14 Was ein Schleier verbirgt

Die Sieg von Kidron rollte in ein tiefes Wellental und ließ die vergoldeten Lampen der Heckkabine an ihren Aufhängungen schwingen, aber Tuon saß ganz ruhig da, während das Rasiermesser in Selucias sicherer Hand über ihre Kopfhaut glitt. Die hohen Heckfenster gaben den Blick auf die anderen Großschiffe frei, welche die graugrüne Dünung in weiß aufstiebenden Gischtwolken durchbrachen, Hunderte von ihnen, die sich Bug an Bug bis zum Horizont erstreckten. Viermal so viel waren in Tanchico zurückgelassen worden. Die Rhyagelle, die, die in die Heimat zurückgekehrt waren. Die Corenne, die Wiederkehr, hatte begonnen.

Ein dahingleitender Albatros schien der Kidron zu folgen, in der Tat ein Omen des Sieges, auch wenn die langen Flügel des Tieres schwarz statt weiß waren. Es musste trotzdem das Gleiche bedeuten. Omen veränderten sich nicht, nur weil sich die Gegend änderte. Ein Eulenruf zur Morgendämmerung verkündete den Tod und Regen ohne Wolken einen unerwarteten Besucher, egal, ob man in Imfaral oder Noren M'Shar war.

Das morgendliche Ritual mit dem Rasiermesser ihrer Ankleidedame war beruhigend und genau das, was sie heute brauchte. Am vergangenen Abend hatte sie von Wut erfüllt einen Befehl gegeben. Kein Befehl sollte von Wut erfüllt gegeben werden. Sie fühlte sich beinahe sei'mosiev, als hätte sie ihre Ehre verloren. Ihr Gleichgewicht war gestört, und das war ein genauso schlechtes Vorzeichen für die Rückkehr wie der Verlust von Sei'taer, Albatros oder kein Albatros.

Selucia wischte mit einem feuchten Tuch den letzten Rest Rasierseife ab, benutzte dann ein trockenes Tuch und puderte schließlich Tuons glatte Kopfhaut mit einem Pinsel ein. Als ihre Ankleidedame schließlich zurücktrat, erhob sich Tuon und ließ ihren aufwendig bestickten blauen Seidenmorgenmantel auf den mit golden und blauen Mustern verzierten Teppich fallen. Sofort rief die kalte Luft eine Gänsehaut auf ihrer dunklen nackten Haut hervor. Vier ihrer zehn Zofen erhoben sich anmutig von der Stelle, wo sie an der Wand gekniet hatten; ihre hauchzarten weißen Gewänder betonten ihre schlanken, anmutigen Glieder. Sie alle waren sowohl ihres Erscheinungsbildes als auch ihrer Fertigkeiten wegen gekauft worden und sie waren sehr geschickt. Während der langen Reise von Seanchan hatten sie sich an die Bewegungen des Schiffs gewöhnt, und sie eilten los, um die auf den Truhen bereitgelegten Kleidungsstücke zu holen und sie Selucia zu bringen. Selucia erlaubte den Da'covale niemals, ihr tatsächlich etwas anzuziehen, nicht mal die Strümpfe oder die Schuhe.

Als sie ein mit Falten versehenes Gewand von der Farbe gealterten Elfenbeins über Tuons Kopf schob, konnte die junge Frau nicht widerstehen, sie in dem hohen Spiegel, der an der Innenwand befestigt war, verstohlen zu mustern. Die blonde Selucia war eine vornehme, hellhäutige Schönheit mit kühlen blauen Augen. Wäre ihre linke Kopfseite nicht glatt rasiert gewesen, hätte sie jeder für eine hochrangige Angehörige des Blutes halten können und nicht für eine So'jhin. Ein Gedanke, der die Frau bis ins Mark erschüttert hätte. Allein die Vorstellung, über die ihr zugeteilte Stellung hinauszutreten, hätte ausgereicht, Selucia zu erschrecken. Tuon wusste, dass sie selbst niemals eine so dominierende Ausstrahlung haben würde. Ihre Augen waren zu groß und von einem feuchten Braun. Wenn sie vergaß, eine strenge Miene zu machen, war ihr herzförmiges Gesicht das eines schelmischen Kindes. Ihr Scheitel reichte kaum bis an Selucias Augen, obwohl ihre Ankleidedame keine große Frau war. Tuon konnte im Sattel mit den besten mithalten, sie war eine hervorragende Ringerin und verstand mit den zu ihr passenden Waffen umzugehen, aber ihren Verstand hatte sie ständig trainieren müssen, wenn sie jemanden beeindrucken wollte. Sie hatte dieses Werkzeug einer so harten Ausbildung unterzogen wie alle anderen Fertigkeiten zusammen. Wenigstens betonte der breite, aus Goldfäden geflochtene Gürtel ihre Taille genug, damit sie nicht für einen Jungen in Frauenkleidung gehalten wurde. Männer sahen auf, wenn Selucia vorbeiging, und Tuon hatte gehört, wie man leise Bemerkungen über ihre vollen Brüste machte. Vielleicht hatte das ja nichts mit einer dominierenden Ausstrahlung zu tun, aber es wäre schön gewesen, etwas mehr Busen zu haben.

»Das Licht erleuchte mich«, murmelte Selucia und klang amüsiert, als die Da'covale zurückeilten, um sich wieder vor der Wand hinzuknien. »Seit dem Tag, an dem Euer Kopf das erste Mal rasiert wurde, habt Ihr das jeden Morgen getan. Glaubt Ihr nach drei Jahren immer noch, dass ich ein paar Stoppeln übrig lasse?«

Tuon wurde sich bewusst, dass sie über ihren kahlen Kopf gestrichen hatte. Auf der Suche nach Stoppeln, wie sie sich reumütig eingestand. »Wenn du das getan hättest«, erwiderte sie mit vorgetäuschtem Ernst, »hätte ich dich prügeln lassen. Die Vergeltung für all die Male, die du mich mit der Rute geschlagen hast.«

Selucia legte eine Kette aus Rubinen um Tuons Hals und lachte. »Wenn Ihr mir das heimzahlt, werde ich niemals wieder sitzen können.«

Tuon lächelte. Selucias Mutter hatte sie Tuon als Wiegengeschenk gegeben, um ihre Amme und, viel wichtiger, ihr Schatten zu sein, eine Leibwächterin, von der niemand wusste. Die ersten fünfundzwanzig Jahre von Selucias Leben waren der Ausbildung für diese Aufgaben gewidmet gewesen; für die zweite war sie im Geheimen trainiert worden. An Tuons sechzehntem Namensgebungstag hatte sie Selucia die traditionellen Geschenke ihres Hauses überreicht, ein kleines Anwesen für die Fürsorglichkeit, die sie bewiesen hatte, ein Pardon für die Züchtigungen, die sie ausgeteilt hatte, und einen Beutel mit hundert Goldthrone für jedes Mal, das sie ihren Schützling hatte bestrafen müssen. Die Angehörigen des Blutes, die sich versammelt hatten, um Zeuge ihres ersten Auftritts als Erwachsene zu werden, waren von den vielen Beuteln voller Münzen beeindruckt gewesen; sie überstiegen bei weitem die Zahl, die die meisten Hand an ihresgleichen hätten legen können. Sie war ein... aufsässiges Kind gewesen, ganz zu schweigen von ihrer Sturheit. Und das letzte traditionelle Geschenk: das Angebot für Selucia, sich auszusuchen, wo sie als Nächstes dienen wollte. Tuon vermochte nicht zu sagen, wer erstaunter gewesen war, sie oder die versammelte Menge, als die würdevolle Frau Macht und Autorität den Rücken zuwandte und stattdessen darum bat, Tuons Ankleidedame zu werden, ihre Erste Zofe. Und natürlich weiterhin ihr Schatten, obwohl das der Öffentlichkeit verborgen blieb. Tuon war begeistert gewesen.

»Vielleicht in kleinen Dosen, verteilt über die nächsten sechzehn Jahre«, sagte sie. Sie sah sich im Spiegel an und hielt ihr Lächeln lange genug bei, um sicherzugehen, dass ihre Worte nicht verletzten, dann ersetzte sie es durch Strenge. Sie fühlte für die Frau, die sie aufgezogen hatte, mit Sicherheit mehr Zuneigung als für ihre leibliche Mutter, die sie vor dem Eintritt in ihr Erwachsenendasein nur zweimal im Jahr gesehen hatte, oder für ihre Brüder und Schwestern. Von ihren ersten Schritten an war sie gelehrt worden, um die Gunst der Mutter zu kämpfen. Bis jetzt waren zwei von ihnen in diesem Kampf gestorben und drei hatten versucht, sie zu töten. Eine Schwester und ein Bruder waren zu Da'covale gemacht worden, und man hatte ihre Namen so entschieden aus den Chroniken gestrichen, als hätte man entdeckt, dass sie die Macht lenken konnten. Selbst jetzt war ihre Stellung noch alles andere als sicher. Ein einziger Fehltritt konnte ihren Tod bedeuten oder, noch schlimmer, dass man sie nackt auszog und auf dem öffentlichen Sklavenmarkt verkaufte. Das Licht sei gesegnet — wenn sie lächelte, sah sie noch immer wie sechzehn aus! Höchstens!

Kichernd wandte sich Selucia ab, um die eng sitzende Haube aus goldener Spitze von ihrem rot lackierten Ständer auf dem Ankleidetisch zu holen. Die sparsam verarbeitete Spitze würde den größten Teil ihres kahl geschorenen Kopfes entblößen und sie mit den Raben-und-Rosen kennzeichnen. Vielleicht war sie ja gar nicht sei'mosiev, aber um der Corenne willen musste sie ihr Gleichgewicht wiederfinden. Sie konnte Anath, ihre Soe'feia, darum bitten, ihr eine Strafe aufzuerlegen, aber seit Neferis unerwartetem Tod waren keine zwei Jahre vergangen, und sie fühlte sich bei ihrem Ersatz noch immer nicht ganz wohl. Etwas sagte ihr, dass sie das allein tun musste. Vielleicht hatte sie ein Omen gesehen, das sie nicht beachtet hatte. Vermutlich gab es keine Ameisen auf dem Schiff, aber doch bestimmt irgendwelche Käfer.

»Nein, Selucia«, sagte sie leise. »Einen Schleier.«

Selucias Lippen verzogen sich missbilligend, aber sie stülpte die Haube wortlos auf ihren Ständer. Unter vier Augen, so wie jetzt, hatte sie die Erlaubnis, frei zu sprechen, aber sie wusste, was man aussprechen durfte und was nicht. Tuon hatte sie nur zweimal bestrafen müssen, und das Licht war ihr Zeuge, sie hatte es genauso sehr bedauert wie Selucia. Wortlos holte ihre Ankleidedame einen langen, durchsichtigen Schleier, wand ihn um Tuons Kopf und befestigte ihn mit einem schmalen Band aus rubinenbesetztem Goldgeflecht. Der Schleier war noch durchsichtiger als die Gewänder der Da'covale und verbarg ihr Gesicht nicht im mindesten. Aber er verbarg das, was am wichtigsten war.

Nun legte Selucia einen langen, goldbestickten blauen Umhang auf Tuons Schultern, trat zurück und machte eine so tiefe Verbeugung, dass das Ende ihres goldblonden Zopfes den Teppich berührte. Die knienden Da'covale neigten die Gesichter bis auf den Boden. Die Zeit für Privatangelegenheiten war vorbei. Tuon verließ die Kabine allein.

In der zweiten Kabine standen sechs Sul'dam, drei auf jeder Seite, deren Schutzbefohlene vor ihnen auf den breiten, polierten Planken knieten. Die Sul'dam nahmen bei ihrem Anblick Haltung an, so stolz wie die silbernen Blitze auf den roten Stoffrechtecken auf ihren Röcken. Die in Grau gekleideten Damane knieten aufrecht, von ihrem eigenen Stolz erfüllt. Bis auf die arme Lidya, die zusammengesunken auf den Knien hockte und versuchte, das tränennasse Gesicht auf das Deck zu pressen. lanelle, die die Leine der rothaarigen Damane hielt, starrte stirnrunzelnd auf sie herab.

Tuon seufzte. Lidya war für ihre Wut am gestrigen Abend verantwortlich gewesen. Nein, sie hatte sie ausgelöst, aber Tuon war für ihre eigenen Gefühle verantwortlich. Sie hatte der Damane befohlen, ihr die Zukunft vorherzusagen, und hätte nicht anordnen sollen, ihr mit der Rute eine Tracht Prügel zu verpassen, weil ihr nicht gefiel, was sie zu hören bekam.

Sie beugte sich vor, nahm Lidyas Kinn in die Hand, legte die langen, rot lackierten Fingernägel auf die sommersprossige Wange der Damane und zog sie hoch, bis sie auf den Fersen saß. Was ein Zusammenzucken und frische Tränen hervorrief, die Tuon abwischte, während sie die Damane hochzog, bis sie kniete. »Lidya ist eine gute Damane, lanelle«, sagte sie. »Bestreicht ihre Striemen mit Sorfatinktur und gebt ihr Löwenherz gegen die Schmerzen, bis sie verschwunden sind. Und bis sie verschwunden sind, soll sie zu jeder Mahlzeit einen süßen Vanillekuchen bekommen.«

»Wie die Hochlady befiehlt«, erwiderte lanelle förmlich, aber sie lächelte schmal. Alle Sul'dam mochten Lidya, und es hatte ihr nicht gefallen, die Damane zu bestrafen. »Sollte sie fett werden, werde ich sie rennen lassen, Hochlady.«

Lidya drehte den Kopf, um Tuons Handfläche zu küssen, und murmelte: »Lidyas Herrin ist freundlich. Lidya wird nicht fett.«

Tuon schritt die beiden Reihen ab, sprach ein paar Worte zu jeder Sul'dam und tätschelte jede Damane. Die sechs, die sie mitgebracht hatte, waren ihre besten, und sie strahlten sie mit einer Zuneigung an, die jener gleichkam, die sie für sie empfand. Sie hatten eifrig darum gekämpft, erwählt zu werden. Dali und Dani, beide pummelig und blond, zwei Schwestern, die kaum die Anleitung einer Sul'dam brauchten. Charral, deren Haare so grau wie ihre Augen waren, die aber noch immer die geschickteste im Wirken eines Gewebes war. Sera, die rote Schleifen in ihren dichten schwarzen Locken trug, die stärkste von ihnen und so stolz wie eine Sul'dam. Tiny Mylen, die noch kleiner als selbst Tuon war. Mylen war Tuons ganz besonderer Stolz.

Viele hatten es seltsam gefunden, als Tuon sich bei Erreichen des Erwachsenenalters als Sul'dam hatte testen lassen, obwohl ihr damals niemand widersprechen konnte. Mit Ausnahme ihrer Mutter, die es erlaubte, indem sie geschwiegen hatte. Natürlich war es undenkbar für sie, Sul'dam zu werden, aber sie fand in der Ablichtung von Damane genauso viel Freude wie in der von Pferden, und sie war in einem so gut wie im anderen. Mylen war der Beweis dafür. Als Tuon sie auf den Docks von Shon Kifar gekauft hatte, war die blasse kleine Damane vor Furcht und Verzweiflung halb tot gewesen und hatte jegliche Nahrung und Flüssigkeit verweigert. Alle Der'sul'dam hatten aufgegeben und ihr vorhergesagt, dass sie nicht mehr lange leben würde, aber jetzt lächelte Mylen zu Tuon hoch und beugte sich vor, um ihr die Hand zu küssen, bevor sie die Hand ausstreckte, um der Damane über das dunkle Haar zu streichen. Einst nur noch Haut und Knochen, setzte sie Gewicht an. Statt sie zurechtzuweisen, verzog Catrona, die ihre Leine hielt, ihr für gewöhnlich strenges schwarzes Gesicht zu einem Lächeln und murmelte, Mylen sei die perfekte Damane. Es stimmte, niemand würde mehr glauben, dass sie sich einst Aes Sedai genannt hatte.

Bevor Tuon ging, gab sie noch ein paar Befehle, die die Ernährung und die Übungen der Damane betrafen. Die Sul'dam wussten, was sie zu tun hatten, genau wie die zwölf anderen in Tuons Gefolge, andernfalls wären sie nicht in ihren Diensten gewesen, aber sie vertrat die Meinung, dass man keinem erlauben sollte, Damane zu besitzen, wenn derjenige kein ausgeprägtes Interesse für sie aufbrachte. Sie kannte die Eigenarten einer jeden von ihnen so gut wie ihr eigenes Gesicht.

In der äußeren Kabine nahm die Totenwache in ihren in Blutrot und fast schwarzem Grün lackierten Rüstungen bei ihrem Eintritt Haltung an. Das heißt, sie nahmen Haltung an, wenn Statuen Haltung annehmen konnten. Diese hartgesichtigen Männer und fünfhundert andere ihres Schlages waren persönlich für Tuons Sicherheit verantwortlich. Sie alle würden sterben, um sie zu beschützen. Sie würden sterben, wenn sie starb. Jeder Mann hatte sich freiwillig gemeldet, hatte darum gebeten, ihrer Leibwache beitreten zu dürfen. Als der grauhaarige Hauptmann Musenge den Schleier erblickte, kommandierte er nur zwei seiner Männer dazu ab, sie an Deck zu begleiten, wo zwei Dutzend Ogier-Gärtner in Rot und Grün sich zu beiden Seiten des Niedergangs mit erhobenen, quastengeschmückten Äxten aufbauten und mit grimmig blickenden Augen selbst hier nach Gefahren Ausschau hielten. Sie würden nicht sterben, wenn sie starb, aber sie hatten ebenfalls darum gebeten, in ihre Leibwache aufgenommen zu werden, und sie würde ihr Leben ohne nachzudenken jeder dieser großen Hände anvertrauen.

Die gerippten Segel an den drei hohen Masten der Kidron wurden von dem kalten Wind aufgebauscht, der das Schiff dem voraus liegenden Land entgegentrieb, eine dunkle Küste, die nahe genug war, dass sie Berge und Landzungen erkennen konnte. Das Deck war voller Männer und Frauen. Die Angehörigen des Blutes trugen ihre besten Seidengewänder und ignorierten den Wind, der ihre Umhänge flattern ließ, genauso wie die barfüßigen Männer und Frauen der Besatzung, die zwischen ihnen umherhuschten. Einige der Adligen ignorierten die Besatzung etwas zu auffällig, als könnten sie das Schiff auf den Knien oder unter ständigen Verbeugungen führen. Als das Blut Tuons Schleier bemerkte, führten sie statt der Niederwerfung lediglich angedeutete Verbeugungen durch. Yuril, der Mann mit der scharf geschnittenen Nase, den alle für ihren Sekretär hielten, ließ sich auf ein Knie nieder. Natürlich war er tatsächlich ihr Sekretär, aber auch ihre Hand, die ihre Sucher kommandierte. Die Macura warf sich zu Boden und küsste die Decksplanken, bevor ein paar Worte Yurils sie wieder errötend aufstehen und ihre Röcke glätten ließ. Tuon hatte ihre Zweifel gehabt, sie in Tanchico in ihre Dienste aufzunehmen, aber die Frau hatte gebettelt wie eine Da'covale. Aus irgendeinem Grund hasste sie Aes Sedai bis aufs Blut, und trotz der Belohnungen, die sie für ihre außerordentlich wertvollen Informationen erhalten hatte, hoffte sie, ihnen noch mehr Schaden zuzufügen.

Tuon neigte vor dem Blut den Kopf und stieg von den beiden Männern der Totenwache begleitet zum Achterdeck hoch. Der Wind machte es ihr schwer, den Umhang zu halten, und drückte ihr in dem einen Augenblick den Schleier gegen das Gesicht, um ihn im nächsten über ihren Kopf zu wirbeln. Es spielte keine Rolle; es reichte, dass sie ihn trug. Ihr persönliches Banner — zwei goldene, vor einen uralten Streitwagen angeschirrte Löwen — flatterte am Heck über den sechs Steuermännern, die mit dem langen Ruder kämpften. Man würde die Raben-und-Rosen in dem Augenblick entfernt haben, in dem der erste Matrose, der ihren Schleier entdeckt hatte, die Meldung weitergegeben hatte. Der Kapitän der Kidron, eine breite, wettergegerbte Frau mit weißem Haar und den unglaublichsten grünen Augen, verbeugte sich, als Tuon das Achterdeck betrat, und wandte ihre Aufmerksamkeit sofort wieder ihrem Schiff zu.

Anath stand von Kopf bis Fuß in schwarze Seide gekleidet an der Reling, trotz des fehlenden Umhangs schien sie der kalte Wind nicht zu stören. Sie war eine schlanke Frau, die selbst für einen Mann groß gewesen wäre. Ihr holzkohleschwarzes Gesicht war wunderschön, aber ihre großen dunklen Augen erschienen so durchbohrend wie Ahlen. Tuons Soe'feia, ihre Wahrheitssprecherin, nach Neferis Tod von der Kaiserin ernannt, mochte sie ewig leben. Das war eine Überraschung gewesen, war doch Neferis Linke Hand ausgebildet und bereit, an ihre Stelle zu treten, aber wenn die Kaiserin vom Kristallthron sprach, war ihr Wort Gesetz. Man sollte sich nicht vor seiner Soe'feia fürchten, aber das tat Tuon, zumindest ein bisschen. Sie gesellte sich zu der Frau, ergriff die Reling und musste die Hände wieder lösen, bevor sie einen lackierten Nagel brach. Das hätte böses Unglück bedeutet.

»So«, sagte Anath und das Wort bohrte sich wie ein Nagel in Tuons Schädel. Die große Frau sah stirnrunzelnd auf sie herab und in ihrer Stimme lag Verachtung. »Ihr verbergt — in gewisser Weise — Euer Gesicht und jetzt seid Ihr nur die Hochlady Tuon. Nur dass trotzdem jeder weiß, wer Ihr wirklich seid, selbst wenn sie es nicht erwähnen. Wie lange wollt Ihr diese Farce durchhalten?« Anaths volle Lippen verzogen sich höhnisch und sie machte mit einer schlanken Hand eine knappe, herablassende Geste. »Ich vermute, dieser Irrsinn kommt daher, weil Ihr die Damane mit dem Stock habt prügeln lassen. Ihr seid eine Närrin, wenn Ihr glaubt, wegen einer solchen Kleinigkeit betrübt sein zu müssen. Was hat sie gesagt, was Euch so wütend machte? Keiner scheint das zu wissen, nur dass Ihr einen Wutanfall bekommen habt, den ich leider verpasst habe.«

Tuon zwang ihre Hände, ruhig auf der Reling zu liegen. Sie wollten zittern. Mühsam kontrollierte sie ihre Züge, um weiterhin streng zu erscheinen. »Ich werde den Schleier tragen, bis ein Omen mir sagt, dass die Zeit gekommen ist, ihn wieder abzunehmen«, sagte sie und zwang ihre Stimme zur Ruhe. Es war reines Glück gewesen, dass niemand Lidyas rätselhafte Worte gehört hatte. Jeder wusste, dass Damane die Zukunft vorhersagen konnten, und hätte jemand vom Blut es gehört, hätten sie alle hinter vorgehaltener Hand über ihr Schicksal geklatscht.

Anath lachte grob und fing erneut an, ihr zu sagen, was für eine Närrin sie doch war, diesmal nur ausführlicher. Viel ausführlicher. Sie gab sich keine Mühe, ihre Stimme zu senken. Kapitän Tehan starrte stur geradeaus, aber ihre Augen drohten ihr aus dem runzligen Gesicht zu fallen. Tuon hörte aufmerksam zu, obwohl ihre Wangen immer heißer wurden, bis sie fürchtete, der Schleier würde gleich in Flammen aufgehen.

Viele Angehörige des Blutes nannten ihre Stimmen Soe'feia, aber Stimmen des Blutes waren im legalen Sinn So'jhin und wussten, dass sie bestraft werden konnten, falls ihren Besitzern missfiel, was sie sagten, selbst wenn sie Soe'feia genannt wurden. Von einem Verkündet der Wahrheit wurde verlangt, die nackte Wahrheit zu sagen — ob man sie nun hören wollte oder nicht —, und er hatte auch dafür zu sorgen, dass man sie sich anhörte. Diejenigen des Blutes, die ihre Stimmen Soe'feia nannten, vertraten die Meinung, dass Algwyn, der letzte Mann, der auf dem Kristallthron gesessen hatte, verrückt gewesen war, weil er seine Soe'feia leben und ihr Amt weiterhin bekleiden ließ, nachdem sie ihm vor dem versammelten Hof eine Ohrfeige gegeben hatte. Sie verstanden die Traditionen ihrer Familie genauso wenig wie der ungläubige Kapitän. Die Mienen der Männer der Totenwache hinter dem verbergenden Wangenschutz blieben reglos. Sie verstanden es.

»Danke, aber ich brauche keine Buße«, sagte sie höflich, als Anath schließlich ihre Tirade beendete.

Nachdem sie Neferi damals dafür verflucht hatte, dass sie bei so etwas Albernem wie einem Treppensturz gestorben war, hatte sie ihre neue Soe'feia gebeten, diesen Dienst für sie zu übernehmen. Die Toten zu verfluchen reichte aus, um einen monatelang sei'mosiev zu machen. Die Frau war dabei auf eine seltsame Weise beinahe sanft umgegangen, obwohl sie sie dazu gebracht hatte, tagelang zu weinen. Aber das war nicht der Grund dafür, warum sie das Angebot ablehnte; eine Buße musste streng sein oder sie nutzte nichts, um das Gleichgewicht wieder herzustellen. Nein, sie würde nicht den einfacheren Weg wählen, weil sie ihre Entscheidung getroffen hatte. Und, wie sie zugeben musste, weil sie beabsichtigte, sich dem Rat ihrer Soe'feia zu widersetzen. Ihr nicht einmal zuhören wollte. Selucia hatte Recht, sie war schon immer dickköpfig gewesen. Sich zu weigern, seiner eigenen Wahrheitssprecherin zuzuhören, war abscheulich. Vielleicht hätte sie es doch akzeptieren sollen, um dieses Gleichgewicht wieder herzustellen. Neben dem Schiff tauchten drei lange graue Tümmler auf und stießen Laute aus. Drei, und sie kamen nicht wieder an die Oberfläche. Halte den von dir gewählten Kurs bei.

»Wenn wir an Land sind«, sagte sie, »muss die Hochlady Suroth eine Belobigung erhalten.« Halte den von dir gewählten Kurs bei. »Und man muss ihre Ambitionen erforschen. Sie hat mehr mit den Vorläufern erreicht, als sich die Kaiserin, möge sie ewig leben, hätte träumen lassen, aber ein so großer Erfolg erzeugt auch oft entsprechende Ambitionen.«

Über den Themenwechsel beleidigt, presste Anath die Lippen zusammen. Ihre Augen funkelten. »Ich bin davon überzeugt, dass Suroth nur eine Ambition hat, nämlich die besten Interessen des Reiches zu verfolgen«, sagte sie kurz angebunden.

Tuon nickte. Sie war sich da nicht so sicher. Diese Art von Überzeugung konnte selbst sie in den Turm der Raben bringen. Vor allem sie. »Ich muss einen Weg finden, so schnell wie möglich einen Kontakt zum Wiedergeborenen Drachen herzustellen. Er muss vor Tarmon Gai'don vor dem Kristallthron knien oder alles ist verloren.« Das besagten die Prophezeiungen des Drachen eindeutig.

Anaths Stimmung schlug sofort um. Lächelnd legte sie beinahe besitzergreifend eine Hand auf Tuons Schulter. Das ging zu weit, aber sie war Soe'feia, und das Gefühl, dass es besitzergreifend war, bestand möglicherweise nur in Tuons Einbildung. »Ihr müsst vorsichtig sein«, schnurrte Anath. »Ihr dürft ihn nicht wissen lassen, wie gefährlich Ihr für ihn seid, bis es zu spät für ihn ist und er nicht mehr entkommen kann.«

Sie hatte noch weitere Ratschläge, aber Tuon ließ sie über sich ergehen. Sie hörte nur mit einem Ohr zu, aber es war nichts dabei, das sie nicht schon Hunderte Male zuvor gehört hatte. Voraus konnte sie die Bucht eines großen Hafens erkennen. Ebou Dar, von wo aus sich die Corenne ausbreiten würde, so wie sie sich von Tanchico ausbreitete. Der Gedanke erzeugte bei ihr einen Schauder des Vergnügens, der Erfüllung. Hinter ihrem Schleier war sie bloß die Hochlady Tuon, die keinen höheren Rang als so viele andere Angehörige des Blutes einnahm, aber in ihrem Herzen war sie stets Tuon Athaem Köre Paendrag, die Tochter der Neun Monde, und sie war gekommen, um das zurückzufordern, was ihren Vorfahren gestohlen worden war.

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