11 Bedeutsame Ideen

Ohne einen Blick zu verschwenden, trat Rand durch das Wegetor in einen großen, dunklen Raum. Die Anstrengung, Saidin zu bezwingen und das Gewebe zusammenzuhalten, ließ ihn schwanken; er verspürte einen Brechreiz, den Drang, sich zusammenzukrümmen und seinen ganzen Mageninhalt auszuspeien. Allein sich aufrecht zu halten war eine große Anstrengung. Durch die Spalten in den Läden der kleinen Fenster hoch oben an der einen Wand drang etwas Licht hindurch; solange er die Eine Macht hielt, reichte es gerade aus, um etwas sehen zu können. Der Raum war voller Möbel und mit großen Tüchern abgedeckter Gegenstände, dazwischen standen große Fässer von der Art, in denen man Geschirr verstaute, sowie Truhen in allen Größen und Formen, Kisten und Kästen und allerlei Krimskrams. Lediglich ein schmaler Durchgang stand frei, der kaum breiter als ein oder zwei Schritte war.

Rand war der festen Überzeugung gewesen, hier auf keine Diener zu stoßen, die etwas suchten oder sauber machten. Im obersten Stockwerk des Königlichen Palasts gab es mehrere solcher Abstellräume, in denen es wie auf den Dachkammern großer Bauernhöfe aussah und die genauso in Vergessenheit geraten waren. Davon abgesehen war er schließlich Ta'veren. Gut, dass niemand hier gewesen war, als sich das Wegetor geöffnet hatte. Die eine Seite hatte die Ecke einer leeren, mit brüchigem, verrottendem Leder verstärkten Kiste abgeschnitten, die andere hatte ein Stück von der Längsseite eines mit Intarsien versehenen Tisches abrasiert, auf dem sich Vasen und Holzkisten stapelten. Vielleicht hatte vor ein oder zwei Jahrhunderten eine Königin von Andor an diesem Tisch gespeist.

Vor ein oder zwei Jahrhunderten. Lews Therin lachte kehlig in seinem Kopf. Eine sehr lange Zeit. Um der Liebe zum Licht willen, lass los! Das hier ist der Pfuhl des Ver —derbens! Die Stimme verklang, als sich der Mann in die Abgründe von Rands Bewusstsein flüchtete.

Ausnahmsweise hatte er seine eigenen Gründe, auf Lews Therins Klagen zu hören. Er bedeutete Min, die auf der anderen Torseite auf der Waldlichtung stand, mit einem hastigen Wink, ihm zu folgen, und sobald sie hindurchgetreten war, gab er Saidin frei und ließ zu, dass sich das Tor zu einem vertikalen Lichtstreifen zusammenzog und verglühte. Glücklicherweise verschwand die Übelkeit mit ihm. In seinem Kopf drehte sich noch immer alles, aber er hatte nicht mehr das Gefühl, sich gleich übergeben zu müssen oder umzukippen oder beides. Das Gefühl, von Schmutz durchdrungen zu werden, blieb jedoch bestehen; der Makel des Dunklen Königs tropfte aus den Strängen der Macht, die er um sich herum geschlungen und verknotet hatte, in ihn hinein. Er wechselte den Riemen seiner Ledertasche von der einen Schulter zur anderen und versuchte durch die Bewegung zu verbergen, dass er sich mit dem Ärmel den Schweiß vom Gesicht wischte. Die Sorge, dass Min es schließlich doch bemerkte, war jedoch unnötig.

Ihre blauen Stiefel brachten mit dem ersten Schritt den Staub auf dem Boden in Bewegung und ließen ihn mit dem zweiten in die Höhe wallen. Sie konnte gerade noch rechtzeitig ein spitzenbesetztes Taschentuch aus dem Mantelärmel ziehen, um ein heftiges Niesen aufzufangen, dem ein zweites und drittes folgte, ein jedes noch heftiger als das vorherige. Rand wünschte sich, sie wäre bereit gewesen, das Kleid anzubehalten. Aufgestickte weiße Blumen zogen sich über die Ärmel und Aufschläge des blauen Mantels und die Hosen in einem helleren Blau lagen eng an und zeichneten die Konturen ihrer Beine nach. Mit den hellblauen, mit gelben Stickereien verzierten Reithandschuhen, die in ihrem Gürtel steckten, und dem mit gelben Verzierungen gesäumten und von einer goldenen Spange in Form einer Rose gehaltenen Umhang erweckte sie durchaus den Eindruck, dass sie auf konventionellere Weise eingetroffen war. Trotzdem würde sie jedermanns Blicke auf sich ziehen. Er trug braune Kleidung aus grobem Tuch wie sie jeder Tagelöhner hätte tragen können. An den meisten Orten, die sie im Verlauf der letzten Tage besucht hatten, hatte er alle Welt von seiner Anwesenheit Zeuge werden lassen, diesmal wollte er nicht nur wieder fort sein, bevor sich die Nachricht von seiner Anwesenheit verbreitete, es sollten überhaupt nur einige wenige Leute erfahren, dass er da gewesen war.

»Warum grinst du mich so an und ziehst wie ein einfältiger Dummkopf an deinem Ohr?«, wollte Min wissen und schob das Taschentuch zurück in den Ärmel. Ihre großen dunklen Augen waren voller Misstrauen.

»Ich dachte gerade darüber nach, wie schön du bist«, sagte er leise. Das war sie tatsächlich. Er konnte sie nicht ansehen, ohne dies zu denken. Oder ohne zu bedauern, dass er zu schwach war, sie fortzuschicken, damit sie in Sicherheit war.

Sie holte tief Luft und nieste, bevor sie die Hand vor den Mund halten konnte, dann starrte sie ihn an, als wäre dies irgendwie seine Schuld. »Rand al'Thor, deinetwegen habe ich mein Pferd zurückgelassen. Deinetwegen habe ich mir Locken gemacht. Ich habe für dich mein Leben aufgegeben! Aber ich werde nicht meinen Mantel und meine Hosen aufgeben! Davon abgesehen hat mich hier keiner jemals länger in einem Kleid gesehen, als es gedauert hat, mich umzuziehen. Du weißt genau, dass unser Plan misslingt, wenn man mich nicht erkennt. Mit diesem Gesicht kannst du niemanden davon überzeugen, dass du einfach von der Straße reingekommen bist.«

Unwillkürlich strich er mit der Hand über seinen Unterkiefer und berührte sein Gesicht, aber das war nicht das Gesicht, das Min sah. Jeder, der ihn ansah, würde einen Mann sehen, der Spannen kürzer und Jahre älter als Rand al'Thor war, der glattes schwarzes Haar, matte braune Augen und eine Warze auf der Knollennase hatte. Nur jemand, der ihn berührte, konnte die Maske der Spiegel durchdringen. Nicht mal ein Asha'man würde es bemerken, da das Geflecht aus Macht umgestülpt war. Allerdings hätte die Anwesenheit eines Asha'mans im Palast bedeutet, dass seine Pläne noch bedeutend umfassender gescheitert waren als vermutet. Dieser Besuch durfte nicht dazu führen, dass jemand getötet wurde. Aber davon abgesehen: sie hatte Recht. Es handelte sich nicht um ein Gesicht, dem man erlaubt hätte, den Palast von Andor ohne Eskorte zu betreten.

»Solange wir das schnell erledigen und wieder verschwinden können«, sagte er. »Bevor jemand genug Zeit hat, um auf den Gedanken zu kommen, dass wenn du hier bist, ich es vielleicht auch bin.«

»Rand«, sagte sie leise und er schaute sie misstrauisch an. Sie legte eine Hand auf seine Brust und blickte mit ernstem Gesichtsausdruck zu ihm hoch. »Rand, du musst mit Elayne sprechen. Und ich schätze, mit Aviendha auch; du weißt, dass sie vermutlich ebenfalls hier sein wird. Wenn du...«

Er schüttelte den Kopf und wünschte sich, er hätte es sein gelassen. Das Schwindelgefühl war noch immer nicht völlig verschwunden. »Nein!«, sagte er kurz angebunden. Beim Licht! Ganz egal, was Min auch sagte, er konnte einfach nicht glauben, dass sowohl Elayne als auch Aviendha ihn liebten. Oder dass die Tatsache, dass sie so empfanden — falls es wirklich eine Tatsache war —, Min nicht aufbrachte. So seltsam konnten Frauen nun auch wieder nicht sein! Elayne und Aviendha hatten genug Gründe, ihn zu hassen und nicht zu lieben, und zumindest Elayne hatte ihre Meinung deutlich zum Ausdruck gebracht. Was noch viel schlimmer war, er liebte sie beide, so wie er Min liebte! Er musste so hart wie Stahl sein, aber er würde bestimmt in tausend Stücke zerspringen, wenn er allen dreien gleichzeitig gegenübertreten musste. »Wir finden Nynaeve und Mat und verschwinden dann, so schnell wir können.« Sie wollte etwas erwidern, aber er gab ihr keine Gelegenheit dazu. »Streite nicht mit mir, Min. Dafür haben wir keine Zeit!«

Min legte den Kopf schief und setzte ein kleines, amüsiertes Lächeln auf. »Als ob ich jemals mit dir streiten würde! Tue ich nicht immer genau das, was du von mir verlangst?« Und als wäre diese Lüge nicht bereits schlimm genug, fügte sie hinzu: »Ich wollte sagen, wenn du es so eilig hast, warum stehen wir dann den ganzen Tag lang in dieser staubigen Abstellkammer herum?« Und um ihr Argument zu unterstreichen, nieste sie erneut.

Selbst mit ihrer Kleidung war es unwahrscheinlich, dass sie irgendwelches Aufsehen erregen würde, also steckte sie als Erste den Kopf durch die Tür. Anscheinend war der Abstellraum doch nicht völlig in Vergessenheit geraten; die schweren Türangeln gaben kaum ein Geräusch von sich. Ein schneller Blick nach beiden Seiten und sie eilte nach draußen und gab ihm das Zeichen, ihr zu folgen. Ta'veren oder nicht, er verspürte Erleichterung, dass der lange Korridor leer war. Selbst der einfältigste Diener hätte sich gewundert, sie aus einem Abstellraum im oberen Stockwerk des Palastes kommen zu sehen. Trotzdem würden sie bald Menschen begegnen. Der Königliche Palast beschäftigte nicht so viele Diener wie der Sonnenpalast oder der Stein von Tear, aber in einem Palast dieser Größe gab es stets mehrere Hundert von ihnen. Rand eilte an Mins Seite und bemühte sich um einen dahintrottenden Gang; er starrte die hellen Wandteppiche und mit Schnitzereien verzierten Wandtäfelungen und die auf Hochglanz polierten Kommoden staunend an. Zwar wies hier oben nichts davon die Qualität auf, die man in den unteren Stockwerken vorfinden würde, aber ein einfacher Tagelöhner würde alles anstarren.

»Wir müssen so schnell wie möglich nach unten«, murmelte er. Ihnen begegnete noch immer kein Mensch, aber bereits hinter der nächsten Ecke konnten ihnen zehn Leute entgegenkommen. »Denk daran, frag den ersten Diener, den wir sehen, wo Nynaeve und Mat zu finden sind. Gib keine komplizierten Erklärungen ab, es sei denn, du bist dazu gezwungen.«

»Danke, nett, dass du mich daran erinnerst, Rand. Ich wusste doch, dass ich etwas vergessen habe, aber es wollte mir einfach nicht mehr einfallen.« Ihr rasches Lächeln war etwas zu angespannt und sie murmelte etwas, das er nicht verstand.

Rand seufzte. Das hier war zu wichtig, als dass sie hätte Spielchen spielen können, aber wenn er nicht Acht gab, würde sie genau das tun. Nicht, dass sie es so gesehen hätte. Doch manchmal unterschied sich ihre Vorstellung von dem, was wichtig war, von der seinen. Sogar sehr. Er durfte sie nicht aus den Augen lassen.

»Was denn, Frau Farshaw«, sagte da eine Frauenstimme hinter ihnen. »Ihr seid es doch, Frau Farshaw, oder?«

Die Ledertasche schwang herum und stieß hart gegen Rands Rücken, als er sich auf dem Absatz umdrehte. Die pummelige Frau mit dem grauen Haar, die Min erstaunt anstarrte, war neben Elayne und Aviendha so ziemlich die letzte Person, der er hatte begegnen wollen. Er nahm eine gekrümmte Haltung an und vermied es, sie direkt anzusehen; er war nur ein Tagelöhner, der seinen Pflichten nachging, kein Grund, ihm einen zweiten Blick zu widmen. Dabei fragte er sich, warum sie wohl einen roten Wappenrock mit einem weißen Löwen auf der Brust trug.

»Frau Harfor?«, rief Min aus und strahlte erfreut übers ganze Gesicht. »Ja, ich bin es. Und Ihr seid genau die Frau, die ich gesucht habe. Ich fürchte, ich habe mich verlaufen. Könnt Ihr mir sagen, wo ich Nynaeve al'Meara finde? Und Mat Cauthon? Dieser Bursche hier bringt etwas, worum Nynaeve gebeten hat.«

Die Haushofmeisterin betrachtete Rand mit einem kaum merklichen Stirnrunzeln, bevor sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf Min richtete. Sie bedachte ihre Aufmachung mit einem missbilligenden Blick — vielleicht galt er auch dem Staub, der überall an der Kleidung haftete —, enthielt sich aber jeder Bemerkung. »Mat Cauthon? Ich glaube nicht, dass ich ihn kenne. Ist das einer der neuen Diener oder ein Gardesoldat?«, fragte sie zweifelnd. »Nynaeve Sedai ist sehr beschäftigt. Sie wird sicher nichts dagegen haben, wenn ich die Lieferung entgegennehme und in ihr Zimmer stelle.«

Unwillkürlich richtete sich Rand zu seiner vollen Größe auf. Nynaeve Sedai? Warum sollten die anderen, die echten Aes Sedai, diese Täuschung noch immer zulassen? Und Mat war nicht hier? Anscheinend war er überhaupt nicht hier gewesen! Farben wirbelten durch seinen Geist und verschmolzen beinahe zu einem greifbaren Bild. Es verschwand beim nächsten Herzschlag, aber er taumelte kurz. Frau Harfor bedachte ihn erneut mit einem Stirnrunzeln und schnupperte. Vermutlich hielt sie ihn für betrunken.

Auch Min hatte die Stirn in Falten gelegt, aber sie dachte nach und klopfte mit dem Finger gegen das Kinn. Es dauerte nicht lange. »Ich glaube, Nynaeve... Sedai wird ihn sehen wollen.« Das Zögern war kaum zu bemerken gewesen. »Könntet Ihr ihn zu ihren Gemächern führen lassen, Frau Harfor? Ich habe noch eine Besorgung zu erledigen, bevor ich gehe. Nuli, du benimmst dich jetzt und tust, was man dir sagt. Sei ein braver Junge.«

Rand öffnete den Mund; bevor er ein Wort hervorbringen konnte, eilte sie schon den Korridor entlang. Sie rannte beinahe. Sie bewegte sich so schnell, dass ihr Umhang hinter ihr herwehte. Verdammt, sie würde versuchen, Elayne zu finden! Sie konnte alles ruinieren!

Deine Pläne scheitern, weil du leben willst, du Verrückter. Lews Therins Stimme war ein raues, verschwitztes Flüstern. Akzeptiere, dass du tot bist. Akzeptiere es und hör endlich auf, mich zu foltern, du Narr! Rand unterdrückte die Stimme, bis sie nur noch ein gedämpftes Summen war, ein Summen in der Dunkelheit der Tiefe seines Bewusstseins. Nuli? Was für ein Name sollte das denn sein?

Frau Harfor starrte Min hinterher, bis sie um die Ecke bog, dann zupfte sie an ihrem Wappenrock herum, um ihn zu richten, dabei hatte er es gar nicht nötig. Selbst mit der Maske der Spiegel sah sie einen Mann vor sich, der sie hoch überragte, aber Ren ee Harfor war keine Frau, die sich auch nur einen winzigen Augenblick lang von einer so unwichtigen Sache aus dem Konzept bringen ließ. »Du siehst nicht vertrauenswürdig aus, Nuli«, sagte sie und kniff die Augen finster zusammen, »also überleg dir gut, was du tust. Und wenn du auch nur einen Funken Verstand hast, überlegst du es dir sogar sehr gut.«

Er hielt den Schulterriemen mit der einen Hand fest und strich sich mit der anderen eine Haarlocke aus der Stirn. »Ja, Herrin«, murmelte er mürrisch und mit verstellter Stimme. Die Haushofmeisterin kannte seine wahre Stimme und würde sie womöglich erkennen. Min hatte das Reden übernehmen sollen, bis sie Nynaeve und Mat fanden. Was beim Licht sollte er nur tun, wenn sie Elayne anschleppte? Und vielleicht auch Aviendha. Sie war möglicherweise auch hier. Licht! »Entschuldigt bitte, Herrin, aber wir sollten uns beeilen. Es ist wichtig, dass ich Nynaeve so schnell wie möglich sehe.« Er hob die Ledertasche ein Stück an. »Sie wollte das hier wirklich ganz dringend haben.« Wenn er bei Mins Rückkehr alles erledigt hatte, würden sie vielleicht von hier verschwinden können, bevor er sich den beiden anderen stellen musste.

»Falls Nynaeve Sedai dies wirklich so dringend haben musste«, sagte die pummelige Frau spitz und betonte den Ehrentitel, den er unterschlagen hatte, »hätte sie dein Kommen angekündigt. Und jetzt folge mir und behalte deine Ansichten bitte für dich.«

Ohne auf eine Erwiderung zu warten, setzte sie sich in Bewegung und rauschte mit würdevoller Anmut durch die Korridore. Was blieb ihm auch anderes übrig, als genau das zu tun, was sie ihm befohlen hatte? Soweit er sich erinnerte, war die Haushofmeisterin daran gewöhnt, dass jeder das tat, was man ihm befahl. Er bemühte sich, sie einzuholen, und verweilte nur einen Schritt lang an ihrer Seite, bis ihr überraschter Blick ihn zurückfallen, sich verlegen an der Haarlocke zupfen und eine Entschuldigung murmeln ließ. Er war es nicht gewöhnt, hinter jemandem hergehen zu müssen. Das war seiner Stimmung nicht gerade förderlich. Wie gewöhnlich war ihm noch immer etwas schwindelig und der Schmutz des Makels war auch noch zu spüren. In letzter Zeit schien er öfters schlecht als gut gelaunt zu sein, es sei denn, Min war an seiner Seite.

Sie hatten noch keine große Strecke zurückgelegt, als die Korridore auch schon von Scharen von Dienern bevölkert wurden, die das Mobiliar auf Hochglanz polierten und Staub wischten und umhereilten. Offensichtlich kam es nur selten vor, dass niemand in der Nähe war, so wie eben, als Min und er die Abstellkammer verlassen hatten. Wieder einmal der Einfluss des Ta'veren. Es ging eine schmale, in die Mauern eingebaute Dienstbotentreppe hinunter, und nun begegneten sie noch mehr Dienern. Und noch etwas war interessant, es gab viele Frauen, die keine Livree trugen. Kupferhäutige Domani, kleinwüchsige hellhäutige Cairhienerinnen, Frauen mit olivfarbener Haut und dunklen Augen, bei denen es sich eindeutig nicht um Andoranerinnen handelte. Sie ließen Rand lächeln; es war ein schmales, zufriedenes Lächeln. Keine von ihnen hatte ein Gesicht, das die Bezeichnung alterslos verdient hätte, und viele hatten Falten und Runzeln, die man niemals bei einer Aes Sedai gesehen hätte, aber bei einigen von ihnen bekam er im Vorbeigehen manchmal eine Gänsehaut. Sie konnten die Macht lenken oder zumindest Saidar ergreifen. Frau Harfor führte ihn an verschlossenen Türen vorbei, wo sich dieses Kribbeln ebenfalls bemerkbar machte. Hinter diesen Türen gab es andere Frauen, welche die Macht lenkten.

»Entschuldigt, Herrin«, sagte er in der heiseren Stimme, die er für Nuli bemühte, »wie viele Aes Sedai halten sich im Palast auf?«

»Das geht dich nichts an«, fauchte sie. Dann warf sie jedoch einen Blick über die Schulter, seufzte und lenkte ein. »Ich nehme an, es kann kernen Schaden anrichten, wenn du es weißt. Es sind fünf, Lady Elayne und Nynaeve Sedai mitgezählt.« Eine Spur Stolz schlich sich in ihre Stimme ein. »Es ist lange her, dass so viele Aes Sedai gleichzeitig das Gastrecht erbaten.«

Rand hätte am liebsten gelacht, aber nicht, weil er es lustig fand. Fünf? Nein, das schloss ja Nynaeve und Elayne mit ein. Drei echte Aes Sedai. Drei! Und es spielte keine Rolle, wer die restlichen waren. Die Gerüchte, denen zufolge Hunderte Aes Sedai mit einem Heer auf Caemlyn zumarschierten, hatten in ihm langsam den Glauben reifen lassen, dass so viele von ihnen bereit waren, dem Wiedergeborenen Drachen zu folgen. Stattdessen war sogar seine Hoffnung, dass es wenigstens zwei Hand voll waren, übertrieben optimistisch gewesen. Die Gerüchte waren bloß Gerüchte gewesen. Oder einer von Elaidas sorgfältig ausgeheckten Plänen. Licht, wo steckte bloß Mat? Vor seinem inneren Auge blitzte es farbig auf — einen Augenblick lang glaubte er, es wäre Mats Gesicht gewesen —, und er stolperte.

»Wenn du betrunken gekommen bist, Nuli«, sagte Frau Harfor entschieden, »wirst du es auf dem Nachhauseweg bitter bereuen. Dafür werde ich höchstpersönlich sorgen!«

»Ja, Herrin«, murmelte Rand und riss an der Locke. In seinem Kopf brach Lews Therin in ein gackerndes, verrücktes, schluchzendes Gelächter aus. Er hatte diesem Ort einen Besuch abstatten müssen — das war unumgänglich —, aber er bedauerte es schon jetzt.

Vom Licht Saidars umgeben standen sich Nynaeve und Talaan vier Schritte voneinander entfernt vor dem Kamin gegenüber, in dem ein munteres Feuer prasselte, das die Kälte aus der Luft vertrieben hatte. Vielleicht war es aber auch nur die Anstrengung, die sie erwärmt hatte, dachte Nynaeve mürrisch. Diese Unterrichtsstunde dauerte laut der verzierten Uhr auf dem Kaminsims nun schon über eine Stunde. Eine Stunde ununterbrochener Arbeit mit der Macht würde jeden zum Schwitzen bringen. Eigentlich hätte Sareitha hier sein sollen und nicht sie, aber die Braune war nicht im Palast. Sie hatte einen Zettel hinterlassen, dem zufolge sie eine dringende Besorgung in der Stadt zu erledigen hatte. Careane hatte sich nun schon den zweiten Tag hintereinander geweigert und Vandene weigerte sich noch immer grundsätzlich, und zwar mit der lächerlichen Begründung, dass Kirstians und Zaryas Unterricht ihr dazu keine Zeit mehr ließ.

»So geht das«, erklärte Nynaeve und band mit ihrem Strom aus Geist den Abwehrversuch der jungen Frau vom Meervolk mit der knabenhaften Figur. Sie verstärkte die Kraft ihres Stroms, stieß den des Mädchens noch weiter zur Seite und flocht gleichzeitig drei verschiedene Gewebe aus Luft. Eines davon kitzelte Talaans Rippen durch ihre blaue Leinenbluse hindurch. Ein simples Ablenkungsmanöver, aber das Mädchen keuchte überrascht auf, und einen Augenblick lang ließ ihr Zugriff auf die Quelle um eine winzige Kleinigkeit nach, flackerte die Macht, die sie erfüllte. Diesen Moment nutzte Nynaeve dazu, den Stoß, mit dem sie gerade den Strom der anderen Frau zur Seite schob, umzulenken und erneut auf ihr ursprüngliches Ziel zuschnellen zu lassen. Talaan die Abschirmung aufzuzwingen fühlte sich noch immer an, als würde man gegen eine Wand schlagen — nur dass ihre ganze Haut brannte statt nur ihre Handfläche, was man aber kaum als Fortschritt bezeichnen konnte —, aber der Schein von Saidar verschwand in genau dem Augenblick, in dem die beiden anderen Ströme aus Luft ihr die Arme an die Seiten fesselten und die Knie in den weiten, dunklen Hosen zusammenschnürten.

Das hatte sie sauber hinbekommen. Das Mädchen war sehr flink, sehr geschickt mit ihren Geweben. Davon abgesehen war der Versuch, jemanden abzuschirmen, der gerade die Macht lenkte, bestenfalls riskant und schlimmstenfalls nutzlos, es sei denn, man war bedeutend stärker als die betreffende Person, und Talaan kam ihr darin so nahe, dass es eigentlich keinen Unterschied machte. Das half, kein zufriedenes Lächeln auf ihrem Gesicht erscheinen zu lassen. Es schien noch gar nicht so lange her zu sein, dass Schwestern ihre Kraft mit Staunen betrachtet und geglaubt hatten, nur einige der Verlorenen würden über eine noch größere Stärke verfügen. Talaan war in ihrer Entwicklung noch nicht zum Stillstand gekommen, dabei war sie kaum mehr als ein Kind. Wie alt war sie? Fünfzehn? Vielleicht sogar noch jünger. Das Licht allein kannte ihr Potenzial. Keine der Windsucherinnen hatte ein Wort darüber verloren, und Nynaeve hatte nicht vor, danach zu fragen. Sie wollte gar nicht wissen, wie viel stärker das Meervolkmädchen noch werden würde. Nicht im mindesten.

Talaans nackte Fußsohlen schabten über den gemusterten grünen Teppich, als sie den vergeblichen Versuch unternahm, die von Nynaeve mühelos gehaltene Abschirmung zu durchbrechen, dann seufzte sie ergeben und senkte den Blick. Obwohl es ihr gelungen war, Nynaeves Anweisungen zu befolgen, benahm sie sich, als hätte sie versagt, und nun sackte sie so niedergeschlagen in sich zusammen, dass der Eindruck entstand, sie würde nur noch von den Geweben aus Luft auf den Beinen gehalten.

Nynaeve ließ die Ströme sich auflösen, rückte das Schultertuch zurecht und öffnete den Mund, um Talaan zu sagen, was sie falsch gemacht hatte. Und um —wieder einmal — zu betonen, dass der Versuch, sich losreißen zu wollen, keine Aussicht auf Erfolg hatte, falls man nicht bedeutend stärker als derjenige war, der einen abschirmte. Die Meervolkfrauen schienen nichts von dem, was sie ihnen erklärte, zu glauben, bis sie es ihnen zehnmal gesagt und zwanzigmal gezeigt hatte.

»Sie hat deine eigene Kraft gegen dich benutzt«, sagte Senine din Ryal barsch, bevor Nynaeve auch nur ein Wort hervorbringen konnte. »Und du hast dich wieder ablenken lassen. Es ist wie bei einem Ringkampf, Mädchen. Du kannst doch ringen.«

»Versuch es noch einmal«, befahl Zaida mit einer energischen Geste ihrer dunklen, tätowierten Hand.

Alle Stühle im Raum waren an eine Wand gestellt worden, obwohl es eigentlich unnötig gewesen war, Platz zu schaffen. Zaida saß da und verfolgte den Unterricht, flankiert von sechs Windsucherinnen, die ein buntes Durcheinander aus roter, gelber und blauer Seide und hell gefärbtem Leinen boten, eine Unbehagen erregende Zurschaustellung von Ohrringen und Nasenringen und medaillonbeladenen Ketten. So lief es immer ab; eine der beiden Schülerinnen wurde für den eigentlichen Unterricht benutzt — oder sie zwangen Merilille, wenn sie nicht den Unterricht leitete, die Rolle einer Schülerin zu übernehmen; zumindest hatte Nynaeve das gehört —, während Zaida und irgendeine Gruppe von Windsucherinnen zusah. Die Herrin der Wogen selbst konnte natürlich nicht die Macht lenken, obwohl sie immer dabei war, und natürlich ließ sich keine der Windsucherinnen dazu herab, selbst am Unterricht teilzunehmen. Daran war nicht einmal zu denken.

Angesichts der Besessenheit des Meervolks in Fragen der Rangordnung war die Zusammensetzung der heutigen Gruppe schon recht merkwürdig. Shielyn, Zaidas Windsucherin, saß zu ihrer Rechten; die schlanke, sehr reservierte Frau war fast so groß wie Aviendha und überragte Zaida um Längen. Soweit Nynaeve sich darin auskannte, hatte das seine Richtigkeit, aber zu Zaidas Linken saß Senine, die auf einem Schweber diente, einem der kleinen Schiffe des Meervolks, und ihrer gehörte wiederum zu den kleinsten von ihnen. Natürlich hatte die von den Elementen gezeichnete Frau mit ihrem faltigen Gesicht und dem mit Grau durchzogenen Haar in der Vergangenheit mehr als ihre jetzigen sechs Ohrringe getragen; das galt auch für die Medaillons an der Kette, die sich über ihre dunkle linke Wange spannte. Sie war die Windsucherin der Herrin der Schiffe gewesen, bevor Nesta din Reas auf diesen Posten gewählt wurde. Ihren Gesetzen zufolge musste die Windsucherin der Herrin der Schiffe oder einer jeweiligen Herrin der Wogen nach deren Tod jedoch wieder ganz unten anfangen. Aber Nynaeve war davon überzeugt, dass hier mehr als nur der Respekt für Senines frühere Stellung dahintersteckte.

Neben Senine saß Rainyn, eine junge Frau mit apfelroten Wangen, die ebenfalls auf einem Schweber fuhr. Und neben Shielyn saß die steingesichtige Kurin wie eine schwarze Statue. Das verwies Caire und Tebreille auf die Stühle ganz außen. Die beiden waren ebenfalls Windsucherinnen von Herrinnen der Wogen, mit vier dicken Ohrringen in jedem Ohr und fast so vielen Medaillons wie Zaida sie hatte. Aber vielleicht wollte man die beiden Schwestern mit den hochmütigen Blicken auch nur voneinander fern halten. Sie hassten einander mit einer Leidenschaft, wie sie nur Blutsverwandte zustande brachten. Vielleicht war es das. Der Versuch, das Atha'an Miere verstehen zu wollen, war schlimmer als der Versuch, Männer verstehen zu wollen. Eine Frau konnte darüber den Verstand verlieren.

Nynaeve murmelte etwas Unhörbares, riss an ihrem Schultertuch und bereitete sich innerlich vor, hielt die Ströme aus Macht fest. Die überwältigende Freude, Saidar zu halten, konnte kaum mit ihrem Ärger konkurrieren. Noch einmal, Nynaeve. Wenigstens war Renaile nicht hier. Oft wollten sie, dass Nynaeve ihnen Dinge beibrachte, bei denen sie sich nicht so gut auskannte wie bei anderen — viel zu oft waren es Dinge, mit denen sie sich kaum auskannte, wie sie zögerlich zugeben musste; ehrlich gesagt hatte sie in der Burg keine besonders ausführliche Ausbildung erhalten —und bei der kleinsten Ungeschicklichkeit brachte Renaile sie mit offensichtlicher Begeisterung zum Schwitzen. Die anderen brachten sie auch zum Schwitzen, doch sie schienen wenigstens nicht so viel Freude daran zu empfinden. Aber egal, nach einer Stunde harter Arbeit war sie müde. Sareitha und ihre Bitte sollten verdammt sein!

Sie schlug wieder zu, aber diesmal begegnete ihr Talaans Strom aus Geist wesentlich nachgiebiger als erwartet, und sie stieß ihn viel weiter zur Seite als geplant. Plötzlich schössen sechs gegnerische Ströme aus Luft auf Nynaeve zu und sie zerschnitt sie mit Feuer. Die zerteilten Ströme peitschten in Talaan zurück und schüttelten sie sichtlich durch, aber bevor sie ganz verschwunden waren, erschienen schneller als zuvor sechs weitere. Nynaeve hieb zu. Und starrte Talaan ungläubig an, als das gegnerische Gewebe aus Geist das ihre umging, sie einhüllte und von Saidar abschnitt. Sie war abgeschirmt! Talaan hatte sie abgeschirmt! Um die Demütigung komplett zu machen, fesselten Ströme aus Luft ihre Arme und Beine eng aneinander und zerdrückten ihre Röcke. Das wäre nie passiert, wäre sie nicht so wütend auf Sareitha gewesen.

»Das Mädchen hat sie erwischt«, sagte Caire. Sie klang überrascht. Dem kalten Blick nach zu urteilen, den sie Talaan zuwarf, wäre niemand auf die Idee gekommen, dass sie ihre Mutter war. Tatsächlich schien Talaan ihr Erfolg peinlich zu sein, sie ließ die Ströme sofort los und senkte den Blick.

»Sehr gut, Talaan«, sagte Nynaeve, da sonst keiner ein Wort des Lobes oder der Ermunterung von sich gab. Gereizt schob sie das Schultertuch zurück und ließ es in die Armbeugen rutschen. Man musste dem Mädchen nicht sagen, dass es Glück gehabt hatte. Talaan war schnell, das auf jeden Fall, aber Nynaeve war sich nicht darüber im Klaren, ob sie selbst noch lange die Macht lenken konnte. Im Augenblick befand sie sich nicht auf dem Höhepunkt ihrer Kräfte. »Ich fürchte, ich habe heute keine Zeit mehr, also...«

»Versucht es noch einmal«, befahl Zaida und beugte sich gespannt vor. »Ich will mir etwas ansehen.« Das war keine Erklärung oder so etwas Ähnliches wie eine Entschuldigung, sondern lediglich eine Darstellung der Fakten. Zaida erklärte nie etwas, genauso wenig wie sie sich entschuldigte. Sie erwartete bloß Gehorsam.

Nynaeve dachte daran, der Frau zu sagen, dass sie von dem, was sie da taten, sowieso nichts sehen konnte, aber sie verwarf den Gedanken sofort wieder. Nicht mit sechs Windsucherinnen im Raum. Zwei Tage zuvor hatte sie ihre Meinung deutlich zum Ausdruck gebracht, und sie wollte auf keinen Fall eine Wiederholung dessen erleben, was dann geschehen war. Sie hatte versucht, es als Strafe dafür zu betrachten, ohne nachzudenken zu reden, aber das hatte auch nicht viel geholfen. Sie wünschte sich, sie hätte ihnen niemals beigebracht, wie man eine Verknüpfung zustande brachte.

»Noch einmal«, sagte sie angespannt und wandte sich wieder Talaan zu, »aber dann muss ich gehen.«

Diesmal war sie auf den Trick des Mädchens vorbereitet. Sie lenkte die Macht und begegnete Talaans Gewebe geschickter und weniger energisch. Das Mädchen lächelte sie unsicher an. Sie glaubte wohl, Nynaeve würde sich diesmal nicht von nebensächlichen Strömen aus Luft ablenken lassen, oder? Talaans Gewebe fing an, ihr eigenes zu umgehen, und sie drehte es flink, um es abzufangen. Diesmal würde sie bereit sein, wenn die Frau mit ihren Strömen aus Luft ankam. Obwohl — vielleicht würde es diesmal keine Luft sein.

Aber mit Sicherheit nichts Gefährliches. Das hier war eine Übungsstunde. Aber Talaans Strom aus Geist vollendete den Kreis nicht, und es war Nynaeves Gewebe, das nun einen weiten Bogen beschrieb, während das Mädchen plötzlich auf geradem Weg zuschlug und traf. Wieder erstarb Saidar und Fesseln aus Luft rissen ihre Arme an den Körper und die Knie zusammen.

Nynaeve holte tief Luft. Sie würde der jungen Frau gratulieren müssen. Daran führte kein Weg vorbei. Hätte sie eine Hand frei gehabt, hätte sie sich ihren Zopf ausgerissen.

»Halt!«, befahl Zaida, erhob sich und rauschte anmutig auf Nynaeve zu; die roten Seidenhosen über den nackten Füßen raschelten leise, die mit einem komplizierten Knoten versehene rote Schärpe rieb sich an ihrer Hüfte. Die Windsucherinnen standen ebenfalls auf und folgten ihr, wobei sie ihre Ränge einhielten. Caire und Tebreille ignorierten einander eisig, während sie sich beeilten, ihre Plätze in unmittelbarer Nähe der Herrin der Wogen einzunehmen, wohingegen Senine und Rainyn einen Schritt zurückblieben.

Gehorsam hielt Talaan den Schild um Nynaeve mitsamt den Fesseln aufrecht, sodass sie gezwungenermaßen wie eine Statue dastand. Und wie ein Kessel brodelte, der zu lange auf dem Feuer stand. Sie weigerte sich entschieden, sich wie eine kaputte Puppe zu winden, aber das war auch schon alles, was sie außer reglos dazustehen tun konnte. Caire und Tebreille musterten sie mit eiskalter Geringschätzung, Kurin mit tiefer Verachtung, die sie für alle Landbewohner empfand. Die Frau mit dem harten Blick zeigte kein spöttisches Grinsen, eigentlich war ihr Gesicht sogar ausdruckslos, aber man musste nicht lange mit ihr zusammen sein, um ihre Ansichten zu spüren. Allein Rainyn zeigte eine winzige Spur Mitgefühl, ein kleines, trauriges Lächeln.

Zaida begegnete Nynaeves Blick gleichmütig. Sie hatten etwa dieselbe Größe. »Du hältst sie so fest du kannst, Schülerin?«

Talaan verbeugte sich tief und berührte Stirn, Lippen und Herz. »Wie Ihr befohlen habt, Herrin der Wogen.« Es war fast schon ein Flüstern.

»Was hat das zu bedeuten?«, verlangte Nynaeve zu wissen. »Lasst mich los! Vielleicht könnt ihr Merilille auf diese Weise ungestraft behandeln, aber wenn ihr auch nur einen Augenblick lang glaubt...!«

»Ihr behauptet, diese Abschirmung sei unmöglich zu durchbrechen, es sei denn, man ist viel stärker«, unterbrach Zaida sie. Ihr Tonfall war nicht grob, aber sie wollte gehört werden und nicht zuhören. »Wenn es das Licht will, werden wir erfahren, ob Ihr uns die Wahrheit gesagt habt. Es ist allseits bekannt, dass die Aes Sedai die Wahrheit wie einen Strudel kreiseln lassen. Windsucherinnen, ihr bildet einen Zirkel. Kurin, Ihr werdet sie anführen. Sollte es ihr gelingen, sich zu befreien, sorgt dafür, dass sie keinen Schaden anrichtet. Als Ansporn... Schülerin, mach dich bereit, sie auf den Kopf zu stellen, wenn ich bis fünf gezählt habe. Eins.«

Das Licht Saidars hüllte die Windsucherinnen ein, als sie ihre Kräfte miteinander verknüpften. Kurin stand mit gespreizten Beinen und in die Hüften gestemmten Händen da, als würde sie auf einem Deck das Gleichgewicht halten. Ihre Ausdruckslosigkeit schien zu vermitteln, dass sie bereits fest davon überzeugt war, Ausflüchte, wenn nicht sogar eine glatte Lüge aufzudecken. Talaan holte tief Luft und stand wenigstens dieses eine Mal hoch aufgerichtet da. Sie blinzelte nicht einmal, während sie den Blick aufmerksam auf Zaida gerichtet hielt.

Nynaeve blinzelte. Nein! Das konnten sie ihr doch nicht antun! Nicht schon wieder! »Ich sage euch«, sagte sie viel ruhiger, als sie sich fühlte, »dass ich die Abschirmung unmöglich durchbrechen kann. Talaan ist zu stark.«

»Zwei«, sagte Zaida, verschränkte die Arme unter den Brüsten und starrte Nynaeve an, als könnte sie die Gewebe tatsächlich sehen.

Nynaeve drückte zögernd gegen die Abschirmung. Sie hätte gleichermaßen gegen eine Mauer drücken können, die hätte genauso wenig nachgegeben. »Hört mir zu, Zai... äh... Herrin der Wogen.« Es war sicher nicht klug, sich die Frau noch mehr zur Feindin zu machen. Sie nahmen es mit der richtigen Anrede pedantisch genau. Sie nahmen viel zu viele Dinge pedantisch genau. »Ich bin sicher, Merilille hat Euch das mit der Abschirmung erklärt. Sie hat die Drei Eide geschworen. Sie kann nicht lügen.« Vielleicht hatte Egwene doch Recht mit dem Eidstab.

Zaidas Blick blieb hart, sie verzog keine Miene. »Drei.«

»Hört mir zu«, sagte Nynaeve, und es war ihr egal, wenn sie leicht verzweifelt klang. Vielleicht sogar mehr als nur leicht. Sie stemmte sich stärker gegen die Abschirmung, dann stieß sie so hart dagegen, wie sie konnte. Sie hätte genauso gut mit dem Kopf gegen einen Felsen anrennen können. Instinktiv, wenn auch vergeblich kämpfte sie gegen die Fesseln aus Luft an, die sie hielten, die Fransen des Schultertuchs tanzten auf und ab. Die Chancen, aus den Fesseln auszubrechen, waren genauso groß, wie die Abschirmung durchbrechen zu können, aber sie kam nicht dagegen an. Nicht noch einmal! Das konnte sie nicht ertragen! »Ihr müsst mir zuhören!«

»Vier.«

Nein! Nein! Nicht noch einmal! Verzweifelt kratzte sie an der Abschirmung. Sie mochte so hart wie Stein sein, aber sie fühlte sich mehr wie Glas an, war glatt und schlüpfrig. Nynaeve konnte dahinter die Quelle spüren, sie beinahe sehen, so wie man aus den Augenwinkeln Licht und Wärme sehen konnte. Voller Verzweiflung tastete sie keuchend die glatte Fläche ab. Sie wies einen Rand auf, so wie ihn ein Kreis hatte, der gleichzeitig klein genug war, um in den Händen gehalten zu werden, und groß genug, um die Welt zu bedecken. Aber als sie versuchte, an diesem Rand vorbeizuschlüpfen, fand sie sich sofort in der Mitte des glatten, harten Kreises wieder. Das war sinnlos. Das alles hatte sie schon vor langer Zeit gelernt, hatte es ausprobiert. Ihr Herz pochte heftig genug, um aus der Brust hervorzubrechen. Sie kämpfte vergeblich um Ruhe und ertastete sich einen anderen Weg zum Rand, strich darüber, ohne zu versuchen, daran vorbeizugehen. An einer Stelle fühlte er sich... weicher an. Das war ihr zuvor noch nie aufgefallen. Die weiche Stelle — eine kleine Erhebung? —schien sich auf keine Weise vom Rest zu unterscheiden und sie war auch nicht viel weicher, trotzdem warf sie sich dagegen. Und fand sich in der Mitte wieder. Wie eine Verrückte warf sie sich mit ihrer ganzen Kraft gegen die weiche Stelle, immer wieder, und wurde jedes Mal zurück zur Mitte geschleudert — aber ohne zu zögern warf sie sich erneut dagegen. Und wieder. Oh, Licht! Bitte! Sie musste es schaffen, bevor...

Plötzlich wurde ihr bewusst, dass Zaida noch nicht fünf gesagt hatte. Sie starrte sie an, schnappte dabei nach Luft, als wäre sie zehn Meilen gerannt. Schweiß strömte über ihr Gesicht, ihren Rücken hinunter. Er rann zwischen ihren Brüsten herab über ihren Leib. Ihre Knie zitterten. Die Herrin der Wogen blickte ihr direkt in die Augen, klopfte gedankenverloren mit einem schlanken Finger gegen die vollen Lippen. Der Zirkel aus sechs wurde noch immer von dem Schimmer eingehüllt, Kurin hätte noch immer eine verächtliche Statue sein können, aber Zaida hatte noch nicht fünf gesagt.

»Hat sie sich wirklich so hart angestrengt, wie es den Anschein hatte, Kurin?«, fragte die Herrin der Wogen schließlich, »oder war das Aufbäumen und Wimmern nur ein Schauspiel?« Nynaeve versuchte einen entrüsteten Blick zustande zu bringen. Sie hatte nicht gewimmert! Oder etwa doch? Ihr Stirnrunzeln, so weit man es als solches bezeichnen konnte, machte auf Zaida nicht mehr Eindruck als Regen auf einen Felsblock.

»Mit dieser Anstrengung«, sagte Kurin zögernd, »hätte sie ein Ruderboot auf dem Rücken tragen können.« Aber die schwarzen Kiesel, die ihre Augen darstellten, zeigten noch immer Verachtung. Respekt kannte sie nur für diejenigen, die auf dem Meer lebten.

»Lass sie los, Talaan«, befahl Zaida. Die Abschirmung und die Fesseln lösten sich auf, während die Frauen zu den Stühlen zurückgingen, ohne einen weiteren Blick für Nynaeve zu erübrigen. »Windsucherinnen, ich werde noch mit euch sprechen, nachdem sie gegangen ist. Nynaeve Sedai, Euch sehe ich morgen zur selben Stunde.«

Nynaeve strich ihre zerknitterten Röcke glatt und schüttelte gereizt das Schultertuch aus, während sie versuchte, etwas Würde zurückzugewinnen. Schweißgebadet und mit zitternden Gliedern war das nicht einfach. Auf keinen Fall hatte sie gewimmertl Sie bemühte sich, die Frau, die sie abgeschirmt hatte — und das zwei Mal! — nicht anzusehen. Talaan stand da, als könnte sie kein Wässerchen trüben, den Blick fest auf den Teppich gerichtet. Ha! Nynaeve legte sich energisch das Tuch über die Schultern. »Morgen ist Sareitha Sedai an der Reihe, Herrin der Wogen.« Zumindest ihre Stimme klang fest. »Ich werde beschäftigt sein...«

»Euer Unterricht ist befriedigender als die Lektionen der anderen«, sagte Zaida, die sich noch immer nicht die Mühe machte, sie anzusehen. »Zur selben Stunde, oder ich schicke Eure Schülerinnen, um Euch zu holen. Ihr dürft gehen.« Und das klang wie ein Befehl.

Mühsam schluckte Nynaeve ihre Einwände runter. Sie hinterließen einen bitteren Nachgeschmack. Befriedigender? Was sollte das denn bedeuten? Sie glaubte nicht, dass sie es tatsächlich wissen wollte.

Bis sie den Raum verlassen hatte, war sie ihre Lehrerin, das Meervolk hielt sich streng an seine Regeln; vermutlich konnte lockere Disziplin an Bord von Schiffen Schwierigkeiten heraufbeschwören, aber sie wünschte sich, sie würden begreifen, dass sie sich nicht auf ihren Schiffen befanden. Noch war sie also die Lehrerin, und das bedeutete, dass sie nicht einfach beleidigt hinausstolzieren konnte, so sehr sie sich das auch wünschte. Schlimmer, ihre Regeln waren ziemlich eindeutig, was Lehrer der Küstenbewohner betraf. Vermutlich hätte sie einfach ihre Mitarbeit verweigern können, aber wenn sie ihren Vertrag auch nur um eine Winzigkeit verletzte, würden es diese Frauen von Tear bis das Licht wusste wohin verbreiten! Die ganze Welt würde wissen, dass Aes Sedai ihr Wort gebrochen hatten. Man durfte gar nicht darüber nachdenken, was dies für die Stellung der Aes Sedai bedeuten würde. Blut und Asche! Egwene hatte Recht und sie sollte verdammt sein!

»Danke, Herrin der Wogen, dass Ihr mir erlaubt habt, Euch zu unterrichten«, sagte sie, verneigte sich kurz und berührte mit den Fingern nacheinander Stirn, Lippen und Brust. Keine tiefe Verbeugung, heute würden sie nur die Andeutung einer Verbeugung bekommen. Nun ja, zwei Andeutungen. Die Windsucherinnen würden ebenfalls eine bekommen müssen. »Ich danke Euch, Windsucherinnen, dass Ihr mir erlaubt habt, Euch zu unterrichten.« Die Schwestern, die irgendwann zum Atha'an Miere reisten, würden vor Wut platzen, wenn sie begriffen, dass ihre Schülerinnen ihnen sagen konnten, was sie ihnen beibringen sollten und wann, und ihnen sogar befehlen würden, was sie zu tun hatten, wenn sie nicht unterrichteten. Auf einem Schiff des Meervolks nahm eine Lehrerin einen höheren Rang als das gewöhnliche Deckvolk ein, aber auch das nur so gerade eben. Und die Schwestern würden nicht einmal die fetten Börsen voller Gold bekommen, mit denen man die anderen Lehrer an Bord lockte.

Zaida und die Windsucherinnen reagierten ungefähr so, als hätte die Niederste aller Matrosinnen ihr Gehen verkündet. Sie standen bloß in einer stummen Gruppe zusammen und warteten darauf, dass sie endlich verschwand. Allein Rainyn schenkte ihr einen Blick. Einen ungeduldigen Blick. Sie war eine Windsucherin, und das war alles, was zählte. Talaan stand noch immer an derselben Stelle, eine demütige Gestalt, die auf den Teppich vor ihren nackten Füßen starrte.

Mit hoch erhobenem Kopf und durchgedrücktem Rückgrat verließ Nynaeve den Raum mit jedem Funken Würde, den sie zum Ausdruck bringen konnte. Verschwitzte, malträtierte Funken. Draußen im Korridor packte sie die Tür mit beiden Händen und warf sie so fest ins Schloss, wie sie nur konnte. Das laut hallende Krachen war sehr befriedigend. Falls sich jemand beschwerte, konnte sie noch immer sagen, dass sie ihr aus der Hand geglitten sei. Das war sie tatsächlich, nachdem sie ordentlich Schwung geholt hatte.

Sie wandte sich von der Tür ab und klopfte sich zufrieden die Hände ab. Und zuckte zusammen, als sie sah, wer da im Korridor auf sie wartete.

In dem einfachen dunkelblauen Gewand, das eine Leihgabe einer der Kusinen war, sah Alivia auf den ersten Blick nicht im mindesten ungewöhnlich aus; sie war etwas größer als Nynaeve, hatte feine Fältchen um die blauen Augen und weiße Strähnen in dem goldgelben Haar. Die blauen Augen funkelten jedoch vor Intensität, wie die Augen eines Falken, die auf seine Beute gerichtet waren.

»Frau Corly hat mich geschickt, ich soll Euch sagen, dass sie gern mit Euch zu Abend essen möchte«, sagte das blauäugige Falkenweibchen mit einem langsamen, seanchanischen Akzent. »Es werden Frau Karistovan, Frau Arman und Frau Juarde da sein.«

»Was tut Ihr allein hier?«, wollte Nynaeve wissen. Sie wünschte sich, sie könnte wie die meisten anderen Schwestern sein, sich der Stärke, die eine andere Frau in der Macht hatte, bewusst sein, ohne überhaupt darüber nachdenken zu müssen, aber auch das war etwas, das sie zu lernen versäumt hatten. Vielleicht konnte einer der Verlorenen Alivia übertreffen, aber sonst mit Sicherheit niemand. Und sie war Seanchanerin. Eine vom Kragen befreite Damane. Die eigentlich keinen Schritt ohne Bewachung tun sollte. Nynaeve wünschte sich, es wäre außer ihnen beiden noch jemand da. Selbst Lan, und dabei hatte sie ihm befohlen, bei ihrem Unterricht beim Meervolk fortzubleiben. Sie war nicht davon überzeugt, dass er ihr die Geschichte mit dem Sturz auf der Treppe letztens geglaubt hatte. »Ihr sollt doch nicht ohne Eskorte irgendwohin gehen!«

Alivia zuckte mit den Schultern, eine kaum merkliche Bewegung. Noch vor wenigen Tagen war sie ein Nervenbündel gewesen, das Talaan wie eine mutige Draufgängerin hätte aussehen lassen. Jetzt beugte sie sich vor niemandem mehr. »Es hatte niemand Zeit, also habe ich mich selbst herausgelassen. Davon abgesehen, wenn Ihr mich immer bewachen lasst, werdet Ihr mir niemals vertrauen, und ich werde niemals Sul'dam töten können.« In diesem beiläufigen Tonfall klang das irgendwie noch unheimlicher. »Ihr solltet von mir lernen. Diese Asha'man behaupten, sie seien Waffen, und sie sind nicht mal schlecht, das weiß ich genau, aber ich bin besser.«

»Das mag ja sein«, erwiderte Nynaeve scharf und rückte ihr Schultertuch zurecht. »Und vielleicht wissen wir mehr, als Ihr glaubt.« Sie hätte nichts dagegen gehabt, dieser Frau ein paar der Gewebe vorzuführen, die sie von Moghedien gelernt hatte. Diejenigen eingeschlossen, über die sie alle übereingekommen waren, dass sie zu grausam waren, um sie jemandem anzutun. Es sei denn... Sie war sich ziemlich sicher, dass die andere Frau sie ohne große Mühe überwältigen konnte, egal, was sie auch tat. »Bis — falls! — wir uns anders entscheiden, werdet Ihr mir niemals wieder ohne zwei oder drei Kusinen gegenübertreten, wenn Ihr wisst, was gut für Euch ist.«

»Wenn Ihr das sagt.« Alivia ließ keine Spur von Demut erkennen. »Was soll ich Frau Corly ausrichten?«

»Bestellt Frau Corly, dass ich Ihre freundliche Einladung leider ablehnen muss. Und denkt an das, was ich Euch gesagt habe!«

»Ich sage es ihr«, nuschelte die Seanchanerin mit ihrem starken Akzent und ignorierte die Ermahnung einfach. »Aber ich glaube nicht, dass es sich um eine Einladung handelt. Eine Stunde nach Einbruch der Dunkelheit, hat sie gesagt. Vielleicht solltet Ihr es Euch merken.« Mit einem schmalen, wissenden Lächeln wandte sie sich ab, ohne sich auch nur im Mindesten zu beeilen, um dorthin zurückzukehren, wo sie hingehörte.

Nynaeve starrte der Frau nach, und bestimmt nicht, weil sie auf den Hofknicks verzichtet hatte. Nun, nicht nur deshalb. Eine Schande, dass sie nicht etwas von ihrem demütigen Benehmen behalten hatte, zumindest was die Schwestern betraf. Nynaeve warf der Tür, hinter der sich die Atha'an Miere verbargen, einen Blick zu und dachte darüber nach, Alivia zu folgen, um sicherzugehen, dass sie auch tat, was ihr befohlen worden war. Stattdessen ging sie in die andere Richtung. Aber dabei beeilte sie sich nicht. Es wäre sehr unangenehm gewesen, wenn die Meervolkfrauen nun den Raum verlassen hätten und zu dem Schluss gekommen wären, dass sie sie belauscht hätte, aber sie beeilte sich nicht. Sie wollte nur zügig gehen. Das war alles.

Die Atha'an Miere waren kaum die Einzigen im Palast, denen sie nicht begegnen wollte. Ich glaube nicht, dass es sich um eine Einladung handelt. Ach ja? Sumeko Karistovan, Chilares Arman und Famelle Juarde waren zusammen mit Reanne Corly Angehörige des Nähkränzchens gewesen. Das Abendessen war nur ein Vorwand. Sie würden mit ihr über die Windsucherinnen reden wollen. Und zwar über die Beziehung der im Palast befindlichen Aes Sedai und den ›Wilden‹ des Meervolks. Sie würden sie nicht unbedingt tadeln, dass es ihr nicht gelungen war, die Würde der Weißen Burg aufrechtzuerhalten. So weit war es dann doch noch nicht; noch nicht, wohlgemerkt, denn sie schienen sich dieser Position zu nähern. Aber während des ganzen Essens würde es bohrende Fragen und scharfe Bemerkungen geben. Und sie konnte sie nicht einfach bitten, damit aufzuhören. Es war zweifelhaft, dass sie es unterlassen würden, es sei denn, es wäre ein direkter Befehl gewesen. Und sie waren durchaus dazu fähig, zu ihr zu kommen, falls sie nicht zu ihnen kam. Der Versuch, ihnen beizubringen, doch etwas Rückgrat zu zeigen, war ein schrecklicher Fehler gewesen. Wenigstens war sie nicht die Einzige, die sich damit herumschlagen musste, obwohl sie fest davon überzeugt war, dass Elayne es geschafft hatte, dem Schlimmsten zu entgehen. Oh, wie sehr sie sich darauf freute, sie alle wieder im Weiß der Novizinnen oder dem Gewand einer Aufgenommenen zu sehen. Wie sie sich darauf freute, den Atha'an Miere beim Abschied zuzuwinken!

»Nynaeve!«, ertönte hinter ihr ein seltsam gedämpfter Ruf. Im Akzent des Meervolks. »Nynaeve!«

Sie zwang sich dazu, den Zopf loszulassen, und fuhr auf dem Absatz herum, bereit, auf der Stelle loszuschimpfen. Jetzt war der Unterricht zu Ende, sie waren nicht auf einem Schiff, und sie sollten sie verdammt noch mal in Ruhe lassen!

Talaan kam rutschend vor ihr zum Stehen; ihre nackten Füße glitten über die dunkelroten Bodenfliesen. Keuchend sah die junge Frau über die Schulter, als hätte sie Angst, jemand würde sich ihr nähern. Sie zuckte jedes Mal zusammen, wenn sich ein Diener am Rand ihres Sichtfeldes bewegte, und wagte erst wieder zu atmen, wenn sie sicher war, dass es sich tatsächlich um einen Diener handelte. »Kann ich die Weiße Burg besuchen?«, fragte sie atemlos, rang die Hände und sprang von einem Fuß auf den anderen. »Ich werde niemals dazu auserwählt werden. Sie nennen es ein Opfer, das Meer für immer verlassen zu müssen, aber ich träume davon, Novizin zu werden. Ich werde meine Mutter schrecklich vermissen, aber... Bitte. Ihr müsst mich in die Weiße Burg mitnehmen. Ihr müsst!«

Der Ausbruch ließ Nynaeve blinzeln. Viele Frauen träumten davon, Aes Sedai zu werden, aber sie hatte noch nie eine sagen gehört, sie würde davon träumen, Novizin zu werden. Außerdem... Das Atha'an Miere verweigerte den Aes Sedai die Passage auf jedem Schiff, dessen Windsucherin die Macht lenken konnte, aber um die Schwestern an genaueren Nachforschungen zu hindern, wurde gelegentlich eine Schülerin ausgewählt und zur Weißen Burg geschickt. Egwene zufolge gab es derzeit nur drei Schwestern aus dem Meervolk und die waren alle schwach in der Macht. Dreitausend Jahre lang hatte das ausgereicht, um die Burg davon zu überzeugen, dass die Fähigkeit bei den Frauen des Atha'an Miere nur schwach und selten ausgeprägt war und keine nähere Untersuchung lohnte. Talaan hatte Recht, man würde niemandem von ihrer Stärke jemals erlauben, die Burg zu besuchen, selbst jetzt nicht, da sich ihre Täuschung dem Ende näherte. Tatsächlich war es ein Bestandteil des Vertrags mit ihnen, dass man aus dem Meervolk hervorgegangenen Schwestern erlaubte, die Aes Sedai zu verlassen und zu den Schiffen zurückzukehren. Der Saal der Burg würde mehr als nur aufschreien, wenn er davon erfuhr!

»Nun, die Ausbildung ist sehr schwer, Talaan«, sagte sie sanft, »und du musst mindestens fünfzehn Jahre alt sein. Außerdem...« Plötzlich wurde ihr noch etwas anderes bewusst, das die junge Frau gesagt hatte. »Du wirst deine Mutter vermissen?«, wiederholte sie ungläubig, und es war ihr egal, wie das klang.

»Ich bin neunzehn«, erwiderte Talaan beleidigt. Nynaeve betrachtete das jungenhafte Gesicht und den genauso jungenhaften Körper und war sich nicht sicher, ob sie das glauben sollte. »Und natürlich werde ich meine Mutter vermissen. Sehe ich unnatürlich aus? Oh, ich verstehe. Ihr begreift es nicht. Unter uns gehen wir sehr liebevoll miteinander um, aber in der Öffentlichkeit muss sie jeden Anschein von Bevorzugung vermeiden. Das ist bei uns ein ernstes Vergehen. Man könnte meine Mutter dafür ihres Ranges entheben und uns beide an den Füßen in den Rahen aufhängen und auspeitschen.«

Die Erwähnung, kopfüber in der Luft zu hängen, ließ Nynaeve das Gesicht verziehen. »Ich kann durchaus verstehen, warum du das vermeiden möchtest«, sagte sie. »Trotzdem...«

»Jeder bemüht sich, auch nur den Hauch einer Bevorzugung zu vermeiden, aber bei mir ist das noch schlimmer, Nynaeve!« Das Mädchen — nun gut, die junge Frau — würde noch lernen müssen, eine Schwester nicht zu unterbrechen, wenn sie erst einmal Novizin war. Nicht, dass das passieren würde. Nynaeve versuchte wieder das Wort zu ergreifen, aber Talaans Wortschwall ließ sich nicht bremsen. »Meine Großmutter ist die Windsucherin der Herrin der Wogen des Clan Rosshaine, meine Urgroßmutter ist die Windsucherin der Herrin der Wogen des Clan Daran, und ihre Schwester des Clan Takana. Meine Familie ist geehrt, dass fünf von uns in so hohe Positionen aufgestiegen sind. Und jeder wartet nur darauf, dass Gelyn seinen Einfluss missbraucht. Ich weiß, dass das so richtig ist, man darf keine Bevorzugung dulden, aber meine Schwester war fünf Jahre länger Schülerin als üblich, und meine Kusine sogar sechs! Nur damit keiner behaupten kann, sie wären bevorzugt worden. Wenn ich die Sterne berechne und unsere Position richtig wiedergebe, bestraft man mich, weil ich zu langsam bin, selbst wenn ich die Antwort genauso schnell weiß wie Windsucherin Ehvon! Wenn ich das Meer schmecke und die Küste benenne, der wir uns nähern, bestraft man mich, weil der Geschmack, den ich benenne, nicht haargenau derselbe ist, den Windsucherin Ehvon schmeckt! Ich habe Euch zweimal abgeschirmt, aber heute Abend wird man mich an den Füßen aufhängen, weil ich es nicht schneller geschafft habe! Ich werde für Fehler bestraft, die man bei anderen übersieht, ich werde für Fehler bestraft, die ich niemals mache, weil ich sie machen könnte! War Eure Novizinnenzeit viel härter als das, Nynaeve?«

»Meine Novizinnenzeit«, sagte Nynaeve leise. Sie wünschte sich, die Frau würde nicht ständig davon reden, an den Füßen aufgehängt zu werden. »Ja. Nun. Ach, das willst du gar nicht hören.« Vier Generationen von Frauen mit der Fähigkeit? Beim Licht! Es kam schon selten genug vor, dass die Tochter der Mutter folgte. Die Burg würde alles dafür geben, Talaan zu bekommen. Aber das würde nicht geschehen. »Ich nehme an, auch Caire und Tebreille lieben in Wirklichkeit einander?«, sagte sie, nur um das Thema zu wechseln.

Talaan grinste höhnisch. »Meine Tante ist verschlagen und hinterlistig. Sie ersinnt jede nur mögliche Demütigung, die sie meiner Mutter zufügen kann. Aber meine Mutter wird sie erniedrigen, so wie sie es verdient hat. Eines Tages wird Tebreille sich auf einem Schweber wiederfinden, und zwar unter einer Segelherrin mit einer eisernen Hand und Zahnschmerzen!« Die Vorstellung ließ sie zufrieden und grimmig nicken. Um dann zusammenzuzucken, als ein Diener hinter ihr vorbeieilte. Das erinnerte sie an ihr Vorhaben. Sie sah sich in jede Richtung um, während sie hastig weitersprach. »Ihr könnt während des Unterrichts natürlich nichts sagen, aber jeder andere Zeitpunkt ist in Ordnung. Verkündet, dass ich die Burg besuche, und sie werden es Euch nicht abschlagen können. Ihr seid Aes Sedai!«

Nynaeve starrte das Mädchen ungläubig an. Und spätestens bei der nächsten Unterrichtsstunde würden sie das vergessen haben? Die kleine Närrin hatte doch gesehen, was sie mit ihr machten! »Ich sehe, wie gern du gehen möchtest, Talaan«, sagte sie, »aber...«

»Danke«, unterbrach Talaan sie und machte eine schnelle Verbeugung. »Danke!« Und sie rannte den Weg zurück, den sie gekommen war.

»Warte!«, rief Nynaeve und lief ein paar Schritte hinter ihr her. »Komm zurück! Ich habe gar nichts versprochen!«

Diener starrten sie an und warfen ihr auch dann verwunderte Blicke zu, als sie sich schon längst wieder um ihre Pflichten kümmerten. Sie wäre ja hinter der Närrin hergelaufen, aber sie hatte Angst, dass sie sie direkt zu Zaida und den anderen führte. Und die Närrin würde vermutlich heraussprudeln, dass sie zur Burg gehen würde, dass Nynaeve es versprochen hatte. Licht, vermutlich würde sie es ihnen ohnehin sagen!

»Du siehst aus, als hättest du gerade eine verdorbene Pflaume verschluckt«, sagte Lan und trat an ihre Seite; sein grüner Mantel saß wie angegossen und ließ ihn groß und sehr attraktiv aussehen. Sie fragte sich, wie lange er wohl schon dort gestanden hatte. Es erschien unmöglich, dass ein so großer Mann, dessen Gegenwart überaus dominierend war, selbst ohne einen Behüterumhang so reglos dastehen konnte, dass man ihn nicht wahrnahm.

»Einen ganzen Korb«, murmelte sie und barg das Gesicht an der breiten Brust ihres Ehemannes. Es fühlte sich gut an, sich an ihn und die von ihm verkörperte Kraft anlehnen zu können, nur einen Augenblick lang, während er sanft über ihr Haar strich. Selbst wenn sie seinen Schwertgriff zur Seite rücken musste, damit er sich nicht in ihre Rippen bohrte. Und jeder, der über diese öffentliche Zurschaustellung von Zuneigung die Stirn runzelte, konnte gehen und sich aufhängen. Sie konnte sehen, wie eine Katastrophe der nächsten folgte. Selbst wenn sie Zaida und den anderen versicherte, dass sie keinesfalls die Absicht hatte, Talaan irgendwohin zu bringen, würden sie ihr bei lebendigem Leib die Haut abziehen. Diesmal würde sie es nicht vor Lan verbergen können. Falls ihr das überhaupt gelungen war, was das anging. Reanne und die anderen würden es erfahren. Und Alise auch! Sie würden anfangen, sie genau wie Merilille zu behandeln, ihre Befehle ignorieren und ihr genauso viel Respekt erweisen wie die Windsucherinnen Talaan. Irgendwie würde man ihr die Aufgabe aufbürden, Alivia zu bewachen, und das würde in einer Katastrophe münden, in irgendeiner ungeheuren Demütigung. In letzter Zeit schien das alles zu sein, zu dem sie fähig war; eine weitere Möglichkeit zu finden, sich demütigen zu lassen. Und jeden vierten Tag würde sie trotzdem Zaida und den Windsucherinnen gegenübertreten müssen.

»Weißt du noch, wie du mich gestern Morgen in unseren Gemächern aufgehalten hast?«, murmelte sie und sah rechtzeitig auf, um zu sehen, wie die Besorgnis auf seinem Gesicht durch ein Grinsen ersetzt wurde. Natürlich erinnerte er sich. Ihre Wangen röteten sich. Gespräche mit Freundinnen waren eine Sache, aber es schien ihr noch immer schwer zu fallen, mit dem eigenen Mann offen zu sprechen. »Nun, ich möchte, dass du mich auf der Stelle dorthin bringst und ein Jahr lang davon abhältst, etwas anzuziehen!« Zuerst hatte sie das ziemlich wütend gemacht. Aber er wusste, wie er sie die Wut vergessen machen konnte.

Er warf den Kopf zurück und lachte, es war ein tiefer, hallender Laut, und im nächsten Augenblick stimmte sie darin ein. Dabei wollte sie eigentlich weinen. Sie hatte es nicht unbedingt als Scherz gemeint.

Als verheiratete Frau musste sie sich das Bett nicht mit einer oder zwei Frauen teilen, außerdem hatte es ihr ein Wohnzimmer eingebracht. Es war nicht groß, aber es war ihr immer gemütlich erschienen, mit einem schönen Kamin und einem kleinen Tisch mit vier Stühlen. Genau das, was sie und Lan gebraucht hatten. Ehre Hoffnungen auf ungestörte Zweisamkeit erhielten jedoch im Moment ihres Eintretens einen Dämpfer. Die Haushofmeisterin erwartete sie bereits; sie stand genau in der Mitte des geblümten Teppichs, so imposant wie eine Königin, so makellos in ihrem Erscheinungsbild, als hätte sie sich gerade eben erst angekleidet, und nicht im mindesten erfreut. Und in der Zimmerecke stand ein schlecht gekleideter, massiger Bursche mit einer schrecklichen Warze auf der Nase und einer Ledertasche, die schwer von seiner Schulter hing.

»Dieser Mann behauptet, er hätte etwas, das Ihr dringend erwartet«, sagte Frau Harfor nach den üblichen Floskeln. Sie erfüllten alle nötigen Gebote der Höflichkeit, waren aber sehr knapp; mit Ausnahme von Elayne verschwendete sie sie an niemanden. Sie klang, als würde sie von Nynaeve genauso wenig halten wie von dem Kerl mit der Warze. »Ich will Euch nicht verhehlen, dass mir sein Aussehen nicht gefällt.«

Nynaeve war so müde, dass es ihr beinahe unmöglich war, die Quelle zu umarmen, aber angetrieben von Gedanken an Attentäter und das Licht, schaffte sie es im Handumdrehen. Lan musste eine Veränderung in ihrer Miene bemerkt haben, denn er machte einen Schritt auf den Burschen mit der Warze zu; er griff nicht nach seinem Schwert, aber plötzlich schien seine ganze Haltung zu verkünden, dass die Klinge bereits gezogen war. Nynaeve vermochte nicht zu sagen, wie es ihm manchmal gelang, ihre Gedanken zu lesen, da der Behüterbund ihn doch mit einer anderen verband, aber es freute sie. Es war ihr gelungen, Talaan als Ebenbürtige gegenüberzutreten — zumindest, was die Stärke betraf! —, aber sie war nicht davon überzeugt, im Augenblick genug von der Macht lenken zu können, um einen Stuhl umzuwerfen. »Ich erwarte gar...«, setzte sie an.

»Entschuldigt, Herrin«, murmelte der massige Bursche hastig und zerrte an seiner Haarlocke. »Frau Tahne sagte, Ihr wolltet mich auf der Stelle sehen. Frauenzirkelangelegenheiten, sagte sie. Etwas wegen Cenn Buie.«

Nynaeve riss sich zusammen, und einen Augenblick später fiel ihr ein, den Mund wieder zuzumachen. »Ja«, sagte sie langsam und starrte den Fremden an. Es fiel schwer, außer der scheußlichen Warze etwas von ihm zu sehen, aber sie war fest davon überzeugt, ihm nie zuvor im Leben begegnet zu sein. Angelegenheiten des Frauenzirkels. Man würde keinem Mann erlauben, davon auch nur einen Hauch mitzubekommen. Das war geheim. Sie hielt trotzdem an Saidar fest. »Ich... erinnere mich. Danke, Frau Harfor. Ich bin sicher, Ihr habt viel zu erledigen.«

Die Haushofmeisterin schien den Wink nicht verstehen zu wollen, zögernd starrte sie Nynaeve misstrauisch an. Das Stirnrunzeln nahm den massigen Fremden zum Ziel, richtete sich dann auf Lan und verschwand. Sie nickte gedankenverloren, als würde seine Anwesenheit den entscheidenden Unterschied bedeuten! »Dann lasse ich Euch jetzt allein. Ich bin sicher, Lord Lan kommt mit diesem Burschen zurecht.«

Nynaeve unterdrückte ihre Empörung, wartete aber kaum ab, dass sich die Tür geschlossen hatte, bevor sie zu dem Fremden mit der Warze herumfuhr. »Wer seid Ihr?«, wollte sie wissen. »Woher kennt Ihr diese Namen? Ihr kommt nicht von den Zwei...«

Der Mann... flackerte. Es gab keine andere Bezeichnung dafür. Er flackerte und wuchs in die Höhe, und plötzlich war er Rand, der das Gesicht verzog und mühsam schluckte, der diese einfache Wollkleidung trug und auf dessen Handrücken diese schrecklichen Köpfe in Rot und Gold funkelten und der eine Ledertasche an der Schulter trug. Wo hatte er das gelernt? Wer hatte es ihm beigebracht? Nynaeve widerstand der Versuchung, sich nur einen kurzen Augenblick lang zu tarnen, nur um ihm zu zeigen, dass auch sie diese Kunst beherrschte.

»Ich sehe, du hast deinen eigenen Rat nicht befolgt«, sagte Rand zu Lan, als wäre sie nicht da. »Aber warum duldest du es, dass sie sich als Aes Sedai ausgibt? Selbst wenn es die echten Aes Sedai zulassen, könnte sie sich damit schaden.«

»Weil sie eine Aes Sedai ist, Schafhirte«, erwiderte Lan ruhig. Er sah sie auch nicht an! Und schien noch immer bereit zu sein, blitzschnell sein Schwert zu ziehen. »Was das andere angeht... manchmal ist sie stärker als du. Hast du es getan?«

Jetzt richtete Rand den Blick auf sie und runzelte ungläubig die Stirn. Selbst noch, als sie ihr Schultertuch richtete, sodass die gelben Fransen schaukelten. Aber er schüttelte langsam den Kopf und sagte: »Nein. Du hast Recht. Manchmal ist man zu schwach, das zu tun, was man tun sollte.«

»Was plappert ihr da?«, sagte sie in scharfem Tonfall.

»Nur Dinge, über die sich Männer so unterhalten«, erwiderte Lan.

»Du würdest es nicht verstehen«, sagte Rand.

Diese Bemerkung ließ sie verächtlich schnauben. Klatsch und leeres Gerede, das war es, worum sich Unterhaltungen von Männern in neun von zehn Fällen drehten. Bestenfalls. Müde ließ sie Saidar los. Zögernd. Sicherlich musste sie sich nicht vor Rand schützen, aber sie hätte es gern noch gehalten, nur um es zu berühren, ob sie nun müde war oder nicht.

»Wir wissen über Cairhien Bescheid, Rand«, sagte sie und ließ sich dankbar auf einen Stuhl sinken. Diese verdammten Meervolkfrauen hatten sie ausgelaugt! »Bist du deswegen so gekleidet gekommen? Wenn du dich vor denjenigen verstecken willst, wer auch immer das war...« Er sah müde aus. Härter, als sie ihn in Erinnerung hatte, aber sehr müde. Doch er blieb stehen. Seltsamerweise schien er Lan sehr zu ähneln, ständig bereit, das Schwert zu ziehen, das er gar nicht trug. Vielleicht würde der Attentatsversuch ja reichen, damit er Vernunft annahm. »Rand, Egwene kann dir helfen.«

»Eigentlich verberge ich mich gar nicht«, sagte er. »Das heißt, nur bis ich ein paar Männer töten kann, die getötet werden müssen.« Licht, er sprach das genauso nüchtern aus wie Ali via! Warum behielten er und Lan einander im Auge und gaben dabei vor, es nicht zu tun? »Davon abgesehen, wie sollte Egwene helfen können?«, fuhr er fort und stellte die Tasche auf dem Tisch ab. Sie gab einen leisen, aber eindeutigen Laut von sich, der auf etwas Schweres in ihrem Inneren hindeutete. »Ich nehme an, sie ist auch eine Aes Sedai?« Er klang amüsiertt »Ist sie auch hier? Ihr drei und zwei echte Aes Sedai. Nur zwei! Nein, ich habe keine Zeit dafür. Du musst etwas für mich aufbewahren, bis ich...«

»Egwene ist der Amyrlin-Sitz, du Narr«, knurrte sie. Es war schön, zur Abwechslung mal jemanden anderen unterbrechen zu können. »Elaida ist die Usurpatorin. Ich hoffe, du warst wenigstens so gescheit, dich nicht in ihre Nähe zu wagen! Du würdest nicht auf deinen eigenen zwei Beinen wieder gehen, das kann ich dir sagen! Hier sind fünf echte Aes Sedai, mich eingeschlossen, dreihundert weitere sind bei Egwene und einem Heer, dazu bereit, Elaida zu stürzen. Sieh dich doch einmal selbst an! Welche mutigen Parolen du auch immer von dir gibst, beinahe wäre es jemandem gelungen, dich zu töten, und du schleichst hier wie ein Stallbursche gekleidet herum! Welchen sichereren Ort sollte es für dich geben als bei Egwene? Selbst deine Asha'man würden es nicht wagen, gegen dreihundert Schwestern anzutreten!« O ja, und wie schön das war. Er versuchte seine Überraschung zu verbergen, aber er leistete keine gute Arbeit, so wie er sie anstarrte.

»Du wärst überrascht, was meine Asha'man wagen«, sagte er dann trocken. »Ich nehme an, Mat ist bei Egwenes Heer?« Er führte eine Hand zum Kopf und taumelte.

Es war nur ein halber Schritt, aber sie war von ihrem Stuhl hochgeschossen, bevor er sich wieder aufrichten konnte. Mühsam umarmte sie Saidar, umfasste seinen Kopf mit beiden Händen und wob schleppend eine Tiefenschau um ihn herum. Sie hatte versucht, eine bessere Methode zu finden, um zu ergründen, was jemandem fehlte, bis jetzt aber erfolglos. Dennoch reichte es. Sie hatte ihn noch nicht richtig mit dem Gewebe eingehüllt, als ihr auch schon der Atem stockte. Sie wusste über die Wunde in seiner Seite Bescheid, die er in Falme davongetragen hatte und die niemals richtig geheilt war, die sich sämtlichen Heilungen, die sie kannte, widersetzt hatte und wie eine Pustel des Bösen in seinem Fleisch wucherte. Jetzt gab es eine weitere zur Hälfte verheilte Wunde über der alten und auch in ihr pulsierte das Böse. Es handelte sich jedoch um eine andere Art des Bösen, das wie ein Spiegelbild des bereits vorhandenen wirkte, aber genauso verheerend war. Und sie konnte beide nicht mit der Macht berühren. Ehrlich gesagt wollte sie es auch nicht — allein der Gedanke daran verursachte ihr eine Gänsehaut! —, aber sie versuchte es. Und etwas Unsichtbares hielt sie fern. Etwas wie ein Abwehrmechanismus. Ein Abwehrmechanismus, den sie nicht bestimmen konnte. Ein Abwehrmechanismus aus Saidin!

Das ließ sie aufhören, die Macht zu lenken, und sie trat zurück. Aber die Quelle hielt sie weiterhin umklammert; ganz egal, wie müde sie auch sein mochte, sie würde sich zum Loslassen zwingen müssen. Keine Schwester konnte an die männliche Hälfte der Macht auch nur denken, ohne einen Schauder der Furcht zu verspüren. Er sah ganz ruhig auf sie herab und das ließ sie frösteln. Er schien ein ganz anderer Mann als jener Rand al'Thor zu sein, den sie hatte aufwachsen sehen. Sie war sehr froh, dass Lan hier war, so schwer das auch zuzugeben war. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass er sich nicht entspannt hatte. Er mochte mit Rand plaudern, wie es zwei Männer über Pfeifen und Ale taten, aber er hielt ihn auch für gefährlich. Und Rand sah Lan an, als wusste er dies und würde es auch akzeptieren.

»Das ist jetzt nicht wichtig«, sagte Rand und wandte sich der Tasche auf dem Tisch zu. Nynaeve wusste nicht, ob er seine Wunden oder Mats Aufenthaltsort meinte. Er holte zwei jeweils einen Fuß hohe Statuetten aus der Tasche, einen weise aussehenden, bärtigen Mann und eine gleichfalls weise aussehende, heitere Frau. Beide waren mit einem fließenden Gewand bekleidet und hielten eine durchsichtige Kristallkugel hoch. Nach der Art und Weise zu schließen, wie Rand mit ihnen umging, waren sie schwerer, als sie aussahen. »Nynaeve, ich möchte, dass du die für mich versteckst, bis ich nach ihnen schicke.« Er zögerte, eine Hand auf die Frauenfigur gelegt. »Und nach dir. Ich brauche dich, wenn ich sie benutze. Wenn wir sie benutzen. Nachdem ich mich um diese Männer gekümmert habe. Das muss zuerst erledigt werden.«

»Sie benutzen?«, fragte sie misstrauisch. Warum musste der gewaltsame Tod anderer an erster Stelle stehen? Aber das war im Augenblick kaum die Frage, auf die es ankam. »Wozu? Sind es Ter'angreale?«

Er nickte. »Hiermit kannst du das größte Sa'angreal berühren, der jemals für eine Frau erschaffen wurde. Soweit ich weiß, ist es in Tremalking vergraben, aber das ist jetzt nicht von Belang.« Seine Hand legte sich auf die Männerfigur. »Mit dem hier kann ich ihren männlichen Zwilling berühren. Einst wurde mir von... jemandem berichtet, dass ein Mann und eine Frau, die diese Sa'angreale benutzen, den Dunklen König selbst herausfordern könnten. Möglicherweise wird man sie auch eines Tages genau für diesen Zweck einsetzen, aber in der Zwischenzeit hoffe ich, dass sie ausreichen, um die männliche Hälfte der Quelle zu reinigen.«

»Wenn man das tun könnte, hätten sie es dann nicht im Zeitalter der Legenden getan?«, sagte Lan leise. Leise, so wie Stahl, der aus der Scheide glitt, leise war. »Du sagtest einmal, ich könnte daran schuld sein, dass sie verletzt wird.« Es erschien unmöglich, dass seine Stimme noch härter wurde, aber das tat sie. »Du könntest sie töten, Schafhirte.« Und sein Ton machte klar, dass er das nicht zulassen würde.

Rand begegnete Lans kaltem Blick mit der gleichen Kälte. »Ich weiß nicht, warum sie es nicht getan haben. Es ist mir auch egal. Der Versuch muss unternommen werden.«

Nynaeve biss sich auf die Unterlippe. Sie vermutete, dass Rand das hier zu einem öffentlichen Auftritt machte — manchmal machte sie dieser Wechsel vom Öffentlichen zum Privaten und die Entscheidung treffen zu müssen, was nun was war, schwindelig —, aber es störte sie nicht, dass Lan sich ungefragt zu Wort gemeldet hatte. Was das betraf, war er wirklich schlimm, aber ihr gefiel ein Mann, der sagte, was er dachte. Sie musste nachdenken. Nicht über ihre Entscheidung, die sie bereits getroffen hatte, sondern wie sie sie durchführen sollte. Rand würde es möglicherweise nicht gefallen. Lan würde es gewiss nicht gefallen. Nun, Männer wollten immer ihren Willen durchsetzen. Manchmal musste man sie eben lehren, dass das nicht immer ging.

»Ich halte das für eine großartige Idee«, sagte sie. Das war nicht einmal gelogen. Es war großartig, verglichen mit den Alternativen. »Aber ich sehe nicht ein, warum ich hier herumsitzen und wie eine Dienstmagd auf deine Botschaft warten sollte. Ich werde es tun, aber wir gehen alle zusammen.«

Sie hatte Recht gehabt. Es gefiel ihnen nicht im mindesten.

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