Das düstere Innere des Zeltes war so heiß, daß im Vergleich dazu Caemlyn, etwa achthundert Meilen nördlich gelegen, angenehm kühl erschien, und als Rand die Zeltklappe hob, mußte er blinzeln. Der Sonnenschein traf ihn wie ein Hammerschlag, so daß er froh war, die Schufa um den Kopf gewickelt zu haben. Eine Dublette der Drachenflagge hing über dem grüngestreiften Zelt neben einer der karmesinroten Flaggen mit dem uralten Kennzeichen der Aes Sedai. Zeltreihen erstreckten sich über eine wellige Ebene, auf der bis auf ein paar armselige Büschel alles Gras schon lange von Hufen und Stiefeln niedergetrampelt worden war. Manche Zelte hatte spitze Dächer, andere flache, die meisten waren weiß, wenn auch gelegentlich ziemlich schmutzig, aber einige wiesen doch bunte Farben oder Farbstreifen auf. Die Flaggen vieler Lords bildeten zusätzliche Farbtupfer. Ein Heer hatte sich hier an der Grenze nach Tear versammelt, am Rande der Ebenen von Maredo, Tausende und Abertausende von Soldaten aus Tear und Cairhien. Die Aiel hatten ihre eigenen Lager ein Stück von dem der Feuchtländer entfernt aufgeschlagen. Es kamen mindestens fünf Aiel auf jeden Soldaten aus Tear und Cairhien, und weitere kamen jeden Tag hinzu. Es war ein Heer, das Illian erzittern ließ, eine Heerschar, die bereits jetzt stark genug war, um alles auf ihrem Weg hinwegzufegen.
Enaila und der Rest der Vorhut befanden sich bereits draußen, allerdings unverschleiert und in Begleitung einiger Aielmänner. Die Aiel bewachten dieses Zelt rund um die Uhr. Sie waren wie die Töchter des Speers gekleidet und bewaffnet, aber hochgewachsen wie Rand oder sogar noch größer, Löwen, wo die Töchter wie Leopardinnen wirkten, sonnenverbrannte Männer mit harten Gesichtern und kalten blauen oder grünen oder grauen Augen. Heute waren Sha'mad Conde — Donnergänger — an der Reihe, von Roidan selbst angeführt der auf dieser Seite der Drachenmauer seine Kriegergemeinschaft befehligte. Die Töchter trugen die Ehre des Car'a'carn, doch jede Kriegergemeinschaft verlangte ihren Anteil an den Pflichten.
Etwas allerdings an der Kleidung der Männer unterschied sich von der der Töchter. Die Hälfte von ihnen hatte sich nämlich ein rotes Tuch um den Kopf gebunden, und so zeigten sie das uralte Sinnbild der Aes Sedai, die schwarz und weiß unterteilte Scheibe, auf der Stirn. Das war eine neue Sache, die erst vor ein paar Monaten aufgetaucht war. Die Träger dieses Stirnbandes nannten sich Isiswai'aman, und dieses Wort aus der Alten Sprache bedeutete soviel wie ›die Speere des Drachen‹. ›Speere im Besitz des Drachen‹ wäre allerdings ihrer Hingabe gerechter geworden.
Rand fühlte sich ganz und gar unwohl dabei, wenn er die Stirnbänder sah und an ihre Bedeutung dachte, aber er konnte kaum etwas dagegen unternehmen, da die Männer einfach nicht darüber sprachen und nicht einmal zugaben, sie zu tragen. Warum die Töchter diese Dinger nicht benützten, zumindest keine von denen, die er bisher gesehen hatte, war ihm ein Rätsel. Er konnte aus ihnen kaum mehr darüber herausbekommen als aus den Männern.
»Ich sehe Euch, Rand al'Thor«, sagte Roidan ernst. In Roidans Haarschopf war bereits erheblich mehr Grau zu sehen als Blond, doch das Gesicht des breitschultrigen Mannes hätte einem Grobschmied als Hammer oder auch als Amboß dienen können, und den Narben auf seinen Wangen und der Nase nach zu schließen, hatte das auch mehr als einer versucht. Die eiskalten blauen Augen ließen dann aber das Gesicht selbst wieder geradezu weich erscheinen. Er mied jeden Blick auf Rands Schwert. »Ich wünsche Euch, daß Ihr heute Schatten findet.« Das hatte nichts mit der fast weißglühenden Sonne oder dem wolkenlosen Himmel zu tun — Roidan schien überhaupt nicht zu schwitzen —, sondern war einfach eine Grußformel unter Menschen aus einem Land, wo die Sonne tagaus, tagein herabglühte und wo es kaum einen Baum gab.
Genauso höflich erwiderte Rand: »Ich sehe Euch, Roidan. Auch ich wünsche Euch, daß Ihr heute Schatten findet. Befindet sich Hochlord Weiramon in der Nahe?«
Roidan nickte in Richtung eines großen Zeltpavillons mit rotgestreiften Seitenwänden und einem hochroten Dach, der von Männern mit langen, präzise im gleichen Winkel aufgepflanzten Lanzen Schulter an Schulter umringt war. Sie hatten alle die auf Hochglanz polierten Brustharnische und die schwarz goldenen Waffenröcke der Verteidiger des Steins an. Über dem Zelt prangten die Drei Halbmonde Tears, weiß auf rotem und goldenem Feld, und die strahlende Aufgehende Sonne Cairhiens, golden auf blauem Feld, zu beiden Seiten von Rands eigener roter Flagge. Alle drei flatterten träge in einer Brise, die aus einem Backofen zu kommen schien.
»Die Feuchtländer befinden sich alle dort.« Roidan sah Rand geradewegs in die Augen und fügte hinzu: »Bruan ist schon drei Tage lang nicht mehr in dieses Zelt gebeten worden, Rand al'Thor.« Bruan war der Clanhäuptling der Nakai Aiel, also von Roidans Clan, und außerdem gehörten sie beide der Salzebenen Septime an. »Genausowenig wie Han von den Tomanelle oder Dhearic von den Reyn oder überhaupt ein Clanhäuptling.«
»Ich werde mit ihnen sprechen«, sagte Rand. »Teilt Ihr bitte Bruan und den anderen mit daß ich hier bin?« Roidan nickte ernst.
Enaila beäugte die Männer von der Seite her, steckte dann den Kopf mit Jalani zusammen und flüsterte ihr so auffällig zu, daß man es auf zehn Schritt Entfernung verstehen konnte: »Weißt du, warum man sie Donnergänger nennt? Sogar wenn sie stillstehen, blicken sie hoch zum Himmel und warten auf Blitze.«
Und dann schütteten sich die Töchter beinahe aus vor Lachen.
Ein junger Donnergänger sprang hoch in die Luft und kickte mit einem bestiefelten Fuß in die Luft noch über Rands Kopfhöhe. Er sah gut aus, abgesehen von der runzligen Narbe auf seiner Wange, die sich bis unter den schwarzen Augenverband zog, der eine leere Augenhöhle verdeckte. Auch er trug das Stirnband. »Wißt Ihr, warum die Töchter diese Fingersprache benutzen?« rief er auf dem Höhepunkt seines Sprunges, und als er landete, schnitt er eine hämische Grimasse. Die war allerdings nicht für die Töchter bestimmt; er sprach mit seinen Kameraden und ignorierte die Frauen. »Selbst wenn sie nicht reden, können sie mit dem Reden nicht aufhören.« Die Sha'mad Conde lachten genauso schallend wie vorher die Töchter.
»Nur Donnergänger betrachten es als Ehre, ein leeres Zelt zu bewachen«, sagte Enaila traurig zu Jalani und schüttelte den Kopf. »Wenn sie das nächste Mal Wein bringen lassen und die Gai'schain ihnen leere Becher reichen, werden sie zweifellos noch viel betrunkener sein als wir mit Oosquai.«
Offenbar waren die Donnergänger der Meinung, Enaila sei aus dieser Flachserei als Siegerin hervorgegangen. Der Einäugige und mehrere andere hoben ihre Schilde aus Stierleder und schlugen mit Speeren darauf, daß es laut klapperte. Sie selbst lauschte dem Lärm einen Augenblick lang, nickte versonnen in sich hinein und schloß sich den anderen an, die Rand hinterhergingen.
Rand sann über den Humor der Aiel nach, während er das sich weithin erstreckende Lager betrachtete. Von Hunderten verstreuter Feuer her roch es nach Essen. Brot wurde auf den Kohlen gebacken, Fleisch an Spießen geröstet, und Suppen brodelten in Kesseln, die man in dreibeinige Gestelle gehängt hatte. Soldaten aßen immer gut und oft, wenn es irgendwie möglich war, denn während eines Kriegszuges gab es dann meist nur seltene und dürftige Mahlzeiten. Die Feuer fügten dem noch ihren eigenen süßlichen Geruch hinzu. Auf den Ebenen von Maredo verfeuerte man eher getrockneten Ochsendung als Holz.
Hier und da sah man Bogen oder Armbrustschützen oder Pikeure in Lederwesten mit aufgenähten Stahlscheiben oder einfach in wattierten Mänteln, aber die Adligen aus Tear und Cairhien verachteten gleichermaßen die Infanterie und bevorzugten die Kavallerie. Deshalb waren vor allem Berittene zu sehen. Die Helme der Tairener hatten breite Ränder und einen Wulst, der von vorn nach hinten verlief. Brustharnische waren über das Wams mit seinen bauschigen Ärmeln geschnallt — alles natürlich in den Farben ihres jeweiligen Lords. Die Soldaten aus Cairhien trugen meist ein dunkles Wams, verbeulte Harnische und glockenförmige Helme, die so ausgeschnitten waren, daß das Gesicht des Mannes sichtbar war. Wimpel, die man als Cons bezeichnete, an kurzen Stöcken, die man auf dem Rücken bei einigen Männern festgeschnallt hatte, bezeichneten niedrigere Adlige aus Cairhien und jüngere, nicht erbberechtigte Söhne aus Adelsfamilien, manchmal aber auch lediglich Offiziere, obwohl natürlich nur wenige Gemeine aus Cairhien einen solchen Rang erreichten. In Tear verhielt es sich ebenso. Die Angehörigen der beiden Nationen blieben jedoch unter sich. Während die Tairener häufig nachlässig im Sattel saßen und grundsätzlich jeden aus Cairhien hämisch angrinsten, der in ihre Nähe kam, saßen die gewöhnlich kleineren Männer aus Cairhien steif und hoch aufgerichtet im Sattel, als wollten sie mit aller Macht größer erscheinen.
Sie ignorierten die Tairener ihrerseits vollständig. Sie hatten mehr als einen Krieg gegeneinander ausgetragen, bevor Rand sie dazu brachte, gemeinsam in diesen Krieg zu ziehen.
Grob gekleidete, ergraute alte Männer und auch ein paar, die fast noch Knaben waren, stöberten mit dicken Stöcken zwischen den Zelten herum, und gelegentlich scheuchte der eine oder andere von ihnen eine Ratte auf und erlegte sie mit seinem Knüppel. Dann wurde sie den anderen hinzugefügt, die bereits an seinem Gürtel baumelten. Ein Kerl mit großer Nase in einer speckigen Lederweste und ohne Hemd, Bogen in der Hand und Köcher an der Hüfte, legte eine lange Schnur auf einen Tisch vor einem der Zelte, an die er eine Menge erlegte Krähen und Raben mit den Füßen festgebunden hatte, und erhielt dafür einen Beutel Geld von einem gelangweilt dreinblickenden tairenischen Soldaten, der ohne Helm hinter dem Tisch saß. Nur wenige soweit im Süden glaubten daran, daß die Myrddraal tatsächlich Ratten und Raben und ähnliches als Spione benützten — Licht, von denjenigen abgesehen, die sie wirklich schon gesehen hatten, glaubte hier im Süden auch kaum einer überhaupt an die Existenz von Myrddraal oder Trollocs! —, aber wenn der Lord Drache das Lager von solchen Schädlingen sauberhalten wollte, kamen sie diesem Wunsch gern nach, vor allem, weil der Lord Drache sie für jeden Kadaver mit Silber entlohnte.
Hochrufe machten sich natürlich jetzt breit, denn wer würde sonst mit einer Eskorte von Töchtern des Speers und mit dem Drachenszepter in der Hand durch das Lager gehen. »Das Licht leuchte dem Lord Drachen!« und »Die Gnade des Lichts dem Lord Drachen!« und Ähnliches erklang von allen Seiten. Bei vielen schien das sogar ernst gemeint, obwohl das natürlich schwer festzustellen war, wenn alle aus voller Kehle schrien. Andere allerdings starrten nur mit steinerner Miene herüber oder ließen ihre Pferde wenden und ritten — nicht zu schnell — davon. Schließlich wußte man ja nicht, wann er vielleicht einen Blitz vom Himmel herabrief oder einen Spalt in der Erde öffnete. Männer, die mit der Macht umgehen konnten, wurden am Ende verrückt, und wer kann schon voraussagen, was ein Wahnsinniger anstellt oder wann? Ob sie nun jubelten oder nicht, musterten sie doch die Töchter mißtrauisch. Nur wenige hatten sich daran gewöhnen können, daß Frauen wie die Männer Waffen trugen, und außerdem waren sie Aiel, und jeder wußte, daß die Aiel genauso unberechenbar waren wie Verrückte.
Der Lärm reichte nicht aus, um alles zu übertönen, was die Töchter hinter Rand sagten.
»Er hat einen feinen Sinn für Humor. Wer ist das?« Das kam von Enaila.
»Er heißt Leiran«, antwortete Somara. »Einer der Cosaida Chareen. Du glaubst, er habe Humor, weil er deinen Scherz für besser hielt als seinen eigenen? Er sieht aber tatsächlich so aus, als habe er kräftige Hände.« Mehrere der Töchter glucksten vor Vergnügen.
»Habt Ihr Enaila nicht auch prachtvoll gefunden, Rand al'Thor?« Sulin schritt neben ihm einher. »Ihr habt nicht gelacht. Ihr lacht überhaupt niemals. Manchmal glaube ich, Ihr habt überhaupt keinen Sinn für Humor.«
Rand blieb auf dem Fleck stehen und fuhr sie derart plötzlich an, daß mehrere zu ihren Schleiern griffen und sich umblickten, was ihn so erschreckt habe. »Ein jähzorniger alter Bauer namens Hu entdeckte eines Morgens, daß sein bester Hahn in einen hohen Baum gleich neben seinem Ententeich geflogen war und nicht mehr herunterkommen wollte. So ging er zu seinem Nachbarn Wil und bat ihn um Hilfe. Die Männer hatten sich noch nie vertragen, aber Wil war endlich doch einverstanden, und so gingen die beiden Männer zum Teich und begannen, auf den Baum zu klettern, Hu zuerst. Sie hatten vor, den Hahn zu erschrecken, damit er herausflog, doch der Vogel flog statt dessen immer höher, von Ast zu Ast. Dann, als Hu und der Hahn beinahe die Baumkrone erreicht hatten, mit Wil dicht auf den Fersen, gab es einen lauten Knacks, der Ast unter Hus Füßen brach, und er klatschte hinunter in den Teich. Wasser und Schlamm spritzten nach allen Seiten. Wil kletterte hinunter, so schnell er konnte, und reichte Hu vom Ufer aus seine Hand, aber Hu lag einfach auf dem Rücken im Wasser und sank immer tiefer in den Schlamm, bis nur noch seine Nase aus dem Wasser ragte. Ein anderer Bauer hatte gesehen, was geschehen war, und er rannte herbei und zog Hu aus dem Teich. ›Warum hast du Wils Hand nicht ergriffen?‹ fragte er Hu. ›Du hättest ertrinken können.‹ ›Warum sollte ich seine Hand nehmen?‹ grollte Hu. ›Ich bin vor einem Moment erst bei hellem Tageslicht an ihm vorbeigekommen, und er hat kein Wort mit mir gesprochen.«« Er schwieg erwartungsvoll.
Die Töchter tauschten verständnislose Blicke. Schließlich sagte Somara: »Was ist mit dem Teich passiert? Sicher liegt die Pointe dieser Geschichte doch im Wasser begründet?«
Rand hob ergeben die Hände und ging weiter zu dem Zeltpavillon mit den rotgestreiften Seiten. Er hörte, wie hinter ihm Liah sagte: »Ich glaube, das sollte ein Scherz oder so etwas sein.«
»Wie können wir lachen, wenn er überhaupt nicht weiß, was mit dem Wasser geschehen ist?« sagte Maira.
»Es war der Hahn«, warf Enaila ein. »Der Humor dieser Feuchtländer ist schon eigenartig. Ich glaube, es muß etwas mit dem Hahn gewesen sein.«
Er bemühte sich, einfach nicht mehr hinzuhören. Die Verteidiger des Steins standen noch strammer, als er näher kam, falls das überhaupt möglich war, und die beiden, die vor den goldumrandeten Zeltklappen standen, glitten zur Seite und zogen den Eingang auf. Ihre Blicke waren starr auf irgendeinen Punkt hinter den Aielfrauen gerichtet.
Rand hatte die Verteidiger des Steins bereits einmal in den Kampf geführt, und zwar in einen verzweifelten Kampf gegen Myrddraal und Trollocs in den Sälen und Gängen des Steins von Tear selbst. In jener Nacht hätten sie jedem gehorcht, der vortrat, um sie anzuführen, aber er war eben derjenige gewesen, der das tat.
»Der Stein steht noch«, sagte er mit gedämpfter Stimme. Das war damals ihr Schlachtruf gewesen. Ein flüchtiges Lächeln huschte über einige jener Gesichter, bevor sie wieder zu hölzernen Masken erstarrten. In Tear lächelte ein einfacher Mann nicht über das, was ein Lord sagte, es sei denn, er war absolut sicher, daß der Lord wünschte, ihn lächeln zu sehen.
Die meisten der Töchter hockten sich entspannt vor das Zelt, die Speere über die Knie gelegt. Diese Position konnten sie stundenlang beibehalten, ohne einen Muskel zu rühren. Nur Sulin folgte Rand zusammen mit Liah, Enaila und Jalani nach drinnen. Und wären diese Verteidiger des Steins auch alle Rands Jugendfreunde gewesen, hätten die Töchter doch genauso mißtrauisch aufgepaßt. Die Männer im Innern des Zelts zählte er allerdings keineswegs zu seinen Freunden.
Bunte Fransenteppiche bedeckten den Boden des Zeltpavillons, mit tairenischen Labyrinthen und kunstvollen Runenmustern, und in der Mitte stand ein massiver Tisch, rundum beschnitzt und vergoldet und mit auffälligen Einlegearbeiten aus Elfenbein und Türkis. Man benötigte wohl einen Wagen allein, um dieses Ding zu transportieren. Der mit Landkarten bedeckte Tisch trennte eine Gruppe von einem Dutzend Tairenern mit verschwitzten Gesichtern von etwa halb so vielen Männern aus Cairhien, die noch mehr unter der Hitze zu leiden schienen. Jeder Mann hielt einen goldenen Pokal in der Hand, der von ansonsten im Hintergrund bleibenden Dienern in schwarz goldener Livree immer wieder mit gewürztem Wein aufgefüllt wurde. Alle Adligen trugen Seidenkleidung, nur die glattrasierten Männer aus Cairhien, klein, schlank und blaß, wenn man sie mit den Männern an der anderen Seite des Tisches verglich, trugen dunkle Kurzmäntel, und bis auf die bunten Querstreifen in den Farben ihrer Häuser auf der Brust wirkte ihre Kleidung nüchtern. Die Anzahl dieser Streifen deutete auf den Rang ihres Hauses hin. Die Tairener dagegen, bei denen die meisten Gesichter von sorgfältig gestutzten und eingeölten Vollbärten geziert wurden, trugen wattierte Kurzmäntel, die eine grelle Kakophonie von Farben zeigten, Rot und Gelb und Grün und Blau, aus Satin und Brokat, mit Silber- oder Goldfadenstickerei. Die Männer aus Cairhien wirkten ernsthaft, wenn nicht gar etwas mürrisch. Die meisten zeigten eingefallene Wangen, und jeder hatte den vorderen Teil seines Skalps rasiert und eingepudert. Das war einst Mode bei den Soldaten Cairhiens gewesen, aber nicht bei den Lords. Die Tairener lächelten und schnüffelten an parfümierten Taschentüchern und Pomadetiegeln, die das ganze Zelt mit ihren schweren und aufdringlichen Düften erfüllten. Außer dem Punsch schienen sie nur eines gemeinsam zu haben: Sie starrten die Töchter des Speers alle gleichermaßen finster an und versuchten dann krampfhaft, vorzugeben, die Aiel seien sämtlich unsichtbar.
Hochlord Weiramon, dessen eingeölter Bart und das Haar graue Strähnen aufwiesen, verbeugte sich tief. Hier war er einer von vier Hochlords. Besonders seine kunstvoll mit Silber verzierten Stiefel fielen auf. Die anderen waren der salbungsvolle, übermäßig fette Sunamon, dann Tolmeran, dessen eisengrauer Bart wie die Speerspitze auf dem Schaft seines hageren Körpers wirkte, und schließlich Torean mit seiner Kartoffelnase, der noch mehr nach Bauer aussah als die meisten Bauern selbst. Doch Rand hatte Weiramon das Oberkommando anvertraut — jedenfalls für den Augenblick. Die anderen acht waren Lords von geringerem Rang, ein paar davon glattrasiert, aber mit kaum weniger Grau in den Haaren. Sie befanden sich hier, weil sie dem einen oder anderen der anwesenden Hochlords Gefolgschaft geschworen hatten, aber alle verfügten über einige Kampferfahrung.
Weiramon war für einen Tairener keineswegs klein geraten, wenn auch Rand ihn um einen Kopf überragte, doch er erinnerte Rand immer an einen aufgeplusterten Gockel, so wie er die Brust herausstreckte und herumstolzierte. »Aller Segen dem Lord Drachen«, verkündete er und verbeugte sich, »dem künftigen Eroberer Illians. Aller Segen dem Herrn des Morgens.« Die anderen kamen nur einen Atemzug später dran, wobei die Tairener die Arme weit ausbreiteten, während die Männer aus Cairhien mit einer Hand die Herzgegend berührten.
Rand verzog das Gesicht. ›Herr des Morgens‹ war einer von Lews Therins Titeln gewesen, wie die bruchstückhaften Berichte aus jener Zeit aussagten. Eine Unmenge von Kenntnissen war während der Zerstörung der Welt verlorengegangen, und weiteres ging in den Trolloc-Kriegen in Rauch auf und später im Hundertjährigen Krieg, und doch hatten an überraschend vielen Orten Bruchstücke diese Zeiten überdauert. Er war verblüfft, daß Weiramons Anrede mit diesem Titel nicht gleich wieder Lews Therins irres Gejammere in ihm ausgelöst hatte. Genauer betrachtet hatte Rand diese Stimme nicht mehr vernommen, seit er sie in seinem Innern so angeschrien hatte. Soweit er sich erinnern konnte, war es das erste Mal überhaupt gewesen, daß er die Stimme, mit der er seinen Kopf teilte, unmittelbar angesprochen hatte. Die Möglichkeiten, die sich damit andeuteten, ließen ihm einen Schauer den Rücken hinunterrieseln.
»Mein Lord Drache?« Sunamon rang seine fleischigen Hände. Er schien den Blick zu der um Rands Kopf gewickelten Schufa ängstlich zu meiden. »Geht es Euch...?« Er schluckte und lächelte dann unterwürfig. Einen potentiell Wahnsinnigen — potentiell war vielleicht noch zu sanft ausgedrückt — nach seinem Befinden zu fragen entsprach wohl doch nicht ganz dem, was er ausdrücken wollte. »Hätte der Lord Drache vielleicht gern etwas gewürzten Wein? Ein guter Jahrgang aus Lodan, vermischt mit dem Saft von Honigmelonen?« Ein schlacksiger Landedelmann, ein Gefolgsmann Sunamons namens Estevan mit kantigem Kinn und noch härteren Augen winkte barsch, und ein Diener huschte zu einem kleinen Seitentisch an der Zeltwand, um einen goldenen Pokal zu holen. Ein weiterer Diener beeilte sich, ihn zu füllen.
»Nein«, sagte Rand. Und dann etwas vehementer: »Nein!« Er winkte den Diener beiseite, ohne ihn richtig zu sehen. Hatte Lews Therin tatsächlich seinen inneren Schrei gehört? Irgendwie machte das alles nur noch schlimmer. Er wollte über die sich ergebenden Möglichkeiten jetzt nicht nachdenken; er wollte überhaupt nicht daran denken. »Sobald Hearne und Simaan ankommen, befindet sich fast alles in der richtigen Position.« Diese beiden Hochlords sollten bald hier sein. Sie rührten die letzten tairenischen Truppenteile an, die Cairhien vor über einem Monat verlassen hatten. Natürlich waren auch noch kleinere Truppen auf dem Weg nach Süden, und auch weitere Soldaten aus Cairhien. Und auch noch mehr Aiel. Der ständige Zustrom von Aiel zog die Dinge in die Länge. »Ich will sehen...«
Mit einemmal wurde ihm bewußt, daß im Pavillon Schweigen herrschte. Es war unwahrscheinlich still. Nur Torean unterbrach die Stille, als er den Kopf zurücklegte und den Rest seines Weines herunterkippte. Dann wischte er sich den Mund ab und hielt den Pokal hin, damit er nachgefüllt werde. Doch die Diener schienen sich zu bemühen, mit der rotgestreiften Zeltwand zu verschmelzen. Sulin und die anderen drei Töchter standen plötzlich sprungbereit auf den Ballen ihrer Füße und hatten die eine Hand am Schleier.
»Was ist los?« fragte er leise.
Weiramon zögerte. »Simaan und Hearne sind ... zu den Haddon-Sümpfen marschiert. Sie kommen nicht.« Torean riß einem der Diener einen Krug aus gehämmertem Goldblech aus der Hand und füllte selbst seinen Pokal auf, wobei Punsch auf die Teppiche schwappte.
»Und warum sind sie dorthin gezogen, anstatt hierher zu kommen?« Rand erhob seine Stimme nicht. Er war sicher, die Antwort bereits zu kennen. Diese beiden, und fünf andere Hochlords außerdem, hatte er ja schon nach Cairhien geschickt damit sie nicht dazukämen, gegen ihn zu intrigieren.
Unter den Männern aus Cairhien breitete sich —hinter vorgehaltenen Pokalen halb verborgen — gehässiges Grinsen aus. Semaradrid, der mit dem höchsten Rang unter ihnen, dessen Farbstreifen bis unter die Hüftlinie seines taillierten Kurzmantels reichten, grinste ganz offen. Der Mann hatte ein langes Gesicht mit weißen Strähnen an den Schläfen und dunklen Augen, die so hart dreinblicken konnten, daß sie sogar Stein weich erscheinen ließen. Er bewegte sich nur unbeholfen, da er im Bürgerkrieg seines Landes mehrfach verwundet worden war, doch sein Hinken rührte vom Krieg gegen Tear her. Sein Hauptgrund dafür, jetzt mit den Tairenern zusammenzuarbeiten, lag darin, daß sie halt wenigstens keine Aiel waren. Doch andererseits arbeiteten die Tairener ja ebenfalls mit ihnen zusammen, weil die Leute aus Cairhien keine Aiel waren.
Es war einer von Semaradrids Landsmännern, der antwortete, ein junger Lord namens Meneril, der ungefähr die Hälfte der Streifen Semaradrids auf dem Mantel aufwies und eine Narbe im Gesicht, die seinen linken Mundwinkel zu einem ständigen sardonischen Lächeln hochzog. Die Narbe stammte aus dem Bürgerkrieg. »Verrat, mein Lord Drache. Verrat und Rebellion.«
Weiramon scheute vielleicht davor zurück, Rand diese Worte ins Gesicht hinein zu sagen, aber er wollte auch keinen Ausländer für sich sprechen lassen. »Ja, Rebellion«, sagte er schnell, wobei er Meneril wütend anstarrte, doch seine übliche pompöse Art brach gleich wieder durch. »Und nicht nur sie, mein Lord Drache. Die Hochlords Darlin und Tedosian und Hochlady Estanda sind auch darin verwickelt. Seng meine Seele, aber sie haben doch tatsächlich alle eine Widerstandserklärung unterzeichnet! Wie es scheint, haben sich auch etwa zwanzig oder dreißig niedere Adlige angeschlossen, die meisten wenig mehr als Emporkömmlinge aus Bauernfamilien. Vom Licht verlassene Narren!«
Rand bewunderte Darlin schon fast. Der Mann hatte sich von Anfang an offen gegen ihn gestellt, war aus dem Stein geflohen, als der fiel, und hatte versucht, unter den Landedelmännern Anhänger für eine Widerstandsbewegung zu gewinnen. Bei Tedosian und Estanda war das etwas anderes. Genau wie Hearne und Simaan hatten sie sich unterwürfig verbeugt und gelächelt, ihn als Lord Drache angeredet und hinter seinem Rücken intrigiert. Nun rächte sich seine Nachsicht. Kein Wunder, daß Torean beim Trinken vor Schreck Wein auf seinen graumelierten Bart schwappen ließ. Er hatte immer mit Tedosian und Hearne und Simaan zusammengesteckt.
»Sie haben mehr geschrieben, als sich nur gegen Euch zu erklären«, sagte Tolmeran mit kalter Stimme. »Sie schrieben, Ihr wärt ein falscher Drache und der Fall des Steins und daß Ihr das Schwert, Das Kein Schwert Ist, an Euch nahmt, sei nur ein Trick der Aes Sedai gewesen.« Es lag etwas Fragendes in seinem Tonfall. Er hatte sich nicht im Stein von Tear befunden in jener Nacht, als Rand die Festung einnahm.
»Und was glaubt Ihr selbst Tolmeran?« Es war natürlich eine verführerische Behauptung in einem Land, wo der Gebrauch der Macht gesetzlich verboten gewesen war, bevor Rand das Gesetz geändert hatte, wo man die Aes Sedai im besten Fall gerade noch tolerierte und wo' der Stein von Tear dreitausend Jahre lang unbezwingbar über der Stadt gethront hatte, bis Rand ihn eroberte. Und die Behauptung war auch nicht neu. Rand fragte sich, ob er wohl Weißmäntel antreffen würde, wenn diese Rebellen an den Fersen aufgehängt würden. Allerdings war Pedron Niall wohl zu clever, um das zuzulassen.
»Ich glaube, daß Ihr Callandor wirklich herausgezogen habt«, sagte der hagere Mann nach einem Moment des Überlegens. »Ich glaube, Ihr seid der Wiedergeborene Drache.« Beide Male lag eine leichte Betonung auf dem Wort ›glaube‹. Tolmeran hatte Mut. Estevan nickte bedächtig dazu, langsam, aber immerhin. Noch ein mutiger Mann.
Selbst sie stellten aber die offensichtliche Frage nicht, nämlich, ob Rand wünsche, daß man die Rebellen ausräucherte. Rand überraschte das nicht. Zum einen waren die Haddon-Sümpfe kein Ort, an dem man so einfach jemanden ausräucherte. Es war einziger, riesiger, verfilzter Wald ohne Dörfer, ohne Straßen, und nicht einmal Pfade gab es dort. In der zerklüfteten Bergregion an ihrer nördlichen Grenze mußte ein Mann schon Glück haben, wenn er an einem langen Tag des Wanderns gerade einmal eine Handvoll Meilen zurücklegen konnte, und Heere konnten in diesem Gebiet ungestört so lange umherziehen, bis der Proviant verbraucht war, ohne aufeinander zu stoßen. Und was vielleicht noch wichtiger war: Wenn sich jemand danach erkundigte, mußte man ja annehmen, er werde freiwillig die Führung einer solchen Expedition übernehmen, und bei einem Freiwilligen dieser Art lag der Verdacht nahe, daß er sich Darlin anschließen wolle, anstatt ihn am Schöpf zu packen und anzuschleppen. Die Tairener mochten ja Daes Dae'mar, das Spiel der Häuser, nicht spielen oder jedenfalls nicht so wie die Adligen Cairhiens — denn die lasen ganze Bände aus einem einzigen Blick und hörten mehr aus einem einzigen Satz heraus, als man selbst hineingelegt hatte —, doch auch sie intrigierten und beobachteten sich gegenseitig mißtrauisch, weil sie in allem Hinterlist vermuteten. Natürlich erwarteten sie, daß jeder andere genauso handelte.
Trotzdem kam es Rand gerade recht, wenn die Rebellen für den Augenblick dort blieben, wo sie waren. Er mußte Illian alle Aufmerksamkeit widmen, und vor allem mußte man sehen, daß all seine Aufmerksamkeit dorthin gerichtet war. Andererseits durfte er auch nicht als weich und nachgiebig gelten. Diese Männer würden sich wohl nicht gegen ihn wenden, aber ob Letzte Schlacht oder nicht, es gab nur zwei Dinge, die sowohl Tairener wie auch die Leute aus Cairhien davon abhielten, sich gegenseitig an die Kehlen zu gehen. Zum einen zogen sie die anderen immer noch den Aiel vor, wenn auch nur um ein Weniges, und zum anderen fürchteten sie den Zorn des Wiedergeborenen Drachen. Sollten sie ihn einmal nicht mehr fürchten, würden sie im Handumdrehen versuchen, sich gegenseitig umzubringen und die Aiel dazu.
»Will irgend jemand etwas zu ihrer Verteidigung sagen?« fragte er. »Kann jemand einen Grund vorbringen, der mich zur Milde veranlassen würde?« Sollte das der Fall sein, hielt der Betreffende jedenfalls den Mund. Wenn man die Diener mitzählte, waren fast zwei Dutzend Augenpaare erwartungsvoll auf ihn gerichtet. Vielleicht waren es gerade die Diener, die ihn besonders eindringlich beobachteten. Sulin und die Töchter hingegen beobachteten alles bis auf ihn. »Ihre Titel sind ihnen aberkannt, ihre Ländereien und Güter werden konfisziert. Es werden Haftbefehle für jeden Mann ausgestellt, dessen Name bekannt ist. Und für jede Frau.« Das konnte zu einem Problem werden. In Tear stand als Strafe auf Rebellion der Tod. Er hatte einige Gesetze abgeändert, aber dieses nicht, und jetzt war es zu spät dafür. »Verkündet daß niemand, der einen von ihnen tötet, deshalb wegen Mordes bestraft werden kann, und daß jeder, der ihnen hilft, wegen Verrats angeklagt wird. Jeder, der sich ergibt, wird am Leben bleiben.« Das würde vielleicht dazu beitragen, das Problem Estanda zu lösen, denn er würde keine Frau zur Hinrichtung verurteilen, falls er einen Weg fand, sie zum Aufgeben zu bringen. »Aber jene, die mit der Rebellion fortfahren, werden gehängt.«
Die Adligen bewegten sich unruhig und tauschten Blicke, sowohl die Tairener wie auch die aus Cairhien. Mehr als ein Gesicht war blaß geworden. Sie hatten wohl ganz sicher ein Todesurteil erwartet, denn das stand nun einmal auf Rebellion, und auch noch während eines Krieges, doch die Aberkennung der Titel erschreckte sie zutiefst. Trotz all der Gesetze, die Rand in beiden Ländern abgeändert hatte, obwohl er Lords vor den Magistrat schleppen und wegen Mordes hatte hängen lassen oder andere wegen Körperverletzung zu Geldstrafen verurteilen ließ, glaubten sie immer noch, es gebe einen Unterschied zwischen den Menschen, eine Abstammung, fast schon ein Naturgesetz, das aus ihnen Löwen machte und aus den einfachen Menschen Schafe. Ein Hochlord, der auf das Schaffott wanderte, starb dort als Hochlord, doch Darlin und die anderen würden wie Bauern sterben, und das war in den Augen dieser Männer eine schlimmere Strafe als der Tod selbst. Die Diener blieben mit ihren Krügen in Stellung und warteten darauf, jeden Pokal aufzufüllen, der bis zur Neige ausgetrunken schien. Obwohl ihre Mienen genauso ausdruckslos waren wie zuvor, schien doch in einigen Augen etwas Frohes zu glitzern, das vorher nicht zu sehen gewesen war.
»Nun, da dies geregelt ist«, sagte Rand und zog sich die Schufa vom Kopf, während er an den Tisch trat, »wollen wir uns die Landkarten ansehen. Sammael ist wichtiger als eine Handvoll Narren, die in den Haddon-Sümpfen verkommen.« Er hoffte, sie würden dort verkommen. Verfluchte Idioten!
Weiramons Mundpartie spannte sich an, und Tolmeran glättete ganz schnell seine Züge. Sunamons Gesicht war so nichtssagend, daß es auch eine Maske hätte sein können. Die anderen Tairener blickten zweifelnd drein, genau wie die Adligen aus Cairhien; nur Semaradrid verbarg seine Gefühle recht gut. Manche hatten während des Angriffs auf den Stein Myrddraal und Trollocs erlebt, und ein paar waren bei seinem Zweikampf mit Sammael in Cairhien zugegen gewesen, und doch glaubten sie, seine Behauptung, die Verlorenen seien in Freiheit, sei ein Symptom seines nahenden Wahnsinns. Er hatte gehört, wie hinter vorgehaltener Hand geflüstert worden war, er selbst habe die ganzen Zerstörungen in Cairhien hervorgerufen, weil er wie ein Verrückter auf Freund und Feind gleichermaßen eingeprügelt habe. Nach Liahs steinernem Gesicht zu schließen, würde sehr bald einer von ihnen den Speer einer Tochter in den Bauch bekommen, falls sie ihre Blicke nicht besser beherrschten.
Sie versammelten sich dann doch um den Tisch, als er die Schufa wegwarf und in den Schichten verstreut herumliegender Landkarten stöberte. Bashere hatte recht; die Menschen folgten auch einem Verrückten, wenn er siegte. Solange er siegte. Gerade in dem Moment, als er die Karte fand, die er gesucht hatte — eine äußerst detaillierte Darstellung des östlichen Grenzgebietes von Illian —, kamen die Aielhäuptlinge herein.
Bruan von den Nakai Aiel war der erste, der eintrat. Ihm folgten Jheran von den Shaarad, Dhearic von den Reyn, Han von den Tomanelle und Erim von den Chareen. Jeder erwiderte das begrüßende Nicken Sulins und der drei anderen Töchter. Bruan, ein massig wirkender Mann mit traurig dreinblickenden grauen Augen, war der Anführer der fünf Clans, die Rand bisher nach Süden gesandt hatte. Keiner der anderen hatte etwas dagegen. Bruans auf so eigenartige Weise ruhiges, entspanntes Verhalten täuschte leicht über sein Können als Krieger hinweg. Sie waren alle mit dem Cadin'sor angetan, hatten die Schufa lose um den Hals gehängt und waren bis auf die schweren Messer an den Gürteln unbewaffnet. Allerdings konnte man einen Aiel kaum jemals als unbewaffnet betrachten, wenn er wenigstens noch seine Hände und Füße besaß.
Die Männer aus Cairhien gaben einfach vor, die Aiel nicht zu sehen, während die Tairener betont abfällig grinsten und betont an ihren Pomadetiegeln und parfümierten Taschentüchern schnüffelten, Tear hatte lediglich den Stein an die Aiel verloren, und das mit Hilfe des Wiedergeborenen Drachen, wie sie glaubten, oder vielleicht auch mit Hilfe von Aes Sedai, während Cairhien zweimal von ihnen verheert worden war, zweimal besiegt und gedemütigt.
Mit Ausnahme Hans ignorierten die Aiel alle Anwesenden bis auf Rand. Han, weißhaarig und mit einer Gesichtshaut wie aus rissigem Leder, funkelte sie dagegen zornglühend an. Selbst bei bester Laune war er ein jähzorniger Mann, und es wirkte sich auch nicht gerade beruhigend auf ihn aus, daß ein paar der Tairener genauso groß waren wie er. Han war nämlich für einen Aiel ziemlich klein, wenn auch noch überdurchschnittlich groß im Vergleich zu den Feuchtländern, und deshalb genauso empfindlich wie Enaila. Und dann natürlich verachteten die Aiel sowieso alle ›Baummörder‹, wie sie die Menschen aus Cairhien nannten, noch mehr als die übrigen Feuchtländer. Ihre andere Bezeichnung für sie lautete ›Meineidige‹.
»Die Illianer«, sagte Rand energisch und glättete die Karte mit der Hand. Er benützte das Drachenszepter, um die eine Seite der Karte, die sich immer wieder aufrollen wollte, festzuhalten, und ein goldbeschlagenes Tintenfaß mit dazupassender Sandbüchse für die andere Seite. Er wollte nicht, daß diese Männer begannen, sich gegenseitig umzubringen. Er glaubte allerdings nicht ernsthaft, daß es dazu käme, oder zumindest nicht, während er sich hier befand. In den Sagen lernten Verbündete immer, sich gegenseitig sympathisch zu finden und zu vertrauen, doch er zweifelte sehr, daß sich diese Männer hier jemals dazu durchringen könnten.
Die welligen Ebenen von Maredo erstreckten sich beachtlich weit nach Illian hinein und gingen ein Stück vor dem Manetherendrelle und dem einmündenden Skal in bewaldete Hügel über. Fünf eingezeichnete Kreuze, etwa zehn Meilen voneinander entfernt, bezeichneten den östlichen Rand des Hügelgebiets: die Doirlon-Berge.
Rand berührte mit dem Zeigefinger das mittlere Kreuz. »Seid Ihr sicher, daß Sammael keine neuen Lager dort angelegt hat?« Als Weiramon das Gesicht leicht verzog, fauchte Rand gereizt: »Lord Brend, falls Ihr den bevorzugt, oder der Rat der Neun, oder Mattin Stepaneos den Baigar, falls Ihr lieber hättet, daß der König selbst solche Anordnungen erläßt. Liegen die Lager noch genauso?«
»Unsere Kundschafter behaupten es jedenfalls«, sagte Jheran gelassen. Schlank auf die gleiche Art wie eine Schwertklinge, das hellbraune Haar mit grauen Strähnen durchsetzt, bewahrte er jetzt immer Ruhe und Gelassenheit, nachdem Rand die vierhundert Jahre andauernde Blutfehde der Shaarad mit den Goshien Aiel durch seine Ankunft beendet hatte. »Sovin Nai und Duadhe Mahdi'in beobachten sie genau.« Er nickte leicht und zufrieden, genau wie Dhearic, als er das verkündete. Jheran war ein Sovin Nai, eine ›Messerhand‹ gewesen, bevor er Häuptling wurde, und Dhearic hatte zu den Duadhe Mahdi'in gehört, den ›Wassersuchern‹.
»Wir erfahren durch unsere Läufer innerhalb von fünf Tagen von jeder Veränderung.«
»Meine Kundschafter glauben, es gebe neue Lager«, sagte Weiramon, als habe Jheran nichts gesagt. »Ich schicke jede Woche einen neuen Trupp los. Sie brauchen wohl einen ganzen Monat, um hinzureiten und wieder zurückzukehren, aber ich versichere Euch, ich bin auf dem neuesten Stand, soweit es die Entfernung gestattet.«
Die Gesichter der Aiel wirkten, als habe man sie aus Stein gemeißelt.
Rand beachtete das Zwischenspiel nicht. Er hatte sich vorher bereits bemüht, die Differenzen zwischen den Tairenern, den Aiel und Cairhien zu überbrücken, aber sobald er ihnen den Rücken kehrte, war der alte Zustand wieder da. Die Mühe war umsonst.
Was die Lager betraf... Er wußte, daß es immer noch fünf waren. Auf gewisse Weise hatte er sie besucht. Es gab einen ... Ort ... von dem er wußte, wie er ihn erreichen konnte, eine seltsame, unbevölkerte Spiegelung der wirklichen Welt, und dort war er über die Wehrgänge der Holzpalisaden dieser massiven Bergfestungen geschritten. Er kannte die Antworten auf beinahe alle Fragen, die er ihnen stellen wollte, doch er jonglierte Pläne innerhalb anderer Pläne wie ein Gaukler die Feuerstäbe. »Und Sammael führt immer noch mehr Soldaten heran?« Diesmal betonte er den Namen besonders. Die Mienen der Aiel veränderten sich nicht. Falls die Verlorenen frei waren, dann waren sie eben frei. Man mußte die Welt sehen, wie sie war, und nicht, wie man sie zu sehen wünschte. Aber die anderen warfen ihm kurze, besorgte Seitenblicke zu. Sie würden sich früher oder später daran gewöhnen müssen. Sie würden es über kurz oder lang glauben müssen.
»Jeder Mann aus Illian, der einen Speer halten kann, ohne darüber zu stolpern, wie es scheint«, sagte Tolmeran mit niedergeschlagenem Gesichtsausdruck. Er war genauso heiß darauf, gegen die Illianer zu kämpfen wie jeder Tairener. Die beiden Länder hatten sich gegenseitig gehaßt, seit sie aus den Überresten von Artur Falkenflügels Weltreich hervorgegangen waren, und ihre Geschichte war eine Chronik ständiger Kriege, die man auf Grund jeder überhaupt möglichen Ausrede ausgefochten hatte. Doch Tolmeran schien ein wenig realistischer zu denken als die anderen Hochlords und nicht zu erwarten, daß man jede Schlacht mit einem einzigen wuchtigen Schlag gewinnen könne. »Jeder Kundschafter, der es hierher zurück schafft, berichtet, daß diese Festungen immer größer werden und immer mächtigere Verteidigungsanlagen erhalten.«
»Wir sollten jetzt losschlagen, mein Lord Drache«, sagte Weiramon ganz energisch. »Das Licht soll meine Seele versengen, aber ich kann die Illianer jetzt noch mit heruntergelassenen Hosen erwischen. Sie haben sich selbst unbeweglich gemacht. Sie haben doch tatsächlich kaum eine nennenswerte Kavallerie! Ich werde sie zu Staub zermalmen, und dann ist der Weg zur Stadt frei.« In Illian, genau wie in Tear und Cairhien, meinte man mit der ›Stadt‹ die große Stadt, die dem Land den Namen verliehen hatte. »Seng meine Augen, ich werde Eure Flagge in einem Monat über Illian flattern lassen, mein Lord Drache. Oder höchstens in zwei.« Er blickte zu den Männern aus Cairhien hinüber und fügte so zögernd hinzu, als müsse man ihm jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen: »Semaradrid und ich schaffen das gemeinsam.« Semaradrid verbeugte sich leicht. Oder deutete es zumindest an.
»Nein«, sagte Rand kurz angebunden. Weiramons Plan lud geradezu zu einer Katastrophe ein. Gute zweihundertfünfzig Meilen lagen zwischen ihrem Lager und Sammaels großen Bergfestungen, und dazwischen befand sich eine grasbewachsene Ebene, wo eine Erhebung von fünfzig Fuß bereits als hoher Hügel galt und ein Dickicht von ein paar hundert Schritt Breite als Wald bezeichnet wurde. Auch Sammael besaß Kundschafter — jede Ratte, jeder Rabe konnte einer von Sammaels Spähern sein. Zweihundertfünfzig Meilen. Zwölf oder dreizehn Tage für die Tairener und die Soldaten Cairhiens, wenn sie Glück hatten. Die Aiel konnten es vielleicht bei größter Eile in fünf Tagen schaffen — ein einzelner Kundschafter oder zwei kam eben schneller vorwärts als ein Heer, sogar bei den Aiel —, aber die gehörten nicht zu Weiramons Plan. Lange bevor Weiramon überhaupt die Doirlon-Berge erreichte, wäre Sammael in der Lage, die Tairener zu vernichten, und nicht andersherum. Ein törichter Plan. Noch törichter sogar als der, den Rand ihnen vorgegeben hatte. »Ich habe Euch Befehle erteilt. Ihr haltet hier die Stellung, bis Mat ankommt und das Kommando übernimmt, und selbst dann rührt keiner einen Fuß von der Stelle, bis ich der Meinung bin, genügend Soldaten hier zu haben. Weitere Truppen sind hierher unterwegs: aus Tear, Cairhien, und auch Aiel. Ich habe vor, Sammael vernichtend zu schlagen, Weiramon. Ihn endgültig zu schlagen und Illian unter das Drachenbanner zu bringen.« Soweit entsprach das durchaus der Wahrheit. »Ich wünschte ja, ich könnte bei Euch bleiben, aber noch benötigt man meine ganze Aufmerksamkeit in Andor.« Weiramons Gesicht wandelte sich zu saurem Stein, soweit man sich so etwas vorstellen kann, und Semaradrids Grimasse hätte eigentlich den Wein augenblicklich in Essig verwandeln sollen, während Tolmerans Miene derart ausdruckslos war, daß seine Mißbilligung wie ein Faustschlag wirkte. In Semaradris Fall war es die Verzögerung, die Anlaß zur Besorgnis gab. Er hatte schon mehr als einmal darauf hingewiesen, daß jeder Tag wohl mehr Soldaten hier ins Lager brächte, aber auch mehr Soldaten zu den Festungen in Illian. Zweifellos war Weiramons Plan das Resultat seiner Mahnungen zur Eile, obwohl er selbst wohl einen besseren Plan entwerfen gekonnt hätte. Tolmerans Zweifel lagen in Mat begründet. Tolmeran hatte wohl von den Leuten aus Cairhien einiges über Mats Kriegskunst erfahren, doch er hielt das für bloße Schmeichelei von einigen Narren für einen Landedelmann, der eben zufällig mit dem Wiedergeborenen Drachen befreundet war. Das waren aber ehrliche Einwände, und der Semaradrids hätte sogar eine gewisse Berechtigung gehabt, wenn der an sie ausgegebene Plan mehr gewesen wäre als lediglich ein Täuschungsmanöver. Es war unwahrscheinlich, daß sich Sammael ausschließlich auf seine Ratten und Raben verließ, wenn es um das Spionieren ging. Rand rechnete damit, daß sich im Lager auch Spione der anderen Verlorenen aufhielten und wahrscheinlich auch Spione der Aes Sedai.
»Es soll sein, wie Ihr wünscht, mein Lord Drache«, sagte Weiramon auf seine pompöse Art. Der Mann war tapfer genug, wenn es zum Kampf kam, aber ein kompletter, blinder Idiot, nicht in der Lage, über den Glanz eines vehementen Angriffs, über seinen Haß gegen die Illianer und seine Verachtung für Cairhien und die Aiel ›Wilden‹ hinauszudenken. Rand war sicher, daß Weiramon genau der Mann sei, den er benötigte. Tolmeran und Semaradrid würden nicht so schnell losmarschieren, solange Weiramon das Oberkommando innehatte. Noch eine lange Zeit über diskutierten sie, und Rand lauschte und stellte gelegentlich Fragen. Es gab jetzt keinen Widerspruch mehr, keine weiteren Vorschläge, den Angriff sofort zu starten. Der Angriff wurde überhaupt nicht mehr besprochen. Was Rand von Weiramon und den anderen wissen wollte, hatte mit Wagen zu tun, mit Wagen und ihrer Fracht. Auf den Ebenen von Maredo gab es nur wenige, weit voneinander entfernte Dörfer und keine Stadt, abgesehen von Far Madding im Norden. Das urbare Land reichte kaum aus, um die Menschen zu ernähren, die bereits hier wohnten. Eine riesige Armee würde einen stetigen Strom von Wagenladungen aus Tear benötigen, mit denen alles befördert wurde, von Mehl für ihr Brot bis hin zu Hufnägeln für die Pferde. Außer Tolmeran waren die Hochlords der Meinung, das Heer könne alles, was es benötigte, mit sich führen und damit die Ebenen durchqueren, und in Illian wollten sie das Heer dann durch Plünderung ernähren. Sie schienen den Gedanken fast zu genießen, das Land ihres uralten Gegners wie ein Heuschreckenschwarm kahlzufressen. Die Männer aus Cairhien waren anderer Meinung, besonders Semaradrid und Meneril. Nicht nur die kleinen Leute hatten in Cairhiens Bürgerkrieg und während der Belagerung ihrer Hauptstadt durch die Shaido Hunger gelitten; das konnte man an ihren eingefallenen Wangen deutlich ablesen. Illian war ein reiches Land und sogar in den Doirlon-Bergen gab es Bauernhöfe und Weinberge, aber Semaradrid und Meneril wollten das Wohlergehen ihrer Soldaten nicht von ungewissen Plünderungen abhängig machen, solange es eine andere Möglichkeit gab. Was Rand betraf, wollte er ohnehin nicht, daß Illian mehr als unbedingt nötig verwüstet würde.
Er übte wirklich nicht viel Druck auf diese Menschen aus. Sunamon versicherte ihm, die Wagen würden gerade zusammengestellt, und er hatte schon lange seine Lektion darüber gelernt, was geschah, wenn er Rand etwas versprach und dann doch etwas anderes tat. In ganz Tear suchte man Proviant zusammen, auch wenn Weiramon ungeduldig und unzufrieden mit dieser Vorgehensweise das Gesicht verzog, und wenn Torean auch verschwitzt etwas über die zu hohen Ausgaben knurrte. Wichtig war aber, daß man mit dem Plan, den er ihnen vorgesetzt hatte, vorwärtskam —und daß man auch an richtiger Stelle diese Fortschritte bemerkte.
Der Abschied bedeutete noch mehr pompöses Geschwätz und schwungvolle Verbeugungen, während er sich wieder die Schufa um die Stirn wickelte und das Drachenszepter in die Hand nahm. Halbherzige Einladungen zu einem Bankett wurden geäußert und genauso verlogene Angebote, ihm bis zu seiner Abreise noch einiges vorzusetzen, wenn er schon nicht bis zu dem Fest bleiben konnte, das sie für ihn veranstalten würden. Ob sie nun aus Tear kamen oder aus Cairhien, mieden sie doch gleichermaßen die Gegenwart des Wiedergeborenen Drachen, soweit sie das konnten, ohne seine Gunst aufs Spiel zu setzen, während sie natürlich so taten, als sei das Gegenteil der Fall. Vor allem aber wünschten sie sich an jeden anderen möglichen Ort, wenn er die Macht benützte. Sie begleiteten ihn natürlich zum Eingang und noch ein paar Schritte nach draußen, aber Sunamon seufzte hörbar erleichtert auf, als er sie verließ, und Rand hörte Tore an tatsächlich vor Freude kichern.
Die Aielhäuptlinge gingen schweigend mit Rand davon, und die Töchter, die draußen gewartet und gewacht hatten, schlossen sich Sulin und den anderen dreien an und bildeten mit ihnen einen Ring um die sechs Männer, als sie auf das grüngestreifte Zelt zuschritten. Diesmal gab es nur geringen Jubel und die Häuptlinge sagten überhaupt nichts. Sie hatten auch im Pavillon kaum etwas geäußert. Als Rand sie darauf ansprach, sagte Dhearic: »Diese Feuchtländer wollen uns gar nicht hören.« Er war ein stämmiger Mann, nur vielleicht einen Fingerbreit kleiner als Rand, hatte eine große Nase und auffallende hellere Strähnen im goldenen Haar. In seinen blauen Augen stand Verachtung.
»Sie hören nur auf den Wind.«
»Haben sie Euch von denen berichtet, die sich gegen Euch auflehnen?« fragte Erim. Er war größer als Dhearic, hatte ein kämpferisch vorgestrecktes Kinn und in seinem roten Haar kämpften graue Strähnen um die Vorherrschaft.
»Das haben sie«, sagte Rand und Han sah ihn mit gerunzelter Stirn an.
»Falls Ihr diese Tairener ihren eigenen Landsleuten hinterherschickt, wäre das ein Fehler. Selbst wenn man ihnen vertrauen könnte, glaube ich nicht daß sie ihnen etwas tun würden. Schickt die Speere. Ein Clan reicht bequem aus.«
Rand schüttelte den Kopf. »Darlin und seine Rebellen können warten. Sammael ist das einzig Wichtige.«
»Dann laßt uns jetzt nach Illian marschieren«, sagte Jheran. »Vergeßt doch diese Feuchtländer, Rand al'Thor. Wir haben jetzt schon fast zweihunderttausend Speere hier versammelt. Wir können die Illianer vernichten, bevor Weiramon Saniago und Semaradrid Maravin auch nur den halben Weg dorthin zurückgelegt haben.«
Einen Augenblick lang schloß Rand frustriert die Augen. Wollte denn nun jeder mit ihm streiten? Das hier waren keine Männer, die gleich nachgeben würden, wenn der Wiedergeborene Drache die Stirn runzelte. Der Wiedergeborene Drache war nur eine Legende der Feuchtländer. Sie dagegen folgten Ihm, Der Mit Der Morgendämmerung Kommt, dem Car'a'carn, und er hatte sich mittlerweile daran sattgehört, daß auch der Car'a'carn kein König sei. »Ich will Euer Wort darauf, daß Ihr hierbleibt, bis Mat Euch den Marschbefehl gibt. Jeder von Euch soll es mir einzeln versprechen.«
»Wir werden bleiben, Rand al'Thor.« Bruans so trügerisch sanfte Stimme klang angespannt. Die anderen stimmten in härterem Tonfall zu, aber immerhin gaben sie ihr Wort.
»Aber es ist Zeitverschwendung«, sagte Han und verzog den Mund. »Ich will nie wieder Schatten erleben, wenn das nicht stimmt.« Jheran und Erim nickten.
Rand hatte nicht erwartet, daß sie so schnell nachgeben würden. »Von Zeit zu Zeit muß man eben Zeit verschwenden, um welche zu sparen«, sagte er, und Han schnaubte.
Mittlerweile hatten die Donnergänger die Seitenwände des grüngestreiften Zeltes an Stangen hochgebunden, damit die sanfte Brise durch das schattige Innere wehen konnte. So heiß und trocken es hier auch war, so schienen die Aiel das doch erfrischend zu finden. Rand hatte nicht das Gefühl, er vergösse auch nur einen Tropfen Schweiß weniger als im glühenden Sonnenschein. Er zog sich die Schufa vom Kopf, als er sich auf die Schichten der bunten Teppiche genau Bruan und den anderen Häuptlingen gegenüber niederließ. Die Töchter stellten sich zu den Donnergängern, die das Zelt umgaben. Immer wieder erklang aus ihrer Richtung fröhliches Geflachse und entsprechendes Gelächter. Diesmal schien endlich einmal Leiran die Oberhand zu gewinnen. Zweimal schlugen die Töchter mit ihren Speeren auf die Schilde, um ihm Beifall zu zollen. Rand verstand aber fast nichts von alledem.
Er stopfte mit dem Daumen die kurzstielige Pfeife, die er dabeihatte, und ließ dann den Ziegenlederbeutel mit Tabak unter den Häuptlingen herumreichen, damit auch sie ihre Pfeifen mit dieser Sorte stopfen konnten. Er hatte nämlich in Caemlyn ein kleines Faß mit dem besten Tabak von den Zwei Flüssen aufgetrieben. Dann zündete er seine Pfeife mit Hilfe der Macht an, während sie einen Donnergänger aussandten, um von einem der Lagerfeuer einen brennenden Zweig zu holen. Als schließlich alle Pfeifen entzündet waren, setzten sie sich bequem zurecht und schmauchten genüßlich. So konnte man miteinander sprechen.
Die Unterhaltung zog sich genauso lang hin wie seine Diskussion mit den Lords, und das nicht, weil es soviel zu besprechen gab, sondern weil Rand allein mit den Feuchtländern gesprochen hatte. Die Aiel waren äußerst empfindlich, was ihren Ehrbegriff anging. Ihr Leben wurde von Ji'e'toh regiert, von Ehre und Pflicht, und die Regeln waren genauso kompliziert und eigenartig wie ihr Humor. So sprachen sie über die Aiel, die sich noch auf dem Weg von Cairhien her befanden, davon, wann Mat ankommen werde und was man, wenn überhaupt etwas, in bezug auf die Shaido unternehmen solle. Sie unterhielten sich über die Jagd und Frauen und ob Branntwein genausogut sei wie Oosquai, und über den Humor. Doch selbst der geduldige Bruan hob schließlich resignierend die Hände und gab es auf, Rand die Witze der Aiel erklären zu wollen. Was beim Licht war lustig daran, wenn eine Frau aus einem Irrtum heraus ihren Mann erstach, gleich unter welchen Umständen, oder wenn ein Mann schließlich mit der Schwester der Frau verheiratet war, die er eigentlich hatte heiraten wollen? Han murrte und schnaubte und weigerte sich, zu glauben, daß Rand solche Witze wirklich nicht verstehe; er lachte so schallend über die Sache mit dem erstochenen Ehemann, daß er beinahe umgefallen wäre. Das einzige, worüber sie sich nicht unterhielten, war der bevorstehende Krieg gegen Illian.
Als sie aufbrachen, blinzelte Rand zur Sonne empor, die bereits den halben Weg zum Horizont zurückgelegt hatte. Han wiederholte noch einmal die Geschichte von dem erstochenen Ehemann, und die aufbrechenden Häuptlinge schmunzelten wieder darüber. Rand klopfte die Pfeife an seiner Handkante aus und zertrat die letzte Glut mit der Ferse im Staub. Es blieb immer noch genug Zeit, um nach Caemlyn zurückzukehren und mit Bashere zu beraten, aber er ging ins Zelt zurück, setzte sich hin und beobachtete unter den geöffneten Zeltwänden durch, wie die Sonne sank. Als sie den Horizont berührte und sich blutrot verfärbte, brachten ihm Enaila und Somara einen Teller Eintopf mit Hammelfleisch, genug für zwei Männer, ein rundes Fladenbrot und eine Kanne Pfefferminztee, die sie zum Abkühlen in einen kleinen Eimer Wasser gestellt hatten.
»Ihr eßt nicht genug«, sagte Somara und versuchte dabei, sein Haar glattzustreichen, bevor er den Kopf wegdrehen konnte.
Enaila beäugte ihn genau. »Wenn Ihr Aviendha nicht so meiden würdet, könnte sie dafür sorgen, daß Ihr genug eßt«
»Erst weckt er ihr Interesse, und dann rennt er vor ihr weg«, knurrte Somara. »Ihr müßt sie wieder für Euch interessieren. Warum bietet Ihr Aviendha nicht an, ihr Haar zu waschen?«
»So offensichtlich sollte er es nicht machen«, sagte Enaila energisch. »Es reicht vollkommen aus, wenn er ihr anbietet, ihr Haar auszubürsten. Er will ja wohl nicht, daß sie ihn für dreist halt.«
Somara schniefte. »Sie hält ihn ganz bestimmt nicht für dreist, wenn er vor ihr wegläuft. Ihr könnt auch zu zurückhaltend sein, Rand al'Thor.«
»Ihr seid Euch doch darüber im klaren, daß keine von Euch meine Mutter ist, oder?«
Die beiden in den Cadin'sor gekleideten Frauen blickten sich verwirrt an. »Glaubst du, das war wieder so ein Feuchtländerwitz?« fragte Enaila und Somara zuckte die Achseln.
»Ich weiß nicht. Er wirkt gar nicht heiter.« Sie klopfte Rand auf den Rücken. »Ich bin sicher, es war ein guter Witz, aber Ihr müßt ihn uns erklären.«
Rand litt schweigend und biß lediglich die Zähne aufeinander. Beim Essen beobachteten sie ihn weiterhin. Sie verfolgten buchstäblich jeden einzelnen Bissen, bis er ihn im Mund hatte. Es wurde auch nicht besser, als sie mit seinem Teller gingen und statt dessen Sulin hereinkam. Sulin gab ihm einige plumpe und äußerst unzüchtige Ratschläge, wie er Aviendhas Aufmerksamkeit wieder auf sich lenken könne. Unter den Aiel war das etwas, wie es beispielsweise eine Erstschwester ihrem Erstbruder raten konnte.
»Ihr müßt in ihren Augen wohl züchtig und zurückhaltend erscheinen«, sagte ihm die weißhaarige Tochter, »aber auch wieder nicht so zurückhaltend, daß sie Euch für langweilig hält. Bittet sie doch, Euch im Dampfzelt den Rücken zu kratzen, aber ein wenig scheu und mit zu Boden gerichtetem Blick. Wenn Ihr euch zum Schlafen auszieht, tanzt noch ein wenig voller Lebensfreude herum, und dann entschuldigt Euch schnell, als wärt Ihr euch gerade erst bewußt geworden, daß sie zugegen ist. Dann schlüpft flink unter die Decken. Bringt Ihr es fertig, im richtigen Moment zu erröten?«
Er litt schweigend, aber schwer. Die Töchter wußten ja eine Menge, aber eben doch nicht genug.
Als sie nach Caemlyn zurückkehrten, eine ganze Weile nach Sonnenuntergang, schlich Rand mit den Stiefeln in der Hand in seine Gemächer und tastete sich im Dunklen durch den Vorraum ins Schlafzimmer. Selbst wenn er nicht gewußt hätte, daß Aviendha zugegen war und bereits auf ihren Decken am Fußboden nahe der Wand lag, hätte er ihre Gegenwart gespürt. In der Stille der Nacht hörte er ihre Atemzüge. Endlich einmal schien es ihm, er habe lange genug gewartet, so daß sie bereits eingeschlafen war. Er hatte sich bemüht, diesen Zustand zu beenden, doch Aviendha hatte gar nicht auf ihn geachtet, und die Töchter lachten ihn seiner › Schüchternheit und ›Zurückhaltung‹ wegen aus. Gute Eigenschaften für einen Mann, wenn er allein ist, da waren sie sich einig, aber man konnte es auch zu weit treiben.
Er legte sich voller Erleichterung darüber, daß Aviendha schon schlief hin, wenn auch ein wenig mürrisch, weil er kein Licht entzünden konnte, um sich schnell noch zu waschen, aber dann wälzte sie sich auf ihrem Lager herum. Höchstwahrscheinlich war sie doch die ganze Zeit wach gewesen.
»Schlaft gut und erwacht«, war alles, was sie sagte.
Während er ein mit Gänsedaunen gefülltes Kissen unter seinen Kopf stopfte, schalt er sich einen Narren, weil er sich plötzlich so zufrieden fühlte, da eine Frau, die er zu meiden versuchte, ihm gute Nacht gesagt hatte. Aviendha hielt das möglicherweise für einen prachtvollen Scherz. Den anderen bis aufs Blut zu reizen war bei den Aiel beinahe schon eine Kunstform. Je näher der andere daran war, die Nerven zu verlieren, desto lustiger. Der Schlaf überkam ihn dann aber doch langsam, und sein letzter bewußter Gedanke galt dem besten Witz von allen, den aber bisher nur er und Mat und Bashere kannten. Sammael hatte überhaupt keinen Sinn für Humor, aber trotzdem war dieser mächtige Hammer von einem Heer, der da in Tear wartete, der größte Witz, den die Welt je erlebt hatte. Wenn er Glück hatte, würde Sammael sterben, bevor ihm klar wurde, daß er eigentlich lachen sollte.