27 Königinnen und Könige zu überraschen

Sie konnte natürlich nicht einfach verkünden, dass sie ging; das wäre zu einfach gewesen.

»Das ist nicht klug, Schwester«, sagte Aviendha unheilvoll, während Merilille loseilte, um sich frisch zu machen. Und wie sie sich beeilte; die Graue schien schon Ausschau nach dem Meervolk zu halten, bevor sie die Wohnzimmertür erreicht hatte. Wenn eine Schwester von Elaynes Stellung sagte, geh, dann ging Merilille. Elayne saß an ihrem Schreibpult, und Aviendha stand über sie gebeugt, die Arme verschränkt und das Schultertuch so um den Kopf geschlungen, dass sie wie eine Weise Frau aussah. »Das ist sogar alles andere als klug.«

»Klug?«, knurrte Birgitte und stemmte die Fäuste in die Hüften. »Klug? Das Mädchen wurde nicht wissen, was ›klug‹ ist, wenn es sie in die Nase beißt! Warum diese Eile? Lass Merilille tun, was diese Grauen am besten können, soll sie eine Unterredung in ein paar Tagen oder auch Wochen arrangieren. Königinnen hassen es, überrascht zu werden, und Könige verabscheuen es geradezu. Glaubt mir, ich weiß es aus eigener Erfahrung. Sie finden eine Möglichkeit, es dich bereuen zu lassen.« Der Behüterbund spiegelte ihre Wut und Enttäuschung wider.

»Ich will sie ja überraschen, Birgitte. Vielleicht hilft es mir ja herauszufinden, was sie alles über mich wissen.« Elayne verzog das Gesicht und schob das vollgekleckerte Blatt zur Seite und nahm ein neues aus dem Papierkästchen aus Rosenholz. Merililles Neuigkeiten hatten ihre Müdigkeit verscheucht, aber in klarer, sauberer Handschrift zu schreiben schien schwierig zu sein. Außerdem musste auch die Formulierung stimmen. Das sollte kein Brief von der Tochter-Erbin von Andor sein, sondern von Elayne Trakand, Aes Sedai der Grünen Ajah. Sie mussten das sehen, was sie wollte.

»Versuch du ihr, Verstand beizubringen, Aviendha«, murmelte Birgitte. »Und falls du es nicht schaffst, sollte ich schon mal damit anfangen, eine halbwegs anständige Eskorte zusammenzustellen.«

»Keine Eskorte, Birgitte. Nur du. Eine Aes Sedai und ihre Behüterin. Und Aviendha natürlich.« Elayne hielt beim Schreiben inne, um ihre Schwester anzulächeln, aber sie erwiderte das Lächeln nicht.

»Ich kenne deinen Mut, Elayne«, sagte Aviendha. »Ich bewundere deinen Mut. Aber selbst Sha'mad Conde weiß, wann es vorsichtig zu sein gilt!« Sie sprach von Vorsicht? Aviendha würde Vorsicht nicht mal dann erkennen, wenn sie sie ... nun, wenn sie sie in die Nase biss!

»Eine Aes Sedai und ihre Behüterin?«, rief Birgitte aus. »Ich habe dir gesagt, dass du nicht länger herumreisen kannst, um Abenteuer zu erleben!«

»Keine Eskorte«, sagte Elayne energisch und tauchte die Feder für den nächsten Versuch ein. »Das ist kein Abenteuer. Es ist nur die Art und Weise, wie es gemacht werden muss.« Birgitte warf die Hände in die Luft und knurrte ein paar Flüche, aber nichts davon war Elayne neu.

Zu ihrer Überraschung hatte Hauptmann Mellar keine Einwände dagegen, sie nicht zu begleiten. Ein Treffen mit vier Herrschern würde kaum so langweilig sein wie mit Kaufleuten, aber er bat darum, bleiben zu können und sich um seine Pflichten zu kümmern, da sie ihn nicht brauchte. Das kam ihr entgegen. Ein Hauptmann der Königlichen Garde würde nur dafür sorgen, dass die Grenzländer sie früher als die Tochter-Erbin betrachteten, als ihr recht war. Ganz zu schweigen davon, dass es Mellar möglicherweise in den Sinn kam, sie lüstern anzugrinsen.

Allerdings wurde Hauptmann Mellars Unbekümmertheit nicht vom Rest ihrer Leibwache geteilt. Eine der Gardistinnen war anscheinend auf dem schnellsten Wege zu Caseille gelaufen, denn die hoch gewachsene Arafelinerin kam in das Wohnzimmer gestürmt, noch während Elayne schrieb, und verlangte, sie mit der ganzen Leibwache zu begleiten. Birgitte musste ihr schließlich befehlen, den Raum zu verlassen, um ihre Proteste zu beenden.

Wenigstens dieses eine Mal schien Birgitte zu begreifen, dass sich Elayne nicht umstimmen lassen würde, darum ging sie mit Caseille, um sich umzuziehen. Nun, genau genommen stapfte sie fluchend davon und knallte die Tür hinter sich zu, aber wenigstens ging sie. Eigentlich hätte man annehmen können, es würde sie freuen, für kurze Zeit den Mantel des Generalhauptmanns ausziehen zu können, aber der Bund hätte genauso gut ein Echo ihrer Flüche sein können. Aviendha fluchte nicht, aber sie machte mit ihren Belehrungen weiter. Aber da alles in Windeseile geschehen musste, hatte Elayne eine Entschuldigung, sie zu ignorieren.

Essande wurde gerufen und fing an, passende Kleidung bereitzulegen, während Elayne hastig ihr Mittagessen etwas früher einnahm. Sie hatte nicht danach geschickt; darum hatte sich offensichtlich Aviendha gekümmert. Anscheinend hatte Monaelle gesagt, dass das Versäumen von Mahlzeiten genauso schlimm war, wie zu viel zu essen. Frau Harfor wurde davon in Kenntnis gesetzt, dass sie sich um die Glasmacher und auch die anderen Delegationen kümmern musste, und sie nickte zustimmend, jedoch nicht, ohne leicht die Stirn zu runzeln. Bevor sie ging, verkündete sie, dass sie Ziegen für den Palast gekauft hatte. Elayne musste Ziegenmilch trinken und zwar eine Menge davon. Careane stöhnte, als sie hörte, dass sie an diesem Abend die Windsucherinnen unterrichten musste, aber wenigstens sparte sie sich eine Bemerkung über Elaynes Speiseplan. Tatsächlich hoffte Elayne, bei Einbruch der Nacht wieder zurück im Palast zu sein, aber sie erwartete auch, so müde zu sein, als hätte sie diesen Unterricht erteilt. Vandene gab ihr auch keine Ratschläge, jedenfalls keine dieser Art. Elayne hatte im Rahmen ihres Schulunterrichts auch die Nationen an der Grenze zur Großen Fäule studiert und ihr Vorhaben mit der weißhaarigen Grünen besprochen, die die Grenzländer gut kannte, dennoch hätte sie Vandene nur zu gern mitgenommen. Jemand, der dort gelebt hatte, würde vielleicht Nuancen sehen, die ihr verborgen blieben. Aber sie wagte es nicht, mehr als nur ein paar hastige Fragen zu stellen, während Essande sie ankleidete, nur um sich ein paar der Dinge wieder ins Gedächtnis zurückzurufen, die Vandene ihr bereits erzählt hatte. Dabei wurde ihr klar, dass sie keine Ermutigung brauchte. Sie fühlte sich so konzentriert wie Birgitte, wenn diese einen Bogen spannte.

Schließlich musste man Reanne von dem Ort holen, an dem sie wieder damit beschäftigt war, einstige Sul'dam davon zu überzeugen, dass auch sie die Macht lenken konnten. Reanne hatte das Gewebe im Stallhof jeden Tag seit Merililles Aufbrach gewoben; sie konnte es mühelos an derselben Stelle im Braem-Wald öffnen. Im Palast gab es keine Karten dieser Gegend, die gut genug waren, dass Merilille die Position der Lager genau bestimmen konnte, und wenn Elayne oder Aviendha das Wegetor woben, öffnete es sich unter Umständen zehn oder noch mehr Meilen weiter von den Lagern entfernt statt auf der kleinen Lichtung, die Reanne kannte. Der Schneefall hatte kurz vor der Rückkehr der Grauen Schwester aufgehört, dennoch würden zehn Meilen in frisch gefallenem Schnee mindestens zwei weitere Stunden Ritt bedeuten. Elayne wollte das schnell erledigt wissen. Schnelligkeit. Jeder musste schnell handeln.

Dem Meervolk blieb die Aufregung, die den Palast erfasste, gewiss nicht verborgen; Gardistinnen, die durch die Gänge liefen und Nachrichten überbrachten oder diese oder jene Person holten, aber Elayne sorgte dafür, dass man ihnen nichts sagte. Angenommen, Zaida wollte mitkommen, so war sie durchaus dazu fähig, eine ihrer Windsucherinnen ein eigenes Wegetor weben zu lassen, falls Elayne sich weigerte, und die Herrin der Wogen war eine Komplikation, die es zu vermeiden galt. Die Frau führte sich schon so auf, als hätte sie genauso viel Recht im Palast zu sein wie Elayne. Eine Zaida, die versuchte, alles an sich zu reißen, konnte ihr Vorhaben genauso sicher ruinieren wie Mellar, der sie lüstern angrinste.

Sich zu beeilen schien außerhalb Essandes Möglichkeiten zu liegen, aber alle anderen arbeiteten mit fliegenden Fingern, und als die Sonne genau im Zenit stand, saß Elayne auf Feuerherz und ritt langsam durch den Schnee im Braem-Wald, fast fünfzig Meilen nördlich von Caemlyn entfernt, rechnete man so, wie die Wildgans flog, aber nur einen Schritt durch ein Wegetor in den dichten Wald aus hohen Kiefern und Zwerglorbeer und Eichen, dessen grauästige Bäume ihre Blätter verloren hatten. Gelegentlich wich der Wald zurück und enthüllte breite, von einem weißen Schneeteppich bedeckte Wiesen, die bis auf die Abdrücke von Merililles galoppierendem Pferd unberührt waren. Merilille war mit dem Brief vorausgeschickt worden, und Elayne, Aviendha und Birgitte waren ihr nach einer Stunde gefolgt, um ihr die nötige Zeit zu verschaffen, die Grenzländer vor ihnen zu erreichen. Die Straße von Caemlyn nach Neu-Braem lag einige Meilen westlich. Sie hätten genauso gut tausend Meilen von menschlichen Siedlungen entfernt sein können.

Für Elayne war das Ankleiden eine genauso ernste Angelegenheit wie die Zusammenstellung einer Rüstung gewesen. Ihr Umhang war für zusätzliche Wärme mit Marderfell gefüttert, aber das Material war dunkelgrüne Wolle, weich und doch dick, und das Reitgewand bestand aus grüner Seide und war schmucklos. Selbst die engsitzenden Reithandschuhe waren aus einfachem dunkelgrünen Leder. Solange keine Schwerter gezogen wurden, war das die Rüstung, in der eine Aes Sedai Herrschern gegenübertrat. Ihr einzig sichtbarer Schmuck war eine kleine Brosche aus Bernstein in Form einer Schildkröte, und falls jemand das merkwürdig finden sollte, war das seine Sache. Keiner ihrer Rivalen verfügte über genügend Möglichkeiten, ein Heer aus Grenzländern als Falle aufzubauen, nicht mal Elaida hätte das gekonnt, aber die zehn Schwestern standen möglicherweise auf ihrer Seite. Zehn Schwestern oder mehr. Sie hatte nicht vor, sich in einem Sack zur Weißen Burg schaffen zu lassen.

»Wir können es bleiben lassen, ohne Toh zu verschulden, Elayne«, sagte Aviendha mit finsterer Miene. Sie trug noch immer ihre Aiel-Kleidung mit der Silberkette und dem schweren Elfenbeinarmband. Ihr stämmiger Brauner war eine Handspanne kleiner als Feuerherz oder Birgittes schlanker Grauer Pfeil und auch viel einfacher zu führen, obwohl sie viel entspannter ritt als früher. Der Sattel sorgte dafür, dass ihre schwarzbestrumpften Beine oberhalb der Knie entblößt waren, aber wenn man von dem um ihren Kopf gewundenen Schultertuch absah, erweckte sie den Eindruck, als sei ihr warm. Im Gegensatz zu Birgitte hatte sie nicht mit ihren Bemühungen aufgehört, Elayne von ihrem Vorhaben abzubringen. »Überraschungen sind ja schön und gut, aber sie werden dich mehr respektieren, wenn sie dir auf halbem Wege entgegenkommen müssen.«

»Ich kann Merilille wohl kaum im Stich lassen«, sagte Elayne geduldiger, als ihr zumute war. Sie fühlte sich zwar nicht länger müde, aber sie fühlte sich auch nicht unbedingt frisch und verspürte nicht die geringste Lust auf eine Diskussion. Aber sie wollte Aviendha nicht anfauchen. »Sie könnte sich wie eine Närrin vorkommen, wenn sie da mit einem Brief steht, der meine Ankunft ankündigt, und ich komme dann gar nicht. Und schlimmer, ich würde mir wie eine Närrin vorkommen.«

»Besser sich wie eine Närrin vorzukommen als eine zu sein«, murmelte Birgitte kaum hörbar. Ihr dunkler Umhang breitete sich hinter ihrem Sattel aus und der kompliziert geflochtene Zopf hing aus der Kapuzenöffnung bis beinahe zur Taille. Diese Kapuze bis zu den Seiten ihres Gesichts hochzuziehen war ihr Zugeständnis an die Kälte und den böigen Wind gewesen, der manchmal frisch gefallenen Schnee wie Federn hochstieben ließ. Sie wollte vermeiden, dass ihre Sicht behindert wurde. Der Verschluss ihres Bogenköchers, der eigentlich die Sehne trocken halten sollte, hing herab, damit sie schnell an den Bogen herankommen konnte. Den Vorschlag, ein Schwert zu tragen, hatte sie mit der gleichen Empörung zurückgewiesen, wie es der Fall gewesen wäre, hätte Elayne Aviendha gebeten, eines zu tragen. Mit dem Bogen kannte sich Birgitte aus, hingegen behauptete sie, nur sich selbst zu verletzen, wenn sie ein Schwert ziehen würde. Zu einer anderen Jahreszeit wäre ihr kurzer grüner Mantel mit dem Wald verschmolzen und ihre locker fallenden Hosen hatten wie durch ein Wunder dieselbe Farbe. Sie war jetzt eine Behüterin, nicht der Generalhauptmann der Königlichen Garde, trotzdem war sie nicht so erfreut über diese Bezeichnung, wie man vielleicht erwartet hätte. Der Bund übermittelte genauso viel Unbehagen wie Aufmerksamkeit.

Elayne seufzte und ihr Atem verwandelte sich in Nebel. »Ihr beiden wisst genau, was ich hier zu erreichen hoffe. Ihr wisst es, seit ich die Entscheidung getroffen habe. Warum behandelt ihr mich plötzlich, als wäre ich aus Glas?«

Die beiden Frauen tauschten an ihr vorbei einen Blick aus, jede wartete darauf, dass die andere den Anfang machte, dann wandten sie die Köpfe und schauten starr geradeaus. Plötzlich wusste Elayne Bescheid.

»Wenn mein Kind geboren ist«, sagte sie trocken, »könnt ihr euch beide als ihre Amme bewerben.« Falls das Kind eine »sie« werden würde. Falls Min das gesagt hatte, war es Aviendhas und Birgittes weingeschwängerten Erinnerungen an diese Nacht entfallen. Möglicherweise würde es besser sein, zuerst einen Sohn zu bekommen, damit sie mit seiner Erziehung beginnen konnte, bevor seine Schwester kam. Doch eine Tochter sicherte die Thronfolge, während ein einzelner Sohn zur Seite geschoben werden würde, und so sehr sie sich auch mehr als nur ein Kind wünschte, es stand nirgendwo geschrieben, dass das geschehen würde. Mochte das Licht dafür sorgen, dass sie von Rand noch mehr Kinder bekam, aber sie musste praktisch denken. »Ich selbst brauche keine Amme mehr.«

Aviendhas von der Sonne verbrannte Wangen wurden vor Verlegenheit noch dunkler. Birgittes Gesichtsausdruck veränderte sich nicht, aber durch den Behüterbund kam die gleiche Empfindung.

Sie ritten langsam und folgten Merililles Spuren fast zwei Stunden lang. Elayne kam gerade zu dem Schluss, dass das erste Lager ganz in der Nähe sein musste, als Birgitte plötzlich den Arm hob und sagte: »Schienarer.« Sie lockerte den Bogen in seinem Köcher. Aufmerksamkeit verschluckte die Verärgerung und alle andere Gefühle in dem Bund. Aviendha berührte den Griff ihres Gürtelmessers, als wollte sie sich vergewissern, dass es da war.

Sie warteten im Schutz der Bäume, abseits von Merililles Spuren, und sowohl die Männer wie auch die Pferde verharrten so reglos, dass Elayne sie beinahe für irgendwelche natürlichen Felsformationen gehalten hätte, bis sie die seltsamen Federbüschel auf ihren Helmen sah. Die Pferde waren nicht gepanzert, wie es bei schienarischer Kavallerie oftmals vorkam, aber die Männer trugen Harnische und Kettenhemden; Schwerter mit langen Griffen hingen an ihren Gürteln oder Sätteln. Viele trugen auch Keulen. Ihre dunklen Augen blinzelten nie. Eines der Pferde wedelte mit dem Schweif und die Bewegung erschien überraschend.

Ein scharfgesichtiger Mann mit rauer Stimme ergriff das Wort, als Elayne und die anderen beiden Frauen vor ihm die Pferde zügelten. Der Federbusch auf seinem Helm sah aus wie schmale Schwingen. »König Easar übersendet Euch die Garantie Eurer Sicherheit, Elayne Sedai, und ich füge die meine noch hinzu. Ich bin Kayen Yokata, Lord von Fal Eisen, und möge der Frieden mich verlassen und die Fäule meine Seele fressen, sollte Euch oder sonst jemandem in Eurer Begleitung in unserem Lager ein Leid geschehen.«

Das war nicht so tröstlich, wie Elayne es sich gewünscht hätte. Diese ganzen Sicherheitsgarantien machten nur deutlich, dass sie zur Debatte gestanden hatten und es vielleicht noch taten. »Braucht eine Aes Sedai Versicherungen von Schienarem?«, fragte sie. Sie begann mit einer Novizinnenübung für Ruhe und wurde sich bewusst, dass sie sie nicht brauchte. Sehr seltsam. »Ihr dürft uns den Weg zeigen, Lord Kayen.« Er nickte bloß und wendete sein Pferd.

Einige Schienarer sahen Aviendha ausdruckslos an, da sie sie als Aiel erkannten, aber die meisten trieben nur ihre Pferde an und schlössen sich ihnen an. Die Stille während des kurzen Ritts wurde nur von den Hufen gebrochen, die den unter dem Neuschnee liegenden Schnee knirschend zertraten. Elayne hatte Recht gehabt. Das schienarische Lager war ganz in der Nähe. Schon Minuten später kamen mit Rüstungen bekleidete Wachposten in Sicht und kurz darauf ritten sie in das Lager.

Das zwischen den Bäumen liegende Heerlager erschien größer, als sie erwartet hatte. Ob sie nun nach links, recht oder geradeaus sah, so weit das Auge reichte, breiteten sich Zelte und Kochfeuer, Halteseile mit angebundenen Pferden und Reihen mit Wagen aus. Soldaten schauten neugierig zu ihnen auf, als sie und ihre Eskorte vorbeiritten, hartgesichtige Männer, deren Köpfe bis auf einen Haarschopf in der Mitte, der manchmal bis zu den Schultern reichte, völlig glatt rasiert waren. Nur wenige trugen Teile ihrer Rüstungen, aber Waffen und Panzer lagen immer in Reichweite. Der Geruch war nicht so schlimm, wie Merüille behauptet hatte, aber der Geruch dessen, was auch immer in den Kesseln vor sich hinkochte, konnte den Gestank von Latrinen und Pferdedung nicht ganz überdecken. Keiner schien zu hungern, obwohl viele sehr schlank waren. Aber es war nicht die Schlankheit von Hunger, sondern die von Männern, die nie besonders dick gewesen waren. Ihr fiel auf, dass über keinem Feuer ein Spieß zu sehen war. Fleisch würde schwerer zu besorgen sein als Getreide, obwohl Korn in dieser Phase des Winters ebenfalls knapp wurde. Gerstensuppe konnte einem Mann nicht dieselbe Kraft wie Fleisch geben. Sie mussten bald weiterziehen; kein Ort konnte vier Heere dieser Größe für lange Zeit ernähren. Sie musste nur dafür sorgen, dass sie in die richtige Richtung zogen.

Natürlich war nicht jeder Mann ein Soldat mit geschorenem Kopf, obwohl die anderen beinahe genauso unbeugsam aussahen. Es gab Wagner, die an Fuhrwerken arbeiteten; Hufschmiede, die Pferden neue Hufeisen anpassten; Wäscherinnen, die in kochenden Kesseln umrührten; Frauen, die nähten, bei denen es sich entweder um Näherinnen oder Ehefrauen handelte. Einem Heer folgten immer viele Menschen, manchmal genauso viele, wie es Soldaten gab. Aber sie entdeckte niemanden, der eine Aes Sedai hätte sein können; natürlich war es unwahrscheinlich, dass sich Schwestern die Ärmel hochkrempelten und mit Holzlöffeln Waschkessel umrührten oder sich hinsetzten und Hosen flickten. Warum blieben sie in ihren Verstecken? Sie widerstand dem Verlangen, die Quelle zu umarmen, durch das an ihrer Brust angesteckte Angreal in Form einer Schildkröte Saidar aufzunehmen. Eine Schlacht nach der anderen und zuerst musste sie für Andor kämpfen.

Kayen stieg vor einem Zelt vom Pferd. Das Zelt war beträchtlich größer als alle anderen und bestand aus hellem Segeltuch mit einem einzigen Spitzkegel. Er half ihr herunter. Er wusste nicht, ob er bei Aviendha und Birgitte das Gleiche tun sollte und zögerte, aber die Behüterin löste sein Dilemma, indem sie anmutig abstieg und die Zügel einem bereitstehenden Soldaten gab, während die Aiel mehr oder weniger vom Sattel fiel. Aviendha hatte ihre Reitfertigkeiten verbessert, aber Aufsitzen und Absteigen bereiteten ihr noch immer Probleme. Sie schaute finster in die Runde, um zu sehen, ob jemand lachte, dann glättete sie die voluminösen Röcke, wickelte das Tuch vom Kopf und drapierte es sich um die Schultern. Birgitte sah zu, wie ihr Pferd fortgeführt wurde, und es hatte den Anschein, als wünschte sie, Bogen und Köcher vom Sattel genommen zu haben. Kayen öffnete einen der Zelteingänge und verbeugte sich.

Mit einem letzten tiefen Atemzug führte Elayne die beiden anderen Frauen hinein. Sie konnte nicht zulassen, dass man sie als Bittstellerin betrachtete. Sie war nicht gekommen, um zu betteln oder um sich zu verteidigen. Es wird Situationen geben, hatte ihr Gareth Bryne als Kind einmal gesagt, in denen Ihr Euch einer Überzahl gegenübersehen werdet, ohne einen Fluchtweg zu haben. Tut immer das, womit Euer Feind am wenigsten rechnet, Elayne. In diesem Fall müsst Ihr angreifen. Sie musste von Anfang an angreifen.

Merilille kam ihr über die Teppiche am Boden entgegengerauscht. Das Lächeln der zierlichen Grauen konnte man nicht unbedingt als erleichtert bezeichnen, aber sie war offensichtlich froh, Elayne zu sehen. Außer ihr waren nur fünf andere Personen anwesend, zwei Frauen und drei Männer, und bei einem der letzteren handelte es sich um einen Diener. Den O-Beinen und dem vernarbten Gesicht nach zu urteilen, war es ein alter Kavallerist, der näher trat und Umhänge und Handschuhe einsammelte — wobei er Aviendha kurz anstarrte —, bevor er sich zu einem einfachen Holztisch zurückzog, auf dem ein silbernes Tablett mit einem hohen Krug und einer Reihe Pokale stand. Die anderen vier Personen herrschten über die Nationen der Grenzländer. Ein paar lehnenlose Faltstühle und vier große Kohlenpfannen mit glühenden Kohlen vervollständigten die Möblierung des Zeltes. Das war nicht die Art von Empfang, die die Tochter-Erbin von Andor erwartet hätte: Höflinge und viele Diener und höfliche Konversation, die erfolgen musste, bevor man sich den ernsten Gesprächen zuwandte, sowie Männer und Frauen, die hinter den Herrschern standen und sie berieten. Was Elayne hier vorfand, war genau das, worauf sie gehofft hatte.

Bevor Merilille den Palast verließ, hatte eine kurze Heilung die dunklen Ringe unter ihren Augen verschwinden lassen, und sie besorgte Elaynes Vorstellung mit einfacher Würde. »Das ist Elayne Trakand von der Grünen Ajah, wie ich Euch sagte.« Das war alles. Elayne hatte genug von Vandene erfahren, um die vier Herrscher voneinander unterscheiden zu können.

»Ich heiße Euch willkommen, Elayne Sedai«, sagte Easar von Schienar. »Möge Euch der Frieden und das Licht gnädig sein.« Er war ein kleiner Mann, kaum größer als sie, der in seinem bronzefarbenen Mantel schlank wirkte und dessen Gesicht trotz des langen weißen Haarschopfes, der eine Seite seines Kopfes bedeckte, keine Falten aufwies. Als sie in seine traurig blickenden Augen sah, rief sie sich in Erinnerung, dass er als weiser Herrscher, erfahrener Diplomat und guter Soldat galt. Dem äußeren Anschein nach war er nichts davon. »Darf ich Euch Wein anbieten? Die Gewürze sind nicht frisch, aber sie haben durch das Alter an Schärfe gewonnen.«

»Ich muss gestehen, als Merilille uns sagte, Ihr würdet heute den ganzen Weg von Caemlyn kommen, hätte ich Ihre Worte angezweifelt, wäre sie keine Aes Sedai.« Ethenielle von Kandor war vielleicht eine halbe Hand größer als Merilille und dick; ihr schwarzes Haar war leicht mit Grau durchsetzt, aber trotz ihres Lächelns hatte sie nichts Mütterliches an sich. Königliche Erhabenheit kleidete sie genauso sehr wie die feine blaue Wolle ihres Gewands. Ihre Augen waren ebenfalls blau; sie blickten klar und ausgeglichen.

»Wir freuen uns, dass Ihr gekommen seid«, sagte Paitar von Arafel mit einer überraschend tiefen, wohlklingenden Stimme, die Elayne irgendwie das Gefühl vermittelte, willkommen zu sein. »Wir haben viel mit Euch zu besprechen.« Vandene hatte gesagt, er sei der hübscheste Mann in allen Grenzländern, und vielleicht war er das auch vor langer Zeit einmal gewesen, aber das Alter hatte tiefe Furchen in sein Gesicht gegraben, und auf seinem Kopf waren nur noch ein paar graue Haare zu sehen. Allerdings war er groß und breitschultrig und er sah stark aus. Und keineswegs wie ein Narr.

Wo die anderen ihre Jahre voller Anmut trugen, prunkte Tenobia von Saldaea mit ihrer Jugend, wenn auch nicht unbedingt mit ihrer Schönheit, wofür nicht zuletzt ihre Adlernase und der breite Mund die Schuld trugen. Ihre schrägstehenden, fast purpurnen Augen, die sich auf einer Höhe mit Elaynes befanden, waren noch der beste Zug an ihr. Wo sich die anderen schlicht kleideten, obwohl sie die Herrscher von Nationen waren, funkelte ihr hellblaues Gewand mit Perlen und Saphiren, und in ihrem Haar trug sie noch mehr Saphire. Für den Hof wäre das durchaus passend gewesen, aber wohl kaum für ein Feldlager. Und was die höfische Höflichkeit betraf... »Beim Licht, Merilille Sedai«, sagte Tenobia schrill und runzelte die Stirn, »ich weiß, dass Ihr die Wahrheit sagt, aber sie sieht mehr wie ein Kind als wie eine Aes Sedai aus. Ihr habt nicht erwähnt, dass sie eine schwarzäugige Aiel mitbringt.«

Easar verzog keine Miene, aber Paitars Lippen pressten sich aufeinander, und Ethenielle ging sogar so weit, Tenobia einen Blick zuzuwerfen, der von einer Mutter hätte kommen können. Einer wütenden, missbilligenden Mutter.

»Schwarz?«, murmelte Aviendha verwirrt. »Meine Augen sind doch nicht schwarz. Bevor ich den Drachenwall überquerte, hatte ich außer bei einem Kesselflicker noch nirgendwo schwarze Augen gesehen.«

»Tenobia, Ihr wisst, dass ich nur die Wahrheit sagen kann, und ich versichere Euch ...«, fing Merilille an.

Elayne brachte sie mit einer Berührung am Arm zum Schweigen. »Es reicht, wenn Ihr wisst, dass ich eine Aes Sedai bin, Tenobia. Das ist meine Schwester, Aviendha aus der Septime der Neun Täler von den Taardad Aiel.« Aviendha lächelte sie an oder vielmehr fletschte die Zähne. »Das ist meine Behüterin, Lady Birgitte Trahelion.« Birgitte machte eine knappe Verbeugung, die ihren blonden Zopf schaukeln ließ.

Die eine Vorstellung rief genauso viele verblüffte Blicke hervor wie die andere — eine Frau der Aiel war ihre Schwester, eine Behüterin? —, aber Tenobia und die anderen herrschten über Länder am Rand der Fäule, wo ge —staltgewordene Albträume im Licht des Tages umgehen konnten und jeder, der sich zu sehr von der Überraschung mitreißen ließ, so gut wie tot war. Aber Elayne ließ ihnen keine Gelegenheit, ihr Gleichgewicht wiederzufinden. Greift an, bevor ihnen klar ist, was Ihr vorhabt, hatte Gareth Bryne gesagt, und greift an, bis Ihr sie in die Flucht schlagt oder ihre Reihen durchbrecht.

»Haben wir die Artigkeiten damit hinter uns gebracht?«, fragte sie und nahm sich vom Tablett des Soldaten einen Pokal, aus dem der Duft gewürzten Weins emporstieg. Eine Welle der Vorsicht strömte durch den Behüterbund, und sie sah, wie Aviendha dem Pokal einen schiefen Blick zuwarf, aber sie hatte nicht vor, davon zu trinken. Sie war nur froh, dass keine von ihnen etwas sagte.

»Nur eine Närrin würde glauben, dass ihr alle den weiten Weg gekommen seid, um Andor zu erobern«, sagte sie, ging zu den Stühlen und setzte sich. Die anderen mochten Herrscher sein, aber das ließ ihnen keine Wahl. Entweder mussten sie ihrem Beispiel folgen oder ihren Rücken ansehen. Beziehungsweise Birgittes Rücken, da sie sich hinter ihr aufstellte. Wie gewöhnlich setzte sich Aviendha auf den Boden und arrangierte ihre Röcke zu einem ordentlichen Fächer. Sie schlössen sich ihr an. »Der Wiedergeborene Drache führt euch her«, fuhr Elayne fort. »Ihr habt diese Audienz mit mir erbeten, weil ich in Falme dabei war. Es stellt sich nur die Frage, warum das für euch so wichtig ist? Glaubt ihr, ich kann euch mehr über die Geschehnisse erzählen, als ihr ohnehin bereits wisst? Das Hörn von Valere wurde geblasen, tote Helden aus den Legenden ritten gegen die seanchanischen Invasoren, und der Wiedergeborene Drache kämpfte am Himmel gegen den Schatten, wo es alle sehen konnten. Wenn ich das weiß, wisst ihr genauso viel wie ich.«

»Audienz?«, fragte Tenobia ungläubig und hielt mitten im Hinsetzen inne. Der Faltstuhl quietschte, als sie sich den Rest einfach fallen ließ. »Keiner hat eine Audienz erbeten! Selbst wenn Ihr bereits auf dem Thron von Andor sitzen würdet...!«

»Lasst uns beim Thema bleiben, Tenobia«, unterbrach Paitar sie freundlich. Er hatte sich nicht gesetzt, sondern war stehen geblieben und trank gelegentlich von seinem Wein. Elayne war froh, dass sie seine Falten sehen konnte. Diese Stimme hätte sonst den Verstand einer Frau verwirren können.

Ethenielle schenkte Tenobia noch einen bösen Blick, während sie Platz nahm, und murmelte etwas vor sich hin. Elayne glaubte, das Wort »Heirat« in einer bedauernden Betonung gehört zu haben, aber das ergab keinen Sinn. Zumindest wandte sie ihre Aufmerksamkeit Elayne zu, sobald sie saß. »Zu einem anderen Zeitpunkt könnte mir Euer Temperament gefallen, Elayne Sedai, aber es macht keinen großen Spaß, in einen Hinterhalt zu geraten, bei dem einer Eurer Verbündeten seine Hand im Spiel hatte.« Tenobia runzelte finster die Stirn, obwohl Ethenielle ihren scharfen Blick nicht in ihre Richtung richtete. »Was in Fahne geschehen ist«, fuhr die Königin von Kandor fort, »ist weniger wichtig als das, was sich daraus ergeben hat. Nein, Paitar, wir müssen ihr sagen, was sie wissen muss, denn sie weiß bereits zu viel. Elayne, Ihr wart in Fahne eine der Gefährtinnen des Wiedergeborenen Drachen. Vielleicht eine Freundin. Ihr habt Recht, wir sind nicht gekommen, um zu erobern. Wir sind gekommen, um den Wiedergeborenen Drachen zu finden. Und wir sind den ganzen Weg marschiert, nur um herausfinden zu müssen, dass keiner seinen derzeitigen Aufenthaltsort kennt. Wisst Ihr, wo er ist?«

Elayne verbarg ihre Erleichterung über die direkte Frage. Würden sie sie für mehr als eine Gefährtin oder Freundin halten, hätten sie sie niemals gestellt. Sie konnte also genauso direkt sein. Greif an und hör nicht mehr damit auf. »Warum wollt Ihr ihn finden? Boten könnten ihm jede beliebige Nachricht zukommen lassen.« Was so gut wie die Frage war, warum sie große Heere mitge —bracht hatten.

Easar hatte sich keinen Wein genommen und er stand mit in die Hüften gestemmten Fäusten da. »Der Krieg ge —gen den Schatten wird entlang der Fäule geführt«, sagte er grimmig. »Die letzte Schlacht wird in der Fäule stattfinden, wenn nicht sogar im Shayol Ghul selbst. Und er ignoriert die Grenzländer und beschäftigt sich mit Gegenden, die seit den Trolloc-Kriegen keinen Myrddraal mehr gesehen haben.«

»Der Car'a'carn entscheidet, wo der Tanz der Speere getanzt wird, Feuchtländer«, höhnte Aviendha. »Wenn Ihr ihm folgt, dann kämpft Ihr dort, wo er es befiehlt.« Keiner sah sie an. Sie starrten alle Elayne an. Keiner machte sich die Bresche zunutze, die Aviendha geboten hatte.

Elayne zwang sich dazu, gleichmäßig zu atmen und erwiderte ihre Blicke, ohne zu blinzeln. Ein Grenzländer-Heer war eine zu aufwendige Falle für Elaida, um Elayne Trakand zu fangen, aber Rand al'Thor, der Wiedergeborene Drache, war ein anderes Kaliber. Merilille rutschte auf ihrem Stuhl herum, aber sie hatte ihre Anweisungen. Ganz egal, wie viele Verträge die Schwester der Grauen ausgehandelt hatte, sobald Elayne das Wort ergriff, hatte sie zu schweigen. Selbstvertrauen floss durch den Bund mit Birgitte. Rand war ein Stein, unleserlich und weit weg. »Ihr kennt die Proklamation der Weißen Burg?«, fragte sie ganz ruhig. Mittlerweile mussten sie sie kennen.

»Die Burg belegt jeden mit einem Bann, der sich dem Wiedergeborenen Drachen ohne ihre Vermittlung nähert«, sagte Paitar genauso ruhig. Nun setzte auch er sich und sah sie ernst an. »Ihr seid eine Aes Sedai. Sicherlich zählt das als das Gleiche.«

»Die Burg mischt sich in alles ein«, murmelte Tenobia. »Nein, Ethenielle, ich werde das sagen! Die ganze Welt weiß, dass die Burg gespalten ist! Folgt Ihr Elaida oder den Rebellen, Elayne?«

»Die Welt weiß selten, was sie zu wissen glaubt«, sagte Merilille mit einer Stimme, die die Temperatur des Zeltes zu senken schien. Die kleine Frau, die losrannte, wenn Elayne es ihr befahl, und kreischte, wenn die Windsucherinnen sie ansahen, saß aufrecht da und schaute Tenobia als Aes Sedai an, und ihr glattes Gesicht war so frostig wie ihr Tonfall. »Die Angelegenheiten der Burg betreffen nur die Aufgenommenen, Tenobia. Wenn Ihr etwas erfahren wollt, bittet darum, dass man Euren Namen in das Novizinnenbuch einträgt, und in zwanzig Jahren werdet Ihr dann vielleicht etwas wissen.«

Ihre Erleuchtete Majestät Tenobia si Bashere Kazadi, Schild des Nordens und Schwert der Fäulnisgrenze, Hohe Herrin von Haus Kazadi, Lady von Shahayni, Asnelle, Kunwar und Ganai, starrte Merilille mit unbändiger Wut an. Und sagte kein Wort. Elaynes Wertschätzung für sie stieg etwas an.

Merililles Ungehorsam störte sie nicht. So musste sie keine Ausflüchte mehr machen und gleichzeitig so tun, als würde sie nur die Wahrheit sagen. Egwene hatte gesagt, sie müssten ihr Leben so führen, als hätten sie bereits die Drei Eide geleistet, und im Augenblick spürte Elayne, welche Belastung dies war. Hier war sie nicht die TochterErbin von Andor, die darum kämpfte, den Thron ihrer Mutter zu beanspruchen. Sie war eine Aes Sedai der Grünen Ajah, die ihre Worte mit Sorgfalt auswählen musste, statt einfach nur das zu verbergen, was ihrem Willen nach verborgen bleiben sollte.

»Ich kann Euch nicht sagen, wo genau er sich aufhält.« Das war die Wahrheit, weil sie ihnen nur die ungefähre Richtung hätte sagen können, irgendwo in Richtung Tear, und sie wusste nicht einmal, wie weit er entfernt war; es war aber auch deshalb die Wahrheit, weil sie ihnen nicht ausreichend vertraute, um ihnen selbst das zu sagen. Sie musste nur darauf achten, was und wie sie es sagte. »Ich weiß, dass er sich dort, wo er ist, eine Zeit lang aufhalten will.« Er hatte sich seit Tagen nicht mehr bewegt; seit er sie verlassen hatte, war es das erste Mal, dass er länger als einen halben Tag an einem Ort geblieben war. »Ich werde Euch sagen, was ich kann, aber nur, wenn Ihr Euch bereit erklärt, innerhalb einer Woche nach Süden zu marschieren. Wenn Ihr noch länger hier bleibt, werden Euch sowohl das Korn wie auch das Fleisch ausgehen. Ich verspreche Euch, dass Ihr auf den Wiedergeborenen Drachen zumarschiert.« Zumindest am Anfang.

Paitar schüttelte den kahlen Kopf. »Ihr wollt, dass wir Andor betreten? Elayne Sedai, oder soll ich Euch jetzt Lady Elayne nennen? Ich wünsche Euch allen Segen des Lichts, was Euren Anspruch auf die Krone Andors betrifft, aber es geht nicht so weit, dass ich Euch meine Männer für Euren Kampf gebe.«

»Elayne Sedai und Lady Elayne sind ein und dieselbe Person«, verkündete sie. »Ich bitte Euch nicht, für mich zu kämpfen. Tatsächlich hoffe ich von ganzem Herzen, dass Ihr Andor ohne einen Zwischenfall durchqueren könnt.« Sie hob den silbernen Weinpokal und benetzte nur die Lippen mit der Flüssigkeit, ohne zu trinken. Vorsicht blitzte in dem Behüterbund auf und Elayne musste lachen. Aviendha betrachtete sie aus den Augenwinkeln und runzelte die Stirn. Selbst in diesem Augenblick passten sie auf die werdende Mutter auf.

»Ich freue mich, dass das jemand amüsant findet«, sagte Ethenielle trocken. »Versucht wie ein Südländer zu denken, Paitar. Hier spielt man das Spiel der Häuser, und ich glaube, sie ist darin sehr geschickt. Ich schätze, das sollte sie auch; man hat mir erzählt, dass die Aes Sedai Daes Dae'mar erfunden haben.«

»Denkt an die Taktik, Paitar.« Easar musterte Elayne mit einem schmalen Lächeln. »Wir rücken wie Invasoren auf Caemlyn vor, jeder Andoraner wird es so sehen. Hier mag der Winter sehr mild sein, aber wir werden für die Strecke trotzdem Wochen brauchen. Wenn wir angekommen sind, wird sie genügend der andoranischen Häuser gegen uns vereint haben. Und damit wird sie auch genug auf ihrer Seite haben, um den Löwenthron besteigen zu können. Zumindest werden ihr ausreichend viele die Treue geschworen haben, dass keiner mehr in der Lage sein wird, ihr lange standhalten zu können.« Tenobia rutschte stirnrunzelnd auf ihrem Stuhl herum und richtete die Röcke, aber als sie den Blick erneut auf Elayne richtete, lag ein Respekt darin, der zuvor nicht da gewesen war.

»Und wenn wir Caemlyn erreichen, Elayne Sedai, werdet Ihr uns mittels Verhandlungen dazu bringen, Andor ohne eine Schlacht zu verlassen«, sagte Ethenielle. Es klang nicht ganz wie eine Frage, aber fast. »Wirklich schlau.«

»Wenn alles so funktioniert, wie sie es geplant hat«, sagte Easar, und sein Lächeln verblasste. Er streckte die Hand aus und der alte Soldat gab ihm einen Pokal. »Aber das tun Schlachten nur selten, selbst solche, bei denen kein Tropfen Blut vergossen wird.«

»Ich möchte wirklich, dass kein Blut vergossen wird«, sagte Elayne. Licht, es musste gelingen, oder sie hatte ihr Land nicht wie beabsichtigt vor dem Bürgerkrieg gerettet, sondern es in etwas viel Schlimmeres gestürzt. »Ich werde alles dafür tun, damit es so abläuft. Ich erwarte von Euch, dass Ihr das Gleiche tut.«

»Wisst Ihr auch zufällig, wo mein Onkel Davram ist, Elayne Sedai?«, fragte Tenobia plötzlich. »Davram Bashere? Ich möchte mit ihm genauso gern sprechen wie mit dem Wiedergeborenen Drachen.«

»Lord Davram hält sich nicht weit von Caemlyn auf, Tenobia. Ich kann Euch aber nicht versprechen, dass er bei Eurer Ankunft noch da sein wird. Das heißt, falls Ihr zustimmt.« Elayne zwang sich zu ruhigen Atemzügen, um ihre Anspannung zu verbergen. Jetzt konnte sie nicht mehr zurück. Sie war ziemlich sicher, dass sie nach Süden ziehen würden, aber ohne eine Vereinbarung würde es zu Blutvergießen kommen.

Einen langen Augenblick herrschte Stille im Zelt, nur das Knistern der Kohlefeuer war zu hören. Ethenielle tauschte mit den beiden Männern Blicke aus.

»So lange ich meinen Onkel zu Gesicht bekomme«, sagte Tenobia erregt, »stimme ich zu.«

»Bei meiner Ehre, ich stimme zu«, sagte Easar entschieden, und Paitar sagte beinahe gleichzeitig: »Beim Licht, ich stimme zu.«

»Dann gilt das für uns alle«, hauchte Ethenielle. »Und jetzt müsst Ihr Euren Teil dazu beitragen, Elayne Sedai. Wo finden wir den Wiedergeborenen Drachen?«

Ein Schauder durchfuhr Elayne, und sie vermochte nicht zu sagen, ob es Aufregung oder Furcht war. Sie hatte erreicht, weswegen sie gekommen war, war die Gefahr für sich und Andor eingegangen, und nur die Zeit würde zeigen, ob sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Sie antwortete ohne zu zögern. »Wie ich euch bereits sagte, kenne ich den genauen Ort nicht. Aber eine Suche in Murandy dürfte erfolgreich sein.« Das war die Wahrheit, obwohl es ein Erfolg für sie und nicht für die anderen sein würde. Egwene hatte Murandy heute verlassen und das Heer verlagert, das Arathelle Renshar und die anderen Adligen im Süden festgehalten hatte. Vielleicht würden die nach Süden ziehenden Grenzländer Arathelle und Luan und Pelivar zu der Entscheidung zwingen, sie zu unterstützen. Dyelin war fest davon überzeugt. Mochte das Licht es geschehen lassen.

Mit Ausnahme von Tenobia schienen die Grenzländer über die Information, wo Rand zu finden war, nicht besonders begeistert zu sein. Ethenielle stieß beinahe einen Seufzer aus und Easar nickte bloß und schürzte nachdenklich die Lippen. Paitar trank seinen Pokal zur Hälfte aus, der erste richtige Schluck, den er genommen hatte. Es hatte den Anschein, dass sie den Wiedergeborenen Drachen zwar unbedingt finden wollten, der Begegnung aber nicht gerade mit Freude entgegensahen. Tenobia hingegen befahl dem alten Soldaten, ihr Wein zu bringen, und ließ sich weiter darüber aus, wie gern sie ihren Onkel wiedersehen wollte. Elayne hätte nicht gedacht, dass die Frau so viel Familiensinn hatte.

Zu dieser Jahreszeit brach die Nacht früh herein, und Easar wies alle darauf hin, dass nur noch wenig Tageslicht blieb, und bot Quartiere zur Übernachtung an. Ethenielle meinte, ihr Zelt sei viel bequemer, zeigte jedoch keinerlei Anzeichen von Enttäuschung, als Elayne verkündete, sofort aufbrechen zu müssen.

»Erstaunlich, dass Ihr eine solche Distanz in so kurzer Zeit zurücklegen könnt«, murmelte Ethenielle. »Ich habe gehört, wie Aes Sedai von einer Sache namens Schnelles Reisen sprachen. Ein verloren gegangenes Talent?«

»Seid Ihr unterwegs vielen Schwestern begegnet?«, fragte Elayne.

»Ein paar«, erwiderte Ethenielle. »Anscheinend sind überall Aes Sedai.« Selbst Tenobias Miene war plötzlich ausdruckslos.

Elayne ließ zu, dass Birgitte ihr den Umhang auf die Schultern legte und nickte. »Das ist wahr. Würdet Ihr unsere Pferde bringen lassen?«

Keine von ihnen sprach, bis sie das Lager verlassen hatten und zwischen den Bäumen herritten. Der Pferdege —ruch und Latrinengestank war im Lager nicht so schlimm erschienen, aber ihr Fehlen ließ die Luft hier sehr frisch und den Schnee irgendwie weißer erscheinen.

»Du warst sehr still, Birgitte Trahelion«, sagte Aviendha und bearbeitete die Rippen ihres Pferdes mit den Fersen. Sie war der festen Überzeugung, dass das Tier stehen blieb, wenn man es nicht ständig daran erinnerte, weiterzulaufen.

»Eine Behüterin spricht nicht für ihre Aes Sedai, sie hört verdammt noch mal zu und hielt ihr den Rücken frei«, erwiderte Birgitte trocken. Es war unwahrscheinlich, dass sich jemand in dieser Nähe zum schienarischen Lager im Wald herumtrieb, der ihnen gefährlich werden konnte, aber ihr Bogen blieb unbedeckt, und sie behielt ständig die Bäume im Blick.

»Eine viel schnellere Form der Verhandlung, als ich es gewöhnt bin, Elayne«, sagte Merilille. »Normalerweise braucht man für diese Angelegenheiten wochenlange oder sogar monatelange Gespräche, bevor es zu einer Einigung kommt. Ihr hattet Glück, dass es keine Domani sind. Oder Cairhiener«, gab sie verständnisvoll zu. »Grenzländer sind erfrischend offen und geradeheraus. Unkompliziert im Umgang.«

Offen und geradeheraus? Elayne schüttelte leicht den Kopf. Sie wollten Rand finden, behielten den Grund aber für sich. Sie verbargen auch die Anwesenheit der Schwestern. Wenigstens würden sie sich von ihm fortbewegen, sobald sie sie auf den Weg nach Murandy gebracht hatte. Das würde für den Augenblick reichen müssen, aber sie musste ihn warnen, sobald sie eine Möglichkeit gefunden hatte, wie ihr das gelingen sollte, ohne ihn in Gefahr zu bringen. Pass auf ihn auf, Min, dachte sie. Passfür uns auf ihn auf.

Ein paar Meilen vom Lager entfernt zügelte sie das Pferd, um den Wald genauso gewissenhaft zu mustern wie Birgitte. Vor allem den Teil, der hinter ihnen lag. Die Sonne hatte fast die Baumwipfel erreicht. Ein weißer Fuchs ließ sich einen Augenblick lang sehen und war dann verschwunden. Etwas bewegte sich auf einem kahlen Ast, vielleicht ein Vogel oder ein Eichhörnchen. Plötzlich schoss ein schwarzer Falke aus dem Himmel und ein leises Quieken zerriss die Luft und verklang abrupt. Sie wurden nicht verfolgt. Elayne sorgte sich nicht wegen der Schienarer, sondern wegen der versteckten Schwestern. Die Müdigkeit, die nach Merililles Nachricht verschwunden war, kehrte jetzt, nachdem das Treffen mit den Grenzländern vorbei war, doppelt zurück. Sie wollte nichts mehr, als so bald wie möglich in ihr Bett zu steigen, aber sie wollte es auch nicht so dringend, um unbekannten Schwestern das Gewebe des Schnellen Reisens zu verraten.

Sie hätte ein Wegetor auf den Palasthof weben können, aber dabei das Risiko eingehen müssen, jemanden zu töten, der gerade zufällig vorbeiging, also webte sie es zu einem Ort, den sie genauso gut kannte. Sie war so müde, dass das Weben Mühe kostete und ihr das angesteckte

Angreal erst wieder einfiel, als der silbrige Strich in der Luft erschienen war und sich auf ein Feld öffnete, dessen braunes Gras von einem früheren Schneefall niedergedrückt war. Das Feld befand sich südlich von Caemlyn, und Gareth Bryne hatte sie oft dorthin gebracht, damit sie der Königlichen Garde beim Exerzieren zusehen konnte.

»Willst du es dir nur ansehen?«, fragte Birgitte.

Elayne blinzelte. Aviendha und Merilille musterten sie besorgt. Birgittes Gesicht verriet nichts, aber auch der Bund verriet Sorge.

»Ich habe nur nachgedacht«, sagte Elayne und lenkte Feuerherz durch das Tor. Ein Bett würde wunderbar sein.

Es war nur ein kurzer Ritt von dem alten Exerzierfeld zu den hohen Toren in der hellen, fünfzig Fuß hohen Stadtmauer. Die langen Marktgebäude, die den Weg zu den Toren säumten, waren zu dieser Stunde leer, aber aufmerksame Gardisten hielten Wache. Sie sahen zu, wie sie und ihr Gefolge hereinritten, ohne sie anscheinend zu erkennen. Vermutlich waren es Söldner. Sie würden sie nicht erkennen, es sei denn, sie hätten sie auf dem Löwenthron sitzen gesehen. Mit der Hilfe des Lichts und dem nötigen Glück würden sie das auch.

Die Dämmerung näherte sich rasch. Der Himmel nahm ein dunkles Grau an und die Schatten auf den Straßen wurden immer länger. Es waren nur noch wenige Leute unterwegs, die sich beeilten, ihr Tagewerk zu beenden, bevor sie zu einem warmen Feuer und dem Abendessen nach Hause gingen. Ein paar Träger mit der dunkel lackierten Sänfte eines Kaufmanns liefen voraus die Straße entlang, und ein paar Augenblicke später ratterte einer der großen Pumpenwagen von acht Pferden gezogen in die andere Richtung; die eisenbeschlagenen Räder rollten laut über die Pflastersteine. Wieder ein Feuer irgendwo. Sie brachen meistens in der Nacht aus. Eine Patrouille aus vier Gardisten führte ihre Pferde an Elayne vorbei, ohne ihr einen zweiten Blick zu schenken. Sie erkannten sie genauso wenig wie die Männer am Tor.

Sie schwankte auf dem Sattel und dachte nur noch an ihr Bett.

Es war ein Schock, als ihr bewusst wurde, dass man sie vom Sattel hob. Sie öffnete die Augen, ohne sich daran erinnern zu können, sie geschlossen zu haben, und entdeckte, dass Birgitte sie in den Palast trug.

»Lass mich runter«, sagte sie müde. »Noch kann ich laufen.«

»Du kannst kaum stehen«, knurrte Birgitte. »Sei still.«

»Ihr könnt nicht mit ihr sprechen!«, sagte Aviendha laut.

»Sie muss unbedingt schlafen, Meister Norry«, sagte Merilille entschieden. »Es muss bis morgen warten.«

»Vergebt mir, aber es kann nicht bis morgen warten«, erwiderte Norry, der überraschenderweise selbst ausgesprochen entschieden klang. »Es ist wichtig, dass ich jetzt mit ihr spreche!«

Als Elayne den Kopf hob, hatte sie das Gefühl, alles würde sich um sie drehen. Wie immer presste Halwin Norry die Ledermappe an die dürre Brust, aber der langweilige Mann, der im gleichen staubtrockenen Tonfall von gekrönten Häuptern sprach wie von Dachreparaturen, tanzte beinahe auf und ab in dem Bemühen, sich von Aviendha und Merilille zu befreien, von denen jede einen seiner Arme hielt.

»Lass mich runter, Birgitte«, sagte sie erneut, und das nächste Wunder geschah, als Birgitte gehorchte. Sie stützte Elayne jedoch weiterhin, wofür diese dankbar war. Sie war nicht davon überzeugt, dass ihre Beine sie noch lange tragen würden. »Was gibt es denn, Meister Norry? Aviendha, Merilille, lasst den Mann los.«

Der Erste Sekretär schoss nach vorn, sobald sie ihn losgelassen hatten. »Die Nachricht erreichte uns kurz nach Eurem Aufbrach, meine Lady«, sagte er und klang gar nicht staubtrocken. Besorgnis ließ seine Miene verkniffen aussehen. »Da sind vier Heere ... Sie sind klein, sollte ich wohl sagen. Licht, ich kann mich noch daran erinnern, als fünftausend Mann ein Heer darstellten.« Er rieb sich mit der Hand über die Glatze und brachte die weißen Haarbüschel hinter den Ohren in Unordnung. »Vier kleine Heere nähern sich Caemlyn aus dem Osten«, fuhr er in einem geschäftsmäßigeren Tonfall fort. »Ich fürchte, sie werden innerhalb einer Woche hier sein. Zwanzigtausend Mann. Vielleicht auch dreißigtausend. Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen.« Er streckte ihr die Mappe entgegen, als wollte er ihr die darin enthaltenen Papiere zeigen. Er war aufgeregt.

»Wer?«, fragte sie. Elenia hatte Güter und Streitkräfte im Osten, genau wie Naean. Aber keine der beiden konnte zwanzigtausend Mann aufstellen. Und der Schnee und der Schlamm hätten sie bis zum Frühling aufhalten müssen. »»Hätten« und »Müssen« bauen keine Brücken, schien sie Lini sagen zu hören.

»Ich weiß es nicht, meine Lady«, erwiderte Norry. »Noch nicht.«

Vermutlich spielte es auch keine Rolle. Wer immer es war, er rückte heran, und zwar jetzt. »Meister Norry, ich will, dass Ihr beim ersten Licht damit anfangt, sämtliche Lebensmittel aufzukaufen, die Ihr außerhalb der Mauer finden könnt. Birgitte, lass die Bannermänner, die die Rekrutierung durchführen, verkünden, dass die Söldner entweder innerhalb der nächsten vier Tage der Garde beitreten oder die Stadt verlassen müssen. Und, Meister Norry, lasst noch Folgendes unter der Bevölkerung verkünden. Wer vor Beginn der Belagerung gehen will, sollte das jetzt tun. Das sollte die Zahl der Münder verringern, die wir füttern müssen, und es könnte dazu führen, dass noch ein paar Männer der Garde beitreten.« Sie löste sich aus Birgittes Griff und ging den Korridor entlang in Richtung ihrer Gemächer. Die anderen mussten ihr wohl oder übel folgen. »Merilille, sagt es den Kusinen und den Atha'an Miere. Vielleicht wollen sie ebenfalls gehen, bevor es anfängt. Birgitte, Karten. Lass die guten Karten in meine Gemächer bringen. Und noch etwas, Meister Norry ...«

Da war keine Zeit für Schlaf, nicht einmal für Müdigkeit. Sie musste eine Stadt verteidigen.

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