Egwene öffnete die Augen und blickte ins Leere. Einen Moment lang lag sie noch entspannt auf ihrer Bettstelle und fühlte nach dem Großen Schlangenring, der an seiner Kordel um ihren Hals hing. Wenn sie ihn an der Hand trug, löste das zu viele eigenartig berührte Blicke aus. Es war leichter, sich als Schülerin der Weisen Frauen einzureihen, wenn niemand sie gleichzeitig als Aes Sedai betrachtete. Was sie sowieso nicht war. Sie war eine Aufgenommene, die so lange vorgetäuscht hatte, sie sei eine Aes Sedai, daß sie es manchmal schon selbst glaubte.
Ein wenig Morgensonnenschein blinzelte unter der Zeltklappe hervor und erhellte spärlich das Innere. So, wie sie sich fühlte, hätte sie überhaupt nicht schlafen müssen. Ihre Schläfen hämmerten. Seit dem Tag, als Lanfear sie und Aviendha beinahe getötet hätte, dem Tag, da die Verlorene und Moiraine sich gegenseitig getötet hatten, schmerzte ihr Kopf jedesmal so, wenn sie aus Tel'aran'rhiod zurückkehrte. Aber die Schmerzen waren nicht derart schlimm, daß sie sie außer Gefecht gesetzt hätten. Wie dem auch sei, zu Hause hatte ihr Nynaeve einiges über Kräuter beigebracht, und hier in Cairhien hatte sie die richtigen Arten gefunden. Schlafgut-Wurzel machte sie für gewöhnlich schläfrig und würde sie in einem Erschöpfungszustand wie jetzt stundenlang schlafen lassen, und dazu würde sie jeden Rest von Kopfschmerzen beseitigen.
So stand sie auf, zog ihr verknittertes, schweißnasses Nachthemd zurecht und schritt langsam über die dicken Teppichschichten hinüber zum Waschbecken, einer großen, gravierten Kristallschale, die möglicherweise früher einmal den gewürzten Wein irgendeines Adligen enthalten hatte. Sie enthielt lediglich klares Wasser, genau wie der blau glasierte Krug. Doch als sie ihr Gesicht befeuchtete, war das Wasser leider nicht mehr kühl zu nennen. Ihr Blick traf den ihrer eigenen Augen, die ihr aus einem kleinen Spiegel mit vergoldetem Rahmen an der Zeltwand entgegensahen, und ihre Wangen liefen rot an.
»Also, was hast du denn geglaubt, was geschehen würde?« flüsterte sie. Für möglich hätte sie es nicht gehalten, aber die Wangen ihres Spiegelbilds färbten sich noch dunkler rot.
Es war schließlich nur ein Traum gewesen, nicht wie sonst in Tel'aran'rhiod, wenn das, was im Traum geschehen war, beim Erwachen noch immer reale Auswirkungen zeigte. Doch sie erinnerte sich an jede Einzelheit, als sei es Wirklichkeit gewesen. Sie glaubte, ihre Wangen müßten beinahe Feuer fangen. Nur ein Traum, und überdies noch Gawyns Traum. Er hatte kein Recht, auf diese Weise von ihr zu träumen.
»Es war alles seine Schuld«, berichtete sie ärgerlich ihrem Spiegelbild. »Nicht meine! Ich hatte schließlich keine Wahl!« Reuevoll schloß sie den Mund. Einem Mann seine Träume vorwerfen. Und wie eine dumme Gans mit einem Spiegel sprechen.
Sie blieb an der Zeltklappe stehen und bückte sich, um hinauszuspähen. Ihr niedriges Zelt befand sich am Rand des Aiellagers. Die grauen Mauern Cairhiens erhoben sich etwa zwei Meilen westlich über die kahlen Hügel. Zwischen dem Lager und der Stadt lag nichts als versengter Boden, wo einst das Vortor einen dicht bewohnten Ring um die Stadt gebildet hatte. Alles war im Schein der Morgensonne scharf umrissen und klar, so daß es noch nicht sehr spät sein konnte, und doch eilten die Aiel bereits geschäftig zwischen den Zelten einher.
Heute würde sie nicht früh aufstehen. Nach einer ganzen Nacht außerhalb ihres Körpers — ihre Wangen liefen erneut rot an; Licht, würde sie den Rest ihres Lebens über eines Traums wegen erröten? Sie fürchtete es fast — hatte sie es wohl verdient, bis zum Nachmittag zu schlafen. Der Duft nach heißem Haferbrei konnte es mit ihren schweren Augenlidern nicht aufnehmen.
Träge schlich sie zu ihren Decken zurück und ließ sich schwer darauffallen, wobei sie sich die Schläfen rieb. Sie war sogar zu müde, um sich noch Tee aus Schlafgut-Wurzel zu bereiten, aber in diesem Zustand war es ohnehin egal, und sie brauchte die Hilfe nicht. Der dumpfe Kopfschmerz ließ gewöhnlich nach etwa einer Stunde nach, also würde sie beim Erwachen nichts mehr davon spüren.
Alles in allem war es keine Überraschung, wenn sie von Gawyn träumte. Manchmal wiederholte sie sogar einen seiner Träume, wenn auch nicht ganz genau, denn in ihren Versionen kamen gewisse anstößige Dinge nicht vor oder wurden von ihr geflissentlich übergangen, Gawyn verbrachte dann erheblich mehr Zeit damit, ihr Gedichte darzubringen und sie in den Armen zu halten, während sie Sonnenaufgänge oder —Untergänge beobachteten. Er stotterte auch keineswegs, wenn er ihr sagte, daß er sie liebe. Und er sah so gut aus wie in Wirklichkeit. Andere Träume waren ganz und gar ihre eigenen. Zarte Küsse, die eine Ewigkeit lang dauerten. Er kniete vor ihr, und sie nahm seinen Kopf in beide Hände. Zweimal, und zwar gleich hintereinander, träumte sie davon, ihn an den Schultern zu packen und zu versuchen, ihn gegen seinen Willen umzudrehen. Einmal schob er ihre Hände grob beiseite, während sie beim zweiten Mal etwas stärker war als er. Die beiden Träume überlagerten sich ein wenig in ihrem Gedächtnis. In einem weiteren machte er sich daran, eine Tür vor ihrer Nase zu schließen, und sie wußte: sobald der immer enger werdende lichterfüllte Spalt sich schloß, mußte sie sterben.
Die Träume überschlugen sich in ihrem Kopf. Nicht alle handelten von ihm, und die meisten waren Alpträume.
Perrin kam und stand vor ihr. Zu seinen Füßen lag ein Wolf, und in seine Schultern hatten sich ein Habicht und ein Falke festgekrallt die sich über seinen Kopf hinweg zornig anfunkelten. Er bemerkte die beiden offensichtlich nicht und versuchte immer wieder, diese Axt wegzuwerfen, bis er schließlich wegrannte, und die Axt schwebte durch die Luft und verfolgte ihn. Wiederum Perrin: Er wandte sich von einem Kesselflicker ab und rannte weg, immer schneller, obwohl sie ihm zurief, er solle zurückkommen. Mat sagte Worte in einer seltsamen Sprache, die sie beinahe verstand — sie glaubte, es müsse sich um die Alte Sprache handeln —, und zwei Raben setzten sich auf seine Schultern. Ihre Krallen bohrten sich durch den Mantel tief in sein Fleisch hinein. Er schien sie genausowenig zu bemerken wie Perrin den Habicht und den Falken, doch dann stand Trotz in seiner Miene, und später düstere Resignation. In einem anderen lockte ihn eine Frau, deren Gesicht in Schatten gehüllt war, auf eine große Gefahr zu. Egwene wußte nicht, was es war, nur, daß die Gefahr von etwas Ungeheurem ausging. Mehrere Träume handelten von Rand, nicht einmal in jedem Falle schlimm, aber allesamt eigenartig. Elayne, die ihn mit einer Hand auf die Knie zwang. Elayne und Min und Aviendha, die in einer schweigenden Runde um ihn saßen. Jede berührte ihn nacheinander mit einer Hand. Er schritt auf einen brennenden Berg zu, und unter seinen Stiefeln wurde etwas zermalmt. Sie wälzte sich herum und wimmerte leise, denn die zermalmten Gegenstände waren Siegel vom Gefängnis des Dunklen Königs, die bei jedem Schritt zerbrachen. Sie wußte es. Sie mußte sie gar nicht sehen, um das zu wissen.
Als ihre Angst wuchs, wurden ihre Träume schlimmer. Die beiden fremden Frauen, die sie in Tel'aran'rhiod gesehen hatte, fingen sie und zerrten sie an einen Tisch, an dem viele Frauen mit heruntergezogenen Kapuzen saßen, und als sie die Kapuzen zurückschlugen, war jede von ihnen Liandrin, die Schwarze Schwester, die sie in Tear gefangen hatte. Eine Seanchanfrau mit hartem Gesicht gab ihr ein silbrig schimmerndes Armband, das durch eine metallisch wirkende Leine mit einem gleichartigen Halsband verbunden war, also einen A'dam. Das ließ sie aufschreien, denn schon einmal hatten ihr die Seanchan einen A'dam angelegt. Sie wollte lieber sterben, als das noch einmal durchzumachen. Rand lief durch die Straßen Cairhiens und lachte, während er Gebäude und Menschen mit Blitz und Feuer vernichtete, und neben ihm rannten andere Männer und sengten und verbrannten mit Hilfe der Macht. Diese fürchterliche Amnestie, die er erlassen hatte, war in Cairhien verkündet worden, aber sicherlich würde kein Mann freiwillig die Macht gebrauchen! Die Weisen Frauen erwischten sie in Tel'aran'rhiod und verkauften sie wie ein Tier in die Länder jenseits der Aielwüste. Das machten sie mit allen Bewohnern Cairhiens, die sie in der Wüste antrafen. Sie stand außerhalb ihres Körpers, sah zu, wie ihr Gesicht schmolz, ihr Schädel aufplatzte, während undeutlich sichtbare Gestalten mit harten Stöcken nach ihr stießen. Sie stießen. Stießen...
Sie fuhr nach Luft schnappend hoch, und Cowinde hockte sich wieder neben sie, den Kopf unter der Kapuze ihrer weißen Robe verborgen.
»Vergebt mir, Aes Sedai. Ich wollte Euch nur wecken, damit Ihr Euer Morgenmahl einnehmt.«
»Dazu müßt Ihr mir doch kein Loch in die Rippen bohren«, knurrte Egwene, aber dann tat es ihr gleich wieder leid.
Ärger flammte in Cowindes tiefblauen Augen auf und wurde sofort wieder gelöscht und hinter der bei den Gai'schain üblichen Maske geduldiger Ergebenheit verborgen. Sie hatten schwören müssen, demütig zu gehorchen und ein Jahr und einen Tag lang keine Waffe mehr zu berühren, und so nahmen die Gai'schain eben geduldig hin, was auch immer geschehen mochte, ob es nun ein unhöfliches Wort war, ein Schlag, höchstwahrscheinlich sogar einen Messerstich ins Herz. Allerdings war es für einen Aiel dasselbe, einen Gai'schain zu töten, wie ein Kind. Es gab keine Entschuldigung dafür, und der Sünder würde vom eigenen Bruder oder der eigenen Schwester niedergestreckt. Und doch war es eine Maske, da war sich Egwene sicher. Die Gai'schain gaben sich wohl alle Mühe, aber sie waren immer noch Aiel, und Egwene konnte sich kein Volk vorstellen, das weniger demütig und duldsam war. Das betraf sogar Menschen wie Cowinde, die sich weigerten, das Weiß abzulegen, wenn ihr Jahr und Tag vorüber war. Ihre Weigerung, ins gewöhnliche Aielleben zurückzukehren, entsprang ihrem halsstarrigen Stolz und ihrem Trotz, genau wie bei Männern, die sich auch vor zehn Gegnern nicht zurückziehen wollten. Zu solchen Verwicklungen führte das Ji'e'toh der Aiel.
Das war einer der Gründe, warum Egwene bei den Gai'schain und besonders bei Cowinde achtgab, was sie sagte und wie sie es sagte. Sie waren schließlich nicht in der Lage, etwas zurückzugeben, zu widersprechen oder gar zu kämpfen, ohne alle Regeln zu brechen, auf denen ihr Leben beruhte. Andererseits war Cowinde eine Tochter des Speers gewesen und konnte auch wieder eine werden, wenn man sie jemals überredete, diese Robe abzulegen. Wenn man einmal die Macht mißachtete, hätte sie vermutlich Egwene einen Knoten in Arme und Beine flechten können, während sie gleichzeitig eine Speerspitze schliff.
»Ich will kein Frühstück«, sagte Egwene zu ihr. »Geht wieder und laßt mich schlafen.«
»Kein Frühstück?« fragte Amys, deren Halsketten und Armbänder aus Elfenbein, Silber und Gold klapperten, als sie geduckt in das Zelt trat. Sie trug —wie alle Aiel — keine Ringe, aber ansonsten hatte sie genug Schmuck umgehängt für drei Frauen oder mehr, »Ich glaubte, wenigstens Euer Appetit sei vollständig wiederhergestellt.«
Auch Bair und Melaine traten nun ein, und jede war genauso mit Schmuck behängt. Die drei kamen aus verschiedenen Clans, doch obwohl die meisten Weisen Frauen, die mit den Männern die Drachenmauer überquert hatten, in der Nähe ihrer Septimen blieben, standen die Zelte dieser drei dicht beieinander und bei dem Egwenes. Sie nahmen auf bunten, reich mit Fransen und Troddeln verzierten Kissen am Fuß ihrer Bettstatt Platz und rückten die dunklen Tücher zurecht, ohne die man Aielfrauen kaum jemals zu sehen bekam. Jedenfalls diejenigen, die nicht zu den Far Dareis Mai gehörten. Amys' Haar war genauso weiß wie Bairs, aber Bairs großmütterliches Gesicht wies tiefe Furchen auf, während Amys erstaunlich jung wirkte. Vielleicht lag es an dem Kontrast zwischen ihrem Haar und dem faltenlosen Gesicht. Sie behauptete, ihr Haar sei schon in ihrer Kindheit beinahe genauso hell gewesen.
Normalerweise übernahm entweder Bair oder Amys die Führung, doch heute sprach Melaine — Haare wie die Sonne und grüne Augen — zuerst: »Wenn Ihr aufhört, zu essen, könnt Ihr euch nicht erholen. Wir hatten uns überlegt, Euch zu unserem nächsten Zusammentreffen mit den anderen Aes Sedai mitkommen zu lassen, weil sie jedesmal nach Euch fragen...«
»Und sich jedesmal wie die typischen Feuchtländer lächerlich machen«, warf Amys bissig ein. Sie war keineswegs eine gehässige Frau, aber die Aes Sedai in Salidar hielten sie bestimmt für eine. Vielleicht lag es nur an diesen Zusammentreffen mit Aes Sedai. Ihrer Sitte entsprechend mieden die Weisen Frauen solche Treffen, besonders diejenigen, die mit der Macht umgehen konnten, so wie Amys und Melaine. Außerdem ärgerte es sie, daß die Aes Sedai Nynaeve und Elayne bei ihren Treffen verdrängt hatten. Egwene paßte das ebenfalls nicht. Sie vermutete, die Weisen Frauen hätten die beiden durch die Betonung der Gefahren in Tel'aran'rhiod abgeschreckt. Den Bruchstücken der Inhalte solcher Treffen nach zu schließen, die sie mittlerweile erfahren hatte, waren die Aes Sedai aber keineswegs eingeschüchtert. Es gab nicht viel, was Aes Sedai abschrecken konnte.
»Wir müssen wohl noch einmal alles überdenken«, fuhr Melaine gelassen fort. Vor ihrer kürzlichen Heirat war sie reizbar wie eine Löwenmutter gewesen, doch mittlerweile schien sie nichts aus der Ruhe bringen zu können. »Ihr dürft nicht in den Traum zurückkehren, bevor Euer Körper nicht wieder seine vollen Kräfte erlangt hat.«
»Ihr habt Ringe um die Augen«, sagte Bair mit besorgter, dünner Stimme, die zu ihrem Gesicht paßte. In vielerlei Hinsicht jedoch war gerade sie die härteste der drei. »Habt Ihr schlecht geschlafen?«
»Wie könnte sie auch gut geschlafen haben?« fragte Amys mürrisch. »Dreimal habe ich letzte Nacht versucht, in ihre Träume zu blicken, und jedesmal habe ich nichts vorgefunden. Keine kann gut schlafen, wenn sie nichts träumt.«
Egwene trocknete schlagartig der Mund aus, und die Zunge klebte ihr am Gaumen. Sie mußten ausgerechnet in der einzigen Nacht nach ihr sehen, in der sie nur ein paar Stunden lang nicht in ihrem Körper zugegen war.
Melaine runzelte die Stirn. Sie sah nicht Egwene an, sondern Cowinde, die immer noch mit gesenktem Kopf am Fuße der Bettstatt kauerte. »Neben meinem Zelt ist ein Sandhaufen aufgetürmt«, sagte sie in beinahe so scharfem Tonfall wie früher. »Ihr untersucht ihn Sandkorn für Sandkorn, bis Ihr ein rotes Korn findet. Falls es nicht das richtige ist, nach dem ich suche, werdet Ihr von neuem beginnen. Geht jetzt.« Cowinde verbeugte sich lediglich, bis ihr Gesicht die bunten Teppiche berührte, dann hastete sie hinaus, Melaine sah Egwene an und lächelte freundlich. »Ihr scheint überrascht. Wenn sie nicht von allein tut, was sich schickt, muß ich sie eben zwingen, sich für den richtigen Weg zu entscheiden. Da sie nach wie vor behauptet, mir zu dienen, untersteht sie auch noch meiner Verantwortung.«
Bairs langes Haar flog, als sie den Kopf schüttelte. »Es wird nicht wirken.« Sie rückte den Schal auf ihren knochigen Schultern zurecht. Egwene kam in ihrem dünnen Nachthemd ins Schwitzen, obwohl die Sonne noch gar nicht richtig am Himmel stand, doch die Aiel waren ganz anderes gewöhnt. »Ich habe Juric und Beira verprügelt, bis mein Arm zu müde war, um weiterzumachen, aber so oft ich ihnen auch befehle, das Weiß abzulegen: vor dem Sonnenuntergang haben sie ihre Roben wieder an.«
»Es ist wie ein Fluch«, knurrte Amys. »Seit wir in die Feuchtländer kamen, hat sich ein ganzes Viertel all jener, deren Zeit vorüber ist, geweigert, zu ihren Septimen zurückzukehren. Sie verdrehen Ji'e'toh und seine Bedeutung.«
Das war Rands Schuld. Er hatte allen das enthüllt, was zuvor nur die Clanhäuptlinge und die Weisen Frauen gewußt hatten: einst hatten alle Aiel gelobt, keine Waffe mehr zu berühren und keine Gewalt zu gebrauchen. Nun glaubten viele, daß sie eigentlich alle als Gai'schain dienen müßten. Andere wieder weigerten sich deshalb, Rand als den Car'a'carn anzuerkennen, und noch weitere liefen täglich weg und schlossen sich den Shaido an, die sich in den Bergen weiter nördlich aufhielten. Ein paar warfen auch einfach die Waffen weg und verschwanden. Niemand wußte, was aus ihnen wurde. Sie waren von der ›Trostlosigkeit‹ erfaßt worden, wie es die Aiel bezeichneten. Das seltsamste daran, jedenfalls für Egwene, war die Tatsache, daß niemand unter den Aiel — bis auf die Shaido natürlich — Rand die Schuld daran gab. Die Prophezeiung von Rhuidean besagte, der Car'a'carn werde sie zurückfuhren und vernichten. Wohin zurückführen, da war man sich nicht sicher, aber daß er sie auf irgendeine Art und Weise vernichten werde, das akzeptierten sie genauso ruhig, wie Cowinde mit ihrer Arbeit begann, obwohl sie um deren Hoffnungslosigkeit wußte.
In diesem Augenblick war Egwene all das völlig egal, und hätte auch jeder Aiel in Cairhien die weiße Robe angelegt. Sollten die Weisen Frauen auch nur den Verdacht haben, daß sie auf eigene Faust... Falls dem so war, hätte sie auch freiwillig hundert Sandhaufen umgegraben, doch sie glaubte nicht, daß sie so leicht davonkommen würde. Ihre Strafe würde viel härter ausfallen. Amys hatte einmal gesagt, falls sie nicht genau das tat, was man ihr befahl — weil die Welt der Träume zu gefährlich sei, müsse sie das schwören —, würde sie nicht mehr weiter unterrichtet. Zweifellos würden andere das unterstützen, und dies war die einzige Strafe, die sie wirklich fürchtete. Lieber tausend Sandhaufen unter der glühenden Sonne.
»Blickt nicht so erschüttert drein«, schmunzelte Bair. »Amys zürnt nicht allen Feuchtländern, und sie ist Euch sicher nicht böse, denn Ihr seid ja fast schon eine Tochter unserer Zelte. Es liegt an Euren Schwestern, den Aes Sedai. Die eine namens Carlinya hat sogar angedeutet, wir hielten Euch möglicherweise gegen Euren Willen fest.«
»Angedeutet?« Amys blasse Augenbrauen zogen sich fast zum Haaransatz hoch. »Die Frau hat das ganz eindeutig ausgesprochen!«
»Und dabei gelernt, ihre Zunge besser zu hüten.« Bair lachte und schaukelte auf ihrem roten Sitzkissen. »Ich wette, sie hat es gelernt. Als wir sie verließen, hat sie immer noch gejammert und versucht, diese Scharlach-Puffottern aus ihrem Kleid herauszubekommen. Eine Scharlach-Puffotter«, verriet sie Egwene, »sieht für die trüben Augen eines Feuchtländers genauso aus wie eine gewöhnliche Rote Puffotter, aber sie ist ungiftig. Wenn sie auf engem Raum eingesperrt ist, windet sie sich naturgemäß ziemlich stark.«
Amys schnaubte. »Sie wären längst fort gewesen, hätte sie sich vorgestellt, daß sie weg sind. Diese Frau ist nicht lernfähig. Die Aes Sedai, denen wir im Zeitalter der Legenden dienten, können gewiß keine solchen Narren gewesen sein.« Immerhin schien sie sich beruhigt zu haben.
Melaine gluckste ganz offen vor Vergnügen, und Egwene ertappte sich ebenfalls beim Kichern. Vieles am Humor der Aiel blieb ihr wohl rätselhaft, dieses aber nicht. Sie hatte Carlinya nur dreimal getroffen, aber das Bild, daß diese steife, eisige und hochmütige Frau wild herumtanzte und versuchte, Schlangen aus ihrem Kleid zu entfernen... Sie gab sich alle Mühe, nicht schallend loszulachen.
»Na, wenigstens ist Euer Sinn für Humor zurückgekehrt«, sagte Melaine. »Sind die Kopfschmerzen wieder aufgetaucht?«
»Mein Kopf ist in Ordnung«, log Egwene, und Bair nickte.
»Gut. Wir hatten uns Sorgen gemacht, als sie so hartnäckig blieben. Solange Ihr davon abseht, in nächster Zeit die Welt der Träume zu betreten, werden sie wohl wegbleiben. Habt keine Angst, daß Ihr einen bleibenden Schaden erleidet; der Körper benutzt den Schmerz nur, um uns mitzuteilen, daß er Ruhe benötigt.«
Das hätte Egwene beinahe wieder zum Lachen gebracht, wenn auch nicht aus Vergnügen. Die Aiel mißachteten selbst klaffende Wunden und gebrochene Knochen, weil sie sich keine Zeit nehmen wollten, sich darum zu kümmern. »Wie lange sollte ich mich noch fernhalten?« fragte sie. Sie haßte diese Lügerei, aber die Untätigkeit haßte sie noch mehr. Die ersten zehn Tage, nachdem Lanfear sie mit was auch immer angegriffen und kampfunfähig gemacht hatte, waren schlimm genug gewesen. In jenen Tagen hatte sie noch nicht einmal nachdenken können, ohne daß ihr Kopf beinahe explodierte. Sobald sie aber wieder klar gewesen war, hatte das, was ihre Mutter einst ›den Juckreiz des Nichtstuns‹ genannt hatte, sie hinter dem Rücken der Weisen Frauen zum Betreten Tel'aran'rhiods getrieben. Man lernte beim Ausruhen eben nichts. »Das nächste Treffen, habt Ihr gesagt?«
»Vielleicht«, erwiderte Melaine mit einem Achselzucken. »Wir werden sehen. Aber Ihr müßt essen. Sollte Euer Appetit verschwunden sein, stimmt etwas nicht mit Euch, und wir haben keine Ahnung, was.«
»Oh, essen kann ich.« Der Haferbrei, den sie draußen kochten, duftete wirklich gut. »Ich denke, ich wollte nur faulenzen.« Ohne jedes Ächzen aufzustehen, war eine Meisterleistung, denn ihr Kopf hatte noch immer etwas gegen jede Bewegung einzuwenden. »Mir sind letzte Nacht noch ein paar Fragen eingefallen.«
Melaine rollte amüsiert mit den Augen. »Seit Ihr verwundet wurdet, stellt Ihr fünf Fragen für jede einzelne, die Ihr vorher gestellt habt.«
Weil sie versuchte, auf eigene Faust Dinge herauszufinden. Das konnte sie ihnen natürlich nicht sagen, also kramte sie lediglich einen frischen Unterrock aus einer kleinen Truhe, die an der Zeltwand aufgestellt war, und zog ihn anstelle des verschwitzten Nachthemds über.
»Fragen sind gut«, sagte Bair. »Fragt.«
Egwene wählte ihre Worte sorgfältig. Und nebenbei zog sie sich ganz ohne Aufhebens an, und zwar die gleiche weiße Bluse aus Algode und den bauschigen Wollrock, wie sie auch die Weisen Frauen trugen. »Ist es möglich, gegen den eigenen Willen in den Traum eines anderen Menschen gezogen zu werden?«
»Selbstverständlich nicht«, sagte Amys, »wenn man sich nicht äußerst ungeschickt anstellt.«
Doch fast im gleichen Moment stellte Bair fest: »Höchstens, wenn sehr starke Gefühle dabei eine Rolle spielen. Wenn Ihr versucht, in den Traum einer Person hineinzublicken, die Euch haßt oder liebt, könntet Ihr hineingezogen werden. Oder wenn Ihr diese Person haßt oder liebt. Deshalb wagen wir auch nicht, in Sevannas Träume einzudringen oder auch nur in ihren Träumen mit den Weisen Frauen der Shaido zu sprechen.« Es überraschte Egwene noch immer, daß diese und die anderen Weisen Frauen die Weisen Frauen der Shaido besuchten und mit ihnen verhandelten. Der Sitte nach standen Weise Frauen über den Streitigkeiten und Kämpfen, aber sie hätte gedacht, der Widerstand der Shaido gegen den Car'a'carn und ihr Schwur, ihn zu töten, wäre denn doch ein zu großes Hindernis. »Wenn Ihr den Traum eines Menschen verlassen möchtet, der Euch haßt oder liebt«, beendete Bair ihren Vortrag, »ist das, als wolle man aus einer tiefen Grube mit senkrechten Wänden klettern.«
»Das stimmt allerdings.« Amys schien mit einem Schlag ihren Humor wiedergewonnen zu haben, und sie warf Melaine von der Seite her einen sarkastischen Blick zu. »Deshalb begeht keine Traumgängerin den Fehler, zu versuchen, in den Traum ihres Ehemannes einzudringen.« Melaine blickte stur geradeaus, doch ihr Gesicht lief dunkel an. »Jedenfalls begeht sie ihn kein zweites Mal«, fügte Amys hinzu.
Bair grinste, wodurch sich die Furchen in ihrem Gesicht noch vertieften, und blickte beharrlich an Melaine vorbei. »Das kann ein beachtlicher Schock sein, vor allem, wenn er auf Euch wütend ist. Falls er, um ein frei erfundenes Beispiel zu nennen, durch Ji'e'toh gezwungen ist, für eine Weile fortzugehen, und Ihr werft ihm wie ein törichtes Kind vor, wenn er Euch liebte, würde er nicht weggehen.«
»Das weicht nun doch zu weit von ihrer Frage ab«, sagte Melaine mit hochrot angelaufenem Gesicht gezwungen. Bair lachte laut los.
Egwene unterdrückte ihre Neugier und Erheiterung. Sie bemühte sich, ihre Worte nebensächlich klingen zu lassen: »Und wie verhält es, wenn Ihr gar nicht versucht, in den Traum dieser Person hineinzuschauen?« Melaine warf ihr einen dankbaren Blick zu, und sie bekam prompt einen Anfall von schlechtem Gewissen. Nicht genug aber, um sie davon abzuhalten, später nach der gesamten Geschichte zu fragen. Etwas, das sogar Melaine zum Erröten brachte, mußte wirklich lächerlich sein.
»Ich habe von so etwas gehört«, sagte Bair, »als ich jung war und gerade zu lernen begann. Mora, die Weise Frau der Colradafeste, hat mich ausgebildet, und sie meinte, wenn die Gefühle wirklich extrem stark seien, Liebe oder Haß in einem Maße, daß sie keinen Raum für andere Gefühle mehr ließen, könne man bereits dadurch hineingezogen werden, daß man sich des Traums dieser anderen Person bewußt wird, ihn also bewußt bemerkt.«
»So etwas habe ich noch nie gehört«, sagte Melaine. Amys blickte zweifelnd drein.
»Ich auch nicht, außer von Mora«, sagte Bair, »aber sie war auch eine bemerkenswerte Frau. Man erzählte sich, daß sie sich ihrem dreihundertsten Lebensjahr näherte, als sie vom Biß einer Blutschlange starb, doch sie sah genauso jung aus wie ihr beiden. Ich war damals noch ein Mädchen, doch ich erinnere mich noch gut an sie. Sie wußte so vieles und konnte die Macht in so hohem Maße lenken! Aus jedem anderen Clan kamen die Weisen Frauen, um von ihr zu lernen. Ich glaube, daß so starke Liebe oder so starker Haß sehr selten sind, aber sie behauptete, ihr sei es zweimal so ergangen, zuerst mit dem ersten Mann, den sie geheiratet hatte, und einmal bei einer Rivalin, die ihr ihren dritten Mann streitig machen wollte.«
»Dreihundert?« rief Egwene, die gerade einen weichen, kniehohen Wildlederstiefel zur Hälfte zugebunden hatte. So lange lebten nicht einmal Aes Sedai!
»Ich sagte, daß man sich das erzählte«, erwiderte Bair lächelnd. »Manche Frauen altern langsamer als andere, so wie Amys, und wenn es dann auch noch eine legendäre Frau wie Mora ist, blühen die Gerüchte. Eines Tages werde ich Euch erzählen, wie Mora einen Berg versetzte. Zumindest angeblich.«
»Eines Tages?« fragte Melaine übertrieben höflich. Offensichtlich schmollte sie noch immer, weil sich in Baels Traum irgend etwas ereignet hatte und die anderen davon wußten. »Ich habe jede Geschichte über Mora schon als Kind gehört. Ich glaube, ich kann sie auswendig. Falls Egwene jemals mit Anziehen fertig wird, sollten wir dafür sorgen, daß sie etwas ißt.« Ein Glitzern in ihren Augen sagte Egwene, sie werde persönlich jeden Bissen beaufsichtigen und zusehen, daß sie ihn auch schluckte. Ganz eindeutig war ihr Verdacht hinsichtlich Egwenes Gesundheit keineswegs ausgeräumt. »Und den Rest ihrer Fragen beantworten.«
Hektisch grübelte Egwene nach, um auf eine weitere Frage zu kommen. Meist hatte sie einen ganzen Schwung davon auf Lager, doch die Ereignisse der letzten Nacht hatten nur diese eine davon übriggelassen. Falls sie es dabei beließ, käme ihnen vielleicht der Verdacht, sie frage nur deshalb, weil sie sich weggeschlichen habe, um in fremden Träumen herumzuspionieren. Noch eine Frage. Sie wollte nicht auf ihre eigenen seltsamen Träume eingehen. Manche von ihnen hatten wahrscheinlich eine Bedeutung, die sie herauszufinden gedachte. Anaiya behauptete, Egwene sei ein Träumer und fähig, den Verlauf zukünftiger Ereignisse vorauszusagen, und auch diese drei Frauen hier hielten das für möglich, waren aber der Meinung, sie müsse das ganz von allein lernen. Außerdem wollte sie nicht gern mit irgend jemand über ihre Träume sprechen. Diese drei Frauen wußten ohnehin schon mehr als ihr lieb war von dem, was sich in ihrem Kopf abspielte. »Ach ... wie steht es mit Traumgängerinnen, die nicht zu den Weisen Frauen gehören? Ich meine, trefft Ihr jemals andere Frauen in Tel'aran'rhiod?«
»Manchmal«, sagte Amys, »aber nicht häufig. Ohne eine Lehrerin, die sie anleitet, kann es sein, daß eine Frau überhaupt nicht bemerkt, daß sie mehr als nur lebhafte Träume erlebt.«
»Und außerdem«, fügte Bair hinzu, »kann es aufgrund ihrer Unwissenheit geschehen, daß der Traum sie tötet, bevor sie...«
Egwene entspannte sich, da sie sich nun in sicherem Abstand von dem gefährlichen Thema bewegten. Sie hatte bereits eine deutlichere Antwort erhalten, als sie ursprünglich gehofft hatte. Es war ihr jetzt klar, daß sie Gawyn liebte — Tatsächlich? flüsterte eine Stimme in ihr. Warst du bereit, das zuzugeben? — und seine Träume deuteten mit Gewißheit an, daß auch er sie liebte. Jedoch ... wenn die Männer in wachem Zustand Dinge sagten, die sie gar nicht so meinten, konnten sie so etwas womöglich auch träumen. Doch nun hatten die Weisen Frauen ihr bestätigt, daß er sie liebte ... stark genug, um alles zu überwältigen, was sie... Nein.
Damit mußte sie sich später beschäftigen. Sie hatte noch nicht einmal die blasseste Ahnung, wo er sich befinden mochte. Das wichtigste war im Moment nur, daß sie die Gefahr erkannt hatte. Beim nächsten Mal würde sie Gawyns Traum rechtzeitig erkennen und ihn meiden. Falls du das wirklich willst, wisperte diese kleine Stimme. Sie hoffte nur, die Weisen Frauen würden die Röte, die in ihren Wangen aufstieg, als Zeichen blühenden Aussehens werten. Und sie wünschte, sie kenne die Bedeutung ihrer Träume. Falls sie eine hatten.
Gähnend erklomm Elayne die Stufen einer kleinen gemauerten Veranda, um über die Köpfe der Menge hinwegblicken zu können. Heute befanden sich keine Soldaten in Salidar, aber die Menschen verstopften die Straßen oder hingen in den Fenstern. Alles verharrte in gedämpfter Erwartung und beobachtete die Kleine Burg. Das Umherscharren von Füßen und ein gelegentliches Husten des aufsteigenden Staubs wegen waren die einzigen Geräusche. Trotz der Hitze des frühen Morgens rührten sich die Leute kaum, außer um sich von Zeit zu Zeit mit einem Fächer oder einem Hut Luft zuzuwedeln.
Leane stand in einer Lücke zwischen zwei strohgedeckten Häusern am Arm eines hochgewachsenen Mannes mit hartem Gesicht, den Elayne noch nie gesehen hatte. ›Am Arm‹ war noch sehr untertrieben. Zweifellos war er einer von Leanes Spionen. Die meisten der Augen-und-Ohren der Aes Sedai waren Frauen, aber Leanes Agenten schienen durchweg Männer zu sein. Zumeist hielt sie diese Leute vor allen neugierigen Blicken verborgen, doch Elayne hatte ein oder zweimal bemerkt, wie sie eine unbekannte Wange tätschelte oder zu einem fremden Augenpaar emporlächelte. Sie hatte keine Ahnung, wie Leane das anstellte. Elayne war sicher, wenn sie diese Domanitricks anwandte, würde der Bursche glauben, sie habe ihm eine Menge mehr versprochen, als sie wirklich beabsichtigte, doch diese Männer ließen sich von Leane tätscheln und anlächeln und trabten anschließend so glückselig davon, als habe man ihnen eine Truhe voll Gold geschenkt.
An einem anderen Ort inmitten der Menge erspähte Elayne Birgitte, die sich klugerweise heute morgen von ihr fernhielt. Ausnahmsweise war diese schreckliche Areina heute nirgendwo zu sehen. Die Nacht war äußerst ereignisreich verlaufen, und Elayne war erst zu Bett gegangen, als sich der Himmel bereits grau färbte. Um der Wahrheit treu zu bleiben, wäre sie überhaupt nicht schlafen gegangen, hätte Birgitte nicht zu Aschmanaille gesagt, sie glaube, Elayne falle fast schon im Stehen um. Natürlich war sie nicht ihres Aussehens wegen darauf gekommen; die Verbindung mit einem Behüter machte sich auf beiden Seiten bemerkbar. Und wenn schon! Was machte denn ein bißchen Erschöpfung aus? Es hatte noch soviel zu tun gegeben, und sie war immer noch in der Lage gewesen, mehr Macht zu lenken als die Hälfte aller Aes Sedai in Salidar. Diese Verbindung zu ihr sagte eindeutig aus, daß Birgitte noch nicht geschlafen hatte. Sie nicht! Elayne wurde ins Bett gesteckt wie eine Novizin, während Birgitte die ganze Nacht lang Verwundete herumschleppen und Trümmer beseitigen durfte!
Ein kurzer Blick zeigte ihr, daß Leane jetzt allein war und sich durch die Menge hindurchdrängte, um einen besseren Standpunkt zu finden, von dem aus sie alles beobachten konnte. Von dem hochgewachsenen Mann war nichts mehr zu sehen.
Eine gähnende Nynaeve mit verschlafenen Augen kletterte zu ihr hoch, wobei sie mit entschlossenem Blick einen Holzfäller mit einer Lederweste zurückhielt, der ihren Platz einnehmen wollte. Vor sich hin knurrend schob sich der Bursche in die Menge zurück.
Elayne wünschte, Nynaeve würde so etwas nicht machen. Das Gähnen natürlich — nicht den Blick. Ihr Unterkiefer knackte vor Anstrengung, als sie unwillkürlich Nynaeve nacheiferte. Birgitte hatte eine Entschuldigung —na ja, keine richtige, aber doch ein bißchen — aber Nynaeve keineswegs! Theodrin konnte ja wohl nicht erwartet haben, daß sie nach den Ereignissen der letzten Nacht wirklich wach bleibe, und Elayne hatte selbst gehört, wie Anaiya zu ihr sagte, sie solle ins Bett gehen. Aber als Elayne hereinkam, hatte sie auf dem Hocker balanciert, obwohl dessen eines Bein schief wegstand. Alle zwei Minuten war ihr Kopf herabgesunken, als sie einnickte, doch dann hatte sie sich wieder zusammengerissen und etwas gemurmelt, daß sie es Theodrin schon zeigen werde, und sie werde es allen zeigen.
Das Armband des A'dam vermittelte Elayne ein Gefühl der Furcht, aber auch etwas, das sie durchaus als Heiterkeit auslegen mochte. Moghedien hatte die Nacht damit verbracht, sich unter ihrem Bett zu verkriechen, unberührt und, weil sie so gut versteckt war, ohne auch nur ein paar kleine Trümmerstücke beseitigen zu müssen. Sie hatte sich sogar ausschlafen können, sobald einmal der schlimmste Lärm vorüber war. Wie es schien, traf die alte Redensart vom Glück des Dunklen Königs gelegentlich zu.
Nynaeve fing schon wieder zu gähnen an, und Elayne riß den Blick von ihr los. Trotzdem mußte sie die Hand vorhalten und sich — nicht ganz erfolgreich —zwingen, Nynaeve nicht zu imitieren. Das Geschabe der Füße und das Husten klang allmählich ungeduldig.
Die Sitzenden befanden sich noch immer mit Tarna in der Kleinen Burg, aber der braune Wallach der Roten stand schon auf der Straße vor der ehemaligen Schenke. Ein Dutzend Behüter hielten ihre Pferde am Zügel. Ihre farbverändernden Umhänge ließ den Blick schmerzen, wenn man sie direkt ansah. Sie stellten eine Ehrengarde dar, die Tarna die ersten Meilen über auf ihren Weg nach Tar Valon geleiten würden. Die Menge erwartete allerdings mehr als nur die Abreise der Abgesandten der Burg. Die meisten Menschen wirkten genauso erschöpft wie sich Elayne fühlte.
»Man könnte denken, sie sei ... sei...« Nynaeve gähnte schon wieder hinter vorgehaltener Hand.
»Oh, Blut und Asche«, knurrte Elayne. Oder vielmehr, sie versuchte, diese Worte herauszubringen, aber alles nach dem ›oh‹ klang wie ein ersticktes Krächzen, weil auch sie schon wieder ein Gähnen zurückhalten mußte. Lini sagte, Bemerkungen wie diese seien ein Zeichen für Dummheit und schlechtes Benehmen — danach hatte sie ihr gewöhnlich den Mund mit Seife ausgewaschen — aber manchmal drückte nichts anderes ihre Gefühle so treffend aus wie diese Worte. Sie hätte beinahe noch mehr gesagt, hatte aber keine Möglichkeit mehr.
»Warum veranstalten sie nicht gleich eine Prozession für sie?« grollte Nynaeve. »Ich sehe nicht ein, wieso sie so ein Brimborium um diese Frau machen.« Und sie gähnte wieder. Schon wieder!
»Weil sie eine Aes Sedai ist, Schlafmütze«, sagte Siuan, die sich ihnen gerade anschloß. »Zwei Schlafmützen«, stellte sie nach einem Blick auf Elayne fest. »Ihr werdet noch Elritzen mit dem Mund fangen, wenn Ihr so weitermacht.« Elayne klappte den Mund blitzschnell zu und sah die Frau mit ihrem eisigsten Blick an. Wie gewöhnlich, glitt das an dieser ab wie Regen an glasierten Dachziegeln. »Tarna ist nun einmal eine Aes Sedai«, fuhr Siuan fort, wobei sie zu den wartenden Pferden hinübersah. Vielleicht war es auch der saubere Karren, den man vor das große Steingebäude gezogen hatte, der ihren Blick anzog. »Eine Aes Sedai ist eben eine Aes Sedai, und daran ändert sich nichts.« Nynaeve warf ihr einen Blick zu, den sie nicht bemerkte.
Elayne war froh, daß Nynaeve den Mund hielt, denn die sich anbietende Antwort wäre vermutlich beleidigt aufgenommen worden. »Wie viele Opfer hat die letzte Nacht gekostet?«
Siuan antwortete, ohne den Blick von dem Punkt zu wenden, an dem Tarna auftauchen mußte: »Sieben Tote, allein hier im Dorf. Fast hundert im Soldatenlager.
All diese Schwerter und Äxte und Mordinstrumente, die dort herumliegen, und niemand vorhanden, der sie mit Hilfe der Macht zur Ruhe bringen konnte. Jetzt sind ein paar Schwestern dort draußen, um Verwundete zu heilen.«
»Lord Gareth?« fragte Elayne mit einer Andeutung von Sorge in der Stimme. Der Mann verhielt sich mittlerweile ihr gegenüber kalt, aber einst hatte er immer ein warmes Lächeln für ein Kind übriggehabt, und dazu eine Tasche voll Süßigkeiten.
Siuan schnaubte so laut, daß sich einige Leute zu ihnen umwandten. »Der«, brummte sie. »Ein Barrakuda würde sich an diesem Mann die Zähne ausbeißen.«
»Ihr habt heute morgen eine schöne Laune«, sagte Nynaeve. »Habt Ihr endlich erfahren, welche Botschaft die Kleine Burg Tarna mitgibt? Oder hat Gareth Bryne Euch um Eure Hand gebeten? Ist jemand gestorben, ohne Euch etwas zu hinterlas...?«
Elayne bemühte sich, Nynaeve nicht anzusehen, denn selbst das Geräusch eines Gähnens setzte sofort die eigenen Kiefer in Bewegung.
Siuan warf Nynaeve einen mißbilligenden Blick zu, aber ausnahmsweise einmal gab die den Blick mit gleicher Münze zurück, wenn auch ihre Augen vor Müdigkeit tränten.
»Falls Ihr etwas in Erfahrung gebracht habt«, unterbrach Elayne, bevor sich die beiden bis zur Bewußtlosigkeit anstarrten, »dann sagt es uns.«
»Eine Frau, die behauptet, eine Aes Sedai zu sein, obwohl sie es nicht ist«, murmelte Siuan in ganz beiläufigem Tonfall, »steckt bis zum Hals in kochendem Wasser, das stimmt. Aber hat sie behauptet, einer bestimmten Ajah anzugehören, dann hat diese Ajah den ersten Zugriff auf sie. Hat Myrelle Euch jemals erzählt, wie sie in Chachin eine Frau erwischte, die angeblich zu den Grünen gehörte? Eine frühere Novizin, die bei der Prüfung zur Aufgenommenen versagt hatte. Fragt sie danach, wenn sie einmal ein oder zwei Stunden Zeit hat. Sie wird so lange brauchen, um die ganze Geschichte zu erzählen. Dieses törichte Mädchen dürfte sich wohl gewünscht haben, statt dessen einer Dämpfung unterzogen worden zu sein, bevor Myrelle noch mit ihr fertig war — eine Dämpfung und dann auch noch enthauptet.«
Aus irgendeinem Grund zeigte diese Drohung genausowenig Wirkung auf Nynaeve als der Blick zuvor. Sie bebte noch nicht einmal kurz. Vielleicht waren sie beide einfach nur zu müde. »Ihr sagt mir jetzt, was Ihr wißt«, drohte Elayne mit gedämpfter Stimme, »oder ich werde Euch das nächste Mal, wenn wir allein sind, das Geradestehen beibringen. Hinterher könnt Ihr meinetwegen wimmernd zu Sheriam rennen.« Siuan zog die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen, und plötzlich jaulte Elayne auf und preßte eine Hand gegen ihre Hüfte.
Siuan zog die Hand zurück, mit der sie zugekniffen hatte, ohne auch nur zu versuchen, die Geste zu vertuschen. »Ich reagiere ziemlich sauer auf Drohungen, Mädchen. Ihr wißt genauso wie ich, was Elaida gesagt hat, denn Ihr habt die Botschaft vor jeder hier Anwesenden bereits gesehen.«
»Kommt zurück; alles sei Euch vergeben?« fragte Nynaeve ungläubig.
»So in etwa. Zusammen mit viel Geschwätz darüber, daß die Burg wieder eine Einheit werden muß, jetzt mehr denn je, und dazu einigen aalglatten Formulierungen daß niemand sich fürchten müsse ›außer jenen, die sich in die Fänge wahrer Rebellion begeben hätten‹. Das Licht mag wissen, was das bedeuten soll. Ich weiß es nicht.«
»Warum halten sie das geheim?« wollte Elayne wissen. »Sie können doch wohl nicht glauben, jemand würde sich freiwillig zu Elaida zurückbegeben. Sie brauchen doch nur Logain vorführen.« Siuan sagte nichts und beobachtete die wartenden Behüter mit finsterem Blick.
»Ich verstehe immer noch nicht, warum sie um mehr Zeit bitten«, knurrte Nynaeve. »Sie wissen doch, was sie zu tun haben.« Siuan schwieg weiter, aber Nynaeve zog plötzlich die Augenbrauen hoch. »Ihr habt ihre Antwort nicht gekannt!«
»Jetzt kenne ich sie.« Siuan sprach das abgehackt und hart aus, und dann murmelte sie etwas vor sich hin, was nach ›verdammte Feiglinge‹ klang. Elayne stimmte ihr insgeheim zu.
Plötzlich öffnete sich die Eingangstür der ehemaligen Schenke. Ein halbes Dutzend Sitzende mit ihren Fransenstolen kamen heraus, eine aus jeder anwesenden Ajah, und dann Tarna, gefolgt von den übrigen. Falls die wartende Menge irgendeine Art von Zeremonie erwartet hatte, wurde sie herb enttäuscht. Tarna kletterte in den Sattel, musterte noch einmal gemächlich die Gruppe der Sitzenden, warf der Menschenmenge einen Blick mit undurchschaubarer Miene zu und spornte sodann ihren Wallach an, im Schritt zwischen den Menschen hindurchzugehen. Die Eskorte von Behütern, die einen Kreis um sie gebildet hatte, bewegte sich im gleichen Schritt voran. Während die Zuschauer vor ihnen zurücktraten, erhob sich ein besorgtes Gemurmel oder Gesumme, wie in ihrer Ruhe gestörter Bienen.
Das Gemurmel hielt an, bis Tarna außer Sicht war und das Dorf verlassen hatte. Dann erst kletterte Romanda auf den Karren und rückte mit einer geschmeidigen Bewegung ihre mit gelben Fransen versehene Stola zurecht. Totenstille breitete sich aus. Es war Tradition, daß die älteste der Sitzenden Beschlüsse des Saals öffentlich verkündete. Natürlich bewegte sich Romanda keineswegs wie eine alte Frau, und ihr Gesicht zeigte wie bei all den anderen keine Alterserscheinungen. Doch wenn eine Aes Sedai ein höheres Alter erreicht hatte, sah man das gewöhnlich an den grauen Strähnen in ihrem Haar, und der Dutt an Romandas Hinterkopf war hellgrau und zeigte bereits nicht mehr die Spur einer dunkleren Farbe. Elayne fragte sich, wie alt sie sei, aber eine Aes Sedai nach ihrem Alter zu fragen, war wohl die größte Unhöflichkeit, die man sich vorstellen konnte.
Romanda verwob einfache Stränge aus Luft so, daß ihre hohe Sopranstimme überall gut hörbar war.
Elayne hörte sie, als stünde ihr die Frau direkt gegenüber. »Viele von Euch haben sich in den letzten Tagen Sorgen gemacht, allerdings ganz unnötig. Wäre Tarna Sedai nicht zu uns gekommen, hätten wir von uns aus Botschaften an die Weiße Burg gesandt. Schließlich kann man kaum behaupten, wir versteckten uns hier.« Sie hielt inne, als wolle sie der Menge Gelegenheit zu lachen geben, doch sie blickten sie lediglich schweigend an, und so rückte sie erneut ihre Stola zurecht. »Am Zweck unserer Anwesenheit hat sich nichts geändert. Wir suchen nach der Wahrheit und nach Gerechtigkeit, um vollbringen zu können, was Rechtens ist und...«
»Rechtens für wen?« murmelte Nynaeve dazwischen.
»...und wir werden weder zaudern noch versagen. Erfüllt die Euch anvertrauten Aufgaben in der Gewißheit, daß Ihr unter unseren Händen geborgen seid, jetzt, ebenso wie nach unserer sicheren Rückkehr an die uns zustehenden Plätze in der Weißen Burg. Das Licht erleuchte Euch alle. Das Licht erleuchte uns alle.«
Das Gemurmel erhob sich wieder, und langsam begann sich die Menge zu rühren, während Romanda herabkletterte. Siuans Gesicht hätte auch aus Stein gehauen sein können; ihre Lippen waren so sehr aufeinandergepreßt, daß sie ganz blutleer erschienen. Elayne hätte gern Fragen gestellt, aber Nynaeve hüpfte von der Veranda herunter und drängte sich durch die Menge auf das dreistöckige Steingebäude zu. Elayne ging ihr schnell hinterher. Letzte Nacht war Nynaeve bereit gewesen sorglos fortzuwerfen, was sie erfahren hatten. Es mußte jedoch wohlüberlegt angebracht werden, falls es den Saal beeinflussen sollte. Und dies schien wahrhaftig notwendig zu sein. Romandas Proklamation war lediglich heiße Luft gewesen und hatte gar nichts besagt. Aber Siuan regte sich offensichtlich darüber auf.
Elayne drückte sich zwischen zwei grobschlächtigen Kerlen hindurch, die Nynaeve böse hinterherschauten — sie war ihnen tatsächlich auf die Zehen getreten, um vorbeizukommen —, und sah sich dann noch einmal um. Siuan beobachtete sie und Elayne aufmerksam. Allerdings nur einen Moment lang, denn sobald die Frau bemerkte, daß Elayne sie ertappt hatte, gab sie vor, nach irgend jemand in der Menge zu suchen. Sie hüpfte von der Veranda und tat so, als wolle sie zu dem Gesuchten hinübergehen. Mit gerunzelter Stirn eilte Elayne weiter. War Siuan nun aufgebracht oder nicht? Wieviel an ihrem Ärger und ihrer Unwissenheit war nur vorgetäuscht? Nynaeves Einfall, nach Caemlyn wegzurennen, war mehr als nur töricht, und Elayne war nicht sicher, ob sie diesen Plan mittlerweile aufgegeben habe. Und sie selbst freute sich auf Ebou Dar, weil sie dort endlich etwas wirklich Nützliches vollbringen konnte. All diese Geheimniskrämerei und das Mißtrauen waren ihr zuwider, aber sie konnte auch nichts daran ändern. Wenn nur Nynaeve nicht immer wieder in jedes Schlamassel hineintappen würde!
Sie holte Nynaeve in dem Augenblick ein, als diese Sheriam in der Nähe des Karrens abfing, von dem aus Romanda gesprochen hatte. Auch Morvrin und Carlinya waren dabei, und alle drei hatten sich die Stolen umgelegt; sämtliche Aes Sedai trugen heute morgen ihre jeweilige Stola. Carlinyas kurzgeschnittenes Haar wie eine Kappe aus dunklen Locken war das einzige Merkmal ihrer Beinahekatastrophe in Tel'aran'rhiod.
»Wir müssen allein mit Euch sprechen«, sagte Nynaeve zu Sheriam. »Unter vier Augen.«
Elayne seufzte. Das war kein guter Beginn, wenn auch nicht der schlechteste.
Sheriam musterte die beiden einen Augenblick lang und warf Morvrin und Carlinya einen kurzen Blick zu. »Also gut. Kommt herein.«
Als sie sich zur Tür wandten, stand Romanda noch davor, eine kräftige, gutaussehende Frau mit dunklen Augen und einer Stola mit gelben Fransen, die über und über mit Blumen und Ranken bestickt war, bis auf die Flamme von Tar Valon zwischen ihren Schultern. Sie beachtete Nynaeve nicht, schenkte aber Elayne ein warmes Lächeln von der Art, die diese von den Aes Sedai gewohnt war und vor der es sie schon langsam graute. Sheriam, Carlinya und Morvrin gegenüber zeigte sie jedoch eine andere Miene. Sie blickte sie ausdruckslos an, den Kopf hoch erhoben, bis sie einen leichten Knicks vollführten und murmelten: »Mit Eurer Erlaubnis, Schwester.« Erst dann trat sie zur Seite und gab den Weg zur Tür frei, wobei sie vernehmlich schnaubte.
Die gewöhnlichen Leute auf der Straße bemerkten nichts von alledem, doch Elayne hatte unter den Aes Sedai einige Gesprächsfetzen aufgeschnappt, die sich mit Sheriam und ihrer kleinen Ratsversammlung befaßten. Manche glaubten, diese Gruppe sorgte lediglich für die alltäglichen Verwaltungsarbeiten in Salidar, damit der Saal sich mit wichtigeren Dingen beschäftigen konnte. Einigen war klar, daß sie den Saal durchaus in seinen Entscheidungen beeinflußten, aber wie weit dieser Einfluß ging, hing von der Meinung derjenigen ab, die gerade das Wort führten. Romanda gehörte zu denen, die der Meinung waren, Sheriams Gruppe habe entschieden zuviel Einfluß, und was noch schlimmer war, sie hatte zwei Blaue, aber keine Gelbe in ihrem Rat. Elayne spürte ihre Blicke, als sie den anderen durch die Tür ins Innere folgte. Sheriam führte sie in eines der Privatzimmer hinter dem ehemaligen Schankraum. Die Wandtäfelung war wurmstichig, und auf dem Tisch an der einen Wand lag ein wildes Durcheinander von Papieren. Sie zog die Augenbrauen hoch, als Nynaeve sie bat, sie gegen Lauscher zu schützen, doch dann wob sie wortlos ein Wachgewebe um das Innere des Zimmers. Da sich Elayne an Nynaeves Lauschmanöver erinnerte, überprüfte sie auch die beiden Fenster, ob sie dicht geschlossen seien. »Ich erwarte nun zumindest die Neuigkeit, daß sich Rand al'Thor auf dem Weg hierher befindet«, sagte Morvrin trocken. Die anderen beiden Aes Sedai tauschten einen kurzen Blick. Elayne unterdrückte ein Schmollen, da sie offensichtlich zu glauben schienen, sie und Nynaeve hielten irgendwelche Geheimnisse um Rand vor ihnen verborgen.
Sie und ihre ewige Geheimniskrämerei! »Das nicht«, sagte Nynaeve, »aber etwas, das auf eine andere Art genauso wichtig sein könnte.« Und dann sprudelte sie die Geschichte über ihren ›Ausflug‹ nach Ebou Dar hervor und wie sie die Schale dieses Ter'Angreal gefunden hatten. Die Reihenfolge stimmte nicht ganz, und den Abstecher in die Burg erwähnte sie nicht, aber die wesentlichen Punkte kamen dabei heraus.
»Seid Ihr sicher, daß diese Schale ein Ter'Angreal ist?« fragte Sheriam, als Nynaeve die Worte ausgingen. »Er kann das Wetter beeinflussen?«
»Ja, Aes Sedai«, antwortete Elayne schlicht. Es war am besten, sich anfangs sehr einfach auszudrücken. Morvrin knurrte; die Frau zog alles in Zweifel.
Sheriam nickte und verschob ihre Stola. »Dann habt Ihr es gut gemacht. Wir werden Merilille einen Brief schicken.« Merilille Ceandevin war die Graue Schwester, die sie ausgesandt hatten, um die Königin in Ebou Dar für die Unterstützung Salidars zu gewinnen. »Wir benötigen alle Einzelheiten von Euch.«
»Sie wird sie niemals finden«, platzte Nynaeve heraus, bevor Elayne auch nur den Mund aufbekam. »Nur Elayne und ich können das.« Die Blicke der Aes Sedai kühlten merklich ab.
»Es könnte sich wirklich als unmöglich für sie herausstellen«, warf Elayne hastig ein. »Wir sahen, wo sich die Schale befindet, und es wird trotzdem auch für uns schwierig werden. Doch wenigstens wissen wir, was wir gesehen haben. Das in einem Brief zu beschreiben, ist nicht das gleiche.«
»Ebou Dar ist kein Ort für Aufgenommene«, sagte Carlinya kalt.
Morvrins Tonfall klang ein wenig freundlicher, wenn auch immer noch mürrisch, »Wir müssen alle das tun, Kind, was wir am besten können. Glaubt Ihr, Edesina oder Afara oder Guisin wollten nach Tarabon? Was können sie schon tun, um in dieses unruhige Land etwas Ordnung zu bringen? Aber wir müssen es zumindest versuchen, also gingen sie hin. Kiruna und Bera befinden sich womöglich in dieser Minute auf dem Rückgrat der Welt bei der Suche nach Rand al'Thor, von dem wir glaubten — nur glaubten — er halte sich in der Aielwüste auf. Also schickten wir sie hin. Daß wir recht hatten, macht ihre Reise nicht weniger vergeblich, da er längst nicht mehr in der Wüste ist. Wir alle tun, was wir können und was wir müssen. Ihr beiden seid Aufgenommene. Aufgenommene laufen nicht fort nach Ebou Dar oder sonstwohin. Was Ihr beiden tun könnt und müßt, ist, hierzubleiben und zu lernen. Wärt Ihr bereits fertige Schwestern, würde ich Euch trotzdem hierbehalten. Niemand hat während der letzten hundert Jahre solche Entdeckungen gemacht wie Ihr, eine solche Anzahl in so kurzer Zeit.«
Da Nynaeve eben Nynaeve war, kümmerte sie sich nicht um Dinge, die sie nicht hören wollte, und konzentrierte sich auf Carlinya. »Wir haben uns auch auf uns gestellt sehr gut durchgesetzt, vielen Dank. Ich bezweifle, daß Ebou Dar schlimmer wird als Tanchico.«
Elayne glaubte nicht, daß der Frau bewußt war, mit welch tödlichem Würgegriff sie ihren Zopf gepackt hatte. Würde Nynaeve niemals begreifen, daß man mit Höflichkeit das erreichte, was man sich mit Ehrlichkeit verdarb? »Ich verstehe Euren Standpunkt sehr gut, Aes Sedai«, sagte Elayne, »doch wie unbescheiden es auch klingen mag, gleichwohl ist es wahr, daß ich viel eher in der Lage bin, einen Ter'Angreal aufzuspüren, als sonst jemand in Salidar. Und Nynaeve und ich wissen besser, wo wir danach suchen müssen, als wir je auf Papier wiedergeben könnten. Ich bin überzeugt, wenn Ihr uns zu Merilille Sedai schickt, werden wir ihn unter ihrer Führung in kürzester Zeit ausfindig machen. Ein paar Tage nach Ebou Dar mit dem Schiff und ein paar Tage zurück, und dazwischen wenige Tage unter Merilille Sedais Führung in Ebou Dar selbst.« Es kostete Überwindung, an dieser Stelle nicht tief durchzuatmen. »In der Zwischenzeit könntet Ihr einer der Augen-und-Ohren Siuans in Caemlyn eine Botschaft senden, damit sie vorliegt, wenn Merana Sedai und die Gesandtschaft dort ankommt.«
»Warum, beim Licht, sollten wir das tun?« polterte Morvrin.
»Ich dachte, Nynaeve habe Euch das erklärt Aes Sedai. Ich bin nicht ganz sicher, aber ich glaube, wenn man die Schale aktiviert, wird es notwendig sein, daß auch ein Mann mitwirkt.«
Das löste natürlich einen kleineren Aufruhr aus. Carlinya schnappte nach Luft, Morvrin knurrte in sich hinein und Sheriam stand der Mund offen vor Verblüffung. Auch Nynaeve riß den Mund auf, doch nur einen Augenblick lang. Elayne war sicher, daß die anderen es nicht bemerkt hatten. Die waren aber zu erschlagen, um viel zu bemerken. Dabei war das Ganze einfach eine Lüge gewesen. ›Einfach‹ war das Schlüsselwort in diesem Fall. Angeblich waren die größten Leistungen im Zeitalter der Legenden von Männern und Frauen gemeinsam vollbracht worden, vermutlich miteinander verknüpft. Höchstwahrscheinlich gab es Ter'Angreal, die nur von einem Mann benützt werden konnten. Auf jeden Fall war es so: wenn sie nicht allein die Schale benützen konnte, dann konnte es auch niemand anders in Salidar. Außer vielleicht Nynaeve. Falls aber Rand dazu notwendig war, konnten sie trotzdem die Chance nicht vertun, etwas in bezug auf das Wetter zu unternehmen; und wenn es soweit war und sie ›entdeckte‹, daß auch ein Zirkel von Frauen mit der Schüssel arbeiten konnte, hatten sich die Aes Sedai in Salidar bereits eng an Rand gebunden, wie sie hoffte, und kämen ohnehin nicht mehr von ihm los.
»Das ist alles schön und gut«, sagte Sheriam schließlich, »aber es ändert nichts an der Tatsache, daß Ihr Aufgenommene seid. Wir werden Merilille einen Brief senden. Es hat über Euch beide bereits Gerede gegeben...«
»Gerede«, fauchte Nynaeve. »Das ist alles, was Ihr macht, Ihr und der Saal! Reden! Elayne und ich können diesen Ter'Angreal finden, aber Ihr gackert lieber wie die Legehennen!« Sie überschlug sich fast, so brach es aus ihr heraus. Dabei zerrte sie ständig derart an ihrem Zopf, daß Elayne fürchtete, sie werde ihn sich endgültig ausreißen. »Ihr sitzt hier herum und hofft, daß Thom und Juilin und die anderen zurückkehren und Euch berichten, die Weißmäntel hätten nicht vor, über uns hereinzubrechen wie ein Haus im Erdbeben, obwohl es auch sein könnte, daß ihnen die Weißmäntel auf den Fersen folgen. Ihr sitzt herum und brütet über den Problemen mit Elaida, statt das zu tun, was Ihr gesagt hattet, und immer noch kommt Ihr mit Rand nicht klar. Wißt Ihr denn noch nicht, wie Ihr Euch ihm gegenüber verhalten sollt? Keine Ahnung, obwohl Eure Gesandten auf dem Weg nach Caemlyn sind? Ist Euch bewußt, warum Ihr nur herumsitzt und quatscht? Ich weiß es! Ihr habt Angst! Angst, weil die Burg gespalten ist, Angst vor Rand, den Verlorenen, den Schwarzen Ajah. Letzte Nacht ist Anaiya entschlüpft, daß Ihr einen Plan in der Tasche hättet, falls einer der Verlorenen angreift. All diese Zirkel, die sich verknüpften, und das ausgerechnet auf einer Blase des Bösen — glaubt Ihr wenigstens mittlerweile an deren Existenz? —, aber alle falsch zusammengesetzt und die meisten mit mehr Novizinnen als Aes Sedai besetzt. Weil nur ein paar Aes Sedai rechtzeitig davon erfahren hatten. Ihr glaubt, die Schwarzen Ajah sitzen bereits hier in Salidar. Ihr hattet Angst, Euer Plan könne an Sammael oder einen der anderen verraten werden. Ihr traut Euch gegenseitig nicht! Wollt Ihr uns deshalb nicht nach Ebou Dar schicken? Glaubt Ihr etwa, wir gehörten zu den Schwarzen Ajah, oder wir rennen fort zu Rand, oder ... oder...!« Sie endete schwer atmend und zornrot. Während der ganzen Tirade hatte sie kaum einmal Luft geholt.
Elaynes erster verlegener Impuls war, die Wogen irgendwie zu glätten, obwohl sie nicht die geringste Ahnung hatte, wie sie das anstellen sollte. Genauso leicht hätte sie eine Bergkette glätten können. Doch es waren die Aes Sedai, die sie ihre Sorge vergessen ließen, daß Nynaeve alles verdorben hätte. Diese ausdruckslosen Mienen, diese Blicke, die noch in der Lage schienen, durch Stein hindurchzublicken, hätten eigentlich gar nichts aussagen dürfen. Aber nun drückten sie doch etwas aus, oder jedenfalls glaubte sie das. Da war nichts von jener kalten Wut zu sehen, die jeden treffen würde, der dumm genug war, die Aes Sedai derart herunterzuputzen. Nein, sie bemühten sich lediglich, ihre wahren Gefühle zu vertuschen, und das einzige, was sie vertuschen konnten, war die Wahrheit, eine Wahrheit, die sie sogar vor sich selbst nicht zugeben wollten. Sie hatten tatsächlich Angst.
»Seid Ihr nun fertig?« fragte Carlinya in einem Tonfall, der selbst die Sonne auf ihrer Bahn zu Eis erstarren lassen konnte.
Elayne mußte niesen und stieß sich deshalb den Kopf an der Seite des auf der Seite liegenden Kessels. Der Gestank nach angebrannter Suppe füllte ihre Nase. Die Vormittagssonne hatte das dunkle Innere des großen Kochkessels so erhitzt, daß es schien, als hänge er immer noch über dem Feuer. Schweiß tropfte ihr von der Stirn. Nein, er flöß in Strömen. Sie ließ den groben Bimssteinbrocken fallen, kroch auf den Knien rückwärts aus dem Kessel und stierte wütend die Frau neben ihr an. Oder vielmehr, die Hälfte der Frau, die aus einem etwas kleineren Kessel herausragte, der neben ihrem seitlich gekippt lag. Sie stieß Nynaeve in die Rippen und lächelte grimmigzufrieden, als ihr Stoß diese dazu brachte, ebenfalls mit dem Kopf kräftig an die Kesselwand zu stoßen und kurz aufzujaulen. Nynaeve kroch mit einem wilden Blick rückwärts heraus, wobei sie gleichzeitig hinter vorgehaltener Hand ein Gähnen unterdrückte. Elayne gab ihr keine Gelegenheit, etwas zu sagen.
»Du mußtest einfach explodieren, ja? Du konntest dich nicht einmal fünf Minuten lang beherrschen. Wir hatten alles in der Hand, aber du mußtest uns einen Tritt in die Fersen versetzen.«
»Sie hätten uns sowieso nicht nach Ebou Dar gelassen«, brummte Nynaeve. »Und ich war nicht die einzige, die uns in die Fersen getreten hat.« Sie hob das Kinn auf eine lächerliche Art und Weise an, so daß sie über die Nase herunterschielen mußte, um Elayne anzusehen. »Die Aes Sedai beherrschen ihre Furcht«, sagte sie in einem Tonfall, der geeignet war, einen betrunkenen Landstreicher zu belehren, der einem ins Pferd gelaufen ist, »und sie gestatten ihr nicht, sie zu beherrschen. Führt uns an, und wir werden Euch frohen Mutes folgen, aber Ihr müßt uns führen und nicht ängstlich kuschen und hoffen, daß irgend etwas Eure Sorgen wie Seifenblasen platzen läßt«
Elaynes Wangen brannten. So hatte sie keineswegs ausgesehen. Und so hatte sie auch nicht gesprochen. »Na ja, vielleicht sind wir beide etwas über das Ziel hinausgeschossen, aber...« Sie verstummte beim Geräusch von Schritten.
»Haben sich die goldenen Kinder der Aes Sedai entschlossen, eine Pause einzulegen?« Faolains Lächeln war so weit von einer freundlichen Miene entfernt, wie das nur möglich war. »Ich bin auch nicht gerade zum Spaß hier, müßt Ihr wissen. Ich hatte vor, heute an einem eigenen Projekt zu arbeiten, das auch nicht viel hinter dem zurücksteht, was Ihr goldenen Kinder getan habt, wie ich glaube. Statt dessen muß ich Aufgenommene, die gesündigt haben, beim Topfschrubben beaufsichtigen. Paßt auf, daß Ihr euch nicht fortschleicht wie armselige Novizinnen. Aber das solltet Ihr eigentlich auch noch sein. Zurück an die Arbeit! Ich kann nicht weg, bis Ihr fertig seid, und ich habe nicht vor, den ganzen Tag hier zu verbringen.«
Die Frau mit dem dunklen Teint und den lockigen Haaren war ebenso wie Theodrin mehr als eine Aufgenommene, aber weniger als eine Aes Sedai. Den gleichen Rang hätten auch Elayne und Nynaeve eingenommen, hätte sich Nynaeve nicht benommen wie eine Katze, der jemand auf den Schwanz getreten ist. Nynaeve und auch sie selbst, berichtigte sich Elayne reumütig. Sheriam hatte ihnen das mitgeteilt, mitten in einem Gespräch, in dessen Verlauf sie ihnen erklärt hatte, wie lange sie ihre ›Freizeit‹ in der Küche zubringen würden und zwar mit den schmutzigsten Arbeiten, die die Köchinnen fanden. Und nach Ebou Dar würden sie in keinem Fall gesandt; auch das hatte sie ihnen klargemacht. Bis zum Mittag würde ein Brief an Merilille auf dem Weg sein, wenn er nicht schon unterwegs war.
»Es ... tut mir leid«, sagte Nynaeve, und Elayne sah sie mit großen Augen an. Entschuldigungen von Nynaeve waren so selten wie Schnee mitten im Sommer.
»Mir tut es auch leid, Nynaeve.«
»Ja, das sollte es auch«, warf Faolain ein. »So leid, wie es nur möglich ist. Jetzt aber wieder an die Arbeit! Sonst finde ich vielleicht noch einen Grund, Euch zu Tiana zu schicken, wenn Ihr hier fertig seid.«
Nach einem Verzeihung heischenden Blick zu Nynaeve kroch Elayne in den Kessel zurück und attackierte die eingebrannte Suppe mit dem Bimsstein, als gehe sie auf Faolain los. Steinstaub und Fetzen schwarz verkohlter Gemüsereste stoben umher. Nein, nicht Faolain. Die Aes Sedai, die herumsaßen, anstatt etwas zu unternehmen. Sie würde nach Ebou Dar kommen und sie würde diesen Ter'Angreal finden; und sie würde ihn dazu benützen, Sheriam und den ganzen Rest an Rand zu binden. Auf den Knien! Ihr heftiges Niesen zog ihr fast die Schuhe aus.
Sheriam wandte sich von der Stelle ab, von der aus sie durch eine Lücke im Zaun die jungen Frauen beobachtet hatte, und ging die enge Gasse mit der Handvoll verwelkter Unkräuter und Stoppeln entlang. »Ich bedaure das.« Da sie sich jedoch an Nynaeves Worte und ihren Tonfall dabei erinnerte — genau wie an das, was Elayne von sich gegeben hatte, das verdorbene Kind! — und fügte hinzu: »Ein wenig.«
Carlinya schnaubte höhnisch. Das konnte sie sehr gut. »Wollt Ihr nächstens Aufgenommenen mitteilen, was weniger als zwei Dutzend Aes Sedai wissen?« Nach einem scharfen Blick von Sheriam klappte sie den Mund zu.
»Es gibt Ohren, wo wir sie am wenigsten erwarten«, sagte Sheriam leise.
»Diese Mädchen haben in einer Hinsicht recht«, sagte Morvrin. »Der Gedanke an al'Thor läßt mir die Knie zittern. Welche Möglichkeiten haben wir denn noch, was ihn betrifft?«
Sheriam wußte nicht genau, ob sie nicht schon vor langer Zeit alle Wahlmöglichkeiten verloren hatten. Schweigend schritten sie weiter.