16 Eine unerwartete Begegnung

Der Rückweg zur Stadt war länger als zwei Meilen und führte über niedrige Hügel, die die Schmerzen aus Mats Bein fortmassierten und neue verursachten, bevor die Männer eine Anhöhe erklommen und Ebou Dar hinter seinen übertrieben dicken, weiß getünchten Mauern voraus sahen, die kein Belagerungskatapult jemals hatte bezwingen können. Die dahinterliegende Stadt war ebenfalls weiß, auch wenn es gelegentlich mit dünnen Farbstreifen versehene Spitzkuppeln gab. Die weiß verputzten Gebäude, die weißen Türme und Kuppeln und die marmornen Paläste schimmerten selbst an einem grauen Wintertag. Hier und da endete ein Turm in einer zerborstenen Spitze oder es war eine Lücke zu sehen, wo ein Haus zerstört worden war, aber in Wahrheit hatte die seanchanische Eroberung nur wenig Schaden angerichtet. Sie waren zu schnell und zu stark gewesen und hatten die Kontrolle über die Stadt errungen, noch bevor sich mehr als vereinzelter Widerstand formieren konnte.

Überraschenderweise war der Handel, den es zu dieser Jahreszeit gab, trotz der Eroberung der Stadt kaum eingebrochen. Die Seanchaner unterstützten ihn, allerdings mussten die Kaufleute und Kapitäne und ihre Mannschaften einen Eid ablegen, demzufolge sie den Anordnungen der Vorläufer gehorchten, die Rückkehr erwarteten und Denen, die Heimkehrten dienen würden. In der Praxis bedeutete das, dass man sein Leben größtenteils wie gewohnt fortführen konnte, also beklagten sich nur wenige. Der große Hafen war jedes Mal, wenn Mat ihn sich ansah, mit mehr Schiffen gefüllt. An diesem Nachmittag hatte es den Anschein, als könnte er von Ebou Dar direkt hinüber zum Rahad gehen, einem ungemütlichen Viertel, in das er nie mehr einen Fuß setzen würde, wenn es sich vermeiden ließ. Als er wieder gehen konnte, war er oft hinunter zu den Docks spaziert, um sich dort umzusehen. Nicht nach den Schiffen mit den gerippten Segeln oder den Schiffen des Meervolks, die die Seanchaner neu aufriggten und mit ihren Mannschaften besetzten, sondern nach Schiffen, an deren Masten die Goldenen Bienen von Illian oder Schwert und Hand von Arad Doman oder die Halbmonde von Tear flatterten. Er tat es nicht länger. Heute schenkte er dem Hafen kaum einen Blick. Die in seinem Kopf umherklappernden Würfel schienen wie Donner zu grollen. Was auch immer geschehen würde, er bezweifelte sehr, dass es ihm gefallen würde. Das tat es nur selten, wenn die Würfel ihn warnten.

Obwohl ein stetiger Verkehrsstrom aus dem großen Torbogen drängte und Fußgänger sich allem Anschein nach durch ihn hindurchschlängeln mussten, um hineinzugelangen, erstreckte sich eine breite Reihe aus Wagen und Ochsenkarren bis zur Anhöhe, die alle in die Stadt hineinwollten und sich kaum bewegten. Jeder, der auf einem Pferd hinausritt, war ein Seanchaner, ob seine Haut nun so dunkel wie die eines der Angehörigen des Meervolks war oder so blass wie die eines Cairhieners, und sie ragten durch mehr aus der Menge heraus als nur durch die Tatsache, dass sie im Sattel saßen. Einige der Männer trugen voluminöse Hosen und seltsame, eng sitzende Mäntel mit hohen Kragen, die sich an den Hals schmiegten und bis zum Kinn reichten und an deren Vorderseite Reihen glänzender Metallknöpfe funkelten, oder sie trugen aufwendig bestickte Mäntel, die fast die Länge von Frauenkleidern hatten. Sie gehörten dem Blut an, genau wie die Frauen in den seltsam geschnittenen Reitgewändern, die sich scheinbar nur aus schmalen Falten zusammenzusetzen schienen, deren abgenähte Röcke so geschneidert waren, dass sie die farbigen Stiefel entblößten, und deren ausladende Ärmel bis zu den Füßen in den Steigbügeln reichten. Ein paar trugen Spitzenschleier, die alles bis auf ihre Augen verbargen, so dass ihre Gesichter nicht den Angehörigen der niederen Stände preisgegeben wurden. Aber die meisten der Reiter trugen hell bemalte Plattenrüstungen. Einige der Soldaten waren Frauen, aber die bemalten Helme, die wie die Köpfe monströser Insekten aussahen, machten sie völlig unkenntlich. Zumindest trug keiner das Schwarz und Rot der Totenwache. Ihre Anwesenheit schien selbst bei den anderen Seanchanern Unruhe hervorzurufen, und das reichte Mat als Warnung, einen weiten Bogen um sie zu machen.

Auf jeden Fall hatte keiner der Seanchaner auch nur einen Blick für die drei Männer und den Jungen übrig, die die Reihe aus wartenden Wagen und Karren entlanggingen. Nun, die Männer gingen langsam. Olver hüpfte. Mats Bein gab ihr Tempo vor, aber er bemühte sich, die anderen nicht sehen zu lassen, wie sehr er sich auf den Wanderstab stützte. Für gewöhnlich kündeten die Würfel Geschehnisse an, die er nur haarscharf überlebte, Schlachten, ein Haus, das ihm auf den Kopf fiel. Tylin. Er fürchtete sich vor dem, was geschehen würde, wenn sie diesmal fielen.

Fast alle Wagen und Karren, welche die Stadt verließen, wurden von Seanchanern gelenkt oder zu Fuß begleitet, die einfacher gekleidet waren als die Reiter und kaum seltsam anzuschauen waren, aber die Menschen in der Warteschlange gehörten eher nach EbouDar oder waren Leute aus der näheren Umgebung; es waren Männer in langen Westen und Frauen, deren Röcke an einer Seite hochgenäht waren, um ein bestrumpftes Bein oder farbige Unterröcke zu enthüllen. Ihre Wagen und Karren wurden von Ochsen gezogen. In der Reihe waren vereinzelt auch Ausländer zu sehen, Kaufmänner mit kleinen Reihen von Pferdefuhrwerken. Hier im Süden gab es mehr Handelsverkehr als weiter oben im Norden, wo sich die Händler mit verschneiten Straßen auseinandersetzen mussten, und einige von ihnen kamen von weither.

Eine stämmige Domani mit einem dunklen Schönheitsfleck auf der kupferfarbenen Wange, die einen Zug von vier Wagen anführte, zog ihren geblümten Umhang enger um sich und starrte einen Mann finster an, der fünf Wagen voraus neben dem Kutscher saß, einen schmierig aussehenden Burschen, der hinter einem tarabonischen Schleier einen langen, dicken Schnurrbart verbarg. Zweifellos ein Konkurrent. Eine schlanke Kandori mit einer großen Perle in ihrem linken Ohr und Silberketten über der Brust saß ruhig in ihrem Sattel, die behandschuhten Hände auf dem Sattelknopf gefaltet; vermutlich wusste sie noch nicht, dass ihr grauer Wallach und ihre Zugtiere nach ihrem Eintreffen in der Stadt der Lotterie zugeteilt werden würden. Den Einheimischen hatte man jedes fünfte Pferd abgenommen und um den Handel nicht zu stören, nahmen sie bei den Ausländern jedes zehnte Pferd. Man hatte dafür bezahlt, das schon, und zu anderen Zeiten wäre es ein gerechter Preis gewesen, aber es war nicht annähernd das, was der Markt bei dieser Nachfrage erzielen würde. Mat bemerkte Pferde immer, selbst wenn er mit den Gedanken woanders war. Ein fetter Cairhiener, dessen Mantel die gleiche graubraune Farbe wie die seiner Fahrer aufwies, brüllte wütend wegen der Verzögerung herum und ließ seine kastanienbraune Stute nervös umhertänzeln. Die Stute hatte einen guten Körperbau. Sie würde wahrscheinlich an einen Offizier gehen. Was würde geschehen, wenn die Würfel zu rollen aufhörten?

Die großen Stadttore hatten ihre Wächter, obwohl vermutlich nur die Seanchaner sie als solche erkannten. Sul'dam in ihren blauen Gewändern schlängelten sich mit grau gekleideten Damane an den silbrigen A'dam durch den Verkehrsstrom. Nur ein Paar hätte ausgereicht, um jeden Tumult bis hin zu einem Frontalangriff zu unterdrücken — und vielleicht sogar den —, aber das war nicht der wahre Grund für ihre Anwesenheit. In den ersten Tagen nach dem Fall von Ebou Dar — während Mat noch bettlägerig gewesen war —hatten sie die Stadt auf der Suche nach Frauen durchkämmt, die sie Mamth'damane nannten, und jetzt sorgten sie dafür, dass keine hereinkam. Jede Sul'dam trug für alle Fälle eine zusätzliche Leine über der Schulter. Weitere Paare patrouillierten auf den Docks und kümmerten sich um jedes eintreffende Schiff und Boot.

Neben dem breiten Stadttor stellten zwanzig Fuß hohe Spieße auf einer langen Plattform die geteerten, aber noch immer erkennbaren Köpfe von über einem Dutzend Männer und zweier Frauen zur Schau, die der seanchanischen Justiz zum Opfer gefallen waren. Über ihnen hing das Symbol für diese Justiz, eine Scharfrichteraxt mit schräger Klinge, deren Schaft in eine kompliziert geknotete Schnur gehüllt war. Ein Schild unter jedem Kopf verkündete das Verbrechen, dessen der Delinquent überführt worden war, Mord oder Vergewaltigung, gewalttätiger Raub, Angriff auf einen Angehörigen des Blutes. Geringere Vergehen wurden mit Geldstrafen oder Auspeitschen bestraft oder man wurde zu Da'covale gemacht. Da entschieden die Seanchaner von Fall zu Fall. Vom Blut war keiner zu sehen — diejenigen von ihnen, die die Hinrichtung verdienten, würde man nach Seanchan zurückschicken oder mit der weißen Schnur erdrosseln —, aber drei der Verurteilten waren Seanchaner, und die Wucht ihrer Justiz fiel auf die oberen wie auch auf die unteren Schichten. Zwei Schilder mit der Aufschrift REBELLION hingen unter den Köpfen der Frauen, die die Herrin der Schiffe des Atha'an Miere und ihre Herrin der Klingen gewesen waren.

Mat war oft genug durch das Tor gegangen, um das Schauspiel kaum noch wahrzunehmen. Olver hüpfte an ihrer Seite und sang ein Kinderlied. Beslan und Thom hatten die Köpfe zusammengesteckt, und einmal schnappte Mat die Worte ›riskante Sache‹ von Thom auf, aber ihm war egal, worüber sie sprachen. Dann waren sie in dem langen, düsteren Tunnel, in dem die Straße durch die Mauer führte, und der Lärm der passierenden Wagen hätte jedes Zuhören auch dann unmöglich gemacht, wenn er es gewollt hätte. Sie hielten sich dicht an der Wand, so weit wie möglich von den Wagenrädern entfernt; Thom und Beslan gingen voraus und unterhielten sich leise, und Olver lief hinter ihnen her, aber als Mat wieder ins Tageslicht trat, rannte er in Thom hinein, bevor er bemerkte, dass sie alle direkt neben der Tunnelmündung stehen geblieben waren. Er wollte schon eine scharfe Bemerkung machen, aber dann sah er, was sie alle anstarrten. Die hinter ihnen aus dem Tunnel kommenden Fußgänger stießen sie zur Seite, aber auch er konnte nur hinstarren.

Die Straßen von Ebou Dar waren immer voller Leute, aber niemals so; es war, als wäre ein verfluchter Damm gebrochen und hätte eine Menschenflut in die Stadt gespült. Die Masse füllte die vor ihnen liegende Straße von der einen bis zur anderen Seite aus und schloss kleine Herden mit ein, Vieh, wie Mat es noch nie zuvor gesehen hatte, gepunktete weiße Rinder mit langen, nach oben gebogenen Hörnern, hellbraune Ziegen mit feinem Fell, das bis zu den Pflastersteinen reichte, Schafe mit vier Hörnern. Jede Straße in Sichtweite schien gleichermaßen verstopft zu sein. Wagen und Karren schoben sich quälend langsam durch die Menge, sofern sie sich überhaupt bewegten, und die Flüche und Rufe der Kutscher und Fuhrmänner wurden beinahe von dem Stimmengewirr und dem Lärm der Tiere übertönt. Mat konnte keine einzelnen Wörter verstehen, aber er konnte Akzente unterscheiden. Langsame, gedehnte seanchanische Akzente. Ein paar der Neuankömmlinge stießen ihre Nachbarn an und zeigten auf ihn in seiner grellbunten Kleidung. Sie starrten und zeigten auf alles, so als hätten sie noch nie zuvor eine Schenke oder einen Scherenschleiferladen gesehen, aber er fluchte trotzdem lautlos vor sich hin und zog die Hutkrempe tiefer ins Gesicht.

»Die Wiederkehr«, murmelte Thom und hätte Mat nicht direkt neben seiner Schulter gestanden, hätte er ihn nicht gehört. »Während wir gemütlich mit Luca geplaudert haben, ist die Corenne eingetroffen.«

Mat hatte diese Rückkehr immer so verstanden, dass die Seanchaner ihre Invasion fortführten, eben mit einer Armee. Eine der Kutscherinnen brüllte herum und zeigte mit ihrer langstieligen Peitsche auf ein paar Jungen, die an der Wagenseite hochgeklettert waren und an etwas herumstocherten, das wie Weinstöcke in Holzfässern voller Erde aussah. Ein anderer Wagen transportierte eine Druckerpresse, und ein weiterer, der es nur mühsam schaffte, in den Tunnel einzubiegen, Gerätschaften, die wie Brauereibottiche aussahen; außerdem ging ein leichter Geruch nach Hopfen von ihm aus. Einige der Wagen wurden von Kisten seltsam gefärbter Hühner und Enten und Gänse dekoriert, aber das waren keine zum Verkauf bestimmten Vögel, sondern der Viehbestand eines Bauern. Es war eine Armee, da gab es keinen Zweifel, aber nicht in der Form, wie Mat es sich vorgestellt hatte. Diese Art von Armee würde man schwerer bekämpfen können als Soldaten.

»Stecht mir die Augen aus, wir müssen da durch!«, murmelte Beslan angewidert und stellte sich auf die Zehen, um die Menge überblicken zu können. »Wie weit, bis wir eine freie Straße finden?«

Mat dachte daran, dass er es nicht erkannt hatte, als es vor seinen Augen geschehen war, der Hafen voller Schiffe. Voller Schiffe. Vielleicht zwei- oder dreimal so viele Schiffe, wie dort geankert hatten, als sie beim ersten Tageslicht zu Lucas Lager aufgebrochen waren, und einige von ihnen hatten noch unter Segeln manövriert. Was bedeutete, dass vermutlich noch mehr darauf warteten, in den Hafen einlaufen zu können. Beim Licht! Wie viele konnten seit Tagesanbruch ihre Ladung gelöscht haben? Wie viele mussten noch entladen werden? Und beim Licht, wie viele Menschen konnten auf so vielen Schiffen transportiert werden? Und warum waren sie alle hierher gekommen statt nach Tanchico? Eine Gänsehaut lief ihm den Rücken hinunter. Vielleicht waren das noch lange nicht alle.

»Am besten versucht ihr es durch die Seitenstraßen und Gassen«, sagte er und hob die Stimme, damit sie ihn über den Lärm verstehen konnten. »Sonst werdet ihr den Palast nicht vor dem Abend erreichen.«

Beslan betrachtete ihn stirnrunzelnd. »Kommst du nicht mit uns? Mat, wenn du noch einmal versuchst, dir eine Schiffspassage zu erkaufen... Du weißt, dass sie es dir diesmal nicht so ohne weiteres durchgehen lassen wird.«

Mat erwiderte das Stirnrunzeln des Königssohns Falte für Falte. »Ich will mich nur etwas umsehen«, log er. Sobald er den Palast betrat, würde Tylin anfangen, ihn zu herzen und zu küssen. Das wäre eigentlich nicht so schlimm gewesen — wenn er ehrlich war! —, aber es war ihr egal, wer Zeuge wurde, wie sie seine Wangen zärtlich streichelte und Koseworte in sein Ohr flüsterte, selbst wenn es sich dabei um ihren Sohn handelte. Davon abgesehen, was war, wenn die Würfel in seinem Kopf umherzurollen aufhörten, wenn er vor ihr stand? In letzter Zeit traf es das Wort ›besitzergreifend‹ nicht mal mehr annähernd, soweit es Tylin betraf. Blut und Asche, als hätte sich die Frau entschieden, ihn zu heiraten! Er wollte nicht heiraten, jedenfalls noch nicht, aber er wusste auch, wen er heiraten würde, und es handelte sich nicht um Tylin Quintara Mitsobar. Aber was konnte er tun, wenn sie sich tatsächlich dazu entschied?

Plötzlich fiel ihm wieder Thoms gemurmelte Bemerkung über die ›riskante Sache‹ ein. Er kannte Thom und er kannte Beslan. Olver starrte die Seanchaner so staunend an, wie sie alles in ihrer Umgebung betrachteten. Er wollte näher an sie heran, doch Mat erwischte ihn noch gerade rechtzeitig an der Schulter und stieß ihn protestierend in Thoms Hände. »Bringt den Jungen in den Palast zurück und gebt ihm seinen Unterricht, wenn Riselle mit ihm fertig ist. Und vergesst, welche verrückte Sache euch auch immer vorschwebt. Ihr könntet dafür sorgen, dass man eure Köpfe draußen vor dem Tor zur Schau stellt, und Tylins auch.« Und den seinen. Das durfte man dabei nie vergessen!

Die beiden Männer starrten ihn ausdruckslos an, was seinen Verdacht bestätigte.

»Vielleicht sollte ich dich begleiten«, sagte Thom schließlich. »Wir könnten reden. Du hast erstaunlich viel Glück, Mat, und du hast ein gewisses Flair für, sagen wir, das Abenteuerliche?« Beslan nickte. Olver wand sich in Thoms Griff und versuchte all die seltsamen Leute auf der Straße gleichzeitig anzustarren; es kümmerte ihn nicht, worüber sich die Erwachsenen unterhielten.

Mat grunzte mürrisch. Warum wollten alle immer, dass er den Helden spielte? Früher oder später würde ihn so etwas umbringen. »Ich muss über nichts reden. Sie sind hier, Beslan. Wenn du ihr Kommen nicht verhindern konntest, wird es dir auch nicht gelingen, sie wieder zu vertreiben. Falls die Gerüchte stimmen, wird sich Rand um sie kümmern.« Wieder rasten die wirbelnden Farben durch seinen Verstand und unterdrückten dabei einen Augenblick lang beinahe den Lärm der Würfel. »Du hast diesen verdammten Eid geschworen, auf die Wiederkehr zu warten; wir alle haben das.« Eine Weigerung hätte bedeutet, in Ketten gelegt zu werden und auf den Docks arbeiten oder die Abwasserkanäle des Rahads säubern zu müssen. Was es seiner Meinung nach zu keinem richtigen Eid machte. »Warte auf Rand.« Die Farben blühten wieder auf und verschwanden. Blut und Asche! Er musste einfach aufhören, an... an bestimmte Leute zu denken. Erneut wirbelten sie durcheinander. »Mit etwas Geduld könnte sich noch alles zum Guten wenden.«

»Mat, du verstehst nicht«, sagte Beslan wild. »Mutter sitzt noch immer auf dem Thron und Suroth behauptet, sie würde ganz Altara beherrschen, nicht nur das Gebiet, das wir um Ebou Dar herum halten, und vielleicht sogar noch mehr, aber Mutter musste das Gesicht in den Staub legen und einer Frau auf der anderen Seite des Aryth-Meeres die Lehnstreue schwören. Suroth sagt, ich sollte eine Angehörige ihres Blutes heiraten und die Seiten meines Kopfes rasieren und Mutter hört ihr zu. Suroth mag ja so tun, als wären sie Gleichgestellte, aber sie muss zuhören, wenn die Hochlady spricht. Ganz egal, was Suroth sagt, Ebou Dar gehört uns nicht mehr, und der Rest auch nicht. Vielleicht ist es aussichtslos, sie mit Waffengewalt zu vertreiben, aber wir können dafür sorgen, dass das Land ihnen solche Probleme bereitet, dass sie es nicht länger halten können. Die Weißmäntel mussten das herausfinden. Frag sie doch, was ›Altaranischer Mittag‹ für sie bedeutet.«

Das konnte sich Mat denken, ohne jemanden fragen zu müssen. Er biss sich auf die Zunge, um ihn nicht darauf hinzuweisen, dass sich mehr seanchanische Soldaten in Ebou Dar aufhielten als während des Weißmantel-Krieges Weißmäntel in ganz Altara. Eine Straße voller Seanchaner war nicht der richtige Ort für eine lose Zunge, selbst wenn die meisten Bauern und Handwerker zu sein schienen. »Ich verstehe, dass du deinen Kopf auf einem Spieß enden sehen willst«, sagte er leise. So leise wie er konnte, um in diesem Getöse aus Stimmen und Viehgeblöke und Gänsegeschnatter noch verstanden zu werden. »Du weißt über ihre Lauscher Bescheid. Der Bursche da drüben, der wie ein Stallknecht aussieht, könnte einer sein, oder diese dürre Frau da mit dem Bündel auf dem Rücken.«

Beslan starrte die beiden, auf die Mat ihn hingewiesen hatte, so finster an, dass sie, falls sie Lauscher waren, ihn vermutlich allein schon deswegen melden würden. »Vielleicht wirst du es anders sehen, wenn sie Andor erreichen«, knurrte er, drängte sich in die Menge und stieß jeden zur Seite, der sich ihm in den Weg stellte. Es hätte Mat nicht überrascht, wenn es zu einer Prügelei gekommen wäre. Vermutlich war der Mann sogar darauf aus.

Thom wollte sich ihm mit Olver anschließen, aber Mat packte ihn am Ärmel. »Beruhige ihn, wenn du kannst, Thom. Und beruhige dich selbst, wenn du schon mal dabei bist. Eigentlich sollte man glauben, dass du mittlerweile genug davon hast, dich blind zu rasieren.«

»Ich habe einen kühlen Kopf und versuche, auch diese Sache abzukühlen«, sagte Thom trocken. »Aber er kann nicht einfach still dasitzen; es ist seine Heimat.« Ein leises Schmunzeln erhellte kurz sein faltiges Gesicht. »Du sagst, du wirst keine Risiken eingehen, aber du wirst es doch tun. Und wenn du es tust, wirst du alles, was Beslan und ich unternehmen könnten, dagegen wie einen Abendspaziergang im Garten aussehen lassen. Mit dir in der Nähe ist sogar der Barbier blind. Komm, Junge«, sagte er und setzte sich Olver auf die Schultern. »Riselle lässt dich vielleicht nicht deinen Kopf an ihren Busen betten, wenn du zu spät zu deinem Unterricht kommst.«

Mat sah ihm stirnrunzelnd nach, als er sich entfernte und mit Olver auf den Schultern besser vorankam als Beslan. Was hatte Thom damit gemeint? Er ging nie ein Risiko ein, es sei denn, es wurde ihm aufgezwungen. Niemals. Er warf der dürren Frau und dem Burschen mit dem Dung an den Stiefeln einen unauffälligen Blick zu. Licht, sie konnten Lauscher sein. Jeder von ihnen. Es reichte, um bei ihm ein Jucken zwischen den Schulterblättern hervorzurufen, so als würde man ihn beobachten.

Je näher er zu den Docks kam, desto dichtgedrängter mit Menschen, Tieren und Wagen schienen die Straßen zu sein, aber er kam dennoch ein ordentliches Stück voran. Die Buden auf den Kanalbrücken hatten ihre Läden geschlossen, die Straßenhändler hatten ihre Decken vom Boden aufgehoben und die Jongleure und Akrobaten, die für gewöhnlich an jeder Straßenkreuzung ihr Handwerk ausübten, hätten keinen Platz für ihre Kunst gehabt, wenn auch sie nicht gegangen wären. Es waren zu viele Seanchaner da, einfach zu viele, und vermutlich war einer von fünfen ein Soldat, wie man eindeutig an dem harten Blick ihrer Augen und ihrer Körperhaltung erkennen konnte, die sich so sehr von jener der Bauern und Handwerker unterschied, selbst wenn sie keine Rüstung trugen. Gelegentlich kam eine Sul'dam mit ihrer Damane die Straße entlang und man ließ ihnen einen gehörigen Freiraum, der selbst noch größer war als der für die Soldaten. Das geschah nicht aus Furcht, zumindest nicht bei den Seanchanern. Man verneigte sich respektvoll vor den Frauen, deren blaue Gewänder rote Rechtecke mit Blitzsymbolen aufwiesen, und lächelte voller Anerkennung, wenn die Paare vorbeigingen. Beslan hatte den Verstand verloren. Keiner würde die Seanchaner jemals wieder vertreiben, abgesehen vielleicht von einem Heer aus Asha'man, so wie jenes, das Gerüchten zufolge vor einer Woche im Osten gegen sie angetreten war. Oder jemand, der mit den Geheimnissen der Illuminatoren bewaffnet war. Was beim Licht konnte Aludra mit einem Glockengießer wollen?

Er gab sich Mühe, nicht in Sichtweite der Docks zu gelangen. Diese Lektion hatte er gelernt. Eigentlich suchte er ein Würfelspiel, und zwar eines, das bis spät in die Nacht andauern würde. Vorzugsweise so spät, dass Tylin bereits schlief, wenn er in den Palast zurückkehrte. Sie hatte ihm die Würfel weggenommen und behauptet, es würde ihr nicht gefallen, wenn er spielte, allerdings hatte sie es getan, nachdem er sie, als er noch ans Lager gefesselt gewesen war, zu einem Liebespfand als Einsatz überredet hatte. Würfel ließen sich überall finden, und bei seinem Glück war es sowieso immer besser, die Würfel der anderen Männer zu benutzen. Unglücklicherweise hatte er nach der Entdeckung, dass sie nicht im Traum daran dachte, das Liebespfand, ihn gehen zu lassen, auch einzulösen — die Frau hatte tatsächlich so getan, als wüsste sie überhaupt nicht, wovon er da sprach! Folglich hatte er ihr etwas von ihrer eigenen Medizin zu kosten geben. Ein schwerer Fehler, so viel Spaß es seinerzeit auch gemacht hatte. Nachdem die Liebespfänder alle eingelöst worden waren, war sie doppelt so schlimm wie vorher.

Die Schenken und Schankräume der Gasthäuser, die er betrat, waren allerdings genauso voll wie die Straßen; der Platz reichte kaum aus, einen Becher zu heben, geschweige denn zum Würfeln. Sie waren voller lachender und singender Seanchaner und finster dreinblickender Ebou Dari, welche die Seanchaner mit mürrischem Schweigen betrachteten. Er befragte die Wirte und Schankmägde trotzdem, ob einer einen freien Verschlag hatte, den er vermieten würde, aber sie alle schüttelten bloß den Kopf. Eigentlich hatte er auch nichts anderes erwartet. Schon vor den Neuankömmlingen war nichts frei gewesen. Er fing an, in die gleiche düstere Stimmung wie die ausländischen Kaufleute zu verfallen, die in ihren Wein starrten und sich fragten, wie sie ohne Pferde wohl ihre Waren aus der Stadt herausbekommen sollten.

Er hatte Gold, um Luca jeden gewünschten Preis zu bezahlen und noch mehr, aber es befand sich alles in einer Truhe im Tarasin-Palast, und er würde nicht den Versuch wagen, genug auf einmal mitzunehmen, nicht nachdem ihn die Palastdiener wie einen auf der Jagd erbeuteten Hirsch von den Docks zurückgetragen hatten. Damals hatte er bloß mit Schiffskapitänen gesprochen; falls Tylin erfuhr — und sie würde es erfahren —, dass er versuchte, den Palast mit mehr Gold zu verlassen, als er für einen Würfelabend brauchte... O nein! Er musste ein Zimmer haben, eine Kammer von der Größe eines Schrankes auf dem Dachboden irgendeines Gasthauses, egal was, wo er im Laufe der Zeit immer wieder ein paar Münzen verstecken konnte, oder er musste Glück im Spiel haben, eines von beiden. Aber ob Glück oder nicht, er kam schließlich zu dem Schluss, dass er an diesem Tag keines von beiden finden würde. Und diese verdammten Würfel rasselten noch immer in seinem Kopf herum.

Er blieb nie lange an einem Ort und das nicht nur, weil weder ein Spiel noch ein Raum zu finden waren. Seine grellbunten Kleider, die einen Kesselflicker noch beschämen würden, zogen Blicke auf sich. Einige Seanchaner glaubten, er sei zur Unterhaltung da, und versuchten ihn für eine Darbietung zu bezahlen! Beinahe hätte er ein- oder zweimal eingewilligt, aber sie hätten nach seinen Sangeskünsten ihr Geld zurückverlangt. Einige der Ebou Dari, die lange, gekrümmte Messer hinten im Gürtel stecken und Wut im Bauch hatten, die sie nicht an den Seanchanern auslassen konnten, dachten daran, sie an dem Hanswurst abzureagieren, dem nur noch das geschminkte Gesicht fehlte, um wie der Hofnarr eines Adligen auszusehen. Wann immer Mat sah, dass ihn solche Kerle musterten, wich er sofort auf die belebte Straße zurück. Er hatte auf die harte Weise lernen müssen, dass er noch nicht in der Verfassung zum Kämpfen war, und es würde ihm gar nichts nützen, wenn der Kopf seines Mörders vor dem Stadttor zur Schau gestellt wurde.

Er ruhte sich aus, wo immer er konnte, auf einem leeren Fass, das an einer Gassenmündung stand, auf den raren Bänken vor einer Schenke, wo noch Platz für eine Person war, oder auf den Steinstufen eines Gebäudes, bis die Besitzerin herauskam und ihm mit einer schwungvollen Bewegung ihres Besens den Hut vom Kopf fegte. Sein Magen hing ihm schon bis zu den Knien, und er wurde das Gefühl nicht los, dass ihn jeder wegen seiner bunten Kleidung anstarrte. Die feuchte Kälte sickerte in seine Knochen, und die einzigen Würfel, die es zu finden gab, donnerten wie die Hufe eines galoppierenden Pferdes in seinem Kopf herum. Er glaubte nicht, dass sie jemals so laut gewesen waren.

»Da bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als zurück in den Palast zu gehen und das verdammte Schoßtier der Königin zu sein!«, knurrte er und benutzte den Stab, um sich von einer zerbrochenen Holzkiste, die an der Straßenseite lag, in die Höhe zu stemmen. Einige Passanten sahen ihn bereits an, als wäre sein Gesicht bemalt. Er ignorierte sie. Sie waren seine Aufmerksamkeit nicht wert. Er versetzte ihnen keinen Hieb mit dem Stab auf den Kopf, obwohl sie es verdient hatten, starrten sie einen Mann doch auf diese Weise an.

Ihm wurde bewusst, dass die Straßen genauso überfüllt waren wie zuvor; falls er versuchte, sich einen Weg durch die Menge zu bahnen, würde er den Palast erst weit nach Einbruch der Dunkelheit erreichen. Natürlich würde Tylin bis dahin vermutlich schon schlafen. Vielleicht. Sein Magen knurrte beinahe laut genug, um die Würfel zu übertönen. Falls er zu spät kam, mochte sie dem Küchenpersonal befehlen, ihm nichts zu essen zu geben.

Zehn hart erkämpfte Schritte durch die Menschenmenge und er kam zu einer schmalen und dunklen Gasse. Sie war nicht gepflastert. Der weiße Verputz auf den fensterlosen Wänden war gesprungen und an einigen Stellen abgefallen, um die darunter liegenden Ziegel zu enthüllen. Die Luft stank nach Verfall, und auch wenn das, was unter seinen Stiefeln schmatzte, einen widerwärtigen Geruch absonderte, hoffte er dennoch, dass es sich um Schlamm handelte. Es war niemand in Sicht. Er konnte schnell ausschreiten. Zumindest so schnell, wie er dazu fähig war. Er konnte kaum den Tag abwarten, an dem er wieder ein paar Meilen gehen konnte, ohne keuchen zu müssen. Schmerzen zu haben oder sich auf einen Stock stützen zu müssen. Verwinkelte Gassen durchzogen die Stadt in einem Labyrinth, in dem man sich leicht verirren konnte, wenn man den Weg nicht kannte; die meisten von ihnen waren so schmal, dass seine Schultern beide Häuserwände berührten. Er nahm niemals eine falsche Abzweigung, selbst wenn sich eine enge, gebogene Passage plötzlich in drei oder sogar vier neue gabelte, die sich alle scheinbar in ungefähr die gleiche Richtung schlängelten. Es hatte einige Gelegenheiten in Ebou Dar gegeben, bei denen er neugierige Blicke meiden musste, und er kannte diese Gassei} wie seine Hand. Obwohl er seltsamerweise noch immer das Gefühl hatte, beobachtet zu werden. Aber das würde sich wohl kaum ändern, solange er diese verfluchten Sachen tragen musste.

Um von einer Gasse zur anderen zu gelangen, musste er sich durch die Massen aus Menschen und Vieh kämpfen und gelegentlich auch den Weg über eine Brücke erzwingen, die wie eine solide Menschenmauer erschien, trotzdem würde er es noch immer in der Zeit zum Palast schaffen, die er sonst allein für drei Straßen gebraucht hätte. Als er in die dunkle Passage zwischen einer hell erleuchteten Schenke und einem geschlossenen Lackwarenladen eilte, fragte er sich, was die Palastköche wohl vorbereitet haben würden. Diese Gasse war geräumiger als die meisten, breit genug für drei, wenn sie freundlich gesinnt waren, und führte auf den Mol Hara-Platz, der sich fast genau vor dem TarasinPalast befand. Suroth lebte dort, und seit sie die Köche nach ihrer ersten Mahlzeit hatte auspeitschen lassen, übertrafen sie sich beinahe in ihrer Fertigkeit. Möglicherweise gab es Austern mit Sahne und vielleicht Bratfisch und Tintenfisch mit Pfeffer. Nach zehn Schritten in den Schatten trat er gegen etwas, das nicht nachgab, und er fiel mit einem Grunzen in den kalten Schlamm. Im letzten Augenblick konnte er sich noch so drehen, dass er nicht auf seinem schlimmen Bein landete. Eiskalte Flüssigkeit drang durch den Mantelstoff. Er hoffte, dass es Wasser war.

Da krachten von oben Stiefel auf seine Schultern und er grunzte erneut. Der Springer stolperte fluchend von ihm herunter, taumelte durch den Schlamm tiefer in die Gasse hinein, fiel auf ein Knie und schaffte es gerade noch, sich an der Schenkenwand abzustützen, bevor er selbst der Länge nach hinschlug. Mats Augen waren an das Dämmerlicht gewöhnt, es reichte, um einen schlanken, unauffälligen Mann auszumachen. Ein Mann, der scheinbar eine große Narbe auf der Wange hatte. Nur dass es sich um keinen Menschen handelte. Mat hatte gesehen, wie die Kreatur seinem Freund mit der nackten Hand die Kehle herausgerissen und sich ein Messer aus der Brust gezogen und zurück in seine Richtung geschleudert hatte. Und wäre er gerade eben nicht gestolpert, wäre das Ding genau vor ihm gelandet, in bequemer Reichweite. Vielleicht hatte ja eine kleine ta'uerett-Beeinflussung zu seinen Gunsten gewirkt, dem Licht sei Dank! Das alles raste ihm in dem Augenblick durch den Kopf, den es dauerte, zu sehen, wie der Gholam sich an der Wand abfing und den Kopf drehte, um ihn böse anzustarren.

Mit einem Fluch schnappte sich Mat seinen zu Boden gefallenen Wanderstab und schleuderte ihn wie einen Speer unbeholfen auf das Ungeheuer. Auf seine Beine, in der Hoffnung, es zum Stolpern zu bringen, einen Augenblick zu gewinnen. Das Ding floss zur Seite wie Wasser und entging dem Stab, dann warf es sich Mat entgegen. Aber der Aufschub hatte gereicht. Der Stab hatte noch nicht Mats Hand verlassen, als er auch schon unter dem Hemd nach dem Fuchskopf-Medaillon tastete. Er riss es heraus, und dabei ging das Lederband entzwei, an dem es hing. Der Gholam warf sich auf ihn und er schwang verzweifelt das Medaillon. Silber, das kühl auf seiner Haut gelegen hatte, fuhr mit einem Zischen wie bratender Speck und dem Gestank nach verbranntem Fleisch über eine ausgestreckte Hand. Das Ding fauchte, bewegte sich so flüssig wie Quecksilber, versuchte dem Medaillon auszuweichen und nach Mat zu greifen. Sobald es auch nur eine Hand an ihn legte, war er so gut wie tot. Diesmal würde es nicht versuchen, mit ihm zu spielen, wie es das im Rahad getan hatte. In ständiger Bewegung traf er es mit dem Fuchskopf an der anderen Hand, dann im Gesicht, und beide Male zischte es und stank, als hätte er es mit einem glühenden Eisen getroffen. Der Gholam wich mit gebleckten Zähnen zurück, blieb aber leicht geduckt, die Hände zu Krallen geformt, dazu bereit, beim kleinsten Anzeichen von Schwäche zu springen.

Mat wirbelte das Medaillon unablässig umher, stieß sich unsicher auf die Beine und betrachtete das Ding, das wie ein Mann aussah. Er will dich genauso sehr tot sehen, wie er sie will, hatte es ihm im Rahad mit einem Lächeln gesagt. Jetzt sprach oder lächelte es nicht. Mat wusste nicht, wer ›er‹ oder ›sie‹ waren, aber alles andere war glasklar. Hier war er nun, kaum dazu in der Lage, auf eigenen Beinen zu stehen. Sein Bein und seine Hüfte brannten wie Feuer, genau wie seine Rippen. Ganz zu schweigen von den Schultern, auf denen der Gholam gelandet war. Er musste zurück auf die Straße, unter Menschen. Vielleicht würden genügend Leute das Ding ablenken. Eine kleine Hoffnung, aber die einzige Hoffnung, die er sah. Er konnte das Stimmengewirr hören, das die Entfernung kaum dämpfte.

Er machte einen vorsichtigen Schritt zurück. Sein Stiefel rutschte in etwas aus, das scheußlich stank. Mat prallte gegen die Schenkenwand. Nur wildes Herumgefuchtel mit dem silbernen Fuchskopf hielt den Gholam zurück. Die Stimmen auf der Straße waren verführerisch nah. Sie hätten genauso gut in Barsine sein können. Barsine war seit langem tot und er würde es bald auch sein.

»Er ist in der Gasse!«, rief ein Mann. »Folgt mir! Beeilt Euch! Er kommt davon!«

Mat hielt seine Augen auf den Gholam gerichtet. Dessen Blick flackerte an ihm vorbei, zur Straße, und er zögerte. »Ich habe den Befehl, mich keinem erkennen zu geben, nur denen, die ich ernte«, fauchte er Mat entgegen, »also wirst du noch eine Weile leben. Eine kleine Weile.«

Er fuhr herum und rannte in die Gasse, rutschte leicht in dem Schlamm aus und schien trotzdem immer noch zu fließen, als er hinter die Schenke sprang.

Mat rannte ihm hinterher. Er hätte dafür keinen Grund nennen können, außer dass das Ungeheuer versucht hatte, ihn zu töten und es wieder versuchen würde. Seine Nackenhaare sträubten sich. Also würde es ihn töten, wenn es ihm passte? Wenn das Medaillon das Ding verletzen konnte, vielleicht konnte er es dann damit auch töteten.

Er erreichte die Ecke der Schenke und sah den Gholam in demselben Augenblick, in dem dieser zurückblickte und ihn ansah. Wieder zögerte das Ding einen Augenblick lang. Die Hintertür der Schenke stand offen und ließ den Lärm von Zecherei hören. In der Rückwand des gegenüberliegenden Gebäudes fehlte ein Stein. Die Kreatur stieß ihre Hände in das Loch. Mat erstarrte. Sie schien kaum Waffen zu brauchen, aber wenn sie dort eine versteckt hatte... Wenn das Ding ihm mit einer Waffe entgegentrat, würde er es bestimmt nicht überleben. Arme folgten Händen, dann verschwand der Kopf des Gholams in dem Loch. Mat klappte der Mund auf. Die Brust des Ungeheuers schlängelte sich hindurch, dann die Beine, und schon war es verschwunden. Durch eine Öffnung, die vielleicht so groß wie Mats beide Hände war.

»Ich glaube nicht, dass ich jemals etwas Ähnliches gesehen habe«, sagte jemand leise neben ihm, und er zuckte zusammen, als er begriff, dass er nicht länger allein dort stand. Der Sprecher war ein weißhaariger alter Mann mit gebeugten Schultern und einer großen Hakennase im traurigen Gesicht, der ein Bündel auf dem Rücken trug. Er schob einen sehr langen Dolch in eine Scheide unter seinem Mantel.

»Ich schon«, sagte Mat in hohlem Tonfall. »In Shadar Logoth.« Manchmal trieben verloren geglaubte Teile seiner eigenen Erinnerung aus dem Nichts an die Oberfläche; diese war gerade aufgetaucht, als er den Gholam betrachtet hatte. Es war eine Erinnerung, die besser verschollen geblieben wäre.

»Nur wenige überleben einen Besuch dort«, sagte der alte Mann und schaute ihn an. Irgendwie kam Mat sein faltiges Gesicht bekannt vor, aber er konnte es nicht unterbringen. »Was hat Euch nach Shadar Logoth geführt?«

»Wo sind Eure Freunde?«, fragte Mat. »Die Leute, denen Ihr zugerufen habt?« Sie standen allein in der Gasse. Die Geräusche von der Straße drangen ungebrochen zu ihnen herüber, doch es ertönten keine Rufe, dass jemand davonkommen würde, wenn sie sich nicht beeilten.

Der Alte zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, ob jemand da draußen gehört hat, was ich gerufen habe. Es ist schon schwer genug, etwas zu verstehen. Aber ich dachte, dass es den Burschen vielleicht vertreibt. Nachdem ich jedoch das hier gesehen habe...« Er zeigte auf das Loch in der Wand und lachte humorlos, was seine Zahnlücken enthüllte. »Vielleicht habt Ihr das Glück des Dunklen Königs auf Eurer Seite.«

Mat schnitt eine Grimasse. Er hatte das zu oft über sich gehört und es gefiel ihm nicht. Vor allem, weil er nicht wusste, ob es womöglich stimmte. »Vielleicht«, murmelte er. »Verzeiht mir, ich sollte mich dem Mann vorstellen, der meinen Hals gerettet hat. Ich bin Mat Cauthon. Seid Ehr neu in Ebou Dar?« Das auf den Rücken geschnallte Bündel verlieh ihm das Aussehen eines Mannes auf der Reise. »Ihr werdet es schwer haben, einen Platz zum Schlafen zu finden.« Er nahm die knorrige Hand, die der andere ihm reichte, mit Vorsicht. Sie bestand nur aus Höckern, als wäre jeder Knochen zur gleichen Zeit gebrochen worden und schlecht geheilt. Aber sein Griff war kräftig.

»Ich bin Noal Charin, Mat Cauthon. Nein, ich bin schon seit einiger Zeit hier. Aber meine Schlafstelle auf dem Dachboden der Goldenen Ente wird jetzt von einem fetten illianischen Ölhändler besetzt, der heute Morgen wegen einem seanchanischen Offizier aus seinem Zimmer geworfen wurde. Ich dachte, ich würde in der Gasse einen Platz zum Schlafen finden.« Er rieb sich mit einem verkrümmten Finger die große Nase und kicherte, als hätte es keine Bedeutung, in einer Gasse schlafen zu müssen. »Es wäre nicht das erste Mal, dass ich unbequem schlafen muss, selbst in einer Stadt.«

»Ich glaube, da weiß ich etwas Besseres«, sagte Mat, aber der Rest von dem, was er hatte sagen wollen, erstarb auf seiner Zunge. Die Würfel wirbelten noch immer in seinem Kopf umher. Er hatte es geschafft, sie zu vergessen, während der Gholam ihn zu töten versuchte, aber sie waren noch immer in Bewegung, warteten noch immer darauf zu fallen. Wenn sie ihn vor etwas Schlimmerem als dem Gholam warnen wollten, dann wollte er es nicht erfahren. Aber das würde er. Da bestand nicht der geringste Zweifel. Er würde es erfahren, wenn es zu spät war.

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