesagt hatte. Andererseits hatte es schon vor dem Hokuspokus angefangen. Vielleicht dachten sie ja alle gleich? Eine schreckliche Vorstellung. Licht, dieses ganze Gerede, dass er sie alle drei heiratete, war ja schön und gut, solange es Gerede war, aber wen würde er nun tatsächlich heiraten?

»Elayne ist mutig«, sagte sie zu der Leibwache. »So mutig wie alle anderen, die ich kennen gelernt habe. Und sie ist nicht dumm. Wenn ihr das glaubt, werdet ihr bald Ärger mit ihr haben.« Sie starrten aus der vorteilhaften Position der fünfzehn oder zwanzig Jahre Altersunterschied zwischen ihnen auf sie herunter, ungerührt und entschlossen. Gleich würden sie ihr erneut befehlen, sich endlich aus dem Staub zu machen. »Nun, wir können hier nicht rumstehen, wenn wir uns unterhalten wollen, nicht wahr, Aviendha?«

»Nein«, sagte die Aiel angespannt und starrte die Gardistinnen finster an. »Wir können hier nicht rumstehen.«

Die Leibwächterinnen nahmen keine Notiz von ihnen, als sie gingen. Sie hatten einen Auftrag zu erledigen, und es ging nicht darum, Elaynes Freundinnen nachzusehen. Min hoffte, dass sie ihre Arbeit gut erledigten. Sie ist überhaupt nicht dumm, dachte sie. Sie lässt nur manchmal zu, dass ihr Mut den Weg vorgibt. Hoffentlich würden sie Elayne nicht in ein Dornengestrüpp gehen lassen, aus dem sie nicht wieder herausgelangte.

Auf dem Weg durch den Korridor musterte sie die Aielfrau verstohlen. Aviendha ging so weit von ihr entfernt, wie das im selben Gang möglich war. Sie sah nicht einmal in Mins Richtung, sondern zog ein reich verziertes Elfenbeinarmband aus der Gürteltasche und schob es mit einem selbstzufriedenen Lächeln über die linke Hand. Sie hatte von Anfang an die Nase gerümpft. Min verstand es einfach nicht. Angeblich waren es die Aiel gewohnt, sich einen Mann zu teilen. Jedenfalls eher, als sie es war. Sie liebte ihn so sehr, dass sie bereit war, ihn zu teilen, und wenn sie es schon musste, gab es auf der ganzen Welt keine Person, mit der sie ihn lieber geteilt hätte als mit Elayne. Bei ihr war es fast so, als würden sie ihn überhaupt nicht teilen. Aber diese Aielfrau war eine Fremde. Elayne hatte gesagt, es sei wichtig, dass sie einander kennen lernten, aber wie sollte das gehen, wenn die Frau nicht mit ihr reden wollte?

Allerdings verschwendete sie nicht viel Zeit damit, sich Sorgen um Elayne oder Aviendha zu machen. Dafür war das, was sich in ihrem Kopf abspielte, viel zu wunderbar. Rand. Eine kleine Kugel, die ihr alles über ihn verriet. Sie war davon überzeugt gewesen, dass die Sache nicht klappen würde, zumindest nicht bei ihr. Wie würde es wohl sein, wenn sie sich das nächste Mal liebten, wenn sie alles erfuhr! Licht! Natürlich würde er auch alles über sie wissen. Sie konnte nicht sagen, was sie davon halten sollte!

Plötzlich wurde sie sich bewusst, dass das Bündel aus Gefühlen und Sinnesempfindungen nicht länger so war wie zuvor. Nun hatte es etwas... Animalisches an sich... so wie ein Buschfeuer, das durch einen zundertrockenen Wald tobte. Was konnte...? Licht! Sie taumelte und konnte gerade noch verhindern, dass sie stolperte. Hätte sie gewusst, dass er diese Feuersbrunst, diesen rasenden Hunger in sich trug, hätte sie Angst gehabt, von ihm berührt zu werden! Andererseits ... Das Wissen, der auslösende Funke für ein solches Inferno zu sein, wäre nett gewesen. Sie konnte kaum erwarten auszuprobieren, ob sie das gleiche Ergebnis verursachen konnte wie... Sie stolperte wieder und diesmal musste sie sich auf eine verzierte Holztruhe aufstützen. Oh, Licht! Elayne! Ihr Gesicht fühlte sich wie ein Ofen an. Das war ja so, als würde man heimlich durch die Bettvorhänge spähen!

Schnell versuchte sie, den Trick durchzuführen, von dem Elayne ihr erzählt hatte, und stellte sich vor, diese Kugel aus Gefühlen in einem Taschentuch zu verknoten. Nichts geschah. Völlig außer sich unternahm sie den nächsten Versuch, aber das tobende Feuer war noch immer da! Sie musste aufhören, es sich anzusehen, aufhören, es zu fühlen. Egal, worauf sie sich konzentrierte, solange sie nur die Aufmerksamkeit auf etwas anderes richtete! Egal was! Vielleicht, wenn sie redete.

»Sie hätte diesen Herzblatt-Tee trinken sollen«, plapperte sie drauflos. Sie verriet das, was sie sah, immer nur jenen, die darin verwickelt waren, und dann auch nur, wenn sie es hören wollten, aber sie musste etwas sagen. »Sie wird davon schwanger werden. Zwei Kinder, ein Junge und ein Mädchen, beide stark und gesund.«

»Sie will seine Babys«, murmelte die Aielfrau. Ihre grünen Augen starrten stur geradeaus; sie biss die Zähne zusammen, ihre Stirn war schweißbedeckt. »Ich werde diesen Tee nicht trinken, falls ich...« Sie schüttelte sich und warf Min über die Breite des Korridors einen finsteren Blick zu. »Meine Schwester und die Weisen Frauen haben mir von dir berichtet. Siehst du bei Menschen wirklich Dinge, die dann wahr werden?«

»Manchmal sehe ich Dinge, und wenn ich verstehe, was sie bedeuten, dann geschehen sie auch«, sagte Min. Ihre Stimmen hallten durch den Korridor, weil sie laut sprachen, damit die andere sie auch hören konnte. In Rot und Weiß gekleidete Diener drehten sich um und starrten sie an. Min ging zurück in die Mitte des Korridors. Sie würde der Frau auf halbem Weg entgegenkommen, aber auf keinen Fall mehr. Einen Augenblick später gesellte sich Aviendha zu ihr.

Min dachte darüber nach, ob sie ihr verraten sollte, was sie gesehen hatte, als sie alle zusammen gewesen waren. Auch Aviendha würde von Rand Kinder bekommen. Vier auf einmal! Allerdings war etwas seltsam daran. Die Babys würden gesund sein, trotzdem würde etwas an ihnen merkwürdig sein. Oftmals wollten die Leute nichts von ihrer Zukunft wissen, selbst wenn sie sagten, dass sie es wollten. Sie wünschte, jemand könnte ihr sagen, ob sie auch...

Aviendha ging schweigend neben ihr her, wischte sich mit den Fingern Schweiß von ihrem Gesicht und schluckte schwer. Min musste ebenfalls schlucken. Alles, was Rand fühlte, befand sich in dieser Kugel. Alles!

»Bei dir hat der Trick mit dem Taschentuch also auch nicht funktioniert?«, sagte sie heiser.

Aviendha blinzelte, ihr Gesicht nahm eine scharlachrote Färbung an. Einen Augenblick später sagte sie: »So ist es besser. Danke. Ich... Mit ihm in meinem Kopf habe ich es vergessen.« Sie runzelte die Stirn. »Bei dir hat es nicht funktioniert?«

Min schüttelte elend den Kopf. Das war schamlos! »Aber es hilft, wenn ich rede.« Wenn diese seltsame Sache auch nur die leiseste Chance auf einen Erfolg haben sollte, dann musste sie irgendwie mit dieser Frau Freundschaft schließen. »Was ich gesagt habe, tut mir Leid. Ich meine das mit dem Toh. Ich weiß ein wenig über eure Bräuche Bescheid. Dieser Mann hat etwas an sich, das mich einfach vorlaut macht. Ich kann meine Zunge nicht im Zaum halten. Aber glaube ja nicht, ich würde zulassen, dass du mich schlägst oder an mir herumschnitzt. Vielleicht habe ich Toh, aber wir werden einen anderen Weg finden müssen. Ich könnte ja dein Pferd striegeln, wenn wir Zeit haben.«

»Du bist so stolz wie meine Schwester«, murmelte Aviendha stirnrunzelnd. Was wollte sie denn damit sagen? »Außerdem hast du Sinn für Humor.« Sie schien mit sich selbst zu sprechen. »Du hast dich wegen Rand und Elayne nicht zur Närrin gemacht, so wie es die meisten Feuchtländerinnen getan hätten. Und du hast mich auf einen Gedanken gebracht...« Mit einem Seufzer hob sie das Tuch auf die Schultern. »Ich weiß, wo wir Oosquai finden. Wenn du zu betrunken zum Denken bist, dann...« Sie starrte geradeaus und blieb wie angewurzelt stehen. »Nein!«, knurrte sie. »Noch nicht!«

Eine Gestalt kam auf sie zu, die Mins Mund offen stehen ließ. Bestürzung schob Rand jenseits der bewussten Wahrnehmung. Sie hatte mitbekommen, dass es sich bei dem Generalhauptmann von Elaynes Garde um eine Frau handelte, die gleichzeitig ihre Behüterin war, aber das war es auch schon gewesen. Diese Frau hatte einen dicken, kompliziert geflochtenen goldenen Zopf über der einen Schulter des kurzen roten Mantels mit dem weißen Kragen hängen, und ihre voluminöse blaue Hose steckte in Stiefeln mit Absätzen, die mindestens so hoch wie Mins waren. Auren führten einen wilden Tanz um sie herum, Bilder flackerten, viel mehr, als Min jemals bei einer Person gesehen hatte, es mussten Tausende sein, die sich wie eine Sturzflut übereinander ergossen. Elaynes Behüterin und der Generalhauptmann der Königlichen Garde... flackerte irgendwie, so als hätte Min bereits den Oosquai getrunken. Diener, die sie erblickten, entschieden, dass auf sie Arbeit in anderen Teilen des Palasts wartete, und plötzlich standen die drei dort in dem Korridor ganz allein da. Die Frau schien Min und Aviendha erst wahrzunehmen, als sie kurz vor ihnen stand.

»Verdammt, du hast ihr dabei geholfen, nicht wahr?«, fauchte sie und richtete den glasigen Blick aus den blauen Augen mühsam auf Aviendha. »Zuerst verschwindet sie einfach aus meinem Kopf und dann...!« Sie bebte am ganzen Leib, und es kostete sie sichtlich Mühe, sich zu beherrschen, aber selbst das ließ sie schwer atmen. Ihre Knie schienen nachgeben zu wollen. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, schluckte und fuhr wütend fort. »Soll man sie doch zu Asche verbrennen, ich kann mich nicht genug konzentrieren, um es abzuschütteln! Eines sage ich dir, wenn sie das tut, was ich vermute, dann treibe ich sie quer durch den ganzen verdammten Palast, und danach werde ich sie — und dich gleich mit! — so lange mit dem Gürtel bearbeiten, dass sie einen Monat nicht sitzen kann, und wenn ich ihr vorher Spaltwurzel eintrichtern muss!«

»Meine Erstschwester ist eine erwachsene Frau, Birgitte Trahelion«, sagte Aviendha widerborstig. Ihrem Tonfall zum Trotz waren ihre Schultern nach vorn gebeugt und sie konnte den stechenden Blick der anderen Frau nicht erwidern. »Du musst aufhören, uns wie Kinder zu behandeln!«

»Wenn sie sich verdammt noch mal wie eine Erwachsene aufführt, dann werde ich sie verdammt noch mal auch so behandeln, aber sie hat kein Recht, das zu tun, nicht in meinem verflixten Kopf, nein! Nicht in meinem...!« Plötzlich quollen Birgittes blaue Augen hervor. Ihr Mund klappte auf, und sie wäre gefallen, hätten Aviendha und Min ihr nicht unter die Arme gegriffen.

Sie kniff die Augen zusammen, schluchzte einmal auf und wimmerte: »Zwei Monate!« Sie schüttelte die beiden ab, richtete sich auf und fixierte Aviendha mit einem Blick so klar wie Wasser und so hart wie Eis. »Schirme sie für mich ab und ich erlasse dir deinen Teil.« Aviendhas mürrischer, empörter Blick glitt einfach von ihr ab.

»Ihr seid Birgitte Silberbogen!«, hauchte Min. Schon bevor Aviendha den Namen gesagt hatte, war sie sich dessen sicher gewesen. Kein Wunder, dass sich die Aielfrau benahm, als befürchte sie, dass die Drohungen auf der Stelle ausgeführt würden. Birgitte Silberbogen! »Ich sah Euch in Falme!«

Birgitte zuckte zusammen, als hätte sie ein kalter Wasserguss getroffen, dann schaute sie sich eilig um. Als ihr bewusst wurde, dass sie allein waren, entspannte sie sich. Zumindest ein bisschen. Sie musterte Min von Kopf bis Fuß. »Was auch immer Ihr gesehen habt, Silberbogen ist tot«, sagte sie grob. »Ich bin jetzt Birgitte Trahelion und das ist alles.« Einen Augenblick lang verzog sie die Lippen. »Verdammt noch mal, sogar Lady Birgitte Trahelion, wenn es Euch beliebt. Wenn ich daran etwas ändern könnte, würde ich am Muttertag ein verfluchtes Schaf küssen. Und wer seid bitteschön Ihr? Stellt Ihr immer Eure Beine zur Schau wie eine verdammte Federtänzerin?«

»Ich bin Min Farshaw«, erwiderte sie kurz angebunden. Das war Birgitte Silberbogen, die Heldin Hunderter Legenden? Die Frau war vielleicht ordinär! Und was hatte das zu bedeuten, dass Silberbogen tot war? Die Frau stand doch direkt vor ihr! Zwar blitzten die Bilder und Auren viel zu schnell vorbei, als dass sie etwas Klares hätte erkennen können, aber sie war davon überzeugt, dass sie auf mehr Abenteuer hindeuteten, als eine Frau in einem Leben bestehen konnte. Seltsamerweise hatten einige davon mit einem hässlichen Mann zu tun, der älter als sie war, während andere mit einem hässlichen Mann in Verbindung standen, der wesentlich jünger war, aber aus einem unerfindlichen Grund war Min klar, dass es sich immer um denselben Mann handelte. Legende oder nicht, diese überlegene Art und Weise brachte sie in Wut. »Elayne, Aviendha und ich sind gerade den Bund mit einem Behüter eingegangen«, sagte sie ohne nachzudenken. »Und wenn Elayne etwas feiert, nun, Ihr solltet Euch besser zweimal überlegen, bevor Ihr da reinstürmt, oder Ihr werdet diejenige sein, die Probleme beim Sitzen hat.«

Das reichte, um sich wieder Rand bewusst zu werden. Der lodernde Ofen brannte noch immer, fast genauso stark wie zuvor, aber glücklicherweise war er nicht länger damit beschäftigt... Ihre Wangen färbten sich blutrot. Er hatte oft genug in ihren Armen gelegen und war in dem Gewirr ihres Bettzeugs zu Atem gekommen, aber das hier war wirklich so, als würde man heimlich zusehen!

»Er?«, sagte Birgitte leise. »Mutters Milch in einer Tasse! Sie hätte sich in einen Beutelschneider oder einen Pferdedieb verlieben können, aber sie musste sich ihn aussuchen. Welch eine Närrin! Nach dem zu urteilen, was ich von ihm an jenem Ort gesehen habe, den Ihr erwähntet, ist der Mann viel zu hübsch, um für eine Frau zu taugen. Wie dem auch sei, sie muss sofort damit aufhören.«

»Dazu hast du kein Recht!«, beharrte Aviendha mürrisch und Birgitte setzte eine geduldige Miene auf. Es war eine angespannte Geduld, aber immerhin.

»Sie könnte glatt als Talmourimädchen durchgehen, solange sie nicht den Kopf auf den Richtblock legen muss, aber ich fürchte, sie wird den Mut aufbringen, ihn von vorn anfangen zu lassen, und selbst wenn sie tut, was auch immer sie da getan hat, wird sie dann nicht mehr daran denken und wieder in meinem Kopf sein. Und das werde ich verflucht noch mal nicht noch einmal mitmachen!« Sie nahm die Schultern zurück, offensichtlich dazu bereit, ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen.

»Betrachte es doch als guten Witz«, sagte Aviendha bettelnd. Bettelnd! »Sie hat dir einen guten Streich gespielt, das ist alles.« Birgitte verzog die Lippen, und das sagte bereits alles, was sie von dieser Idee hielt.

»Da gibt es einen Trick, den Elayne mir verraten hat«, sagte Min hastig und ergriff Birgittes Ärmel. »Bei mir hat er nicht funktioniert, aber vielleicht...« Doch sobald sie ihn erklärt hatte...

»Sie ist immer noch da«, sagte Birgitte einen Augenblick später grimmig. »Geht mir aus dem Weg, Min Farshaw«, befahl sie grimmig, »oder...«

»Oosquay!« Aviendha hob verzweifelt ihre Stimme und sie rang doch tatsächlich die Hände. »Ich weiß, wo es Oosquai gibt! Wenn du betrunken bist...! Bitte, Birgitte! Ich... Ich verspreche dir zu gehorchen, wie eine Schülerin ihrer Herrin, aber bitte stör sie nicht! Beschäme sie nicht auf diese Weise!«

»Oosquai?«, sagte Birgitte nachdenklich und rieb sich das Kinn. »Ist das so was wie Branntwein? Hm... Ich glaube tatsächlich, das Mädchen wird knallrot! Wisst Ihr, meistens ist sie ja furchtbar steif. Ein Scherz, hast du gesagt?« Plötzlich grinste sie und breitete die Arme weit aus. »Bring mich zu diesem Oosquai, Aviendha. Ich kann nicht für euch beide sprechen, aber ich will mich so betrinken, dass ich... nun ja, dass ich mich nackt ausziehe und auf dem Tisch tanze. Und nicht ein Haar betrunkener.«

Das verstand Min genauso wenig wie den Grund, warum Aviendha Birgitte anstarrte und plötzlich zu lachen anfing und etwas von ›einem wunderbaren Scherz‹ sagte, aber sie war fest davon überzeugt, genau zu wissen, warum Elayne errötete, falls sie es tatsächlich tat. Die harte Kugel aus Gefühlen in ihrem Kopf hatte sich wieder in ein tobendes Buschfeuer verwandelt.

»Könnten wir jetzt zu diesem Oosquai gehen, bitte?«, sagte sie. »Ich will so betrunken wie eine ersoffene Maus werden, und zwar schnell!«

Als Elayne am nächsten Morgen erwachte, war das Schlafgemach eiskalt, Schnee rieselte sanft auf Caemlyn herab und Rand war weg. Aber in ihrem Kopf war er noch immer gegenwärtig. Das würde reichen. Sie lächelte; es war ein träges Lächeln. Für den Moment würde es reichen. Sie streckte sich wohlig unter den Decken, erinnerte sich an ihre Hemmungslosigkeit in der vergangenen Nacht — und den größten Teil des Tages! Sie konnte kaum glauben, dass sie das gewesen war! — und fand, dass sie eigentlich so rot wie die Sonne hätte werden müssen! Aber sie hatte hemmungslos mit Rand umgehen wollen, und sie glaubte nicht, je wieder zu erröten, jedenfalls nicht bei irgendwas, was mit ihm zu tun hatte.

Aber das Beste war, er hatte ihr ein Geschenk dagelassen. Neben ihr auf dem Kissen lag eine goldene Lilie in voller Blüte, die noch vom Tau benetzt war. Sie konnte sich nicht einmal vorstellen, wo er sie mitten im Winter herbekommen hatte. Aber sie hüllte sie in ein Erhaltungsgewebe und stellte sie auf einen Seitentisch, wo sie sie jeden Morgen beim Aufwachen sehen würde. Das Gewebe hatte ihr Moghedien beigebracht, iber es würde die Blüte für alle Zeiten erhalten und die Tautropfen würden niemals verdunsten, eine immerwährende Erinnerung an den Mann, der ihr sein Herz geschenkt hatte.

Ihr Vormittag wurde von der Nachricht in Beschlag genommen, dass Alivia während der Nacht verschwunden war, eine ernste Angelegenheit, die die Kusinen in helle Aufregung versetzte. Erst als Zaida kam und sich darüber beschwerte, dass Nynaeve nicht zu ihrem Unterricht bei den Heervolkfrauen gekommen war, erfuhr Elayne, dass sowohl sie als auch Lan den Palast verlassen hatten, ohne dass jemand erfahren hatte, wie und wann. Kurz darauf wurde ihr berichtet, dass neben anderen Gegenständen das mächtigste der drei Angreale aus der Sammlung der Artefakte, die sie aus Ebou Dar gerettet hatten, verschwunden war. Einige davon waren ihrer Meinung nach für eine Frau vorgesehen, die jeden Augenblick damit rechnete, mit der Einen Macht angegriffen zu werden. Was die hastig hingekritzelte Nachricht, die Nynaeve verborgen zwischen den anderen Artefakten zurückgelassen hatte, noch beunruhigender machte.

Загрузка...