Der Amhara-Markt war einer von drei Plätzen in Far Madding, auf dem Ausländer Handel treiben durften, aber trotz des Namens sah der riesige Platz nicht im mindesten wie ein Marktplatz aus, da es weder Marktstände noch ausgestellte Waren gab. Ein paar Reiter und eine Hand voll geschlossener Sänften, die von bunt livrierten Trägern befördert wurden, bahnten sich ihren Weg durch eine kleine, aber geschäftige Menge, wie man sie in jeder größeren Stadt vorgefunden hätte. Hin und wieder sah man auch eine Kutsche mit zugezogenen Vorhängen. Die meisten Leute hüllten sich in ihre Umhänge, um sich vor dem morgendlichen Wind zu schützen, der von dem See kam, der die Stadt umgab, und es war eher die Kälte und weniger dringende Geschäfte, die sie zur Eile anhielt. Genau wie auf den anderen beiden Fremdenmärkten standen auch hier die hohen Steinhäuser der Bankiers, die den Platz säumten, Schulter an Schulter mit schiefergedeckten steinernen Gasthäusern, in denen die ausländischen Kaufleute logierten, gedrungenen, fensterlosen Lagerhäusern, in denen sich ihre Waren stapelten, und steinernen Ställen und von Mauern umgebenen Wagenhöfen. Far Madding war eine Stadt der Steinmauern und Schieferdächer. Zu dieser Jahreszeit waren die Gasthäuser bestenfalls zu einem Viertel gefüllt und die Magazine und Wagenhöfe nicht einmal das. Wenn der Frühling kam und mit ihm der Handel seine Wiedergeburt erlebte, würden die Kaufleute das Dreifache für jeden Raum zahlen, der noch zu finden war.
Auf dem runden Podest in der Mitte des Platzes stand die marmorne Statue von Savion Amhara; sie war zwei Spannen hoch und trug stolz ihre pelzgesäumten Gewänder und die komplizierte Amtskette um den Hals. Ihr Marmorgesicht blickte ernst unter dem Diadem der Ersten Ratsherrin, und ihre rechte Hand umklammerte fest den Griff eines Schwertes, dessen Spitze zwischen in Halbschuhen steckenden Füßen ruhte, während ihre erhobene linke Hand einen warnenden Finger in Richtung Tear-Tor streckte, das eine knappe Meile entfernt lag. Far Madding war von den Kaufleuten aus Tear und Illian und Caemlyn abhängig, aber der Hohe Rat misstraute allen Fremden und ihren korrumpierenden Sitten und Gebräuchen. Unter der Statue stand ein Straßenhüter in seinem Ledermantel, auf den rechteckige Metallplättchen aufgenäht waren und auf dessen linker Schulter eine Goldene Hand aufgenäht war. Er verscheuchte mit einer langen Holzstange graue Tauben mit schwarzen Flügeln. Savion Amhara war eine der drei am meisten verehrten Frauen in der Geschichte von Far Madding, allerdings war keine von ihnen weit über die Ufer des Sees hinaus bekannt. Zwei Männer aus der Stadt wurden in jedem bekannten Geschichtsbuch der Welt erwähnt, obwohl sie bei der Geburt des einen Aren Mador und bei der des anderen Fei Moreina geheißen hatte, aber Far Madding tat sein Bestes, Raolin Dunkelbann und Yurian Steinbogen zu vergessen. Auf eine sehr reale Weise waren diese beiden Männer der Grund, warum Rand al'Thor in Far Madding war.
Ein paar Leute auf dem Amhara-Markt sahen ihn an, als er an ihnen vorbeiging, aber niemand schenkte ihm einen zweiten Blick. Bei seinen blauen Augen und den bis zu den Schultern reichenden Haaren war es offensichtlich, dass er kein Einheimischer war. Hier trugen die Männer das Haar bis hinunter zur Taille, im Nacken entweder zusammengebunden oder von einer Klammer gehalten. Seine einfache braune Wollkleidung war jedoch unauffällig, kaum besser als die eines mäßig erfolgreichen Kaufmanns, und er war nicht der Einzige, der trotz des Seewindes ohne Umhang ging. Die meisten anderen waren gabelbärtige Kandori oder Arafelianer mit glockenverzierten Zöpfen oder Saldaeaner mit Habichtsnasen, Männer und Frauen, die das Wetter verglichen mit den Grenzlandwintern als mild empfanden, aber nichts an ihm deutete auf einen Grenzländer hin. Er weigerte sich einfach, sich von der Kälte berühren zu lassen, ignorierte sie, wie er eine Fliege ignoriert hätte. Ein Umhang wäre ihm möglicherweise in die Quere gekommen, falls sich eine Gelegenheit zum Handeln ergab.
Dieses eine Mal zog nicht einmal seine Größe Aufmerksamkeit auf sich. In Far Madding gab es viele große Männer, ein paar davon sogar Einheimische. Manel Rochaid war nur eine Handbreit kleiner als Rand, wenn überhaupt. Rand blieb ein gutes Stück hinter dem Mann, ließ Passanten und Sänften zwischen sie kommen und ihn manchmal sogar von ihnen verbergen. Er hatte sein Haar mit von Nynaeve besorgten Krautern schwarz gefärbt, und er bezweifelte, dass der abtrünnige Asha'man ihn selbst dann erkennen würde, sollte er sich umdrehen. Genauso wenig wie er befürchtete, Rochaid aus den Augen zu verlieren. Die meisten Einheimischen trugen stumpfe Farben mit helleren Stickereien auf Schultern und Brust und die erfolgreicheren hatten vielleicht noch juwelenbesetzte Haarspangen, während die ausländischen Kaufleute einfache, schmucklose Kleidung bevorzugten, um nicht als übermäßig reich zu erscheinen, und ihre Leibwächter und Kutscher hüllten sich in grobes Tuch. Rochaids hellroter Seidenumhang stach ins Auge. Er stolzierte wie ein König über den Platz, die eine Hand locker auf den Schwertgriff gelegt, und der pelzverbrämte Umhang flatterte hinter ihm im Wind. Er war ein Narr. Der Umhang wie auch das Schwert zogen Blicke auf sich.
Sein gewachster und gezwirbelter Schnurrbart kennzeichnete ihn als Murandianer, der wie jedes normale menschliche Wesen hätte zittern müssen, und das Schwert... Ein Narr in jeder Hinsicht.
Der Narr bist du, diesen Ort zu betreten, hechelte Lews Therm wild in seinem Kopf. Wahnsinn! Wahnsinn! Wir müssen hier weg! Wir müssen es!
Rand ignorierte die Stimme, zog die eng anliegenden Handschuhe zurecht und verfolgte Rochaid in einem gleichmäßigen Tempo. Einige der auf dem Markt stationierten Straßenhüter beobachteten den Mann. Ausländer betrachtete man hier als Hitzköpfe und Unruhestifter und Murandianer hatten einen zweifelhaften Ruf. Ein Ausländer, der eine Waffe trug, erregte immer die Aufmerksamkeit der Hüter. Rand war froh, dass er sich entschieden hatte, sein Schwert bei Min im Gasthaus zu lassen. Sie schmiegte sich stärker in sein Bewusstsein als Elayne, Aviendha oder Alanna. Der anderen war er sich immer nur vage bewusst. Min schien in seinem Inneren zu leben.
Als Rochaid den Amhara-Markt verließ und tiefer in die Stadt hineinging, stoben Taubenschwärme von den Dächern auf, aber statt den unfehlbaren Sprung zu machen, der sie gewöhnlich in den Himmel getragen hätte, stießen die Vögel zusammen, und einige flatterten runter auf den Boden. Leute starrten, die Hüter eingeschlossen, die eben noch Rochaid so argwöhnisch betrachtet hatten. Der Mann warf keinen Blick zurück, aber es hätte keinen Unterschied gemacht, hätte er es gesehen. Er wusste auch so, dass Rand in der Stadt war, ohne den Einfluss eines Ta'veren sehen zu müssen, denn sonst wäre er nicht hier gewesen.
Rand folgte Rochaid auf die Straße der Freude, die eigentlich aus zwei breiten geraden Straßen bestand, die von einer genau abgemessenen Reihe blattloser Bäume mit grauer Rinde getrennt wurden, und lächelte. Rochaid und seine Freunde hielten sich vermutlich für besonders schlau. Vielleicht hatten sie die Karte der nördlichen Ebenen von Maredo gefunden, die verkehrt herum in den Regalen des Steins von Tear gestanden hatte, oder das Buch über die Städte des Südens, das in der Bibliothek des Aesdaishar-Palasts in Chachin falsch einsortiert war oder einen der anderen Hinweise, die er zurückgelassen hatte. Kleine Fehler, die ein Mann in Eile möglicherweise machte, aber zusammengenommen malten zwei oder drei einen Pfeil, der auf Far Madding zeigte. Rochaid und die anderen hatten ihn schnell erkannt, schneller als erwartet, oder sie hatten Hilfe dabei gehabt. Letztlich spielte es keine Rolle.
Er war sich nicht sicher, warum der Murandianer vor den anderen eingetroffen war, aber er wusste, dass sie alle, Torval und Dashiva, Gedwyn und Kisman, kommen und versuchen würden, das zu vollenden, was sie in Cairhien in den Sand gesetzt hatten. Schade, dass keiner der Verlorenen so dumm sein würde, hier auf ihn Jagd zu machen. Sie würden nur die anderen schicken. Er wollte Rochaid nach Möglichkeit töten, bevor der Rest eintraf. Selbst hier, wo sie alle die gleiche Ausgangsstellung hatten, würde es klüger sein, sich einen Vorteil zu verschaffen. Rochaid war seit zwei Tagen in Far Madding, fragte offen nach einem rothaarigen Mann und stolzierte umher, als hätte er keine Sorge auf der ganzen Welt. Der Mann hatte eine Menge Leute gefunden, die mehr oder weniger seiner Beschreibung entsprachen, aber er hielt sich noch immer für den Jäger und nicht den Gejagten.
Du hast uns hergebracht, damit wir hier sterben! stöhnte Lews Thenn. Es ist fast so schlimm wie der Tod, hier sein zu müssen!
Rand zuckte unbehaglich mit den Schultern. Was Letzteres anging, stimmte er der Stimme sogar zu. Er würde genauso froh sein wie Lews Therin, wenn er diesen Ort wieder verlassen konnte. Aber manchmal blieb einem nur die Entscheidung zwischen schlecht und noch schlechter übrig. Rochaid war ein Stück vor ihm, beinahe in Reichweite. Allein das war jetzt von Bedeutung.
Die grauen, aus Steinen errichteten Läden und Gasthäuser, welche die Straße der Freude säumten, veränderten sich, je weiter sich Rand vom Amhara-Markt entfernte. Silberschmiede folgten auf Messerschmiede, die wiederum von Goldschmieden ersetzt wurden. Näherinnen und Schneider stellten Wolle statt bestickte Seidenstoffe und Brokat aus. Die Kutschen, die über die Pflastersteine ratterten, hatten jetzt Siegel auf die Türen gemalt und Gespanne aus vier oder sechs Pferden, die in Größe und Farben zusammenpassten, und viele Reiter saßen auf erstklassigen tairenischen Vollblütern oder ähnlich guten Tieren. Von Trägern transportierte Sänften wurden beinahe genauso zahlreich wie Fußgänger, und Leute in Livreen, die so hell waren wie jene der Träger, übertrafen die Zahl der Ladenbesitzer, die an Brust oder Schultern mit aufwendigen Stickereien versehene Mäntel trugen. Die Haarklammern der Männer waren nun mit Buntglas geschmückt oder gelegentlich mit Perlen oder kostbareren Edelsteinen, obwohl nur wenige Männer unterwegs waren, deren Frauen sich Juwelen leisten konnten. Allein der kalte Wind war derselbe und die Straßenhüter, die zu Dritt patrouillierten und aufmerksam nach Ärger Ausschau hielten. Es waren nicht so viele wie auf den Fremdenmärkten, aber sobald eine Patrouille aus der Sicht verschwand, tauchte eine andere auf, und dort, wo eine Straße, die größer als eine Gasse war, in die Straße der Freude mündete, gab es Wachtürme aus Stein, vor denen zwei Straßenhüter in Bereitschaft standen, falls der oben postierte Mann einen Unruhestifter erspähte. In Far Madding hielt man die Ordnung rigoros aufrecht.
Rand runzelte die Stirn, als Rochaid weiter die Straße entlangging. Konnte sein Ziel der Ratsherrinnenplatz sein, der sich in der Mitte der Insel befand? Es gab dort nichts bis auf die Ratsherrinnenhalle — ein Monument aus der Zeit vor fünfhundert Jahren, als Far Madding die Hauptstadt von Maredo gewesen war — und die Kontore der reichsten Frauen der Stadt. In Far Madding war ein reicher Mann jemand, dessen Frau ihm ein großzügiges Taschengeld zugestanden hatte oder ein Witwer, für den gesorgt worden war. Vielleicht traf sich Rochaid mit Schattenfreunden. Aber wenn dem so war, warum hatte der Mann gewartet?
Plötzlich überfiel ihn ein Schwindelgefühl und schlug wie eine Welle über ihm zusammen. Einen Augenblick lang stand ein undeutliches Gesicht vor seinem geistigen Auge, sodass er gegen einen Passanten taumelte. Der blonde Mann, der mit einer hellgrünen Livree bekleidet und größer als Rand war, rückte den großen Korb zurecht, den er trug, und wehrte Rand sanft ab. Sein sonnengebräuntes Gesicht wies auf der einen Seite eine lange, breite Narbe auf. Er senkte den Kopf, murmelte eine Entschuldigung und eilte weiter.
Rand richtete sich wieder auf und stieß einen lautlosen Fluch aus.
Du hast sie bereits vernichtet, flüsterte Lews Therin in seinem Kopf. Jetzt hast du einen anderen, den du vernichten kannst, und das vor der Zeit. Ich frage mich, wie viele wir drei vor dem Ende töten werden.
Halt den Mund!, dachte Rand wild, aber er erhielt nur gackerndes Gelächter zur Antwort. Es war nicht die Begegnung mit einem Aielmann, die ihn aufbrachte. Seit der Ankunft in Far Madding hatte er viele von ihnen ge —sehen. Aus irgendeinem Grund waren Hunderte von Aiel, nachdem sie die Wahrheit über ihre Geschichte erfahren hatten, hier gelandet und versuchten, dem Weg des Blattes zu folgen, obwohl sie nicht mehr darüber wussten, als dass sie lebenslang als Gai'schain dienen sollten. Er war nicht einmal wegen der Gleichgewichtsstörung besorgt oder wegen des unbekannten Gesichts, das er jedes Mal zur Hälfte erblickte, wenn sie ihn übermannte. Voraus ratterte eine von sechs Grauschimmeln gezogene Kutsche durch den Strom aus Sänften und dahineilenden Livrierten, und Männer und Frauen eilten in die Geschäfte und wieder hinaus, aber nirgendwo war ein roter Mantel in Sicht. Gereizt schlug er sich mit der behandschuhten Faust in die Handfläche.
Blindlings weiterzugehen wäre idiotisch. Hinterher lief er noch direkt in den Mann hinein oder wurde von ihm gesehen. Bis jetzt glaubte Rochaid, dass Rand keine Ahnung hatte, dass er in der Stadt war, ein Vorteil, der zu wichtig war, um ihn zu verschwenden. Er wusste, wo Rochaid seine Unterkunft hatte, eines jener Gasthäuser, die eigens für Ausländer reserviert waren. Er konnte morgen davor herumlungern und auf die nächste Gelegenheit warten. Vielleicht trafen die anderen ja während der Nacht ein. Er glaubte, es mindestens mit zweien von ihnen gleichzeitig aufnehmen zu können, möglicherweise sogar mit allen fünfen, aber das würde nicht ohne Aufsehen abgehen. Beim Kampf gegen alle fünf würde er Verletzungen davontragen, und bestenfalls würde er sein Schwert zurücklassen müssen, und das wollte er nur ungern. Es war ein Geschenk von Aviendha. Und schlimmstenfalls ...
Ein pelzbesetzter Umhang, der im Wind flatterte, als er voraus um eine Ecke verschwand, blitzte auf, und er rannte darauf zu. Die Hüter vor dem dortigen Turm straffen die Schultern, der oben postierte Mann nahm seine Rassel vom Gürtel. Einer der Männer auf der Straße hob seine lange Keule, während sein Gefährte einen Fangstab von der Stelle nahm, wo er an den Stufen des Wachtums gelehnt hatte. Das gegabelte Ende war so geformt, ein Arm oder ein Bein oder einen Hals zu erwischen und festzuhalten, und der Stab selbst war mit Eisen beschlagen, um gegen jedes Schwert und jede Axt bestehen zu können. Sie verfolgten mit harten Augen jede seiner Bewegungen.
Er nickte ihnen zu und lächelte, dann blickte er ostentativ in die Seitengasse und betrachtete die dortige Menge. Kein flüchtender Dieb, nur ein Mann, der jemanden einzuholen versuchte. Die Keule wurde zurück an ihren Gürtelhaken gesteckt, der Fangstab wurde wieder an die Stufen gelehnt. Rand sah die Hüter nicht noch einmal an. Voraus erhaschte er einen erneuten Blick auf den Umhang und möglicherweise einen roten Mantel, als der Träger in die nächste Straße einbog.
Rand hob die Hand, als winke er jemandem zu, und eilte hinter dem Mann her, wich Leuten und den Karren der Straßenhändler aus. Hausierer mit Bauchläden voller Nadeln oder Bürsten versuchten mit ihren Rufen die Aufmerksamkeit der Passanten zu erregen. Hier trugen nur wenige Leute Schmuck und die Haare der Männer waren viel häufiger mit einer Schnur zusammengebunden als mit einer schlichten Spange. Diese Straßen waren bestenfalls eng und gewunden, ein wahlloses Labyrinth, in dem sich billige Gasthäuser und drei- oder vierstöckige Wohnhäuser über den Geschäften der Metzger, Kerzenmacher, Barbiere, Blechschmieden, Töpfern und Küfern auftürmten. Kutschen hätten nicht in diese engen Straßen gepasst und es gab auch keine Sänften oder Reiter und nur eine Hand voll livrierter Diener, die Körbe auslieferten, aber abgesehen von den Straßenhütern auf jeden herabsahen, dem sie begegneten. Selbst hier gab es die Patrouillen und Wachtürme.
Schließlich kam er nahe genug heran, um einen eingehenderen Blick auf den Mann werfen zu können, dem er folgte. Rochaid hatte endlich genug Verstand bewiesen, seinen Umhang zu schließen, um den roten Mantel und das nutzlose Schwert zu verbergen, aber es gab keinen Zweifel an seiner Identität. Tatsächlich schien er jetzt jedes Aufsehen vermeiden zu wollen, denn er schlich dicht an den Läden vorbei. Plötzlich sah er sich verstohlen um, dann schlüpfte er zwischen einem winzigen Korbmachergeschäft und einem Gasthaus, dessen Schild so dreckig war, dass der Name völlig verschmiert war, in eine Gasse. Rand hätte beinahe gegrinst und verschwendete keine Zeit, hinter ihm herzueilen. In Far Maddings Gassen gab es weder Straßenhüter noch Wachtürme.
Diese Gassen waren noch verwinkelter als die Straßen, die Rand gerade verlassen hatte, und bildeten ihre eigenen Labyrinthe, die sich durch jeden Häuserblock der Stadt schlängelten. Rochaid war bereits außer Sicht, aber Rand konnte das dumpfe Trampeln seiner Stiefel auf dem feuchten, steinigen Boden hören. Die Laute hallten zwischen den fensterlosen Steinwänden hin und her und vervielfältigten sich, bis er kaum noch sagen konnte, wo sie ihren Ursprung nahmen, aber er folgte ihnen und rannte Gassen entlang, die kaum breit genug für zwei Männer waren, die nebeneinander gingen. Wenn sie sich freundlich gesinnt waren. Warum war Rochaid in dieses Labyrinth gegangen? Was auch immer sein Ziel war, er wollte dort möglichst bald eintreffen. Aber er konnte nicht wissen, welche Gassen er nehmen musste, um von einem Ort zum anderen zu gelangen.
Plötzlich wurde sich Rand bewusst, dass die einzigen Stiefel, die er hörte, seine eigenen waren, und er blieb wie angewurzelt stehen. Stille. Von seinem Standort konnte er drei weitere schmale Gassen sehen, die vor ihm abzweigten. Kaum atmend strengte er die Ohren an. Und dann hörte er aus der nächsten Gassenmündung ein leises Scheppern, als hätte jemand im Vorbeigehen einen Stein gegen eine Mauer getreten. Am besten, er brachte es hinter sich und tötete den Mann.
Rand bog um die Ecke in die Gasse. Rochaid wartete bereits auf ihn.
Der Murandianer hatte den Umhang zurückgeschlagen und beide Hände auf dem Schwertgriff. Der Friedensbund von Far Madding webte Griff und Scheide mit einem feinen Drahtnetz zusammen. Ein schmales, wissendes Lächeln lag auf seinen Lippen. »Ihr wart so leicht anzulocken wie eine Taube«, sagte er und fing an, das Schwert zu ziehen. Der Draht war durchtrennt und dann so hingebogen worden, dass er bei einem flüchtigen Blick unversehrt erschien. »Lauft, wenn Ihr wollt.«
Rand lief nicht. Stattdessen machte er einen Schritt nach vorn, schlug mit der linken Hand auf Rochaids Schwertgriff und klemmte die Klinge ein, noch während sie zur Hälfte in ihrer Scheide steckte. Der Mann riss überrascht die Augen auf, aber er hatte noch immer nicht begriffen, dass die Zeit, die er mit seiner hämischen Bemerkung verschwendet hatte, ihn das Leben kosten sollte. Er wich zurück, versuchte freien Raum zu gewinnen, um die Waffe ziehen zu können, aber Rand folgte jeder seiner Bewegungen geschmeidig, hielt das Schwert fest, drehte sich aus der Hüfte heraus und trieb die gekrümmten Fingerknöchel hart in Rochaids Kehle. Knorpel knirschte laut und der Renegat dachte nicht länger daran, irgendjemanden töten zu wollen. Er stolperte mit weit aufgerissenen Augen zurück, riss beide Hände an den Hals und unternahm verzweifelte Bemühungen, Luft durch die zerschmetterte Luftröhre einzusaugen.
Rand setzte zum tödlichen Schlag an, direkt unterhalb des Brustbeins, da ertönte hinter ihm ein leises Geräusch, und plötzlich nahm Rochaids spöttische Bemerkung eine ganz neue Bedeutung an. Rand stieß den Mann mit der Handkante zu Boden und ließ sich aus diesem Schlag heraus auf ihn fallen. Kraftvoll geschwungener Stahl prallte klirrend gegen eine Steinmauer, ein Mann fluchte. Rand verwandelte den Sturz in eine Rolle vorwärts und riss Rochaids Schwert aus der Scheide, während er sich über die Schulter abrollte. Rochaid stieß einen schrillen, gurgelnden Schrei aus, während Rand wieder hochkam und in geduckter Stellung herumwirbelte.
Raefar Kisman stand da und starrte ungläubig auf Rochaid; die Klinge, mit der er Rand hatte aufspießen wollen, steckte nun in der Brust des Murandianers. Blut sprudelte aus Rochaids Mund, er grub die Absätze in den Boden und beschmutzte seine Hände mit Blut, da er den scharfen Stahl umklammerte, als könnte er ihn aus seinem Leib ziehen. Kisman war von durchschnittlicher Größe und blass für einen Tairener; abgesehen von dem Schwertgürtel war seine Kleidung so unauffällig wie Rands. Solange er diesen unter dem Umhang versteckte, hätte er in Far Madding überall hingehen können, ohne aufzufallen.
Seine Verzweiflung währte nur einen Augenblick. Im gleichen Moment, als Rand mit dem Schwert in beiden Händen auf die Beine kam, riss Kisman die Klinge aus dem Leib und hatte für seinen sich windenden Komplizen keinen Blick mehr übrig. Er beobachtete Rand und seine Hände an dem langen Schwertgriff verlagerten nervös ihre Position. Zweifellos gehörte er zu jenen, die so stolz darauf waren, die Macht als Waffe benutzen zu können, dass er die Ausbildung mit dem Schwert sträflich vernachlässigt hatte. Rand hatte sie nicht gering geschätzt. Rochaid zuckte ein letztes Mal, lag dann still da und starrte mit weit aufgerissenen Augen in den Himmel.
»Zeit zu sterben«, sagte Rand leise, aber als er sich vorwärts bewegte, ertönte hinter dem Tairener ein nicht enden wollendes Rasseln, dem noch weitere folgten. Die Straßenhüter.
»Sie verhaften uns beide«, flüsterte Kisman. Es klang verzweifelt. »Wenn sie uns neben einer Leiche finden, hängen sie uns beide auf! Das wisst Ihr!«
Er hatte Recht, zumindest in gewisser Weise. Wenn die Wächter sie hier fanden, würden sie beide in den Verließen unterhalb der Ratsherrinnenhalle landen. Noch mehr Rasseln ertönten. Die Hüter mussten bemerkt haben, dass drei Männer nacheinander in die Gasse geschlüpft waren. Vielleicht hatten sie sogar Kismans Schwert gesehen. Rand nickte zögernd.
Der Tairener wich vorsichtig zurück, und als er sah, dass Rand keinerlei Anstalten machte, ihm zu folgen, stieß er das Schwert in die Scheide und rannte mit wehendem Umhang los.
Rand warf das geborgte Schwert auf Rochaids Leiche und rannte in die andere Richtung. Aus dieser Richtung ertönten noch keine Rasseln. Mit etwas Glück würde er wieder auf der Straße sein und in der Menge untertauchen können, bevor er entdeckt wurde. Er hatte andere Dinge als die Schlinge zu fürchten. Um dem Henker zu entgehen, musste er bloß die Handschuhe ausziehen und die Drachen auf den Armen zeigen, davon war er überzeugt. Aber der Rat hatte verkündet, dass er Elaidas seltsame Proklamation anerkannte. Sobald er in einer Zelle steckte, würde er dort auch bleiben, bis ihn die Weiße Burg abholen ließ. Also rannte er so schnell, wie er nur konnte.
Kisman tauchte in der Menge unter und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als drei Straßenhüter in die Gasse liefen, aus der er gerade gekommen war. Er hielt den Umhang fest, um das Schwert zu verbergen, und passte sich an den Verkehrsstrom an. Nur nicht die Aufmerksamkeit eines Hüters erregen. Zwei von ihnen passierten ihn; sie hatten einen Gefangenen gefesselt und in einen großen Sack gesteckt, den sie an einem quer über die Schultern gelegten Stab trugen. Nur der Kopf des Mannes ragte heraus; sein Blick war wild und irrte umher. Kisman erschauderte. Sollten seine Augen zu Asche verbrennen, das hätte er sein können! Er!
Er war ein Narr gewesen, sich überhaupt von Rochaid dazu überreden zu lassen. Eigentlich hatten sie warten sollen, bis alle eingetroffen waren; sie waren einer nach dem anderen in die Stadt gekommen, um jede Aufmerksamkeit zu vermeiden. Rochaid hatte den Ruhm begehrt, derjenige zu sein, der al'Thor tötete. Der Murandianer war von dem Verlangen verzehrt worden, sich als besserer Mann als al'Thor zu beweisen. Jetzt war er tot, und um ein Haar wäre Raefar Kisman mit ihm gestorben, und das machte ihn sehr wütend. Er wollte eher Macht als Ruhm, vielleicht Tear vom Stein aus regieren. Vielleicht auch mehr. Er wollte unsterblich werden. Dies hatte man ihnen versprochen, das stand ihm zu. Ein Teil seiner Wut rührte daher, dass er sich nicht einmal sicher war, ob sie al'Thor tatsächlich töten sollten. Der Große Herr wusste, dass er es wollte — er würde erst wieder ruhig schlafen, wenn der Mann tot und begraben war! — trotzdem...
»Tötet ihn«, hatte der M'Hael befohlen, als er sie nach Cairhien schickte, aber die Tatsache, dass sie aufgeflogen waren, hatte ihn mindestens genauso verstimmt wie ihr Versagen. Far Madding sollte ihre letzte Chance sein; das hatte er deutlich zum Ausdruck gebracht. Dashiva war einfach verschwunden. Kisman wusste nicht, ob er geflohen war oder ob der M'Hael ihn getötet hatte, und es war ihm auch egal.
»Tötet ihn«, hatte Demandred später befohlen, aber er hatte hinzugefügt, dass es besser wäre, wenn sie starben, statt sich erneut dabei erwischen zu lassen. Egal von wem, selbst vom M'Hael, als wäre ihm Taims Befehl unbekannt.
Und noch geraume Zeit später hatte Moridin gesagt: »Tötet ihn, wenn es sein muss, aber bringt vor allem seine sämtlichen Besitztümer. Damit werdet ihr eure früheren Fehler wieder gut machen.« Der Mann behauptete, einer der Auserwählten zu sein, und niemand war so verrückt, so eine Behauptung in die Welt zu setzen, wenn es nicht stimmte, doch ihm schienen al'Thors Besitztümer wichtiger zu sein als sein Tod, der Mord an ihm eine zufällige Beigabe und eigentlich unnötig.
Kisman hatte nur diese beiden Auserwählten kennen gelernt, aber sie hatten ihm Kopfschmerzen bereitet. Sie waren schlimmer als Cairhiener. Vermutlich konnte das, was sie nicht sagten, einen Mann schneller töten als ein von einem Hochlord unterzeichneter Befehl. Nun, sobald Torval und Gedwyn eintrafen, konnten sie einen Plan schmieden...
Plötzlich verspürte er einen Stich im rechten Arm, und er starrte verblüfft auf das Blut, das sich auf seinem Umhang ausbreitete. Es fühlte sich nicht wie ein tiefer Schnitt an und kein Beutelschneider würde seinen Unterarm aufgeschlitzt haben.
»Er gehört mir«, flüsterte hinter ihm ein Mann, aber als er sich umdrehte, waren da nur die Passanten zu sehen, die die Straße bevölkerten und ihren Geschäften nachgingen. Die wenigen, die den dunklen Fleck auf seinem Urnhang bemerkten, schauten rasch zur Seite. An diesem Ort wollte niemand auch nur mit der geringsten Gewalttätigkeit in Verbindung gebracht werden. Sie waren richtig gut darin, das zu ignorieren, was sie nicht sehen wollten.
Die Wunde pochte, brannte viel stärker als im ersten Augenblick. Kisman überließ den Umhang dem Wind und drückte die linke Hand auf den blutigen Schnitt in seinem Ärmel. Der Arm fühlte sich geschwollen und heiß an. Entsetzt starrte er seine rechte Hand an, die sich schwarz verfärbte und aufquoll wie eine Leiche, die eine Woche alt war.
Er rannte blindlings los, stieß Leute zur Seite, warf sie zu Boden. Er wusste nicht, was mit ihm geschah, wie es geschehen war, aber er war sich sicher, wie es enden würde. Es sei denn, er schaffte es aus der Stadt heraus, jenseits des Sees, oben in die Berge. Dann hatte er eine Chance. Ein Pferd. Er brauchte ein Pferd! Er musste es versuchen. Man hatte ihm versprochen, er würde ewig leben! Überall waren nur Leute, die zu Fuß gingen, und sie machten ihm Platz. Er hörte das Rasseln der Straßenhüter, aber das konnte genauso gut sein Blut sein, das in seinen Ohren pochte. Alles wurde dunkel. Sein Gesicht traf auf etwas Hartes und er wusste, dass er gefallen war. Sein letzter Gedanke war, dass die Auserwählten entschieden hatten, ihn zu bestrafen, aber er hätte nicht sagen können, aus welchem Grund.
Als Rand den Schankraum der Krone von Maredo betrat, saßen nur wenige Männer an den runden Tischen. Trotz des vielversprechenden Namens war es nur ein bescheidenes Gasthaus mit zwei Dutzend Kammern in den beiden darüberliegenden Etagen. Die verputzten Wände des Schankraums waren gelb gestrichen, und die Männer, die an den Tischen bedienten, trugen gelbe Schürzen. Wenn man von draußen hereinkam, verliehen die beiden Kamine an beiden Enden des Raums ihm eine gewisse Wärme. Die Schlagläden waren verriegelt, aber die Lampen an den Wänden erhellten das Zwielicht. Die Gerüche aus der Küche versprachen ein schmackhaftes Mittagessen mit Fisch aus dem See. Rand hätte es ungern versäumt. Die Köche in der Krone von Maredo waren sehr gut.
Er entdeckte Lan allein an einem Tisch, mit dem Rücken zur Wand. Die geflochtene Lederschnur, die Lans Haar zurückhielt, rief bei einigen der Männer schräge Blicke hervor, aber er weigerte sich, das Hadori auch nur für kurze Zeit abzunehmen. Er erwiderte Rands Blick. Als Rand mit dem Kopf auf die Treppe im rückwärtigen Teil des Raums wies, verschwendete er keine Zeit mit fragenden Blicken; er stellte seinen Weinbecher ab, stand auf und ging zur Treppe. Sogar nur mit dem kleinen Messer am Gürtel sah er gefährlich aus, aber daran konnte man nichts ändern. Mehrere Männer sahen in Rands Richtung, aber aus irgendeinem Grund schauten sie schnell zur Seite, wenn er ihre Blicke erwiderte.
In der Nähe der Küche blieb Rand an der Tür zu dem Frauenraum stehen. Männern war hier der Zutritt nicht gestattet. Abgesehen von den paar Blumen, die man auf die gelben Wände gemalt hatte, war der Frauenraum auch nicht viel aufwendiger als der Schankraum, allerdings waren die Lampenständer und die Kamingitter ebenfalls gelb bemalt. Die gelben Schürzen der weiblichen Bedienungen unterschieden sich in nichts von denen der Männer im Schankraum. Frau Nalhera, die schlanke, grauhaarige Wirtin, saß an demselben Tisch wie Min, Nynaeve und Alivia, und sie alle unterhielten sich bei einer Tasse Tee und lachten viel.
Der Anblick der ehemaligen Damane ließ Rand die Zähne zusammenbeißen. Nynaeve behauptete, die Frau hätte darauf bestanden, sie zu begleiten, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass es überhaupt jemanden gab, der erfolgreich bei ihr auf etwas bestehen konnte. Sie wollte Alivia aus irgendeinem geheimen Grund dabei haben. Seit er Elayne verlassen und sie abgeholt hatte, benahm sie sich sehr geheimnisvoll, so als würde sie mit aller Mühe daran arbeiten, eine Aes Sedai zu sein. Die drei Frauen hatten sich hochgeschlossene Gewänder in der Mode von Far Madding besorgt, deren Oberteile und Schultern mit gestickten Blumen und Vögeln übersät waren und bis ans Kinn reichten, obwohl Nynaeve manchmal über sie meckerte. Zweifellos hätte sie das derbe Tuch von den Zwei Flüssen dem feineren hiesigen Stoff vorgezogen. Der rote Punkt des Ki'sain auf ihrer Stirn zog alle Blicke auf sich, doch als hätte das nicht ausgereicht, hatte sie sich mit genug Schmuck behängt, um zu einer Audienz der Königin zu gehen. Da waren ein schmaler goldener Gürtel und eine lange Halskette und jede Menge Armreifen, die mit hellblauen Saphiren und ihm unbekannten polierten grünen Steinen besetzt waren, und an jedem Finger ihrer rechten Hand steckte ein passender Ring. Ihr Großer Schlangenring war irgendwo verborgen, um keine Aufmerksamkeit zu erregen, aber der Rest sorgte für zehnmal so viel. Die meisten Leute hätten den Ring einer Aes Sedai nicht erkannt, wenn sie ihn gesehen härten, aber jeder konnte sehen, dass in diesen Edelsteinen eine Menge Geld steckte.
Rand räusperte sich und senkte den Kopf. »Frau, ich muss oben mit dir sprechen«, sagte er. Und fügte gerade noch rechtzeitig hinzu: »Wenn es dir gefällt.« Er konnte es nicht dringenderer machen, nicht, wenn er den Anstandsformen genügen wollte, aber er hoffte, dass sie nicht länger blieben. Vielleicht taten sie es ja doch, und wenn auch nur, um der Wirtin zu demonstrieren, dass sie nicht unter seiner Fuchtel standen. Aus irgendeinem Grund schienen die Menschen in Far Madding tatsächlich dem Glauben anzuhängen, dass auswärtige Frauen sprangen, wenn es ihre Männer ihnen befahlen!
Min drehte sich auf ihrem Stuhl herum und grinste ihn an, wie sie es jedes Mal tat, wenn er sie seine Frau nannte. Sie war in seinem Kopf gegenwärtig und das Gefühl kündete von Wärme und Freude, und plötzlich sprühte es vor Belustigung. Sie fand ihre Situation in Far Madding sehr amüsant. Ohne den Blick von ihm zu wenden, beugte sie sich zu Frau Nalhera herüber und sagte etwas mit leiser Stimme, das die ältere Frau vor Lachen gackern und Nynaeve gequält das Gesicht verziehen ließ.
Alivia stand auf und sah nicht einmal annähernd wie die unterjochte Frau aus, die er Taim übergeben hatte. All diese gefangen genommenen Damane und Sul'dam waren eine Bürde gewesen, und er hatte aufgeatmet, als er sie endlich losgeworden war. Ihr blondes Haar wies weiße Strähnen auf und in ihren Augenwinkeln gab es feine Fältchen, aber in diesen Augen loderte jetzt ein wildes Feuer. »Nun?«, sagte sie gedehnt und starrte auf Nynaeve herunter, aber irgendwie ließ sie das Wort zugleich wie eine Kritik und einen Befehl klingen.
Nynaeve schenkte der Frau einen finsteren Blick und nahm sich reichlich Zeit, um aufzustehen und die Röcke zu glätten, aber immerhin stand sie auf.
Rand wartete nicht länger, sondern eilte nach oben. Lan stand oben an der Treppe, gerade außerhalb der Sicht des Schankraums. Rand erstattete leise einen knappen Bericht über das, was geschehen war. Lans steinernes Gesicht regte sich nicht.
»Wenigstens einer von ihnen ist erledigt«, sagte er und wandte sich dem Zimmer zu, das er sich mit Nynaeve teilte. »Ich packe unsere Sachen.«
Als Min endlich das Zimmer betrat, das Rand mit ihr bewohnte, war er damit beschäftigt, ihre Kleider aus dem hohen Schrank zu holen und in den Reisekorb zu stopfen. Nynaeve und Alivia folgten ihr.
»Beim Licht, so ruinierst du bloß unsere Sachen«, rief Min aus und drängte ihn mit der Schulter von dem Korb fort. Sie packte Kleidungsstücke wieder aus, faltete sie sauber zusammen und legte sie neben seinem friedensgebundenen Schwert aufs Bett. »Warum packen wir?«, fragte sie, ließ ihm aber keine Zeit für eine Antwort. »Frau Nalhera meinte, du würdest nicht so mürrisch sein, wenn ich dir jeden Morgen ein paar Schläge mit der Rute verpasse.« Sie lachte und schüttelte einen der Mäntel aus, die sie hier nicht trug. Er hatte ihr versprochen, ihr neue zu kaufen, aber sie weigerte sich, die bestickten Mäntel und Kniebundhosen zurückzulassen. »Ich habe ihr gesagt, ich würde es mir überlegen. Lan gefällt ihr sehr.« Plötzlich sprach sie mit verstellter schriller Stimme weiter und äffte die Wirtin nach. »Ich sage es ja immer, ein ordentlicher, ruhiger Mann ist auf jeden Fall einem hübschen Gesicht vorzuziehen.«
Nynaeve schnaubte verächtlich. »Wer will schon einen Mann, der durch Reifen springt, wann immer man will?« Rand starrte sie an, Min blieb der Mund offen stehen. Das war doch genau das, was Nynaeve mit Lan veranstaltete, und Rand konnte einfach nicht begreifen, wieso der Mann das überhaupt mitmachte.
»Ihr denkt zu viel über Männer nach, Nynaeve«, sagte Alivia. Nynaeve runzelte die Stirn, aber statt etwas zu erwidern, stand sie einfach da und spielte an einem ihrer Armreifen herum, einem seltsamen Schmuckstück, von dem sich flache Goldketten über ihren linken Handrücken bis zu Ringen an allen vier Fingern spannten. Die ältere Frau schüttelte den Kopf, als wäre sie enttäuscht, keine stärkere Reaktion hervorgerufen zu haben.
»Ich packe, weil wir abreisen müssen, und zwar schnell«, sagte Rand hastig. Nynaeve war im Augenblick still, so seltsam das auch war, aber wenn ihr Gesicht noch eine Spur dunkler wurde, würde sie an ihrem Zopf zerren und so lange herumbrüllen, dass stundenlang keiner auch nur ein Wort dazwischenschieben konnte.
Bevor er mit dem Bericht zu Ende war, den er bereits Lan gegeben hatte, hörte Min auf, Sachen zu falten und fing an, ihre Bücher in den zweiten Reisekorb zu verstauen, und zwar so hastig, dass sie darauf verzichtete, sie wie gewöhnlich mit Umhängen zu polstern. Die beiden anderen Frauen starrten ihn an, als hätten sie ihn noch nie zuvor gesehen. Für den Fall, dass sie nicht so rasch begriffen wie Min, fügte er ungeduldig hinzu: »Rochaid und Kisman haben mich in einen Hinterhalt gelockt. Sie wussten, dass ich ihnen folge. Kisman ist entkommen. Wenn er dieses Gasthaus kennt, könnten er und Dashiva und Gedwyn und Torval hier auftauchen, vielleicht in zwei oder drei Tagen, vielleicht auch in einer Stunde.«
»Ich bin nicht blind«, sagte Nynaeve, die ihn noch immer anstarrte. Ihre Stimme war leidenschaftslos; protestierte sie nur der Form halber? »Wenn du willst, dass es schnell geht, solltest du Min helfen, statt wie ein Wollkopf herumzustehen.« Sie starrte ihn noch einen Augenblick länger an, dann schüttelte sie den Kopf, bevor sie das Zimmer verließ.
Alivia schloss sich ihr an, verharrte jedoch und starrte Rand finster an. Nein, sie hatte wirklich nichts Demütiges mehr an sich. »Auf diese Weise könntet Ihr den Tod finden«, sagte sie missbilligend. »Ihr habt noch zu viel zu tun, um jetzt schon zu sterben. Ihr müsst uns helfen lassen.«
Er sah ihr stirnrunzelnd nach, wie sie die Tür hinter sich schloss. »Hast du bei ihr irgendwelche Bilder gesehen, Min?«
»Ich sehe sie ständig, aber nicht von der Art, die du meinst; es ist nichts, was man verstehen kann.« Eines der Bücher ließ sie die Nase rümpfen und sie legte es zur Seite. Es war ziemlich unwahrscheinlich, dass sie auch nur einen Band ihrer nicht gerade kleinen Bibliothek zurückließ. Zweifellos beabsichtigte sie, dieses bei der ersten Gelegenheit zu lesen. Sie steckte ihre Nase stundenlang in diese Bücher. »Rand«, sagte sie langsam, »du hast all das getan, einen Mann getötet und dich einem anderen entgegengestellt, und ich... Rand, ich habe nichts gefühlt. Durch den Bund, meine ich. Keine Furcht, kein Zorn. Nicht einmal Besorgnis! Nichts.«
»Ich war nicht wütend auf ihn.« Kopfschüttelnd packte er wieder Kleider in den Reisekorb. »Er musste getötet werden, das war alles. Und warum sollte ich Angst haben?«
»Oh«, sagte sie leise. »Ich verstehe.« Sie beugte sich wieder über die Bücher. In dem Bund war es ganz still geworden, als wäre sie tief in Gedanken versunken, aber dann kämpfte sich ein winziger Faden der Sorge durch die Stille.
»Min, ich verspreche, ich werde nicht zulassen, dass dir etwas geschieht.« Er wusste nicht, ob er dieses Versprechen einhalten konnte, aber er würde es versuchen.
Sie lächelte ihn an, es war beinahe schon ein Lachen. Licht, sie war wunderschön. »Das weiß ich, Rand. Und ich werde nicht zulassen, dass dir etwas geschieht.« Liebe flutete durch den Bund wie die Glut der Mittagssonne. »Aber Alivia hat Recht. Du musst uns irgendwie helfen lassen. Wenn du uns diese Burschen beschreibst, können wir vielleicht Erkundigungen einziehen. Du kannst jedenfalls nicht die ganze Stadt allein durchsuchen.«
Wir sind tot, murmelte Lews Thenn. Tote sollten in Ruhe in ihren Gräbern ruhen, aber das tun sie nie.
Rand nahm die Stimme in seinem Kopf kaum wahr. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er Kisman und die anderen gar nicht beschreiben musste. Er konnte sie so gut zeichnen, dass jeder die Gesichter erkennen würde. Dabei hatte er in seinem ganzen Leben noch nicht gezeichnet. Aber Lews Therin konnte es. Das hätte ihm Angst einjagen müssen. Das hätte es wirklich.
Isam schritt den Raum ab und musterte das allgegenwärtige Licht des Tel'aran'rhiod. Das Bett war zwischen zwei Blicken zerwühlt und ordentlich gemacht. Die Bettdecke verwandelte sich von geblümt zu dunkelrot und wurde dann zu einer Steppdecke. Das Vergängliche verwandelte sich hier immer und er nahm es kaum noch bewusst wahr. Er konnte das Tel'aran'rhiod nicht so benutzen wie die Auserwählten, aber das war der Ort, an dem er sich am freiesten fühlte. Hier konnte er sein, wer auch immer er sein wollte. Der Gedanke ließ ihn kichern.
Er blieb neben dem Bett stehen, zog vorsichtig die beiden vergifteten Dolche und trat aus der unsichtbaren in die wache Welt. Dabei wurde er zu Luc. Es erschien passend.
In der wachen Welt war das Zimmer dunkel, aber das einzige Fenster ließ genug Mondlicht herein, dass Luc die Umrisse der beiden Menschen sehen konnte, die unter ihren Decken schliefen. Ohne zu zögern rammte er in jeden einen Dolch. Sie erwachten mit einem leisen Aufschrei, aber er riss die Klingen heraus und stach immer wieder zu. Das Gift machte es unwahrscheinlich, dass einer von ihnen genug Kraft gehabt hätte, um so laut zu schreien, dass man sie außerhalb des Zimmers gehört hätte, aber er wollte diesen Mord auf eine Weise zu seinem Werk machen, wie es das Gift allein niemals bewirkt hätte. Nachdem er jeweils eine Klinge zwischen Rippen gerammt hatte, hörten sie bald auf zu zucken.
Er wischte die Dolche an der Bettdecke sauber und schob sie mit der gleichen Sorgfalt, mit der er sie gezogen hatte, in die Scheiden zurück. Man hatte ihm viele Fähigkeiten verliehen, aber Immunität gegen Gift oder andere Waffen waren nicht darunter. Dann zog er einen Kerzenstummel aus der Tasche und blies gerade genug Asche von den Holzscheiten im Kamin, dass er den Docht entzünden konnte. Er sah sich immer gern die Leute an, die er tötete, und wenn es nicht bei der Tat ging, dann eben hinterher. Er hatte es vor allem bei den beiden Aes Sedai im Stein von Tear genossen. Der Unglaube auf ihren Gesichtern, als er wie aus dem Nichts vor ihnen auftauchte, das Entsetzen, als sie erkannten, dass er nicht gekommen war, um sie retten — Erinnerungen, die er in Ehren hielt. Das war Isam gewesen, nicht er, aber die Erinnerungen waren deshalb nicht weniger kostbar. Keiner von ihnen bekam oft die Gelegenheit, eine Aes Sedai zu töten.
Er prägte sich die Gesichter des Mannes und der Frau auf dem Bett einen Augenblick lang ein, dann drückte er die Kerzenflamme aus und steckte die Kerze zurück in die Tasche, bevor er wieder ins Tel'amn'rhiod trat.
Sein gegenwärtiger Patron wartete schon auf ihn. Es war ein Mann, dessen war er sich sicher, aber Luc konnte ihn nicht ansehen. Es war nicht so wie bei den schleimigen Grauen Männern, die man einfach nicht wahrnahm. Er hatte mal einen von ihnen getötet, in der Weißen Burg. Sie hatten sich kalt und leer angefühlt. Es war, als hätte man eine Leiche getötet. Nein, dieser Mann hatte etwas mit der Macht getan, so dass Lucs Blick von ihm abglitt wie Wasser von Glas. Selbst aus den Augenwinkeln betrachtet, war er nur ein Schemen.
»Das Paar in diesem Zimmer wird für alle Zeiten schlafen«, sagte Luc, »aber der Mann war kahlköpfig und die Frau grauhaarig.«
»Schade«, sagte der Mann, und die Stimme schien in Lucs Ohren zu schmelzen. Er würde sie nicht erkennen, wenn er sie ohne die Tarnung hörte. Der Mann musste einer der Auserwählten sein. Von den Auserwählten abgesehen wussten nur wenige, wie er zu erreichen war, und keiner der Männer konnte die Macht lenken oder hätte es gewagt, ihm Befehle zu erteilen. Man bat um seine Dienste. Nur der Große Herr nicht und in letzter Zeit auch die Auserwählten. Aber keiner der Auserwählten, die Luc kannten, hatte jemals solche Vorsichtsmaßnahmen getroffen.
»Soll ich es erneut versuchen?«, fragte Luc.
»Vielleicht. Wenn ich es Euch sage. Vorher nicht. Vergesst nicht, zu keinem ein Wort darüber.«
»Wie Ihr befehlt.« Luc verbeugte sich, aber der Mann schuf bereits ein Wegetor, ein Loch, das sich auf eine verschneite Waldlichtung öffnete. Er war verschwunden, bevor sich Luc wieder aufgerichtet hatte.
Es war wirklich eine Schande. Er hatte sich so darauf gefreut, seinen Neffen und die Schlampe zu töten. Aber wenn er freie Zeit hatte, machte es immer Spaß, auf die Jagd zu gehen. Er wurde zu Isam. Isam tötete Wölfe noch lieber als Luc.