Die fünf Steine beschrieben einen elegant wirbelnden Kreis über Mats Händen, einer rot, einer blau, einer von klarem Grün, die anderen bemerkenswert gestreift. Er ritt dabei weiter, lenkte Pips durch Schenkeldruck und hatte den Speer mit dem schwarzen Schafft gegenüber dem unbespannten Bogen hinter den Sattelgurt gesteckt. Die Steine ließen ihn an Thom Merrilin denken, der ihm das Jonglieren beigebracht hatte, und er fragte sich, ob der alte Bursche noch am Leben sei. Wahrscheinlich nicht. Rand hatte den Gaukler Elayne und Nynaeve hinterhergeschickt, angeblich um auf sie aufzupassen. Das schien schon so lange her zu sein. Falls es Frauen gab, auf die man noch weniger aufpassen mußte, kannte Mat sie jedenfalls nicht. Doch viel eher konnte es sein, daß sie einen Mann in den Tod schickten, weil sie nicht auf Vernunft hören wollten. Nynaeve, die immer bohrte und wissen wollte, was ein Mann getan, gesagt oder gedacht hatte, und die immer an ihrem verdammten Zopf herumriß; und Elayne, die verdammte Tochter-Erbin, die glaubte, sie könne sich stets durchsetzen, wenn sie die Nase in die Luft steckte und einem die Meinung sagte, aber mindestens genauso hart wie Nynaeve, nur daß Elayne noch schlimmer war, denn wenn sie mit ihrem hochmütigen Getue nicht durchkam, lächelte Elayne und zeigte ihre Grübchen und erwartete, daß jeder zu Boden sank, weil sie so hübsch war. Er hoffte, Thom habe ihre Gesellschaft überlebt. Er hoffte auch, daß es ihnen gutgehe, aber er hätte nichts dagegen gehabt, wenn sie wenigstens einmal seit ihrem überstürzten Aufbruch ordentlich ins Schwitzen gekommen wären. Sie sollten erleben, wie das war, wenn er nicht da war, um sie wieder herauszuhauen. Und kein ehrliches Dankeschön, als er dagewesen war und ihnen geholfen hatte. So arg sollten sie nun auch wieder nicht schwitzen —gerade genug, um sich zu wünschen, Mat Cauthon befinde sich in der Gegend und rette sie wieder, der alte Narr.
»Wie steht es mit Euch, Mat?« fragte Nalesean und lenkte sein Pferd näher heran. »Habt Ihr jemals darüber nachgedacht, wie das ist, wenn man Behüter einer Aes Sedai ist?«
Mat hätte fast die Steine fallen gelassen. Daerid und Talmanes sahen ihn mit verschwitzten Gesichtern an und warteten auf seine Antwort. Die Sonne glitt bereits dem Horizont zu. Nicht mehr lange, und sie würden anhalten müssen. Die Dämmerung schien sich ein wenig verlängert zu haben, seit die Tage kürzer wurden, aber Mat wollte bei Sonnenuntergang gemütlich im aufgeschlagenen Lager sitzen und seine Pfeife rauchen. Außerdem konnte es in solchem Terrain leicht passieren, daß sich die Pferde die Beine brachen, wenn sie nicht mehr genug sahen. Den Männern mochte es ebenso ergehen.
Die Bande erstreckte sich in einer langen Schlange hinter ihnen nach Norden, Berittene wie Fußsoldaten, und schleppten eine Staubfahne hinter sich her. Die Banner flatterten, doch die Trommeln schwiegen. So zogen sie über niedrige, mit spärlichem Gestrüpp und vereinzelten Baumgruppen bewachsene Hügel. Elf Tage waren es, seit sie Maerone verlassen hatten, und sie befanden sich auf halbem Weg nach Tear oder sogar schon etwas weiter, denn sie kamen schneller vorwärts, als Mat eigentlich gehofft hatte. Sie hatten nur einen Tag darangeben müssen, damit sich die Pferde ausruhen konnten. Sicher hatte er es keineswegs besonders eilig, Weiramons Posten zu übernehmen, aber er fragte sich gleichwohl, welche Entfernung sie von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang bewältigen konnten, wenn es darauf ankam. Bisher hatte ihre beste Leistung bei fünfundvierzig Meilen gelegen, soweit sich das berechnen ließ. Zwar brauchten die Vorratswagen die halbe Nacht über, um sie wieder einzuholen, aber die Infanterie hatte in letzter Zeit zu beweisen versucht, daß sie auf langen Strecken, und sogar auf kürzeren, das Tempo der Pferde mithalten konnte.
Ein wenig weiter zurück und östlich von ihnen überquerte eine Truppe von Aielkriegern eine von Bäumen gesäumte Anhöhe. Sie rannten locker dahin und verringerten langsam der Abstand zu Mats Truppen. Wahrscheinlich waren sie seit dem Sonnenaufgang so einhergetrabt und würden auch bis zum Anbruch der Nacht oder noch länger durchhalten. Falls sie die Bande noch bei Tageslicht überholten, würde das für seine Leute wieder einen Ansporn für morgen liefern. Jedesmal, wenn sie von Aiel überholt wurden, schienen sie am nächsten Tag bereit, noch ein oder zwei Meilen zuzulegen.
Ein paar Meilen vor ihnen gingen die gelegentlichen Baumgruppen wieder in dichten Wald über. Sie würden mehr auf den Erinin zuhalten müssen, bevor sie diesen Wald erreichten. Als sie den Kamm eines Hügel überschritten, sah Mat den Fluß und die fünf gecharterten Flußkähne, über denen die Rote Hand flatterte. Vier weitere befanden sich auf dem Weg zurück nach Maerone, um neue Ladung zu nehmen, vorzugsweise Pferdefutter. Was er nicht sehen konnte —er wußte aber, daß sie sich dort befanden —, waren die Menschen, von denen einige langsam flußaufwärts wanderten, andere flußabwärts. Manche wechselten die Richtung, sobald sie eine Gruppe trafen, deren Anführer überzeugend sprechen konnte. Eine Hand voll besaß Karren, die sie selbst zogen, und ein paar hatten sogar Planwagen, aber die meisten besaßen nichts außer dem, was sie auf den Buckeln trugen. Selbst die dümmsten Räuber hatten mittlerweile begriffen, daß es bei denen nichts zu holen gab. Mat hatte keine Ahnung, wohin sie eigentlich wollten, genausowenig wie sie selbst. Doch es waren gerade genug, um die kümmerliche Andeutung einer Straße am Fluß entlang zu verstopfen. Wenn sie nicht die Leute mit Knüppeln von der Straße treiben wollten, würde die Bande hier oben viel schneller vorankommen.
»Ein Behüter?« fragte Mat zurück und steckte die Steine in eine seiner Satteltaschen. Er würde überall neue finden, aber die Farben gefielen ihm. In der Tat hatte er auch eine Adlerfeder und einen verwitterten, schneeweißen Steinbrocken, der vielleicht vor langer Zeit eingeritzte Runen aufgewiesen hatte, die jedoch mittlerweile nur noch andeutungsweise zu sehen waren. Er hätte auch gern einen Felsblock mitgenommen, der aussah, als sei er einst der Kopf eines Standbilds gewesen, aber dafür hätte er einen Wagen benötigt. »Niemals. Das sind alles Narren und Gimpel, die sich von den Aes Sedai an der Leine führen lassen. Wie seid Ihr denn auf die Idee gekommen?«
Nalesean zuckte die Achseln. Der Schweiß rann ihm nur so herunter, doch trotzdem hatte er seinen Mantel an — heute einen roten mit blauen Streifen —und auch noch bis zum Kragen zugeknöpft. Mats Kragen stand offen, doch er glaubte, jeden Moment überkochen zu müssen. »Ich denke, es liegt an den Aes Sedai«, sagte der Tairener. »Seng meine Seele, das bringt einen doch zum Nachdenken, oder? Ich meine, seng meine Seele, was haben die vor?« Er meinte damit die Aes Sedai auf der anderen Seite des Erinin, die den Berichten der Kundschafter nach ein bißchen schneller als diese ziellosen Wanderer, die es auch an jenem Ufer gab, und äußerst geschäftig am Fluß entlang hinauf oder hinunter eilten.
»Ich sage immer, es ist am besten, gar nicht erst über sie nachzudenken.« Mat berührte durch sein Hemd hindurch den silbernen Fuchskopf. Aber trotz dessen Schutz war er froh, daß sich die Aes Sedai auf der anderen Seite des Flusses befanden. Auf jedem der Flußkähne fuhr eine Handvoll seiner Soldaten mit, und obwohl es hier nur wenige Dörfer gab, setzten sie auf seine Anordnung hin bei jedem auf dem gegenüberliegenden Ufer mit einem Boot über, um in Erfahrung zu bringen, was es an Neuigkeiten gab. Bisher waren diese Neuigkeiten aber unergiebig und höchstens unangenehm gewesen. Daß die Aes Sedai überallhin ausschwärmten, war noch das Unbedeutendste daran.
»Und wie sollen wir das machen — einfach nicht an sie denken?« fragte Talmanes. »Glaubt Ihr wirklich, daß die Burg Logain als Marionette benützt hat?« Das war eines der jüngsten Gerüchte, erst zwei Tage alt.
Mat nahm seinen Hut lange genug ab, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen, bevor er antwortete. Bei Sonnenuntergang würde es ein wenig kühler werden. Aber kein Wein, kein Bier, keine Frauen und keine Glücksspiele. Wer wäre da freiwillig Soldat geworden? »Ich würde sagen, daß man den Aes Sedai so ziemlich alles zutrauen kann.« Er schob einen Finger unter das Halstuch und lockerte es ein bißchen. Etwas hatten ihm die Behüter voraus, soweit er das beurteilen konnte, und er hatte Lan genau beobachtet, denn sie schienen niemals zu schwitzen. »Aber so etwas? Nein, Talmanes, da würde ich noch eher Euch als eine Aes Sedai betrachten. Ihr seid doch nicht zufällig eine, oder?«
Daerid krümmte sich vor Lachen über sein Sattelhorn, und Nalesean wäre beinahe vom Pferd gefallen. Talmanes saß zunächst steif da, aber schließlich mußte er doch grinsen. Es wurde fast ein Lachen daraus. Der Mann besaß nicht allzuviel Humor, aber doch eben ein bißchen.
Seine Ernsthaftigkeit setzte sich aber schnell wieder durch. »Wie steht es mit den Drachenverschworenen? Falls es stimmt, Mat, bedeutet es Schwierigkeiten.« Das Lachen der anderen brach wie unter einem Axthieb ab.
Mat verzog das Gesicht. Das war die letzte Neuigkeit — oder ein Gerücht, wie man es eben nennen wollte — die sie gestern aufgeschnappt hatten: ein Dorf irgendwo in Murandy war niedergebrannt worden. Noch schlimmer — angeblich hatten sie jeden getötet, der keinen Eid auf den Wiedergeborenen Drachen leisten wollte, und die ganzen Familien gleich mit. »Rand wird sich um sie kümmern. Falls etwas daran ist. Aes Sedai, Drachenverschworene, das ist alles seine Sache, und wir haben nichts damit zu tun. Wir haben unsere eigene Aufgabe zu erfüllen.«
Das ließ die Mienen auch nicht freundlicher werden. Sie hatten schon zu viele niedergebrannte Dörfer gesehen und erwarteten mehr in der Art, nachdem sie Tear erreicht hatten. Wer wollte schon Soldat sein?
Ein Reiter erschien auf der nächsten Anhöhe vor ihnen und galoppierte auf sie zu. Er ließ sein Pferd über das Gestrüpp setzen, anstatt außenherum zu reiten, sogar als es bergab ging. Mat gab das Zeichen zum Anhalten und fügte gleich hinzu: »Keine Trompeten.«
Der Befehl wurde in seinem Rücken weitergegeben —ein Murmeln, das schnell schwächer wurde und in der Ferne verklang. Er blickte sich nicht um, sondern behielt den Reiter im Auge.
Schweißtriefend brachte Chel Vanin seinen Wallach vor Mat zum Stehen. In einen grob gewebten grauen Rock gehüllt, der wie ein Sack an seinem massigen Körper mit der glänzenden Halbglatze klebte, hing er wie ein Sack auf seinem Pferd. Vanin war fett, das ließ sich nicht leugnen. Doch so unwahrscheinlich das erschien, er konnte wohl alles reiten, was jemals geboren worden war, und was er anpackte, tat er ausgesprochen gut.
Lange bevor sie Maerone erreicht hatten, hatte Mat Nalesean, Daerid und Talmanes überrascht, als er die Namen der besten Wilderer und Pferdediebe unter ihren Männern wissen wollte, diejenigen, von denen sie wußten, die sie aber nie überführen konnten. Besonders die beiden Adligen hatten nicht zugeben wollen, daß sie solche Männer unter ihrem Befehl hatten, aber nachdem Mat ein wenig gebohrt hatte, nannten sie schließlich die Namen von drei Männern aus Cairhien, zwei Tairenern, und überraschenderweise zweien aus Andor. Mat hatte nicht geglaubt, daß die Andoraner sich schon lange genug bei der Bande befanden, um so aufzufallen, aber offensichtlich hatte sich einiges herumgesprochen.
Diese sieben Männer hatte er auf die Seite genommen und ihnen mitgeteilt, daß er Kundschafter benötige, und daß ein guter Kundschafter in etwa über die gleichen Fertigkeiten wie ein Wilderer oder ein Pferdedieb verfügen müsse. Er beachtete ihre leidenschaftlichen Beteuerungen nicht, sie hätten niemals irgendein Verbrechen gleich welcher Art auch immer begangen — das beteuerte jeder von ihnen doppelt so oft wie Talmanes und Nalesean zusammen, und mindestens genauso blumig, wenn auch in weniger feiner Sprache — er bot ihnen eine Amnestie für alle Diebstähle an, die sie bislang begangen hatten, dreifache Bezahlung und keinerlei Arbeitszuteilung, solange sie alles wahrheitsgemäß berichteten. Bei der ersten Lüge würden sie allerdings hängen, denn falls ein Kundschafter log, könnten eine Menge Männer sterben. Trotz dieser Drohung griffen sie zu; wahrscheinlich noch eher, weil sie keine Lagerarbeiten mehr verrichten mußten, als der erhöhten Entlohnung in schwerem Silber wegen.
Aber sieben reichten nicht aus, und so bat er sie, weitere Männer vorzuschlagen, wobei sie bedenken sollten, welche Fertigkeiten er von ihnen verlangte. Außerdem machte er ihnen klar, daß ihr Überleben und somit auch die dreifache Bezahlung, die er ihnen versprochen hatte, weitgehend von den Fähigkeiten jener abhingen, die sie benannten. Das brachte sie dazu, sich am Kinn zu kratzen und einander vorsichtige und mißtrauische Blicke zuzuwerfen, aber gemeinsam brachten sie dann elf weitere Namen hervor, wobei sie natürlich vehement betonten, daß sie damit gar nichts in bezug auf diese Männer behaupten wollten. Elf Kerle, so gute Wilderer und Pferdediebe, daß weder Daerid, noch Talmanes oder Nalesean sie in Verdacht gehabt hatten, aber nicht gut genug, um der Aufmerksamkeit der sieben Männer zu entgehen. Mat bot ihnen das gleiche an und fragte auch sie wieder nach weiteren Namen. Als er schließlich an einem Punkt ankam, da sich keine neuen Namen mehr ergaben, verfugte er über siebenundvierzig Kundschafter. Die schweren Zeiten hatte eben eine Menge Männer dazu getrieben, Soldaten zu werden, anstatt ihr erlerntes Handwerk auszuüben.
Der letzte, den alle drei vor ihm in der Kette benannt hatten, war Chel Vanin gewesen, ein Andoraner, der in Maerone gewohnt hatte, aber sein Unwesen über große Strecken ausgedehnt auf beiden Seiten des Erinin getrieben hatte. Vanin konnte selbst einer Fasanenhenne die Eier beim Brüten aus dem Nest stehlen, wenn auch anzunehmen war, daß er die Henne gleich mit in den Sack steckte. Vanin konnte einem Adligen das Pferd unter dem Hintern wegstehlen, und der würde es noch zwei Tage lang nicht merken. Jedenfalls hatten das diejenigen voller Ehrfurcht behauptet, die ihn empfohlen hatten. Vanin hatte mit seinem Zahnlückenlächeln und dem Ausdruck völliger Unschuld auf dem runden Gesicht beteuert, er sei lediglich Stallbursche und gelegentlich als Fuhrmann tätig, wenn er eine Arbeitsstelle fand. Aber diesen Posten als Kundschafter würde er für den vierfachen Sold übernehmen, den man bei der Bande sonst erhielt. Bisher war er mehr als das wert gewesen.
Vanin saß vor Mat auf der Anhöhe im Sattel seines Braunen und blickte verstört drein. Ihm war es recht, daß Mat nicht auf der Anrede ›mein Lord‹ bestand, da er sich nicht gern irgend jemandem beugte, aber immerhin brachte er es fertig, mit der Faust ganz locker die Stirn zu berühren — seine etwas unbeholfene Form einer Ehrenbezeugung. »Ich glaube, das müßt Ihr sehen. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Ihr müßt es Euch selbst anschauen.«
»Wartet hier«, befahl Mat den anderen, und zu Vanin sagte er: »Zeigt es mir.«
Es war kein langer Ritt, nur über die nächsten beiden Hügel und einen gewundenen Bach entlang, der breite Ränder aus getrocknetem Schlamm auf wies. Der Gestank machte ihm bereits klar, was ihm Vanin zeigen wollte, bevor sich noch die ersten Geier schwerfällig in die Luft erhoben. Andere schlugen nur mit den Flügeln und hüpften ein paar Schritt weiter. Dann ließen sie sich wieder nieder und streckten die nackten Köpfe vor, um sie empört anzukreischen. Am schlimmsten waren diejenigen, die sich nicht von ihrem Mahl aufscheuchen ließen, eine sich ständig verschiebende Masse blutverschmierter schwarzer Federn.
Ein umgekippter Wagen wie ein kleines Haus auf Rädern, in giftigen Grün-, Blau- und Gelbtönen angestrichen, kennzeichnete das Ganze als einen Wagenzug der Kesselflicker, doch nur wenige Wohnwagen waren dem Feuer entronnen. Überall lagen Leichen in bunter, zerrissener und blutverschmierter Kleidung: Männer und Frauen und Kinder. Ein Teil Mats analysierte die Szene ganz kalt, während der Rest seiner selbst sich am liebsten übergeben hätte oder weggerannt wäre, alles, nur hier auf Pips sitzen wollte er nicht. Die ersten Angreifer waren von Westen gekommen. Dort lagen die meisten Männer und älteren Jungen und mitten darunter das, was von einigen großen Hunden übriggeblieben war. Sie lagen da, als hätten sie sich bemüht, eine Kette zu bilden, um mit ihren Körpern die Angreifer aufzuhalten, während die Frauen und Kinder wegliefen. Eine vergebliche Flucht. Aufgehäufte Leichen zeigten, wo sie kopflos in die zweite Angriffswelle hineingerannt waren. Nun rührten sich nur noch die Geier.
Vanin spuckte angewidert durch eine Zahnlücke aus. »Man jagt sie fort, bevor sie zuviel gestohlen haben — sie schnappen sich sogar Kinder, wenn man nicht aufpaßt, und ziehen sie als die eigenen auf —vielleicht tritt man sicherheitshalber auch noch einmal zu, damit sie schneller weg sind, aber das macht man doch nicht. Wer würde so was tun?«
»Ich weiß nicht. Räuber vielleicht.« Alle Pferde fehlten. Aber Räuber wollten stehlen und nicht morden, und kein Kesselflicker würde sich wehren, wenn man seinen letzten Pfennig stahl und dann noch seinen Mantel obendrein mitnahm. Mat zwang seine Hände dazu, ihren verkrampften Griff um die Zügel zu lockern. Er konnte nirgendwohin blicken, ohne die Leiche einer Frau oder eines Kindes zu sehen. Wer das auch angerichtet haben mochte, wollte nicht, daß jemand überlebte. Er ritt langsam im Kreis um den Schauplatz herum, und bemühte sich, die Geier zu ignorieren, die zischten und mit den Flügeln schlugen, wenn er vorbeiritt. Der Boden war zu trocken, um gut sichtbare Spuren zu hinterlassen. Er glaubte aber doch, schwache Hufabdrücke von Pferden zu entdecken, die in mehreren Richtungen wegführten. Dann kam er zu Vanin zurück. »Ihr hättet mir davon berichten können. Ich mußte das nicht unbedingt sehen!« Licht, besser nicht!
»Ich habe Euch doch gesagt, daß es keine eindeutigen Spuren gibt«, sagte Vanin und ließ sein Pferd wenden, um dann durch den seichten Bach weiterzureiten. »Vielleicht solltet Ihr das hier sehen.«
Das Feuer hatte den größten Teil des Wagens verschlungen, der dort auf der Seite lag, aber das Wagenbett hatte es überstanden, genau wie die gelben Räder mit den roten Speichen. Ein Mann in einem Mantel, bei dem noch immer ein wenig von der grellblauen Farbe zu sehen war, lag halb unter dem Überrest des Wagens begraben. Ehe ausgestreckte Hand war schwarz von Blut. Was er in zittrigen Buchstaben geschrieben hatte, stach dunkel von den Brettern des Wagenbodens ab:
SAGT ES DEM WIEDERGEBORENEN DRACHEN
Was soll ich ihm sagen? fragte sich Mat. Daß jemand einen ganzen Wagenzug von Kesselflickern umgebracht hatte? Oder war der Mann gestorben, bevor er aufschreiben konnte, was er vorgehabt hatte? Es wäre nicht das erste Mal, daß Kesselflicker an irgendeine wichtige Information gekommen wären. In einem Roman hätte er gerade lange genug gelebt, um die entscheidende Nachricht hinzukritzeln, die den Sieg bringen würde. Nun, wie die Nachricht auch lauten mochte, niemand würde sie jetzt noch erfahren.
»Ihr habt recht gehabt, Vanin.« Mat zögerte. Was sollte er dem Wiedergeborenen Drachen sagen? Keine Veranlassung, noch mehr Gerüchte in die Welt zu setzen, als sie schon in Umlauf gebracht hatten. »Sorgt dafür, daß der Rest des Wagens verbrannt wird, bevor Ihr weiterreitet. Und sollte jemand fragen, dann gab es hier nichts zu sehen außer einer Menge toter Männer.« Und Frauen, und Kinder.
Vanin nickte. »Dreckige Wilde«, knurrte er und spuckte noch einmal aus. »Könnten einige von denen gewesen sein, schätze ich.« Die Truppe von Aielmännern hatte sie mittlerweile eingeholt. Sie war drei- oder vierhundert Mann stark. Sie trabten den Hang herunter und überquerten den Bach nicht mehr als fünfzig Schritt von den Wagen entfernt. Einige von ihnen hoben eine Hand zum Gruß. Mat erkannte sie nicht doch eine ganze Menge Aiel hatten von Rand al'Thors Freund gehört, der immer diesen Hut trug und mit dem man besser kein Spielchen wagen sollte.
Verdammte Aiel dachte Mat. Er wußte, daß die Aiel die Kesselflicker mieden, wenn er auch den Grund nicht kannte, aber das hier... »Ich glaube das nicht«, sagte er. »Sorgt dafür, daß er verbrannt wird, Vanin.«
Talmanes und die beiden anderen befanden sich selbstverständlich genau dort, wo er sie zurückgelassen hatte. Als Mat ihnen berichtete, was vor ihnen lag und daß sie Leute ausschicken sollten, um die Toten zu beerdigen, nickten sie grimmig. »Kesselflicker?« brummte Daerid ungläubig.
»Wir werden hier unser Lager aufschlagen«, fügte Mat hinzu.
Er erwartete einen Kommentar, denn das Tageslicht würde durchaus reichen, um noch ein paar Meilen zurückzulegen, und diese drei waren von dem Ehrgeiz der Bande angesteckt worden, immer noch ein paar Meilen zuzulegen, so daß sie jetzt sogar Wetten darauf abschlossen, aber Nalesean sagte lediglich: »Ich schicke einen Mann hinunter, um den Schiffen ein Signal zu übermitteln, damit sie nicht zu weit vorausfahren.«
Vielleicht empfanden sie das gleiche wie er. Wenn sie nicht von der bisherigen Richtung abwichen und zum Fluß marschierten, würden sie zumindest den Anblick der aufgescheuchten Geier nicht vermeiden können. Nur weil ein Mann dem Tod ins Auge geblickt hatte, mußte er ihn deshalb nicht schön finden. Was Mat selbst betraf, fürchtete er, sich beim nächsten Anblick dieser Vögel übergeben zu müssen. Am Morgen würden nur noch Gräber zu sehen sein.
Doch die Erinnerung ließ sich nicht verdrängen, auch nachdem sein Zelt auf jener Kuppe errichtet worden war, um jeden noch so leichten Lufthauch vom Fluß herauf spüren zu können, falls sich jemals noch ein Lüftchen erheben würde. Menschliche Körper, von Mördern niedergestreckt, von Geiern zerfetzt. Schlimmer als die Kämpfe um Cairhien gegen die Shaido. Dort waren Töchter des Speers gestorben, aber er hatte ihre Leichen nicht gesehen, und dort waren keine Kinder gewesen. Ein Kesselflicker kämpfte nicht —noch nicht einmal, um das eigene Leben zu verteidigen. Niemand tötete das Fahrende Volk. Er aß wenig von seinem Bohnengemüse mit Rindfleisch und zog sich so schnell wie möglich in sein Zelt zurück. Selbst Nalesean wollte sich nicht unterhalten, und Talmanes wirkte noch verschlossener als sonst.
Die Nachricht von dem Gemetzel hatte sich ausgebreitet. Es lag eine Ruhe über dem Lager, wie sie Mat schon von früher her kannte. Gewöhnlich hörte man von Zeit zu Zeit wenigstens ein bißchen rauhes Gelächter und manchmal leicht anrüchige Lieder, die auch noch ziemlich falsch gesungen wurden, bis die Bannerträger die Handvoll Männer in ihre Decken jagten, die noch nicht zugeben wollten, daß sie müde waren. Heute war es wie an jenem Abend, als sie ein Dorf vorgefunden hatten, in dem man nicht einmal mehr die Leichen beerdigt hatte, oder als sie auf die Leichen einer Gruppe von Flüchtlingen gestoßen waren, die verzweifelt ihre wenigen Habseligkeiten vor Banditen hatten schützen wollen. Nur wenige brachten es danach noch fertig, zu lachen oder zu singen, und diese wenigen wurden dann von den übrigen schnell zum Schweigen gebracht.
Mat lag im Zelt, als die Dunkelheit sich herabsenkte, und rauchte seine Pfeife. Aber das Zelt war eng, und unter den Erinnerungen an die toten Kesselflicker stellte sich der Schlaf nicht ein. Andere Erinnerungen mischten sich ein, Erinnerungen an frühere Tote. Zu viele Schlachten und zu viele Leichen. Er befühlte seinen Speer und fuhr mit den Fingerspitzen die Inschrift in der Alten Sprache auf dem schwarzen Schaft nach:
So wurde unser Vertrag niedergeschrieben; so wurde die Einigung erzielt.
Der Gedanke ist der Pfeil der Zeit; die Erinnerung verblaßt nie.
Worum gebeten wurde, ist gegeben; der Preis wurde bezahlt.
Bei diesem Geschäft hatte er schlecht abgeschnitten.
Er nahm eine Decke und nach einem Moment des Überlegens den Speer und ging barfuß und in Unterhose hinaus. Der silberne Fuchskopf auf seiner bloßen Brust schimmerte im Lichtschein des Halbmonds. Eine leichte Brise wehte vom Fluß her, eine armselige Luftbewegung, die kaum Kühle brachte und nicht einmal die Flagge mit der Roten Hand zum Flattern brachte, deren Schaft man in den Boden vor seinem Zelt gesteckt hatte. Doch es war immerhin erträglicher als drinnen.
Er warf die Decke über die mageren Kräuter und legte sich auf den Rücken. Als er ein Junge war, hatte er sich manchmal, wenn er nicht einschlafen konnte, damit beholfen, daß er die Sternbilder aufzählte. An diesem wolkenlosen Himmel war der Mondschein so hell, daß er die meisten Sterne verblassen ließ, aber es blieben doch noch einige sichtbar. Dort, gerade über ihm, war der Heuwagen, dann die Fünf Schwestern und die Drei Gänse, die den Weg nach Norden zeigten. Der Bogenschütze, der Pflügende Bauer, der Schmied, die Schlange. Die Aiel nannten dieses Sternbild den Drachen. Der Schild, von manchen auch Falkenflügels Schild genannt — bei dem Gedanken wälzte er sich herum, denn in einigen seiner Erinnerungen hatte er nichts für Artur Paendrag Tanreall übrig —, der Hirsch und der Hammel. Der Pokal, und die Reisende, deren Stock deutlich zu sehen war.
Irgendein Geräusch erregte seine Aufmerksamkeit, er war aber nicht sicher, was es gewesen war. Wäre die Nacht nicht so ruhig gewesen, hätte dieser Laut nicht so verstohlen gewirkt, aber nun war er ihm gerade deshalb aufgefallen. Wer mochte hier herumschleichen? Neugierig richtete er sich auf einem Ellbogen auf —und erstarrte.
Wie die Schatten, die der Mond warf, huschten Gestalten um sein Zelt. Im Mondschein konnte er einen Augenblick lang ein verschleiertes Gesicht erkennen. Aiel? Was, beim Licht, war da los? Lautlos umringten sie das Zelt und traten näher heran. Helles Metall blinkte in der Dunkelheit auf, Stoff raschelte, als man ihn durchschnitt, und sie schlichen hinein. Nur einen Moment lang, dann waren sie wieder draußen. Und sie blickten sich um — es war hell genug, um das zu sehen.
Mat zog die Beine unter den Körper. Wenn er geduckt blieb, konnte er möglicherweise wegschlüpfen, ohne gehört zu werden.
»Mat?« rief Talmanes von weiter unten am Abhang.
Er klang betrunken.
Mat rührte sich nicht. Vielleicht würde der Mann zurückgehen, wenn er ihn schlafend wähnte. Die Aiel schienen mit der Nacht zu verschmelzen, doch er war sicher, daß sie lediglich auf der Stelle zu Boden gegangen waren.
Talmanes Stiefel knirschten näher heran. »Ich habe Brandy hier, Mat. Ich glaube, Ihr solltet auch etwas trinken. Dann träumt man nicht mehr, Mat. Und man denkt nicht mehr an sie.«
Mat fragte sich, ob die Aiel ihn bei dem Lärm, den Talmanes veranstaltete, hören konnten, wenn er sich jetzt wegschlich. Es waren ungefähr zehn Schritte bis zum nächsten Schlafplatz seiner Männer — das Erste Banner der Kavallerie, Talmanes Donnerschläge, hatte heute nacht die ›Ehre‹ — und weniger als zehn bis zum Zelt und den Aiel. Sie waren schnell, doch mit ein oder zwei Schritt Vorsprung würden sie ihn nicht bekommen, bevor er nicht fünfzig Männer unmittelbar um sich hatte.
»Mat? Ich glaube nicht, daß Ihr schlaft, Mat. Ich habe Eure Miene gesehen. Es wird besser, wenn man die Träume ertränkt. Glaubt mir, ich kenne das.«
Mat kauerte am Boden, holte tief Luft und packte seinen Speer dabei fester. Zwei Schritte.
»Mat?« Talmanes kam immer näher. Der Idiot konnte jeden Moment über die Aiel stolpern. Sie würden ihm völlig geräuschlos die Kehle durchschneiden.
Seng dich, dachte Mat. Ich hätte nur zwei Schritte gebraucht. »Hoch die Schwerter!« schrie er und sprang auf. »Aiel im Lager!« Er rannte den Abhang hinunter. »Sammelt Euch am Banner! Sammelt Euch unter der Roten Hand! Kommt her, Ihr hundsföttischer Grabräuber!«
Das weckte natürlich alle auf. Es mußte wohl, denn immerhin brüllte er wie ein Stier im Dorngestrüpp! In jeder Richtung verbreiteten sich Rufe; Trommelschläge rissen die Männer hoch, und Trompeten riefen zum Sammeln. Die Männer des Ersten Banners sprangen unter Kampfgeschrei aus den Decken und rannten die Schwerter schwingend zu ihrer Flagge.
Trotzdem war es unbestreitbar, daß die Aiel ihm näher waren als die Soldaten. Und sie wußten genau, hinter wem sie her waren. Irgend etwas — Instinkt, sein Glück, vielleicht eine Eigenschaft des Ta'veren; jedenfalls konnte Mat bei all dem Lärm gewiß nichts gehört haben — brachte ihn dazu, herumzuwirbeln, gerade als die erste verschleierte Gestalt wie aus dem Nichts hinter ihm auftauchte. Keine Zeit zum Überlegen. Mit dem Schaft seines Speers parierte er die heranzuckende Speerspitze des Angreifers, doch seinen Gegenstoß fing der Aiel mit dem Armschild ab und trat ihm in den Bauch. Die Verzweiflung verlieh Mat die Kraft, auf den Beinen zu bleiben, obwohl er keine Luft bekam. Er duckte sich gerade noch unter der Speerspitze weg, die nur die Haut über seinen Rippen ritzte, schlug mit dem eigenen Speerschaft dem Aiel durch einen kräftigen Hieb die Beine unter dem Leib weg und durchbohrte sein Herz. Licht, hoffentlich war es wirklich ›sein‹ Herz!
Er riß den Speer rechtzeitig heraus, um sich dem Angriff der anderen zu stellen. Ich hätte wegrennen sollen, als ich verdammt noch mal die Gelegenheit hatte! Er benutzte den Speer wie einen Bauernspieß und so schnell wie noch nie zuvor in seinem Leben, ließ ihn wirbeln, fing die zustoßenden Speerspitzen der Aiel ab und hatte keine Zeit zurückzuschlagen. Zu viele. Ich hätte meinen verfluchten Mund halten sollen und rennen! Er bekam wieder Luft. »Kommt her, Ihr hirnlosen Schafdiebe! Seid Ihr alle taub? Putzt Euch die Ohren aus und sammelt Euch!«
Er fragte sich, wieso er noch nicht tot war. Er hatte beim ersten Aiel Glück gehabt, aber soviel Glück gab es einfach nicht. Plötzlich wurde ihm bewußt, daß er nicht mehr allein war. Ein magerer Soldat aus Cairhien in Unterwäsche fiel ihm mit einem schrillen Aufschrei vor die Füße und wurde durch einen Tairener mit flatterndem Hemd und geschwungenem Schwert ersetzt. Weitere Soldaten drängten heran und schrien alles mögliche, von »Lord Matrim und Sieg!« über »Die Rote Hand!« bis zu »Bringt dieses Ungeziefer um!«
Mat schlüpfte rückwärts weg und überließ ihnen das Kämpfen. Der General der in der ersten Linie kämpft, ist ein törichter Narr. Das entsprang diesen uralten Erinnerungen, das Zitat eines Mannes, dessen Name nicht mehr Teil der Erinnerungen war. Ein Mann könnte dort glatt umgebracht werden. Das war der reine Mat Cauthon.
Zum Schluß war es die schiere Übermacht, die den Ausschlag gab. Ein Dutzend Aiel, und gegen sie, wenn nicht die ganze Bande, dann doch immerhin ein paar Hundert, die den Hügel emporklommen, bevor alles vorüber war. Zwölf Aiel getötet, und weil es Aiel gewesen waren, um die Hälfte mehr Tote bei der Bande. Dazu bluteten und stöhnten noch einmal mindestens doppelt so viele, bis man ihre Wunden versorgt hatte, soweit sie dann noch am Leben waren. Selbst nach dieser kurzen Auseinandersetzung schmerzte Mats Körper, und Blut rann aus einem halben Dutzend Wunden. Er vermutete, man werde ihn an mindestens drei Stellen nähen müssen.
Sein Speer gab einen guten Krückstock ab, als er hinüber zu Talmanes humpelte, der ausgestreckt auf dem Boden lag, während Daerid sein linkes Bein abband.
Talmanes weißes, geöffnetes Hemd glänzte an zwei Stellen dunkel und feucht. »Es scheint«, brachte er schwer atmend heraus, »daß Nerim wieder einmal seine Künste als Näherin bei mir ausprobieren muß, und das mit seinen Wurstfingern.« Nerim war sein Bursche und flickte seinen Herrn genauso oft zusammen wie dessen Kleidung.
»Wird er wieder?« fragte Mat leise.
Daerid zuckte die Achseln. Er hatte nur seine Hose an. »Er blutet weniger als Ihr, glaube ich.« Er blickte auf. Jetzt würde er der Sammlung auf seinem Gesicht eine neue Narbe hinzufügen können. »Gut, daß Ihr ihnen rechtzeitig aus dem Weg gegangen seid, Mat. Es ist unverkennbar, daß sie hinter Euch her waren.«
»Dann haben sie glücklicherweise nicht bekommen, was sie wollten.« Stöhnend kämpfte sich Talmanes mit einem Arm um Daerids Schulter auf die Beine.
»Es wäre schlimm, das Glück der Bande einer Handvoll Wilder in der Nacht zu opfern.«
Mat räusperte sich. »Das hatte ich auch im Sinn.« Die Erinnerung daran, wie die Aiel in seinem Zelt verschwunden waren, stieg in seinem Geist empor und ließ ihn schaudern. Wieso, beim Licht, wollten Aiel ihn umbringen?
Nalesean kam von der Stelle herüber, wo man die Leichen der Aiel nebeneinandergelegt hatte. Selbst jetzt hatte er seinen Mantel an, wenn er auch nicht zugeknöpft war. Dabei studierte er finster einen Blutfleck auf dem Revers. Vielleicht war es sein eigenes Blut, vielleicht auch nicht. »Seng meine Seele, ich wußte doch, daß diese Wilden uns früher oder später überfallen würden. Ich schätze, sie kamen aus der Truppe, die uns vor ein paar Stunden überholt hat.«
»Das bezweifle ich«, sagte Mat. »Hätten sie mich gewollt, dann hätten sie mich auf den Spieß gesteckt und zum Abendessen über dem Feuer geröstet, bevor einer von Euch etwas gemerkt hätte.« Er zwang sich, hinüberzuhumpeln und die Aiel zu mustern. Er nahm eine Laterne mit, die jemand gebracht hatte, um den schwachen Mondschein zu unterstützen. Die Erleichterung, nur die Gesichter von Männern zu entdecken, ließ ihm die Knie zittern. Er kannte keinen von ihnen, aber er kannte sowieso nur wenige Aiel. »Shaido, denke ich«, sagte er und kehrte mit der Laterne zu den anderen zurück. Das konnten wirklich Shaido sein. Und Schattenfreunde dazu. Er wußte nur zu gut, daß es unter den Aiel Schattenfreunde gab. Und Schattenfreunde hatten allen Grund, seinen Tod zu wünschen.
»Morgen«, sagte Daerid, »sollten wir meiner Meinung nach eine dieser Aes Sedai auf dem anderen Ufer aufspüren. Talmanes wird es überleben, wenn er nicht zuviel Alkohol verloren hat, aber einige andere haben vielleicht nicht soviel Glück.« Nalesean sagte nichts, aber sein Knurren sprach Bände. Er war schließlich Tairener und liebte die Aes Sedai noch weniger als Mat.
Mat zögerte nicht mit seiner Zustimmung. Er würde nicht zulassen, daß eine Aes Sedai bei ihm die Macht anwandte — auf gewisse Weise bedeutete jede Narbe für ihn einen Sieg, eine weitere Gelegenheit, da er die Aes Sedai hatte meiden können —, aber er konnte von keinem Mann verlangen, deshalb zu sterben. Anschließend sagte er ihnen, was er noch wollte.
»Einen Graben?« fragte Talmanes in ungläubigem Tonfall.
»Rund um das Lager herum?« Naleseans Spitzbart bebte. »Jeden Abend?«
»Und eine Palisade?« rief Daerid. Er blickte sich schnell um und senkte die Stimme. Es befanden sich noch einige Soldaten in ihrer Nähe, um die Leichen wegzuschaffen. »Das wird eine Meuterei geben, Mat.«
»Nein, wird es nicht«, sagte Mat. »Am Morgen wird auch der letzte Mann wissen, daß sich Aiel ins Lager eingeschlichen hatten, um mein Zelt zu erreichen. Die Hälfte wird nicht mehr schlafen aus Angst, einen Aielspeer zwischen die Rippen zu bekommen. Ihr drei werdet ihnen die Tatsache schmackhaft machen, daß eine Palisade die Aiel davon abhalten wird, sich nochmal bei uns einzuschleichen.« Zumindest würde es sie aufhalten. »Jetzt geht und laßt mich heute nacht noch ein wenig schlafen.«
Nachdem sie weg waren, betrachtete er sein Zelt genauer. Lange Schlitze in den Wänden, wo die Aiel eingedrungen waren, deren Ränder im leichten Wind flatterten. Seufzend wollte er schon zu seiner Decke im Gestrüpp zurückkehren, zögerte dann aber. Das Geräusch, das ihn aufgeschreckt hatte. Die Aiel hatten kein Geräusch verursacht, hatten nicht einmal geflüstert. Ein Schatten war genauso laut wie ein Aiel. Was hatte das also verursacht?
Er stützte sich auf seinen Speer und humpelte um das Zelt herum, wobei er den Boden genau betrachtete. Er wußte selbst nicht, wonach er suchte. Die weichen Aielstiefel hatten keine Spuren hinterlassen, soweit er das im Schein der Laterne feststellen konnte. Zwei der Zeltleinen hingen lose, wo man sie durchschnitten hatte, aber... Er stellte die Laterne auf den Boden und befühlte die Leinen. Dieses Geräusch hätte davon stammen können, daß man eine straffe Leine kappte, aber es hatte doch gar keinen Grund gegeben, sie durchzuschneiden, um hineinzukommen. Etwas an dem Winkel der Schnitte und der Art, wie sie sich aneinanderfügten, erregte seine Aufmerksamkeit. Er nahm die Laterne wieder und blickte sich in der Umgebung um. Ein dürftiger Busch unweit des Zeltes war an einer Seite abgeschnitten worden. Dünne Zweige mit kleinen Blättern daran lagen auf dem Boden. Der Busch war ganz sauber getrimmt worden, die Schnittfläche gerade und die Enden der abgeschnittenen Zweige glatt. Es wirkte, als habe ein Möbelschreiner daran gearbeitet.
Die Härchen in Mats Nacken standen zu Berge. Eines dieser Löcher in der Luft, wie sie Rand benutzte, war hier geöffnet worden. Schlimm genug, daß Aiel versucht hatten, ihn zu töten, aber sie waren von jemandem geschickt worden, der eines dieser ... Tore, wie Rand sie bezeichnete, öffnen konnte, Licht, wenn er inmitten der Bande noch nicht einmal vor den Verlorenen in Sicherheit war, wo dann? Er fragte sich, wie er von nun an schlafen solle — vielleicht mit Wachfeuern um sein Zelt herum? Und mit einer Leibgarde — nein, als Ehrengarde würde er sie bezeichnen, damit es ihnen nicht ganz so schwerfallen würde, vor seinem Zelt Wache zu stehen. Beim nächsten Mal würden möglicherweise hundert Trollocs kommen, oder tausend, anstelle einer Handvoll Aiel. War er überhaupt wichtig genug für so etwas? Falls sie entschieden, er sei zu wichtig, könnte es beim nächsten Mal ein Verlorener sein. Blut und Asche! Er hatte nie darum gebeten, ein Ta'veren zu sein, und freiwillig hätte er sich niemals an den Wiedergeborenen verdammten Drachen gebunden!
»Blut und blutige...!«
Ein Knirschen am Boden in seinem Rücken warnte ihn, und er wirbelte knurrend mit dem Speer in Händen herum. Gerade noch rechtzeitig hielt er die zustoßende Klinge am Ende des Speers zurück, als Olver aufschrie und platt auf den Rücken fiel. Mit weit aufgerissenen Augen starrte der Junge die Speerspitze an.
»Was, beim verdammten Krater des Verderbens, tust du hier?« fuhr ihn Mat an.
»Ich ... ich...« Der Junge mußte erst einmal schlucken. »Sie sagen, fünfzig Aiel hätten versucht, Euch im Schlaf zu töten, Lord Mat, aber Ihr hättet sie zuerst getötet, und ich wollte sehen, ob es Euch gutgeht, und ... Lord Edorion hat mir Schuhe gekauft. Seht Ihr?« Er hob einen beschuhten Fuß.
Mat knurrte in sich hinein und zog Olver hoch. »Das hatte ich nicht gemeint. Warum bist du nicht in Maerone? Hat Edorion niemanden gefunden, der sich um dich kümmert?«
»Sie war nur hinter Lord Edorions Geld her und wollte mich gar nicht haben. Außerdem hatte sie schon sechs eigene Kinder. Meister Burdin gibt mir eine Menge zu essen, und alles, was ich tun muß, ist, seine Pferde zu tränken und sie trockenzureiben. Das gefällt mir, Lord Mat. Aber er läßt mich nicht reiten.«
Jemand räusperte sich. »Lord Talmanes hat mich geschickt, mein Lord.« Nerim war selbst für einen Bewohner Cairhiens klein, ein hagerer, grauhaariger Mann mit einem langen Gesicht, das wirkte, als wolle es sagen: ›Im Moment geht alles schief, und wahrscheinlich auch auf lange Sicht, aber heute ist ein besserer Tag als üblich.‹ »Wenn mein Lord mir meine Worte verzeiht, diese Blutflecke werden nie mehr aus der Unterwäsche meines Lords zu entfernen sein, aber falls mein Lord mir die Erlaubnis gibt, werde ich vielleicht in der Lage sein, etwas hinsichtlich der Risse in meinem Lord zu unternehmen.« Er hatte sein Nähkästchen unter den Arm geklemmt. »Du, Junge, hol ein wenig Wasser! Keine Widerrede. Wasser für meinen Lord, und das etwas plötzlich.« Nerim brachte es fertig, beim Verbeugen noch die Laterne aufzuheben. »Wenn mein Lord mit hinein kommen würde? Die Nachtluft ist schlecht für offene Wunden.«
Nach kurzer Zeit lag Mat neben seinem, Bettzeug auf dem Boden ausgestreckt — »Mein Lord wird seine Decken nicht beschmutzen wollen« —, ließ Nerim getrocknetes Blut abwaschen und ihn die Wunden zusammenflicken. Talmanes hatte recht: als Näherin war der Mann wirklich ein lausiger Versager. Da aber Olver zugegen war, blieb ihm nichts anderes übrig, als mit den Zähnen zu knirschen und alles über sich ergehen zu lassen.
In dem Versuch, sich von Nerims Nadel abzulenken, deutete Mat auf die zerschlissene Stofftasche, die von Olvers Schulter hing. »Was hast du da drinnen?« ächzte er.
Olver drückte die zerfledderte Tasche an seine Brust. Er war gewiß sauberer als zuvor, wenn auch nicht hübscher deswegen. Die Schuhe schienen fest zu sein, und sein wollenes Hemd und die Hose wirkten neu. »Das ist meine«, sagte er trotzig. »Ich habe nichts gestohlen.« Einen Augenblick später öffnete er die Tasche und fing an Gegenstände herauszunehmen.
Eine Ersatzhose, zwei weitere Hemden und einige Paare Strümpfe interessierten ihn selbst offenbar wenig. Doch die anderen Dinge zählte er auf: »Das ist meine Feder von einem roten Milan, Lord Mat, und dieser Stein hat die Farbe der Sonne. Seht Ihr?« Er legte einen kleinen Beutel dazu. »Ich habe fünf Kupferpfennige und sogar einen Silberpfennig.« Ein eingerolltes Tuch, das durch eine Schnur zusammengehalten wurde, und ein kleines Holzkästchen. »Mein Schlange-und-Fuchs-Spiel. Das hat mein Vater für mich gemacht. Er hat auch das Brett bemalt.« Einen Moment lang verzog er sein Gesicht, als wolle er weinen, doch dann fuhr er fort: »Und schaut mal... In diesem Stein ist ein Fischkopf drin. Ich weiß nicht, wie er da hineingekommen ist. Und das ist mein Schildkrötenpanzer. Eine Schildkröte mit blauem Rücken. Seht Ihr die Streifen?«
Mat ächzte unter einem besonders harten Stoß der Nähnadel und streckte die Hand nach dem zusammengerollten Tuch aus. Er fühlte sich viel besser, wenn er durch die Nase atmete. Es war eigenartig, wie sich die Löcher in seinen Erinnerungen auswirkten. Er erinnerte sich beispielsweise daran, wie man Schlange und Fuchs spielte, aber nicht, daß er es jemals gespielt hätte. »Das ist ein schöner Schildkrötenpanzer, Olver. Ich hatte auch einmal einen. Eine grüne Karettschildkröte.« So streckte er die Hand nach der anderen Seite aus und fand seinen Geldbeutel. Er kramte zwei Goldkronen aus Cairhien heraus. »Steck die in deinen Beutel, Olver. Ein Mann braucht ein wenig Gold in der Tasche.«
Beleidigt begann Olver, seine Habseligkeiten in die Tasche zu packen. »Ich bettle nicht, Lord Mat. Ich kann für mein Essen arbeiten. Ich bin kein Bettler.«
»Ich habe das auch nie behauptet.« Mat überlegte krampfhaft, um einen Grund zu finden, den Jungen mit den beiden Kronen bezahlen zu können. »Ich ... ich brauche jemanden als Laufburschen, um für mich Botschaften zu überbringen. Ich kann kein Mitglied der Bande darum bitten, denn sie haben alle ihre Aufgaben als Soldaten. Sicher, du müßtest dann dein eigenes Pferd pflegen. Ich kann schlecht jemand anders bitten, das für dich zu erledigen.«
Olver stand plötzlich ganz gerade da. »Ich würde mein eigenes Pferd bekommen?« fragte er ungläubig.
»Selbstverständlich. Dann ist da noch etwas. Ich heiße Mat. Wenn du mich noch einmal Lord Mat nennst, werde ich dir einen Knoten in die Nase machen.« Aufbrüllend zuckte er hoch. »Seng Euch, Nerim. Das ist ein Bein und kein verdammtes Stück Rindfleisch!«
»Wie mein Lord meint«, murmelte Nerim. »Das Bein meines Lords ist kein Stück Rindfleisch. Ich danke Euch, mein Lord, daß Ihr mich davon unterrichtet habt.«
Olver fühlte zögernd nach seiner Nase, als überlege er, ob sie sich wirklich verknoten ließe.
Mat sank stöhnend zurück. Nun hatte er sich den Jungen aufgehalst und ihm damit keineswegs einen Gefallen getan, jedenfalls nicht, falls er beim nächsten Mal in der Nähe war, wenn die Verlorenen sich bemühten, die Anzahl der Ta'veren auf der Welt zu verringern. Nun, sollte Rands Plan aufgehen, würde es statt dessen einen Verlorenen weniger geben. Wenn es allerdings nach Mat Cauthon ging, wollte er sich lieber aus allen Schwierigkeiten heraushalten, bis es keine Verlorenen mehr gab.