6 Der Gestank des Wahnsinns

Perrin suchte im fallenden Schnee nach Dannil, entdeckte ihn an einem der Lagerfeuer und schob sich an den Pferden vorbei. Die anderen Männer wichen weit genug zurück, um ihm Platz zu machen. Da sie nicht wussten, ob sie ihm ihr Mitgefühl zum Ausdruck bringen sollten, schauten sie ihn kaum an und wandten ruckartig die Blicke ab, wenn sie es taten und verbargen die Gesichter in ihren Kapuzen. »Weißt du, wo Masemas Leute sind?«, fragte er und musste dann ein Gähnen hinter der Faust verbergen. Sein Körper verlangte nach Schlaf, aber dafür war jetzt keine Zeit.

»Etwa drei Meilen nach Süden und Westen«, erwiderte Dannil in mürrischem Tonfall und zupfte gereizt an seinem Schnurrbart. Also hatten die albernen Gänse doch Recht gehabt. »Eilen herbei wie im Herbst die Enten in den Wasserwald und der Haufen sieht aus, als würden sie ihren eigenen Müttern die Haut abziehen.« Lern al'Dai mit dem Pferdegesicht spuckte angewidert durch die Zahnlücke aus, die er vor langer Zeit bei der Prügelei mit dem Leibwächter eines Wollhändlers davongetragen hatte. Lern kämpfte gern mit den Fäusten; er sah aus, als würde er gern mit einem von Masemas Anhängern Streit anfangen.

»Das würden sie auch, wenn Masema es ihnen befiehlt«, sagte Perrin leise. »Du solltest lieber dafür sorgen, dass das keiner vergisst. Ihr alle habt gehört, wie Berelains Männer gestorben sind?« Dannil nickte ruckartig, einige der anderen scharrten mit den Stiefeln und murmelten wütend vor sich hin. »Nur damit ihr Bescheid wisst. Es gibt keinen Beweis. Noch nicht.« Lern schnaubte verächtlich und die übrigen sahen so freudlos wie Dannil aus. Sie hatten die Leichen gesehen, die Masemas Anhänger zurückgelassen hatten.

Der Schnee fiel nun dichter; üppige Flocken sprenkelten die Umhänge der Männer. In wenigen Stunden würde wieder ein heftiger Schneesturm toben, wenn nicht schon früher. Kein Wetter, um die Wärme des Feuers zu verlassen. Kein Wetter, um zu reisen.

»Holt alle vom Hügel runter und bewegt euch auf den Ort des Hinterhalts zu«, befahl er. Das war eine der Entscheidungen, die er auf dem Rückweg getroffen hatte. Er hatte bereits zu lange gezögert, ganz egal, was dort draußen lauerte. Die abtrünnigen Aiel hatten bereits einen viel zu großen Vorsprang, und wären sie in eine andere Richtung als nach Süden oder Osten gereist, hätte ihm in der Zwischenzeit jemand darüber Bericht erstattet. Mittlerweile würden sie von ihm erwarten, dass er ihnen folgte. »Wir reiten, bis ich eine bessere Idee haben, wo es überhaupt hingehen soll, dann werden uns Grady und Neald durch ein Wegetor dorthin bringen. Schickt Männer zu Berelain und Arganda. Ich will, dass die Mayener und Ghealdaner ebenfalls aufbrechen. Man soll Späher aussenden und Männer, die die Flanken begleiten, und sagt ihnen, sie sollen nicht so verbissen nach den Aiel Ausschau halten, dass sie vergessen, dass es auch noch andere gibt, die uns möglicherweise umbringen wollen. Ich will in nichts hineinrennen, von dem ich vorher nichts gewusst habe. Und bittet die Weisen Frauen, in unserer Nähe zu bleiben.« Er traute es Arganda durchaus zu, trotz seiner Befehle zu versuchen, sie unter der Folter zu befragen. Wenn die Weisen Frauen zur Selbstverteidigung einige Ghealdaner töteten, würde der Kerl womöglich trotz des Treueides die Gruppe verlassen und allein weiterreiten. Und Perrin hatte das Gefühl, dass er jeden Kämpfer brauchen würde, den er bekommen konnte. »Sei so energisch, wie du es wagst.«

Dannil nahm die Befehlsflut unbewegt zur Kenntnis, aber bei der letzten Anweisung verzog sich sein Gesicht zu einer wenig erfreuten Grimasse. Er wäre eher dem Frauenzirkel in der Heimat energisch gegenübergetreten. »Wie Ihr befehlt, Lord Perrin«, sagte er steif und führte die Faust an die Stirn, bevor er sich in seinen Sattel schwang und anfing, lautstark Befehle zu geben.

Von Männern umgeben, die zu ihren Pferden eilten, schnappte sich Perrin Kenly Maerins Ärmel, solange der junge Mann erst einen Fuß im Steigbügel hatte, und bat ihn, Traber satteln und bringen zu lassen. Kenly legte mit einem breiten Grinsen die Faust an die Stirn. »Wie Ihr befehlt, Lord Perrin!«

Perrin knurrte innerlich, während Kenly seinen braunen Wallach in Richtung der angeseilten Pferde hinter sich herführte. Der junge Welpe sollte sich keinen Bart wachsen lassen, wenn er sich dauernd dort kratzte. Davon abgesehen sah das Ding sowieso ziemlich kümmerlich aus.

Er ging näher an das lodernde Feuer heran. Faile hatte gesagt, er müsste mit dem ständigen Lord Perrin hier und da und den Verbeugungen und Kratzfüßen leben, und zumeist gelang es ihm auch, es zu ignorieren, aber heute war es nur ein weiterer Tropfen Galle. Er konnte die Kluft spüren, die sich zwischen ihm und den Männern aus der Heimat immer weiter auftat, und er schien der Einzige zu sein, der sie überbrücken wollte. Gill fand ihn, wie er vor sich hinmurmelte, während er die Hände über die Flammen hielt.

»Vergebt mir die Störung, mein Lord«, sagte Gill, verbeugte sich und riss sich für einen Augenblick den Schlapphut herunter, um den mit spärlichem Bewuchs versehenen Kopf zu entblößen. Der Hut wurde sofort wieder auf den Kopf gestülpt, um den Schnee abzuhalten. In der Stadt aufgewachsen litt Gill schlimm unter der Kälte. Der stämmige Mann war keinesfalls unterwürfig — das waren nur wenige Schankwirte aus Caemlyn —, aber er schien ein gewisses Maß an Förmlichkeit zu mögen. Auf jeden Fall hatte er sich gut genug in seine neue Stellung eingearbeitet, um Falle zufrieden zu stellen. »Es ist der junge Tallanvor. Er hat beim ersten Tageslicht sein Pferd gesattelt und ist aufgebrochen. Er sagte, Ihr hättet ihm dazu die Erlaubnis gegeben, falls... falls bis dahin die ersten Suchmannschaften nicht zurück seien, aber ich habe mir meine Gedanken gemacht, weil Ihr sonst keinen gehen lassen wolltet.«

Dieser Narr. Obwohl Tallanvor nie besonders viel über seine Herkunft enthüllt hatte, zeichnete ihn alles als erfahrenen Soldaten aus, aber allein gegen die Aiel war er der Hase, der die Wiesel jagte. Licht, ich will mit ihm reiten! Ich hätte nicht aufBerelain hören sollen mit ihren Hinterhalten! Aber es hatte einen weiteren Hinterhalt gegeben. Argandas Späher würden womöglich auf die gleiche Weise enden. Aber er musste aufbrechen. Er musste es einfach.

»Ja«, sagte er laut. »Ich habe es ihm erlaubt.« Falls er etwas anderes sagte, musste er später womöglich darauf zurückkommen. Lords mussten solche Dinge tun. Falls er den Mann jemals wieder lebendig sah. »Ihr klingt, als wolltet Ihr selbst auf die Jagd gehen.«

»Ich bin ... ich bin Maighdin sehr verbunden, mein Lord«, erwiderte Gill. Stille Würde lag in seiner Stimme, aber auch eine gewisse Steifheit, so als hätte Perrin behauptet, er sei zu alt und fett für eine solche Aufgabe. Auf jeden Fall roch er nach Besorgnis, dornig und schneidig, obwohl sein von der Kälte gerötetes Gesicht unbewegt war. »Nicht wie Tallanvor, natürlich nicht, aber ich fühle mich ihr trotzdem verbunden. Der Lady Faile natürlich auch«, fügte er hastig hinzu. »Es kommt mir nur so vor, als würde ich Maighdin schon mein ganzes Leben lang kennen. Sie verdient etwas Besseres.«

Perrins Seufzer verwandelte sich vor seinem Mund in Nebel. »Ich verstehe, Meister Gill.« Das tat er wirklich. Er wollte selbst jeden retten, aber er wusste, dass er, falls er eine Wahl zu treffen hatte, Faile wählen würde und nicht die anderen. Allein ihre Rettung zählte. Der Geruch nach Pferden lag schwer in der Luft, aber Perrin roch noch jemanden, der gereizt war, und schaute über die Schulter.

Lini stand inmitten des Gewühls und starrte ihn an; sie wich nur weit genug zur Seite, um nicht versehentlich von den Männern angerempelt zu werden, die sich beeilten, unregelmäßige Reihen zu bilden. Eine knochige Hand umklammerte den Saum ihres Umhangs, die andere hielt eine mit Messingnägeln beschlagene Keule, die beinahe so lang wie ihr Arm war. Es war ein Wunder, dass sie Tallanvor nicht begleitet hatte.

»Ihr erfahrt das Neueste, sobald ich es erfahren habe«, versprach er ihr. Ein Grollen in seinem Inneren erinnerte ihn eindringlich an den Eintopf, den er verschmäht hatte. Er vermochte das Hammelfleisch und die Linsen förmlich auf der Zunge zu schmecken. Ein weiteres Gähnen ließ seine Kiefer krachen. »Entschuldigt, Lini«, sagte er, als er wieder sprechen konnte. »Ich habe vergangene Nacht nicht viel Schlaf bekommen. Oder einen Bissen zu essen. Ist irgendetwas da? Ein Stück Brot oder was sonst greifbar ist?«

»Alle haben schon vor langer Zeit gegessen«, fauchte sie. »Die Reste sind weg, die Töpfe sauber gemacht und verpackt. Esst von zu vielen Tellern, und Ihr verdient die Bauchschmerzen, die Euch zerreißen. Vor allem, wenn es nicht Eure Teller sind.« Sie fuhr mit einem unverständlichen Murren fort und schenkte ihm noch ein düsteres Stirnrunzeln, bevor sie fortstapfte und der Welt böse Blicke zuwarf.

»Zu viele Teller?«, murmelte Perrin. »Ich habe nicht mal von einem gegessen, das ist mein Problem und nicht Bauchschmerzen.« Lini bahnte sich an Wagen und Pferden vorbei einen Weg quer durch das Lager. Drei oder vier Männer sprachen sie im Vorbeigehen an, und sie fauchte jeden an, drohte sogar mit der Keule, wenn sie den Wink nicht verstanden. Die Frau musste wegen Maighdin außer sich vor Sorge sein. »Oder war das eines ihrer Sprichwörter? Normalerweise ergeben die mehr Sinn.«

»Äh ... was das angeht, nun ...« Gill riss sich wieder den Hut herunter, schaute hinein und setzte ihn wieder auf. »Ich ... äh, ich muss mich um die Wagen kümmern, mein Lord. Mich vergewissern, dass alles seine Ordnung hat.«

»Ein Blinder kann sehen, dass die Wagen fertig sind«, sagte Perrin. »Was ist los?«

Gill suchte verzweifelt nach einer anderen Ausrede. Als er keine fand, sank er förmlich in sich zusammen. »Ich... ich schätze, Ihr werdet es früher oder später ja doch hören«, murmelte er. »Wisst Ihr, mein Lord ... Lini...« Er holte tief Luft. »Sie ist heute Morgen zum Lager der Mayener gegangen, noch vor Sonnenaufgang, um zu sehen, wie es Euch geht, und ... äh... warum Ihr nicht zurückgekehrt seid. Das Zelt der Ersten war dunkel, aber eine der Dienerinnen war wach, und sie hat Lini gesagt... Sie hat angedeutet... Ich wollte sagen, sie hat... Seht mich nicht so an, mein Lord.«

Perrin verbannte das Knurren aus seinem Gesicht. Das heißt, er versuchte es. In seiner Stimme blieb es. »Verdammt noch mal, Mann, ich habe in diesem Zelt geschlafen. Das ist alles, was ich dort getan habe! Sagt ihr das!«

Ein Hustenkrampf schüttelte den stämmigen Mann.

»Ich?« Gill holte keuchend Luft, als er wieder dazu in der Lage war. »Ihr wollt, dass ich ihr das sage? Sie wird mir einen Scheitel ziehen, wenn ich so etwas auch nur erwähne! Ich glaube, diese Frau wurde in Far Madding während eines Sturms geboren. Vermutlich hat sie dem Donner befohlen, leise zu sein. Und er hat sicher gehorcht.«

»Ihr seid der Shambayan«, beharrte Perrin. »Da geht es doch nicht bloß darum, Wagen im Schnee zu beladen.« Er wollte jemanden beißen!

Gill schien das zu spüren. Er murmelte einen höflichen Gruß, machte eine unbeholfene Verbeugung und eilte mit eng um sich geschlungenem Umhang fort. Und nicht, um Lini zu suchen, da war sich Perrin sicher. Gill befahl über den Haushalt, soweit man ihn so bezeichnen wollte, aber nicht ihr. Niemals. Niemand außer Faile gab Lini Befehle.

Mürrisch sah er zu, wie die Späher durch das Schneegestöber ritten; zehn Mann musterten bereits die Bäume, bevor sie außer Sicht der Wagen waren. Licht, Frauen würden alles über einen Mann glauben, solange es nur etwas Schlechtes war. Und je schlimmer es war, umso mehr Gesprächsstoff hatten sie. Er hatte geglaubt, sich nur um Rosene und Nana Sorgen machen zu müssen. Vermutlich hatte es Lini sofort nach ihrer Rückkehr Breane erzählt, Failes anderer Dienerin, und mittlerweile dürfte sie es allen Frauen im Lager weitererzählt haben. Bei den Pferdeknechten und Kutschern gab es eine ganze Menge davon, und da Cairhiener nun mal Cairhiener waren, hatten sie es vermutlich eilig gehabt, den Männern alles brühwarm zu berichten.

In den Zwei Flüssen wurde ein solches Verhalten nicht mit Wohlwollen betrachtet. Hatte man sich erst einen derartigen Ruf erworben, war es nicht leicht, ihn wieder loszuwerden. Plötzlich erschien das Verhalten der Männer, ihm Platz zu machen und das Unbehagen, mit dem sie ihn angesehen hatten, in einem ganz neuen Licht. Nicht zu vergessen Lems Ausspucken. In der Erinnerung wurde Kenlys Lächeln zu einem anzüglichen Grinsen. Das helle und strahlende Feuer, das Faile war, würde es nicht glauben. Natürlich würde sie das nicht. Bestimmt nicht.

Kenly kam durch den Schnee gestolpert und zog Traber und seinen schlanken Wallach hinter sich her. Beide Pferde litten unter der Kälte, sie hatten die Ohren angelegt und die Schwänze eingezogen, und der mausgraue Hengst machte keinerlei Anstalten, Kenlys Tier zu beißen, was er sonst getan hätte.

»Lass gefälligst das Grinsen«, fauchte Perrin und riss Trabers Zügel an sich. Der Junge sah ihn fragend an, dann machte er sich davon, jedoch nicht ohne über die Schulter zu blicken.

Perrin fluchte leise und überprüfte das Zaumzeug des Hengstes. Es war Zeit, Masema zu finden, aber er saß nicht auf. Er versuchte sich davon zu überzeugen, dass es daran lag, dass er müde und hungrig war, dass er sich bloß eine Weile ausruhen und etwas in den Magen bekommen wollte, falls er etwas finden konnte. Er sagte sich das, aber vor seinem inneren Auge sah er wieder verbrannte Bauernhöfe und Leichen, die an den Bäumen am Straßenrand hingen, Männer, Frauen und sogar Kinder. Selbst wenn Rand noch immer in Altara sein sollte, war es ein langer Weg. Ein langer Weg, und er hatte keine andere Wahl. Keine, zu der er sich überwinden konnte.

Er stand da mit der Stirn gegen Trabers Sattel gelehnt, als eine Abordnung der jungen Narren, die sich um Faile geschart hatten, zu ihm trat, fast ein ganzes Dutzend von ihnen. Er richtete sich müde auf und wünschte sich, der Schnee würde sie unter sich begraben.

Selande pflanzte sich neben Traber auf. Die kleine schlanke Frau stemmte die mit grünen Handschuhen bekleideten Hände in die Hüften und legte die Stirn in wütende Falten. Sie schaffte es, im Stehen den Eindruck zu erwecken, dass sie umherstolzierte. Trotz des fallenden Schnees war die eine Seite ihres Umhangs zurückgeworfen, um ihr freien Zugang zu ihrem Schwert zu gewähren, und enthüllte sechs helle Schlitze auf ihrem dunkelblauen Mantel. Alle diese Frauen trugen Männerkleidung und Schwerter, und für gewöhnlich waren sie doppelt so schnell bereit wie die Männer, sie zu benutzen, was eine Menge über sie aussagte. Sie alle —Männer und Frauen — reagierten äußerst empfindlich auf alle anderen und hätten jeden Tag Duelle ausgefochten, hätte Faile dem nicht ein Ende bereitet. Die Männer und Frauen, die Selande begleiteten, rochen alle wütend, mürrisch, trotzig und verdrossen, alles durcheinander; ein Geruch, der unbehaglich in seiner Nase juckte.

»Lord Perrin«, sagte Selande förmlich mit dem entschieden cairhienischen Akzent. »Es werden Vorbereitungen zum Aufbruch getroffen, aber man verweigert uns unsere Pferde. Werdet Ihr Abhilfe schaffen?« Sie ließ es wie eine Forderung klingen.

Sie hatte ihn gesehen, oder? Er wünschte sich, er würde sie nicht sehen. »Aiel gehen zu Fuß«, knurrte er und unterdrückte ein Gähnen; die wütenden Blicke, die ihm das einbrachte, ignorierte er. Er versuchte, nicht länger an Schlaf zu denken. »Wenn ihr nicht gehen wollt, dann fahrt auf den Wagen mit.«

»Das könnt Ihr nicht tun!«, verkündete eine der Frauen aus Tairen hochmütig, die eine Hand am Saum des Umhangs, die andere auf dem Schwertgriff. Medore war hoch gewachsen, mit hellblauen Augen in einem dunklen Gesicht, und auch wenn sie keine Schönheit war, fehlte doch nicht viel dazu. Bei ihrem vollen Busen sahen die dicken, mit roten Streifen versehenen Ärmel ihres Mantels seltsam aus. »Rotschwinge ist mein Lieblingspferd! Man wird sie mir nicht vorenthalten!«

»Das dritte Mal«, sagte Selande geheimnisvoll. »Wenn wir heute Abend lagern, werden wir über Euer Toh sprechen, Medore Damara.«

Angeblich war Medores Vater ein alternder Mann, der sich schon vor Jahren auf seine Landgüter zurückgezogen hatte, dennoch war Astoril noch immer der Hochlord. Zog man das in Betracht, stellte das seine Tochter weit über Selande, die in Cairhien nur eine niedere Adlige war. Doch Medore schluckte schwer, und ihre Augen weiteten sich, bis sie aussah, als würde sie damit rechnen, bei lebendigem Leib gehäutet zu werden.

Plötzlich konnte Perrin diese Narren und ihr Getue aus Aiel-Bräuchen und hochnäsigem adligem Gehabe nicht länger ertragen. »Wann habt ihr angefangen, für meine Frau zu spionieren?«, verlangte er zu wissen. Sie hätten nicht stärker erstarren können, wären ihre Rückgrate eingefroren.

»Wir erledigen derartige kleine Aufträge, wenn Lady Falle sie gelegentlich von uns erbittet«, sagte Selande nach einem langen Augenblick mit wohl überlegten Worten. Ihr Geruch verriet starke Vorsicht. Der ganze Haufen roch wie Füchse, die sich fragten, ob ein Maulwurf ihren Bau übernommen hatte.

»Ist meine Frau wirklich auf die Jagd gegangen, Selande?«, fragte er hitzig. »Das wäre das erste Mal gewesen.« Zorn wallte in ihm auf, die Ereignisse des Tages fachten die Flammen noch zusätzlich an. Er stieß Traber mit einer Hand zurück und trat einen Schritt näher auf die Frau zu, bis er sie überragte. Der Hengst warf den Kopf in die Höhe; er spürte seine Stimmung. Perrin fasste die Zügel so fest, dass die Faust in dem Kampfhandschuh schmerzte. »Oder ist sie ausgeritten, um einen von euch zu treffen, der gerade aus Abila kam? Ist sie wegen eurer verfluchten Herumschnüffelei entführt worden?«

Das ergab keinen Sinn, und das wusste er auch, sobald die Worte ausgesprochen waren. Falle hätte sich überall mit ihnen verabreden können. Und sie hätte niemals ein Treffen mit ihren Augen-und-Ohren — Licht, ihren Spionen — arrangiert, wenn Berelain in der Nähe war. Es war immer ein Fehler, zu reden, ohne vorher nachzudenken. Er hatte es ihrer Spionage zu verdanken, dass er über Masemas Verbindung mit den Seanchanern Bescheid wusste. Aber er wollte zuschlagen, er musste zuschlagen, und die Männer, die er in Grund und Boden stampfen wollte, waren meilenweit entfernt. Zusammen mit Falle.

Selande wich vor seiner Wut nicht zurück. Ihre Finger öffneten und schlössen sich um den Schwertgriff und da war sie nicht die Einzige. »Wir würden für Lady Faile sterben!«, brüllte sie. »Wir hätten sie niemals in Gefahr gebracht! Wir haben einen Wassereid auf sie geschworen!« Auf Faile und nicht auf dich, fügte ihr Tonfall hinzu.

Er hätte sich entschuldigen sollen. Das war ihm klar. Stattdessen sagte er: »Ihr könnt eure Pferde haben, wenn ihr mir euer Wort gebt, meinen Befehlen zu gehorchen und nicht versucht, irgendetwas Unüberlegtes zu tun.« Das Wort »unüberlegt« war zu schwach für diesen Haufen. Sie waren dazu fähig, allein loszustürmen, sobald sie erfuhren, wo sich Faile befand. Sie brachten es fertig, dass man Faile tötete. »Wenn wir sie finden, entscheide ich, wie sie gerettet wird. Wenn euer Wassereid etwas anderes sagt, macht einen Knoten hinein, sonst mache ich einen Knoten in euch.«

Ihr Stirnrunzeln wurde noch ausgeprägter und ihre Kiefermuskeln traten hervor, aber schließlich sagte Selande: »Ich bin einverstanden!«, als würde man diese Worte aus ihr herausquetschen. Einer der Tairener, ein Bursche mit einer langen Nase namens Carlon, grunzte protestierend, aber Selande hob einen Finger, und er hielt den Mund. Bei seinem schmalen Kinn bedauerte er es vermutlich, sich den Bart abrasiert zu haben. Die kleine Frau hatte den Rest dieser Narren völlig in der Hand, was sie selbst zu keiner geringeren Närrin machte. Ein Wassereid, was kam wohl als Nächstes! Sie wandte den Blick nicht von Perrin. »Wir werden Euch gehorchen, bis Lady Faile zurück ist. Dann gehören wir aber wieder ihr. Und sie kann über unser Toh entscheiden.« Letzteres schien mehr für die anderen bestimmt zu sein als für ihn.

»Das reicht mir.« Perrin versuchte seinen Ton zu mildern, aber seine Stimme klang noch immer rau. »Ich weiß, dass ihr Faile die Treue haltet, ihr alle. Das respektiere ich.« Das war auch schon alles, was er an ihnen respektierte. Das war keine großartige Entschuldigung und genauso nahmen sie es auch auf. Selande grunzte, und das war die einzige Erwiderung, die er erhielt, das und die finsteren Blicke der anderen, als sie losstolzierten. Wenn es denn so sein sollte. Solange sie ihr Wort hielten. Von dem ganzen Haufen hatte noch keiner auch nur einen Tag mit ehrlicher Arbeit verbracht.

Das Lager leerte sich. Die Wagen hatten sich nach Süden in Bewegung gesetzt und rutschten auf ihren Schlitten hinter den Zugpferden her. Die Pferde hinterließen tiefe Spuren, aber die Schlitten machten nur oberflächliche Furchen, die der fallende Schnee sofort wieder aufzufüllen begann. Die letzten der auf dem Hügel postierten Männer stiegen in ihre Sättel und gesellten sich zu den anderen, die bereits neben den Wagen ritten. Auf der einen Seite ritt die Gruppe der Weisen Frauen vorbei; sogar die Gai'schain, welche die Packpferde führten, saßen im Sattel. Wie energisch sich Dannil auch immer aufzutreten getraut hatte — oder auch nicht, was eher wahrscheinlich war —, anscheinend hatte es gereicht. Verglichen mit der Anmut Seonids und Masuris sahen die Weisen Frauen auf den Pferderücken auffallend unbeholfen aus, wenn auch nicht ganz so schlimm wie die Gai'schain. Die weiß gekleideten Männer und Frauen waren seit dem dritten Tag des Schneefalls geritten, doch sie beugten sich tief über die hohen Sattelknäufe und klammerten sich an Pferdehälsen und Mähnen so fest, als erwarteten sie, beim nächsten Schritt herunterzufallen. Um sie überhaupt auf die Sättel zu bekommen, waren direkte Befehle der Weisen Frauen nötig gewesen, und einige von ihnen rutschten immer noch herunter und gingen zu Fuß, wenn sie sich unbeobachtet fühlten.

Perrin zog sich auf Traber. Er hatte so seine Zweifel, ob er nicht selbst ranterfiel. Aber es war Zeit, diesen Ritt zu unternehmen, den er nicht machen wollte. Er hätte für ein Stück Brot getötet. Oder ein Stück Käse. Oder einen hübschen Hasenbraten.

»Aiel kommen!«, rief jemand von der Spitze der Marschkolonne und alles blieb stehen. Weitere Rufe ertönten und gaben die Neuigkeit weiter, als hätte sie noch nicht jeder bereits gehört, und Männer nahmen ihre Bögen vom Rücken. Kutscher stiegen auf ihre Sitze und schauten voraus oder sprangen zu Boden, um neben ihren Wagen in Deckung zu gehen. Perrin fluchte lautlos und trat Traber in die Flanken.

Vorn an der Spitze saßen Dannil und die beiden Männer mit den verfluchten Flaggen noch immer im Sattel, aber etwa dreißig Mann waren abgesessen, hatten die Schutzhüllen von den Bogen gezogen und Pfeile aufgelegt. Die Männer, die für die Abgesessenen die Zügel hielten, drängten sich zusammen, zeigten in die Ferne und versuchten, einen klaren Blick zu erhäschen. Grady und Neald waren ebenfalls da und schauten angestrengt nach vorn, saßen dabei aber ganz ruhig auf ihren Pferden. Alle anderen stanken nach Aufregung. Die Asha'man rochen bloß ... bereit.

Perrin konnte bereits besser erkennen, worauf die anderen zwischen den Bäumen hindurch starrten. Zehn verschleierte Aiel liefen durch den fallenden Schnee auf sie zu, einer von ihnen führte ein weißes Pferd am Zügel. Ein Stück hinter ihnen ritten drei Männer mit Umhängen und hochgeschlagenen Kapuzen. Etwas an der Art und Weise, wie sich die Aiel bewegten, schien merkwürdig zu sein. Und auf dem Sattel des weißen Pferdes war ein Bündel festgeschnallt. Eine Faust ergriff Perrins Herz und drückte zu, bis er erkannte, dass es nicht groß genug war, um eine Leiche sein zu können.

»Nehmt die Bogen runter«, befahl er. »Das ist Alliandres Wallach. Es müssen unsere Leute sein. Seht ihr denn nicht, dass es sich bei den Aiel nur um Töchter handelt?« Nicht eine der Gestalten war groß genug, um ein Aielmann zu sein.

»Ich kann kaum erkennen, dass es überhaupt Aiel sind«, murmelte Dannil und warf ihm einen verstohlenen Blick zu. Sie alle nahmen es als gegeben hin, dass seine Augen gut waren, sie waren sogar stolz darauf —oder waren es zumindest früher gewesen —, aber er versuchte ihnen vorzuenthalten, wie gut sie tatsächlich waren. Aber in diesem Augenblick war ihm das egal.

»Es sind unsere«, sagte er zu Dannil. »Jeder bleibt an seinem Platz.«

Er ritt langsam los, den Rückkehrern entgegen. Die Töchter nahmen die Schleier ab, als er sich ihnen näherte. In einer der tiefen Kapuzen der Berittenen erkannte er Füren Alharras schwarzes Gesicht. Also handelte es sich um die drei Behüter; es war offensichtlich, dass sie gemeinsam zurückkehrten. Ihre Pferde sahen so mitgenommen aus, wie er sich fühlte, der Erschöpfung nahe. Er wollte Traber zum Galopp zwingen, wollte ihren Bericht hören. Er fürchtete ihn. Raben würden sich über die Toten hergemacht haben, und Füchse, und vielleicht Maulwürfe, und wer vermochte beim Licht schon zu sagen, was noch alles. Vielleicht glaubten sie, ihm Leid zu ersparen, wenn sie ihren Fund nicht mitbrachten. Nein! Faile musste am Leben sein. Er versuchte, sich auf diesen Gedanken zu konzentrieren, aber es tat weh, als würde er mit der bloßen Hand eine scharfe Klinge umklammern.

Er stieg vor ihnen vom Pferd, stolperte und musste sich am Sattel festhalten, um nicht zu stürzen. Rings um den Schmerz, den es ihn kostete, an diesem einen Gedanken festzuhalten, war alles wie betäubt. Sie musste am Leben sein! Aus irgendeinem Grund nahmen kleine Details große Ausmaße an. Auf dem aufwendig gearbeiteten Sattel war nicht ein großes Bündel festgeschnallt, sondern mehrere kleine, die wie zusammengesuchte Lumpen aussahen. Die Töchter trugen primitive Schneeschuhe, die sie aus Schlingpflanzen und biegsamen Kiefernästen gemacht hatten, an denen noch die Nadeln hingen. Das musste der Grund dafür sein, warum es so aussah, als würden sie sich merkwürdig bewegen. Vermutlich hatte Jondyn ihnen gezeigt, wie man sie herstellte. Er versuchte sich zu konzentrieren. Sein Herz pochte so stark, als wollte es aus seinem Brustkorb springen.

Sulin nahm Speere und den Rundschild in eine Hand und nahm eines der kleinen Kleiderbündel vom Sattel, bevor sie vor ihn hintrat. Die rosafarbene Narbe auf ihrer lederhäutigen Wange verzog sich, als sie lächelte. »Gute Neuigkeiten, Perrin Aybara«, sagte sie leise und reichte ihm den dunkelblauen Stoff. »Eure Frau lebt.« Alharra wechselte einen Blick mit Seonids anderem Behüter Teryl Wynter, der die Stirn runzelte. Rovair Kirklin, Masuris Mann, starrte mit steinerner Miene geradeaus. Es war so offensichtlich wie Wynters gekräuselter Schnurrbart, dass sie keineswegs davon überzeugt waren, dass es sich um gute Neuigkeiten handelte. »Die anderen sind weitergegangen, um zu sehen, was sie noch herausfinden können«, fuhr sie fort. »Obwohl wir bereits genug merkwürdige Dinge entdeckt haben.«

Perrin faltete das Bündel in seinen Händen auseinander. Es handelte sich um Failes Gewand, das an der Vorderseite und entlang der Ärmel aufgeschlitzt worden war. Er nahm einen tiefen Atemzug und sog Failes Duft in sich ein, den schwachen Hauch ihrer nach Blumen duftenden Seife, eine Spur ihres süßen Parfüms, aber vor allem den Duft, der sie als Ganzes ausmachte. Und kein Anzeichen von Blut. Die restlichen Töchter versammelten sich um ihn, in der Hauptsache ältere Frauen mit harten Gesichtern — wenn auch nicht so hart wie Sulins. Die Behüter stiegen ab; ihnen war nicht anzumerken, dass sie die ganze Nacht im Sattel gesessen hatten, aber sie blieben hinter den Töchtern stehen.

»Alle Männer wurden getötet«, sagte die drahtige Frau, »aber den gefundenen Kleidern nach zu urteilen hat man Alliandre Kigarin, Maighdin Dorlain, Lacile Aldorwin, Arrela Shiego und zwei andere zu Gai'schain gemacht.« Die anderen beiden mussten Bain und Chiad sein; man hätte sie beschämt, wenn man in einem Atemzug ihre Namen genannt und erwähnt hätte, dass sie nun Gefangene waren. Er hatte etwas über die Aiel gelernt. »Das verstößt gegen die Sitten, aber es beschützt sie.« Wynter runzelte zweifelnd die Stirn, dann versuchte er es zu verbergen, indem er seine Kapuze zurechtzupfte.

Die sauberen Schnitte hatten Ähnlichkeit mit denen, die man machte, wenn man ein Tier häutete. Plötzlich traf Perrin die Erkenntnis wie ein Blitz. Jemand hatte Faile die Kleider vom Leib geschnitten! Seine Stimme zitterte. »Sie haben nur die Frauen mitgenommen?«

Eine pausbäckige junge Tochter namens Briain schüttelte den Kopf. »Ich glaube, man wollte drei Männer auch zu Gai'schain machen, aber sie kämpften zu erbittert und wurden mit Speeren oder Messern getötet. Der Rest starb durch Pfeile.«

»Das ist so nicht richtig, Perrin Aybara«, beeilte sich Elienda zu sagen, sie klang schockiert. Sie war eine große Frau mit breiten Schultern, die es schaffte, beinahe mütterlich auszusehen, aber er hatte zugesehen, wie sie einen Mann mit der Faust niederschlug. »Einen Gai'schain zu verletzen ist so, als würde man ein Kind verletzen oder einen Schmied. Es war falsch, Feuchtländer gefangen zu nehmen, aber ich kann nicht glauben, dass sie die Traditionen so weit brechen werden. Ich bin sicher, man wird sie nicht einmal bestrafen, wenn sie unterwürfig genug sind, bis man sie zurückholt. Es gibt andere, die ihnen zeigen werden, wie man das macht.« Andere; damit waren wieder Bain und Chiad gemeint.

»In welche Richtung sind sie gezogen?«, fragte Perrin. Konnte Faile unterwürfig sein? Er konnte es sich nicht vorstellen. Aber sollte sie es ruhig versuchen, bis er sie gefunden hatte.

»Ziemlich genau nach Süden«, erwiderte Sulin. »Nachdem der Schnee ihre Spuren verbarg, entdeckte Jondyn Barran andere Spuren, denen die anderen folgen. Ich glaube ihm. Er sieht so viel wie Elyas Machera. Es gibt viel zu sehen.« Sie schob ihre Speere hinter den Bogenköcher auf ihrem Rücken und hängte den Rundschild an den Griff ihres schweren Gürtelmessers. Ihre Finger blitzten in der Fingersprache auf und Elienda löste ein zweites, größeres Bündel vom Sattel und gab es ihr. »Dort sind viele Menschen unterwegs, Perrin Aybara, und seltsame Dinge geschehen. Ich glaube, Ihr müsst Euch das hier zuerst ansehen.« Sulin entfaltete ein weiteres Gewand, es war grün. Er glaubte, es an Alliandre gesehen zu haben. »Die haben wir an der Stelle gefunden, an der Eure Frau geraubt wurde.« In dem Stoff waren vierzig oder fünfzig Aiel-Pfeile eingewickelt. Die Schäfte wiesen dunkle Flecken auf und er roch getrocknetes Blut.

»Taardad«, sagte Sulin, wählte einen Pfeil und warf ihn sofort zu Boden. »Miagoma.« Sie warf zwei weitere zur Seite. »Goshien.« Bei der Erwähnung des Namens zog sie eine Grimasse; sie war eine Goshien. Sie machte weiter und nannte einen Clan nach dem anderen, mit Ausnahme der Shaido, bis ein halbes Dutzend Pfeile um sie herum verstreut lagen. Sie hielt das zerschnittene Gewand mit den übrigen Pfeilen mit beiden Händen hoch und warf es dann zu Boden. »Shaido«, sagte sie bedeutungsvoll.

Die ganze Zeit über hatte Perrin Failes Gewand an die Brust gedrückt gehalten — ihr Duft linderte den Schmerz in seinem Herzen und machte ihn zugleich schlimmer —, aber nun sah er die am Boden liegenden Pfeile stirnrunzelnd an. Einige waren bereits von frisch gefallenem Schnee bedeckt worden. »Zu viele Shaido«, sagte er schließlich. Sie hätten alle fünfhundert Meilen entfernt oben am Brudermörders Dolch eingeschlossen sein müssen. Aber wenn einige ihrer Weisen Frauen das Schnelle Reisen erlernt hatten... Vielleicht auch einer der Verlorenen ... Licht, seine Gedanken rannten in alle Richtungen, als wäre er ein Narr — was sollten die Verlorenen denn damit zu tun haben? —, wo er doch klar denken musste. Sein Verstand war genauso müde wie sein Körper. »Die anderen sind Männer, die Rand nicht als den Car'a'carn akzeptieren wollen.« Vor seinem inneren Auge blitzten diese verfluchten Farben auf. Ihn interessierte nur Falle. »Sie haben sich den Shaido angeschlossen.« Einige der Töchter wandten den Blick ab. Elienda starrte ihn an. Sie wussten, dass einige genau das getan hatten, aber es gehörte zu den Dingen, die sie nicht gern laut ausgesprochen hörten. »Wie viele sind es, was schätzt Ihr? Doch wohl nicht der ganze Clan?« Falls die Shaido in beträchtlicher Zahl hier waren, hätte es mehr als nur Gerüchte über gelegentliche Überfälle gegeben. Trotz all seiner anderen Sorgen würde ganz Amadicia Bescheid wissen.

»Jedenfalls genug, um Ärger zu machen«, murmelte Wynter leise. Perrin sollte es nicht hören.

Sulin griff zwischen die auf dem verzierten Sattel festgebundenen Bündel und zog eine mit einem Cadin'sor bekleidete Stoffpuppe hervor. »Wir wollten gerade umkehren, etwa vierzig Meilen von hier entfernt, da hat Elyas Machera das hier gefunden.« Sie schüttelte den Kopf und einen Augenblick lang nahmen sowohl ihre Stimme wie auch ihr Geruch einen überraschten Ausdruck an. »Er sagte, er hätte sie unter dem Schnee gerochen. Er und Jondyn Barran fanden Schrammen an den Bäumen, die ihrer Meinung nach von Lastkarren verursacht wurden. Sehr vielen Lastkarren. Wenn Kinder dabei sind... ich glaube, es könnte eine ganze Septime sein, Perrin Aybara. Vielleicht sogar mehr als nur eine. Selbst eine einzige Septime umfasst mindestens tausend Speere, wenn nötig sogar noch mehr. Außer dem Schmied wird jeder Mann zum Speer greifen. Sie sind im Süden, uns Tage voraus. Vielleicht sogar mehrere Tage, bei diesem Schnee ist das schwer zu sagen. Vermutlich werden die Entführer Eurer Frau sich ihnen anschließen.«

»Dieser Schmied hier hat einen Speer ergriffen«, murmelte Perrin. Eintausend. Vielleicht mehr. Wenn man die Beflügelten Wachen und Argandas Männer hinzuzählte, verfügte er über zweitausend. Da es um Aiel ging, waren bei diesem Kräfteverhältnis die Shaido im Vorteil. Er strich mit dem Finger über die Puppe in Sulins sehniger Hand. Ob wohl ein Shaido-Kind wegen des Verlusts seiner Puppe weinte? »Wir gehen nach Süden.«

Er wandte sich ab und wollte auf Traber aufsitzen, als Sulin seinen Arm berührte und ihn davon abhielt. »Ich sagte Euch, dass wir auch andere Dinge sahen. Zweimal fand Elyas Machera unter dem Schnee Pferdemist und Lagerfeuer. Viele Pferde und viele Feuer.«

»Tausende«, warf Alharra ein. Seine schwarzen Augen erwiderten Perrins Blick vollkommen ruhig und seine Stimme klang ganz sachlich. »Fünf, vielleicht auch zehn oder mehr, genau kann man das nicht sagen. Aber Soldatenlager. Meiner Meinung nach waren es an beiden Stellen dieselben Soldaten. Machera und Barran sind ebenfalls dieser Ansicht. Wer auch immer das ist, sie sind ebenfalls nach Süden unterwegs. Vielleicht haben sie nichts mit den Aiel zu tun, aber sie könnten ihnen folgen.«

Sulin bedachte den Behüter mit einem ungeduldigen Stirnrunzeln und fuhr sogleich fort, als hätte sie seine Unterbrechung nicht zur Kenntnis genommen. »Dreimal sahen wir fliegende Kreaturen, wie sie Euren Worten zufolge die Seanchaner benutzen, gewaltige Wesen mit Flügeln und Menschen, die auf ihren Rücken ritten. Und zweimal entdeckten wir Spuren wie diese hier.« Sie bückte sich, nahm einen der Pfeile und malte eine runde Form in den Schnee, der an eine große Bärentatze erinnerte, jedoch sechs Zehen aufwies, die länger als die Finger eines Mannes waren. »Manchmal zeigte es Krallen«, sagte sie und zeichnete sie ein. Sie waren länger als selbst die eines großen Bären in den Verschleierten Bergen. »Es hat einen langen Schritt. Ich glaube, es kann sehr schnell rennen. Wisst Ihr, was das ist?«

Das tat er nicht — abgesehen von den Raubkatzen bei den Zwei Flüssen hatte er noch nie von einer Kreatur mit sechs Zehen gehört; er war überrascht gewesen, als er erfuhr, dass die Katzen anderenorts nur fünf hatten —, aber er konnte es sich denken. »Ein anderes Tier aus Seanchan.« Also waren außer den Shaido auch Seanchaner nach Süden unterwegs und offenbar Weißmäntel. Oder ein seanchanisches Heer. Es konnte niemand anders sein. Er vertraute Balwers Informationen. »Wir gehen trotzdem nach Süden.« Die Töchter starrten ihn an, als hätte er verkündet, es würde schneien.

Er zog sich auf Trabers Sattel und ritt zum Tross zurück. Die Behüter gingen zu Fuß und führten ihre erschöpften Pferde. Die Töchter nahmen Alliandres Wallach mit, als sie im Dauerlauf zu der Stelle liefen, an der sich die Weisen Frauen versammelt hatten. Masuri und Seonid ritten herbei, um ihre Behüter zu empfangen. Er fragte sich, warum keine von ihnen gekommen war, um ihre Nase in die Sache zu stecken. Vielleicht war es ganz einfach und sie hatten ihn allein lassen wollen, falls sich die Neuigkeiten als schlecht erwiesen. Vielleicht. Er versuchte alles in seinem Verstand zusammenzusetzen. Die Shaido, wie viele es auch sein mochten. Die Seanchaner. Das berittene Heer, ob es nun Weißmäntel oder Seanchaner waren. Es war wie eines der Puzzlespiele, deren Herstellung Meister Luhan ihm beigebracht hatte, komplizierte Geflechte aus Metall, die man mühelos auseinander und wieder zusammenschieben konnte, wenn man nur wusste wie. Aber sein Kopf fühlte sich wie benebelt an, er griff nach Stücken, die nirgendwo zusammenpassten.

Die Männer von den Zwei Flüssen saßen wieder in ihren Sätteln, als er eintraf. Diejenigen von ihnen, die abgestiegen und ihre Bögen schussbereit gemacht hatten, sahen etwas beschämt aus. Sie alle betrachteten ihn unbehaglich und zögerlich.

»Sie lebt«, sagte er, und es war, als würde jeder von ihnen wieder anfangen zu atmen. Sie nahmen die restlichen Neuigkeiten mit einer seltsamen Teilnahmslosigkeit auf, manche nickten sogar, als hätten sie nichts anderes erwartet.

»Wäre nicht das erste Mal, dass wir einer Übermacht gegenübertreten«, bemerkte Dannil. »Was sollen wir tun, mein Lord?«

Perrin zog eine Grimasse. Der Mann war noch immer so steif wie eine Eiche. »Für den Anfang reisen wir vierzig Meilen nach Süden. Danach werde ich weitersehen. Neald, Ihr geht voraus und findet Elyas und die anderen. Sagt ihnen, was ich vorhabe. Bis Ihr sie erreicht habt, werden sie ein ganzes Stück weiter sein. Und passt auf Euch auf. Ihr könnt nicht gegen zehn oder ein Dutzend Weise Frauen kämpfen.« Eine ganze Septime würde mindestens so viele Frauen haben, die die Macht lenken konnten. Und wenn es mehr als nur eine war? Diesen Sumpf würde er überqueren, wenn er davor stand.

Neald nickte, bevor er seinen Wallach in Richtung Lager zurücklenkte, dessen Gelände er bereits seiner Erinnerung anvertraut hatte. Nun mussten nur noch ein paar Befehle gegeben werden. Reiter mussten ausgeschickt werden, um die Mayener und Ghealdaner zu finden, die so reisten, wie sie lagerten — voneinander getrennt. Grady glaubte, sich das Gelände vor Ort einprägen zu können, also brauchten nicht alle wieder umkehren und Neald folgen. Und damit blieb nur noch eines zu erledigen.

»Dannil, ich muss Masema finden«, sagte Perrin. »Oder zumindest jemanden, der ihm eine Botschaft überbringt. Ich werde nicht lange fort sein.«

»Wenn Ihr Euch allein unter diesen Abschaum begebt, mein Lord, werdet Ihr Glück brauchen«, erwiderte Dannil. »Ich habe gehört, wie sich einige von ihnen über Euch unterhalten haben. Sie sagten, Ihr seid Schattengezücht, wegen Eurer Augen.« Sein Blick begegnete dem aus Perrins goldenen Augen und schaute wieder weg. »Sie sagten, der Wiedergeborene Drache hätte Euch gezähmt, aber Ihr wäret noch immer Schattengezücht. Ihr solltet ein paar Dutzend Männer mitnehmen, die Euch den Rücken freihalten.«

Perrin zögerte, tätschelte Trabers Hals. Ein paar Dutzend Männer würden nicht ausreichen, falls Masemas Leute ihn tatsächlich für Schattengezücht hielten und entschieden, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Alle Männer von den Zwei Flüssen würden möglicherweise nicht ausreichen. Vielleicht musste er Masema gar nicht Bescheid geben; sollte er es doch allein herausfinden.

Da ertönte von den Bäumen im Westen das Trillern einer Blaumeise, das nur er mit seinem scharfen Gehör wahrnehmen konnte, dem im nächsten Augenblick ein zweites folgte, das jeder hören konnte, und die Entscheidung war ihm abgenommen worden. Davon war er überzeugt, und er fragte sich, ob das damit zu hin hatte, dass er Ta'veren war. Er lenkte Traber herum und wartete.

Die Männer von den Zwei Flüssen, die diesen besonderen Vogelruf aus ihrer Heimat vernahmen, wussten, was das zu bedeuten hatte. Männer kamen, mehr als eine Hand voll, und sie hegten nicht unbedingt friedliche Absichten. Bei Freunden hätte ein Fink getrillert, und wären sie eindeutig feindlich gesinnt, wäre der Alarmruf des Spottvogels erklungen. Diesmal verhielten sie sich geschickter. Soweit es Perrin sehen konnte, stieg entlang der Westseite der Kolonne jeder zweite Mann ab und gab dem daneben befindlichen Reiter die Zügel, bevor er den Bogen bereitmachte.

Die Fremden, die hinter den vereinzelt stehenden Bäumen hervorkamen, formierten sich zu einer Reihe, um den Eindruck zu verstärken, es würde sich bei ihnen um viele handeln. Es waren etwa zweihundert, und zwei Männer ritten ihnen voraus, aber ihr langsamer Vorstoß erschien unheilvoll. Die Hälfte von ihnen hatte Lanzen; sie trugen sie zwar nicht gesenkt, aber doch so, als wären sie bereit, sie sofort unter den Arm zu klemmen. Sie kamen gemächlich heran. Ein paar von ihnen trugen einen Brustpanzer oder einen Helm, selten beides. Doch sie waren besser bewaffnet als die Masse von Masemas Anhängern. Einer der Männer, die vorausritten, war Masema persönlich, sein Fanatikergesicht starrte aus der Kapuze seines Umhangs wie ein tollwütiger Berglöwe aus seiner Höhle. Wie viele dieser Lanzen hatten am gestrigen Morgen wohl noch rote Wimpel getragen?

Masema gebot seinen Männern mit erhobener Hand erst in dem Augenblick Einhalt, als er nur noch wenige Schritte von Perrin entfernt war. Er schob die Kapuze zurück und ließ den Blick über die abgesessenen Männer mit ihren Bogen schweifen. Den Schnee, der auf seinem kahlen Schädel landete, schien er nicht wahrzunehmen. Sein Begleiter, ein größerer Mann mit einem auf den Rücken geschnallten Schwert und einem zweiten, das am Sattelknauf hing, ließ die Kapuze oben, aber Perrin hatte den Eindruck, dass auch sein Kopf kahl geschoren war. Der Mann schaffte es, die Kolonne und Masema mit derselben Intensität zu betrachten. Seine dunklen Augen loderten beinahe so stark wie Masemas. Perrin spielte mit dem Gedanken, ihnen zu sagen, dass ein Langbogen von den Zwei Flüssen auf diese Entfernung einen Pfeil direkt durch einen Brustpanzer und aus dem Rücken des Trägers wieder hinaus schicken würde. Er dachte darüber nach, die Seanchaner zu erwähnen. Diskretion, hatte Berelain ihm geraten. Vielleicht war das unter diesen Umständen sogar eine kluge Sache.

»Ihr wart auf dem Weg zu mir?«, sagte Masema abrupt. Sogar die Stimme des Mannes brodelte vor Intensität. Nichts aus seinem Mund war jemals bedeutungslos. Alles, was er zu sagen hatte, war wichtig. Die blasse dreieckige Narbe auf seiner Wange ließ sein plötzliches Lächeln verzerrt erscheinen. Aber darin hatte sowieso keine Wärme gelegen. »Egal. Ich bin jetzt hier. Wie Ihr mittlerweile zweifellos wisst, weigern sich jene, die dem Lord Drachen folgen — möge das Licht seinen Namen erleuchten! —, zurückgelassen zu werden. Ich kann es nicht von ihnen verlangen. Sie dienen ihm genauso, wie ich es tue.«

Perrin sah eine Feuersbrunst, die aus Amadicia nach Altara und vielleicht sogar noch weiter hinübersprang und Tod und Verderben mit sich brachte. Er holte tief Luft und sog die Kälte in seine Lungen. Falle war wichtiger als alles andere. Alles! Wenn er dafür zu Asche verbrennen sollte, dann sollte es eben so sein. »Führt Eure Männer nach Osten.« Er war erstaunt, wie beherrscht seine Stimme klang. »Ich werde Euch einholen, sobald ich kann. Meine Frau wurde von Aiel entführt, und ich reise nach Süden, um sie zurückzuholen.« Zum ersten Mal sah er einen überraschten Masema.

»Aiel? Also ist das mehr als ein Gerücht?« Er betrachtete die Weisen Frauen, die sich auf der anderen Seite der Kolonne befanden, mit einem Stirnrunzeln. »Nach Süden, sagt Ihr?« Er faltete die behandschuhten Hände auf dem Sattelknauf und wandte seine ungeteilte Aufmerksamkeit Perrin zu. Der Mann stank nach Wahnsinn; Perrin konnte in seinem Geruch nichts anderes als Wahnsinn entdecken. »Ich werde Euch begleiten«, sagte Masema schließlich, als hätte er eine Entscheidung getroffen. Seltsam, er hatte es so eilig gehabt, ohne Verzögerung zu Rand zu stoßen; zumindest solange er nicht mit der Macht in Berührung kommen musste, um dieses Ziel zu erreichen. »Alle, die dem Wiedergeborenen Drachen folgen — möge das Licht seinen Namen erleuchten! —, werden mitkommen. Die Aiel-Wilden zu töten ist das Werk des Lichts.« Sein flackernder Blick huschte wieder zu den Weisen Frauen herüber und sein Lächeln war noch kälter als zuvor.

»Ich weiß die Hilfe zu schätzen«, log Perrin. Dieser Abschaum würde nutzlos gegen Aiel sein. Aber sie zählten Tausende. Und sie hatten ganze Armeen aufgehalten, wenn auch keine Armeen der Aiel. Ein Stück von dem Puzzlespiel in seinem Kopf fügte sich an seine Stelle. Er war müde genug, um auf der Stelle umzukippen, daher konnte er nicht genau sagen, wie er darauf kam, nur dass dieses Teil plötzlich passte. Und auf keinen Fall würde es sich so abspielen. »Sie haben einen großen Vorsprung. Ich werde ein Wegetor erschaffen, die Eine Macht benutzen, um sie einzuholen. Ich weiß, wie Ihr darüber denkt.«

Die Männer hinter Masema fingen an, unbehaglich zu murmeln; sie betrachteten einander und fingerten an den Waffen herum. Perrin schnappte gemurmelte Verwünschungen auf, Worte wie »Gelbauge« und »Schattengezücht«. Der zweite kahl geschorene Mann starrte Perrin an, als hätte er gerade eine blasphemische Bemerkung gemacht, und versuchte ihn mit Blicken zu durchdringen.

»Er würde trauern, wenn Eurer Frau ein Leid geschähe«, sagte der Wahnsinnige schließlich. Die Betonung benannte Rand so klar, als wäre der Name selbst gefallen, da Masema nicht erlaubte, dass er ausgesprochen wurde. »Es wird eine Ausnahme erfolgen... in diesem ganz besonderen Fall. Nur damit Ihr Eure Frau findet, weil Ihr sein Freund seid. Nur darum.« Er sprach ganz ruhig — für seine Verhältnisse —, aber in seinen tiefliegenden Augen schienen dunkle Flammen zu lodern und sein Gesicht war vor unerklärlicher Wut verzerrt.

Perrin öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Nachdem Masema gesagt hatte, was er gerade gesagt hatte, würde die Sonne vermutlich im Westen aufgehen. Und plötzlich kam ihm der Gedanke, dass Faile bei den Shaido möglicherweise sicherer war als er hier und jetzt.

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