7 Überlegungen

Elayne saß auf ihrer Matratze und beendete ihre hundert Striche mit der linken Hand. Dann steckte sie die Haarbürste in ihren kleinen ledernen Reisekoffer und schob ihn unter das schmale Bett zurück. Hinter ihrer Stirn hatte sich ein dumpfer Schmerz breitgemacht, nachdem sie den ganzen Tag über mit der Macht gearbeitet hatte, um Ter'Angreal herzustellen. Zu oft war es allerdings beim bloßen Versuch geblieben. Nynaeve saß auf ihrem wackligen Hocker und war schon längst damit fertig, ihr hüftlanges Haar zu striegeln. Fast war sie sogar schon damit fertig, ihren Zopf einigermaßen locker zum Schlafen zu flechten. Der Schweiß ließ ihr Gesicht glänzen.

Selbst bei geöffnetem Fenster war es in dem kleinen Zimmer erdrückend heiß. Der Mond hing fett an einem sternenübersäten, schwarzen Himmel. Ihr Kerzenstummel gab nur ein wenig flackerndes Licht ab. Kerzen und Lampenöl waren in Salidar im Moment ziemlich knapp, also bekam niemand mehr zugeteilt als eben ein kleines Lichtlein für die Nacht, außer natürlich, jemand mußte mit Feder und Tinte arbeiten. In dem Zimmerchen gab es wirklich keinen Platz.

Selbst um die beiden kurzen Betten herum fand sich nur ein schmaler Freiraum. Die meisten ihrer Habseligkeiten hatten sie in einem Paar zerbeulter, messingbeschlagener Truhen verstaut. Die Kleider der Aufgenommenen und ihre Umhänge, die sie im Augenblick bestimmt nicht benötigten, hingen von Haken an der Wand. Ganze Fetzen waren dort aus der vergilbten Tapete herausgerissen worden, so daß man die Wandverschalung darunter sehen konnte. Ein winziger, schiefer Tisch stand genau zwischen den Betten, und auf einem Waschtisch aus Korbgeflecht in der Ecke standen eine weiße Kanne und ein Waschbecken, die beide eine enorme Menge an Scharten aufwiesen. Selbst Aufgenommene, die andauernd lobende Streicheleinheiten erhielten, wurden keineswegs verwöhnt.

Eine Handvoll schlapper blauer und weißer Wildblumen, die das Wetter zu einer späten und ziemlich verunglückten Blüte verführt hatte, steckte in einer gelben Vase mit abgebrochenem Oberteil, die zwischen zwei braunen Keramiktassen auf dem Tisch stand. Der einzige andere Farbfleck in dem tristen Raum rührte von einem grüngestreiften Sittich in einem Korbkäfig her. Elayne pflegte den Vogel, der sich einen Flügel gebrochen hatte. Sie hatte an einem anderen Vogel ausprobiert, ob ihre geringen Fähigkeiten in der Heilkunst ausreichen würden, ihn zu heilen, doch Singvögel waren einfach zu klein, um diesen Schock durch die Macht zu überleben.

Keine Klagen, bitte, sagte sie sich energisch. Aes Sedai wohnten ein wenig besser, Novizinnen und Diener ein bißchen schlechter, und Gareth Brynes Soldaten schliefen am häufigsten auf dem Boden. Was man nicht ändern kann, muß man eben ertragen. Das hatte Lini immer gesagt. Nun, in Salidar fand man nur wenig an Bequemlichkeit, von Behaglichkeit ganz zu schweigen, und bestimmt keinen Luxus. Und auch keine Kühle.

Sie zog ihr klebendes Hemd ein wenig vom Körper weg und pustete an sich hinunter. »Wir müssen vor ihnen dort sein, Nynaeve. Du weißt, was wieder los ist, wenn wir sie warten lassen.«

Kein noch so winziger Lufthauch regte sich, und die ausgetrocknete Luft schien ihnen den Schweiß aus jeder Pore zu saugen. Es mußte doch etwas geben, was sie in bezug auf das Wetter unternehmen konnten. Sicher, falls es da Möglichkeiten gab, hätten die Windsucherinnen des Meervolks bestimmt schon etwas unternommen, aber vielleicht fiel ihr trotzdem etwas ein, wenn ihr die Aes Sedai nur genug Zeit ließen neben ihrer Arbeit an den Ter'Angreal. Als Aufgenommene konnte sie ja an sich ihre Studien dort betreiben, wo sie wollte, aber... Wenn sie vermuteten, ich könne essen und ihnen gleichzeitig zeigen, wie man Ter'Angreal anfertigt, hätte ich überhaupt keine ruhige Minute mehr. Na, wenigstens würde sie morgen Gelegenheit für eine Pause erhalten.

Nynaeve stand auf, nur um sich gleich wieder auf ihr Bett zu setzen, und fummelte an dem Armband des A'dam herum, das sie am Handgelenk hatte. Sie bestand darauf, daß eine von ihnen das Ding immer trug, selbst beim Schlafen, obwohl es eigenartige und unangenehme Träume verursachte. Es war an sich gar nicht notwendig, denn der A'dam würde Moghedien genauso binden, wenn er an einem Haken hing, und außerdem teilte sie ja noch eine wirklich winzige Kammer mit Birgitte. Birgitte war die beste Wächterin, die man sich vorstellen konnte, und Moghedien weinte ja schon beinahe, wenn Birgitte nur die Stirn runzelte. Sie hatte am wenigsten Grund, Moghedien am Leben zu lassen, und den stichhaltigsten, ihr den Tod zu wünschen, und das war der Frau auch sehr wohl bewußt. Heute abend würde ihnen das Armband noch weniger nützen als sonst.

»Nynaeve, sie warten bestimmt schon!« Nynaeve schnaubte vernehmlich. Sie würde es niemals hinnehmen können, springen zu müssen, wenn jemand nach ihr verlangte. Doch dann nahm sie einen der beiden abgeflachten Steinringe von dem Tischchen zwischen den Betten. Beide waren zu weit für einen Finger, der eine wies blaue und braune Streifen und Flecken auf, der andere blaue und rote, und jeder war so verdreht, daß er nur eine Oberfläche zeigte. Nynaeve machte die Lederschnur los, die sie um den Hals trug, und fädelte den blau und braun gestreiften Ring neben einem anderen ein, einem schweren Goldring. Lans Siegelring. Sie berührte sanft den dicken Goldreif, bevor sie beide wieder unter ihr Hemd gleiten ließ.

Elayne nahm den blau und rot gestreiften in die Hand und sah mit gerunzelter Stirn auf ihn herab.

Die Ringe waren Ter'Angreal, die sie selbst angefertigt hatte, und zwar nach dem Vorbild des einen, den nun Siuan trug. Und trotz ihres einfachen Aussehens waren sie unglaublich komplizierte Schöpfungen. Wenn man mit einem davon auf der Haut einschlief, wurde man nach Tel'aran'rhiod transportiert, der Welt der Träume, einem Spiegelbild der wirklichen Welt. Vielleicht waren dort sogar alle Welten widergespiegelt. Die Aes Sedai behaupteten, es gebe viele Welten, so, als müßten alle möglichen Variationen des Musters nebeneinander existieren, und daß alle diese Welten zusammengenommen ein noch gewaltigeres Muster bildeten. Das Wichtige war aber, daß Tel'aran'rhiod diese Welt reflektierte und dabei Eigenschaften aufwies, die extrem nützlich waren. Vor allem, weil die Burg keine Ahnung davon hatte, wie man die Welt der Träume erreichen konnte, jedenfalls, soweit sie das festzustellen in der Lage waren.

Keiner dieser beiden Ringe funktionierte so gut wie der ursprüngliche, aber sie waren durchaus zu gebrauchen. Elayne machte in ihrer Arbeit Fortschritte; von vier Versuchen, den Ring zu kopieren, war nur noch einer ein Fehlschlag gewesen. Das war ein viel besseres Ergebnis als bei solchen Dingen, die sie voll und ganz selbst entwarf. Doch was mochte geschehen, wenn einer ihrer Fehlschlage schlimmeres anrichtete als lediglich nicht zu funktionieren oder nicht so gut? Es hatte schon Aes Sedai gegeben, die sich aus Versehen bei der Arbeit an Ter'Angreal selbst einer Dämpfung unterzogen hatten. Ausgebrannt nannte man so etwas, wenn es durch einen Unfall geschah, aber es war genauso endgültig wie die gefürchtete Strafe. Nynaeve glaubte allerdings nicht daß es endgültig sei, aber sie würde ja sowieso nicht eher ruhen, bis sie jemanden geheilt hatte, der schon drei Tage tot war.

Elayne drehte den Ring in ihren Fingern um. Was er vollbrachte, war einfach genug zu verstehen, aber wie er das schaffte, lag immer noch jenseits ihrer Vorstellungen. ›Wie‹ und ›warum‹ waren aber die Schlüsselfragen. Bei diesen Ringen nahm sie an, daß die Farbmuster genausoviel mit ihrem Funktionieren zu tun hatten wie die Form. Jede andere Form als die mit jener Drehung im Ring hatte gar nichts bewirkt, und der eine, der ganz und gar blau geworden war, hatte ihr lediglich furchtbare Alpträume beschert. Aber sie wußte eben nicht genau, wie sie die Farben des Originals, also genau diese Schattierungen von Rot, Blau und Braun, wiederherstellen konnte. Und doch war die Feinstruktur ihrer Kopien genau die gleiche wie beim Original, bis hinunter zur Anordnung auch der kleinsten Bestandteile, obwohl sie nicht mehr sichtbar und überhaupt nur noch mit Hilfe der Macht wahrnehmbar waren. Warum spielten die Farben überhaupt eine Rolle? Es schien wohl eine gemeinsame Richtlinie für die Baumuster der winzigen Bestandteile all dieser Ter'Angreal zu geben, die man benötigte, um mit der Macht arbeiten zu können, und eine weitere für jene, die lediglich mit Hilfe der Macht funktionierten. Nur die Tatsache, daß sie auf diese Richtschnüre gestoßen war, gestattete ihr, überhaupt auch nur zu versuchen, neue Ter'Angreal herzustellen. Aber es gab so vieles, was sie nicht wußte und was sie nur raten konnte.

»Willst du die ganze Nacht über dort sitzen bleiben?« fragte Nynaeve trocken, und Elayne fuhr zusammen. Nynaeve stellte einen der Keramikbecher auf den Tisch zurück und legte sich auf dem Bett zurecht, die Hände auf dem Bauch gefaltet. »Du warst doch diejenige, die gemeint hat, wir sollten sie nicht warten lassen. Was mich betrifft habe ich nicht vor, diesen Beißzangen eine Ausrede zu liefern, mir die Schwanzfedern abzukauen.«

Hastig schob Elayne den gefleckten Ring — er bestand nicht mehr aus wirklichem Stein, obwohl sie damit begonnen hatte — auf eine Schnur, die sie sich um den Hals hängte. Der zweite Keramikbecher enthielt ebenfalls einen Kräutersud, den Nynaeve zubereitet hatte, leicht mit Honig gesüßt, damit er nicht ganz so bitter schmeckte. Elayne trank ungefähr die Hälfte davon. Ihrer Erfahrung nach reichte das vollkommen aus, um ihr einen ruhigen Schlaf zu bescheren, selbst wenn sie Kopfschmerzen hatte. Diese Nacht jetzt gehörte zu jenen, in denen sie sich keinen Zeitverlust leisten konnte.

Sie streckte sich auf dem engen Bett aus, so gut es ging, gebrauchte ganz kurz die Macht, um die Kerze zu löschen, und dann wedelte sie sich mit ihrem Hemdzipfel ein wenig Kühle zu. Nun, eher eine sanfte Luftbewegung, sonst nichts. »Ich wünschte, es ginge Egwene endlich wieder besser. Ich habe es satt, lediglich die paar Brocken zu hören, die uns Sheriam und die anderen vorwerfen. Ich will wissen, was geschieht!«

Ihr wurde bewußt, daß sie hier ein empfindliches Thema berührt hatte. Egwene war vor eineinhalb Monaten in Cairhien verwundet worden, an dem Tag, als Moiraine und Lanfear starben. Am Tag, als Lan verschwand.

»Die Weisen Frauen sagen, daß sie langsam wieder gesund wird«, murmelte Nynaeve schläfrig aus dem Dunklen. Ausnahmsweise schien sie dem Gedankengang einmal nicht bis zu Lans Person hin gefolgt zu sein. »Das behaupten jedenfalls Sheriam und ihr kleiner Kreis, und sie hätten keinen Grund zum Lügen, selbst wenn ihnen das möglich wäre.«

»Also, ich würde ja nur zu gern morgen abend bei Sheriam Mäuschen spielen.«

»Da könntest du genausogut wünschen...« Nynaeve unterbrach sich und gähnte. »Da kannst du genausogut wünschen, daß dich der Saal gleich zur Amyrlin kürt. Das könnte vielleicht sogar klappen. Bis die sich endlich für jemanden entscheiden, sind unsere Haare grau genug für diesen Posten.«

Elayne öffnete den Mund, um zu antworten, doch nach dem Beispiel der anderen kam nur ein Gähnen heraus. Nun begann Nynaeve zu schnarchen, wohl nicht laut, aber doch sehr nachdrücklich. Elayne schloß die Augen, konnte aber ihre Gedanken noch keineswegs abschalten.

Der Saal zögerte allerdings alles hinaus. Die Sitzenden trafen sich an manchen Tagen nur vielleicht eine Stunde lang und oftmals überhaupt nicht. Wenn man eine von ihnen darauf ansprach, gewann man den Eindruck, das habe alles noch soviel Zeit... Ob wohl natürlich die Sitzenden der sechs Ajahs — in Salidar gab es selbstverständlich keine Roten — anderen Aes Sedai nicht mitteilten, worüber sie bei ihren Sitzungen gesprochen hatten, und einer Aufgenommenen sagten sie schon gar überhaupt nichts. Sie hatten ja eigentlich Grund genug, sich zu beeilen. Wenigstens ihre Absichten blieben noch geheim, wenn schon ihre Versammlung an diesem Ort nicht mehr geheim war. Elaida und die Burg würden sie auf die Dauer nicht weiter ignorieren können. Darüber hinaus standen die Weißmäntel nur wenige Meilen entfernt in Amadicia, und es gingen Gerüchte um, die Drachenverschworenen befänden sich bereits hier in Altara. Das Licht mochte wissen, was die Drachenverschworenen alles anstellten, falls Rand sie nicht unter Kontrolle bekam. Der Prophet selbst war ein gutes Beispiel dafür, oder auch ein schreckliches, wie man es eben betrachtete.

Aufruhr, Häuser und Bauernhöfe niedergebrannt, Menschen ermordet, und alles nur, weil sie nicht genug Eifer dabei zeigten, den Wiedergeborenen Drachen zu unterstützen.

Nynaeves Schnarchen klang, als zerreiße jemand Stoff, aber zum Glück kam es aus einiger Entfernung. Elayne gähnte erneut so sehr, daß ihre Kiefer knackten. Dann drehte sie sich zur Seite und preßte die Wange auf das dünne Kissen. Gründe, sich zu beeilen. Sammael saß in Illian, nur ein paar hundert Meilen von hier entfernt, und das war viel zu nahe für einen der Verlorenen.

Das Licht allein wußte, wo sich die anderen Verlorenen befanden und was sie planten. Und Rand; sie mußten bei allem auch an Rand denken. Er stellte natürlich keine Gefahr dar. Das würde er niemals sein. Doch er war der Schlüssel zu allem. Mittlerweile formte sich tatsächlich das Muster der ganzen Welt um ihn herum neu. Irgendwie würde sie ihn an sich binden. Min. Sie und die Delegation mußten nun wohl mehr als die Hälfte des Weges nach Caemlyn zurückgelegt haben. Kein Schnee, der sie aufhalten könnte. Noch ein Monat vielleicht bis zu ihrer Ankunft. Nicht, daß sie sich Sorgen machte, weil Min zu Rand ging. Was hatte der Saal eigentlich vor? Min. Der Schlaf überkam sie, und sie glitt nach Tel'aran'rhiod hinüber...

...und stand urplötzlich mitten auf der Hauptstraße eines stillen, in Nacht gehüllten Salidar, über dem der Mond fast schon in voller Größe am Himmel hing. Sie konnte recht gut sehen, besser als der Mondschein allein möglich gemacht hätte. Dieser eigenartige Lichtschein lag immer über der Welt der Träume, kam von überall und gleichzeitig von nirgendwo her, als ströme die Dunkelheit selbst dieses fahle Leuchten aus. Aber Träume waren nun eben so, und dies war ein Traum, wenn auch kein ganz gewöhnlicher.

Das Dorf hier war ein Spiegelbild des wirklichen Salidar, aber auf eigenartige Weise verschoben. Selbst mit der herrschenden Dunkelheit konnte man diesen Eindruck von Fremdartigkeit nicht erklären. Alle Fenster waren dunkel, und eine Atmosphäre völliger Leere lag über allem, als seien die Gebäude gänzlich unbewohnt.

Natürlich wohnte hier niemand. Der klagende Ruf eines Nachtvogels wurde durch einen ähnlichen beantwortet; dann hörte sie einen dritten, und irgend etwas verursachte ein schwaches Rascheln, als es in diesem seltsamen Zwielicht davonhuschte, doch die Ställe waren leer, genau wie die Umzäunungen und Lichtungen außerhalb des Dorfes, wo man die Schafe und Rinder hielt. Wilde Tiere würde es hier in Mengen geben, aber keine Haustiere. Einzelheiten veränderten sich von einem Blick zum nächsten. Die strohgedeckten Häuser blieben gleich, aber eine Wassertonne stand plötzlich an einem anderen Ort oder war verschwunden; eine offenstehende Tür war mit einemmal geschlossen... Je vergänglicher ein Ding in der wirklichen Welt war, desto eher würde sich hier seine Lage oder sein Zustand verändern, desto unbeständiger war sein Spiegelbild.

Gelegentlich flackerte eine Bewegung in der dunklen Straße auf; jemand erschien und verschwand nach ein paar Schritten wieder oder schwebte sogar über den Boden, als fliege er. Die Träume vieler Menschen berührten Tel'aran'rhiod, aber immer nur ganz kurz. Und das war auch das Beste für sie. Eine andere Eigenschaft der Welt der Träume war nämlich die, daß Dinge, die einem hier widerfuhren, in der wachenden Welt immer noch vorhanden waren. Wenn man hier starb, wachte man nicht mehr auf. Ein eigenartiges Spiegelbild. Nur die Hitze war die gleiche.

Nynaeve stand ungeduldig in dem weißen Kleid einer Aufgenommenen mit den Farbstreifen am Saum neben Siuan und Leane. Sie trug immer noch das silbrige Armband, obwohl es nicht von hier aus in der wachenden Welt wirken konnte. Es band Moghedien nach wie vor, aber Nynaeve, die sich ja nicht in ihrem Körper befand, konnte keine Empfindungen daraus wahrnehmen. Leanes Figur war von erlesener Schlankheit, wenn auch Elaynes Meinung nach ihr kaum noch durchscheinend zu nennendes langes Domanikleid aus dünner Seide von ihrer Eleganz ablenkte. Auch die Farbe veränderte sich ständig. Das passierte immer, bis man lernte, seine Umwelt hier zu kontrollieren. Siuan beherrschte das bereits etwas besser. Sie trug ein schlichtes Kleid aus blauer Seide, so leicht ausgeschnitten, daß man gerade noch den verdrehten Ring an ihrem Halsband hängen sah. Andererseits erschien an dem Kleid von Zeit zu Zeit ein Spitzenbesatz, und das Halsband wandelte sich von einer einfachen Silberkette zu kunstvollen Kolliers, mit Rubinen oder Feuerfunken oder Smaragden in Gold gefaßt, und gleich mit den dazu passenden Ohrringen. Dann erschien wieder die einfache Kette.

Es war der ursprüngliche Ring, der nun an Siuans Hals hing. Sie schien genauso körperlich zu sein, wie die Gebäude. Wenn sie an sich herunterblickte, machte Elaynes Körper auf sie selbst den gleichen soliden Eindruck, aber sie wußte, daß sie den anderen ein wenig verschwommen vorkommen mußte, genau wie Nynaeve und Leane ihr. Man konnte fast meinen, durch die anderen hindurch den Mondschein erkennen zu können. Das war der Effekt, wenn man nur eine Kopie des Ringes benutzte. Sie nahm auch die Wahre Quelle wahr, aber in ihrem Zustand fühlte sich Saidar ganz flüchtig an. Wenn sie einen Versuch unternahm, die Macht zu gebrauchen, würde das zu mageren Resultaten führen. Bei dem Ring, den Siuan trug, wäre das anders, aber sie mußte nun den Preis dafür bezahlen, daß jemand anders von ihren Geheimnissen wußte und sie sich die Aufdeckung nicht leisten konnte. Siuan vertraute eben mehr auf das Original als auf Elaynes Kopien, also trug sie es — nur manchmal gab sie den Originalring an Leane weiter —, während sich Elayne und Nynaeve, die Saidar benützen konnten, mit den anderen begnügen mußten.

»Wo stecken sie?« wollte Siuan wissen. Ihr Ausschnitt wanderte hoch und wieder herunter. Jetzt war ihr Kleid grün und das Halsband eine Kette von dicken Mondperlen. »Es ist schon schlimm genug, daß sie mir ein Paddel zwischen die Riemen stecken und damit herumfuchteln, wie es ihnen paßt; aber jetzt lassen sie mich auch noch warten!«

»Ich weiß gar nicht, warum du dich so aufregst, daß sie mitkommen wollen«, sagte Leane zu ihr. »Es gefällt dir doch, wenn sie vor deiner Nase Fehler begehen. Sie wissen nicht halb soviel, wie sie zu wissen glauben.« Einen Augenblick lang war ihr Kleid beinahe vollkommen durchsichtig. Ein geschlossener Halsring aus dicken Perlen lag um ihren Hals und verschwand wieder. Sie bemerkte es gar nicht. Sie hatte in dieser Welt noch weniger Erfahrung als Siuan.

»Ich brauche mal wieder richtigen Schlaf«, knurrte Siuan. »Bryne scheucht mich herum, bis mir die Luft ausgeht. Und ich muß die halbe Nacht auf Frauen warten, die sich kaum daran erinnern, wie man läuft. Ganz zu schwiegen davon, auch noch diese beiden Klötze am Bein zu haben.« Sie warf Elayne und Nynaeve einen finsteren Blick zu und rollte dann die Augen schicksalsergeben nach oben.

Nynaeve packte mit einer Hand ihren Zopf; ein sicheres Anzeichen dafür, daß in ihr der Zorn emporkochte. Ausnahmsweise einmal konnte Elayne ihr das von ganzem Herzen nachfühlen. Es war schon mehr als nur schwierig, für Schüler die Lehrerin zu spielen, die glaubten, mehr zu wissen, als sie tatsächlich wußten, und die eher die Lehrerin tadelten als umgekehrt, weil sie sich auch noch eines besonderen Schutzes erfreuten. Sicher, die anderen waren noch weit schlimmer als Siuan oder Leane. Wo steckten denn nun die anderen?

Weiter oben an der Straße bewegte sich etwas. Sechs Frauen, vom Glühen Saidars umgeben, die nicht gleich wieder verschwanden. Wie üblich hatten sich Sheriam und die anderen ihrer kleinen Ratsversammlung in ihre eigenen Schlafgemächer hineingeträumt und waren dann herausspaziert. Elayne war sich nicht im klaren darüber, inwieweit sie die Eigenschaften Tel'aran'rhiods bereits durchschauten. Auf jeden Fall bestanden sie häufig darauf, alles auf ihre eigene Art zu tun, und wenn es auch eine bessere Methode gab. Wer konnte das schon besser wissen als eine Aes Sedai?

Die sechs Aes Sedai waren aber wirklich Anfängerinnen in Tel'aran'rhiod, und ihre Kleidung veränderte sich jedesmal, wenn Elayne nur hinblickte. Zuerst hatte eine von ihnen die bestickte Stola der Aes Sedai um die Schultern geschlungen, mit den Fransen in der jeweiligen Farbe ihrer Ajah und mit der weißen Flamme von Tar Valon wie eine herausleuchtende Träne auf dem Rücken, dann trugen plötzlich vier die Stola und dann keine einzige mehr. Manchmal hatten sie leichte Reiseumhänge auf dem Rücken, um den Staub hinter sich von ihnen abzuhalten, bei denen links auf der Brust und auf dem Rücken die Flamme aufgestickt war. Ihre alterslosen Gesichter zeigten natürlich keine Spur der Hitze, denn das war bei den Aes Sedai nie der Fall, aber auch kein Anzeichen dafür, daß ihnen dieser ständige Kleiderwechsel überhaupt bewußt war.

Sie sahen genauso verschwommen aus wie Nynaeve oder Leane. Sheriam und die anderen setzten mehr Vertrauen in Traum-Ter'Angreal, für die man die Macht benutzen mußte, als in die Ringe. Sie waren wohl einfach nicht gewillt, einzusehen, daß Tel'aran'rhiod nichts mit der Einen Macht zu tun hatte. Zumindest konnte Elayne nicht feststellen, ob eine von ihnen ihre Kopien benutzte. Drei von ihnen würden irgendwo am Körper jeweils eine kleine Scheibe aus einem Material, das einst Eisen gewesen war, bei sich tragen, in die man auf beiden Seiten eine enge Spirale eingraviert hatte und die man durch einen Strang aus Geist aktivierte, der einzigen der Fünf Mächte, die man im Schlaf lenken konnte. Überall, aber allerdings nicht hier. Die anderen drei hatten kleine Fibeln dabei, die einst aus Bernstein gefertigt worden waren. In jede hatte ihr Schöpfer eine schlafende Frau eingearbeitet. Und hätte Elayne auch alle sechs Ter'Angreal vor sich liegen, sie wäre trotzdem nicht in der Lage, die beiden Originale wiederzuerkennen. Diese Kopien waren ihr sehr gut gelungen. Aber natürlich waren es immer noch Nachahmungen.

Als die Aes Sedai die Lehmstraße nebeneinander herunterschritten, hörte sie noch das Ende ihrer Unterhaltung, wenn sie auch nicht viel damit anfangen konnte, »...werden unsere Wahl mißachten, Carlinya«, sagte Sheriam mit dem Flammenhaar gerade, »aber sie werden ohnehin jede Wahl mißachten, die wir treffen. Wir brauchen deshalb unseren Beschluß nicht über den Haufen zu werfen. Es ist überflüssig, Euch noch einmal die Gründe aufzuzählen.«

Morvrin, eine kräftige Braune Schwester mit graugesprenkeltem Haar, schnaubte. »Nachdem wir uns mit dem Saal solche Mühe gegeben haben, hätten wir Schwierigkeiten, wollten wir sie noch einmal umstimmen.«

»Solange jeder Herrscher uns ernst nimmt, kann uns das egal sein«, sagte Myrelle hitzig. Die jüngste der sechs, noch gar nicht so lange zur Aes Sedai erhoben, klang entschieden gereizt.

»Welcher Herrscher würde es denn wagen, uns nicht ernst zu nehmen?« fragte Anaiya wie eine Frau, die fragt, welches Kind es wohl wagen mochte, Schmutz auf ihre Teppiche zu schleppen. »In jedem Fall weiß sowieso kein König oder Königin genug darüber, was unter uns Aes Sedai vorgeht, um die Lage zu durchschauen. Uns brauchen nur die Meinungen der Schwestern zu interessieren, aber nicht ihre.«

»Was mir Kopfzerbrechen bereitet«, erwiderte Carlinya kühl, »ist folgendes: Wenn sie sich leicht von uns führen läßt, dann läßt sie sich vielleicht auch leicht von anderen führen.« Die blasse Weiße mit den fast kohlrabenschwarzen Augen war immer kühl, manche würden auch sagen, eisig.

Worüber sie da auch sprechen mochten, war es auf jeden Fall nichts, was sie vor Elayne oder den anderen austragen wollten. So schwiegen sie, kurz bevor sie die anderen erreichten.

Siuan und Leone reagierten auf die Neuankömmlinge, indem sie einander abrupt den Rücken zuwandten, als hätten sie sich gestritten und seien nur durch die Ankunft der Aes Sedai unterbrochen worden. Was Elayne betraf, überprüfte sie schnell noch ihre Kleidung. Es war das richtige weiße Kleid mit dem farbigen Saum. Sie war selbst nicht ganz glücklich darüber, daß sie ohne Nachdenken im richtigen Kleid erschienen war. Sie hätte wetten können, daß Nynaeve ihre Kleidung nach der Ankunft erst einmal abgeändert hatte. Aber Nynaeve war halt auch viel unerschrockener als sie und kämpfte ständig gegen Beschränkungen an, die sie bereits akzeptiert hatte. Wie konnte sie nur jemals Andor regieren? Falls ihre Mutter tot war. Falls.

Sheriam, ein wenig mollig und mit hohen Backenknochen, richtete ihre schrägstehenden grünen Augen auf Siuan und Leane. Einen Augenblick lang trug sie eine Stola mit blauen Fransen. »Wenn Ihr zwei nicht miteinander auskommen könnt, schwöre ich, daß ich Euch beide zu Tiana schicke.« Es klang, als habe sie das schon oft gesagt und stünde gar nicht mehr dahinter.

»Ihr habt doch lange genug zusammengearbeitet«, sagte Beonin in ihrem auffallenden Taraboner Dialekt. Sie war eine hübsche Graue, hatte sich das honigfarbene Haar zu einer Unmenge dünner Zöpfe geflochten, und ihre blaugrauen Augen blickten ständig überrascht drein. Dabei konnte fast nichts Beonin wirklich überraschen. Sie würde auch nicht glauben, daß die Sonne am Morgen aufgehe, wenn sie sich nicht selbst davon überzeugte, aber falls sie eines Morgens doch nicht auftauchte, würde Beonin nicht einmal mit der Wimper zucken, vermutete Elayne. Das würde lediglich bestätigen, daß sie recht daran getan hatte, Beweise zu fordern. »Ihr könnt und müßt wieder zusammenarbeiten.«

Bei Beonin klang das auch, als habe sie es so oft gesagt, daß es jetzt schon fast automatisch und ohne zu denken herauskam. Alle Aes Sedai hatten sich längst an Siuan und Leane gewöhnt. Sie hatten angefangen, die beiden wie zwei Mädchen zu behandeln, die mit dem Zanken nicht aufhören konnten. Aes Sedai hatten sowieso eine Neigung dazu, jede andere, die nicht zu ihnen gehörte, mehr oder weniger als Kind zu betrachten. Sogar diese beiden, die einst Schwestern gewesen waren.

»Schickt sie meinetwegen zu Tiana oder auch nicht«, fauchte Myrelle, »aber hört auf, darüber zu reden!« Elayne hatte nicht das Gefühl, die auf ihre dunkle Art schöne Frau rege sich über Siuan und Leane auf. Sie ärgerte sich wahrscheinlich gar nicht über irgend etwas oder irgend jemanden. Sie war einfach ziemlich launisch und fiel dadurch sogar unter den Grünen auf. Ihr goldgelbes Seidenkleid erhielt plötzlich einen Stehkragen, aber mit einem tiefen, ovalen Ausschnitt, der ihre Brustansätze gut sichtbar machte. Sie hatte nun auch ein recht auffallendes Kollier um den Hals: ein breites Silberband, an dem drei kleine Dolche hingen. Die Griffe hingen direkt zwischen ihren Brüsten. Ein vierer Dolch erschien plötzlich und war so schnell wieder verschwunden, daß es auch Einbildung gewesen sein konnte. Sie musterte Nynaeve von Kopf bis Fuß, als suche sie nach einem Ansatzpunkt für Kritik. »Gehen wir jetzt zur Burg oder nicht? Wenn wir das unternehmen wollen und uns nun schon hier befinden, könnten wir ja wirklich etwas Nützliches tun.«

Elayne wußte jetzt, worüber sich Myrelle ärgerte. Als sie und Nynaeve nach Salidar gekommen waren, hatten sie sich alle sieben Tage in Tel'aran'rhiod mit Egwene getroffen, um sich über das auszutauschen, was sie erfahren hatten. Das war ihnen nicht immer leichtgefallen, da Egwene grundsätzlich von mindestens einer Traumgängerin der Aiel begleitet wurde, in deren Ausbildung sie sich begeben hatte. Sich ohne eine oder zwei Weise Frauen zu treffen hatte große Mühe gekostet. Das war aber sowieso vorbei gewesen, nachdem sie nach Salidar kamen. Diese sechs Aes Sedai, Sheriam und ihre Ratsschwestern, hatten die Treffen übernommen, obwohl sie zu der Zeit nur die drei Ter'Angreal selbst gehabt hatten und wenig Ahnung von Tel'aran'rhiod über das Wissen hinaus, wie man dorthin kam. Das war ausgerechnet auch noch zu der Zeit geschehen, als Egwene verwundet wurde, und so standen sich schließlich lediglich die Aes Sedai und die Weisen Frauen gegenüber, zwei Gruppen stolzer, resoluter Frauen, von denen jede der anderen mißtraute, und natürlich war keine von beiden Gruppen bereit, auch nur eine Handbreit Bodens zurückzuweichen oder sich der anderen gar zu beugen.

Natürlich hatte Elayne keine Ahnung, was bei diesen Treffen vor sich ging, aber sie konnte es aus eigener Erfahrung ganz gut einschätzen, und dazu kamen noch ein paar Brocken, die Sheriam oder die anderen gelegentlich fallenließen.

Die Aes Sedai waren sicher, alles in Erfahrung bringen zu können, sobald sie einmal wußten, wo sie etwas erfahren konnten, dazu forderten sie den gleichen Respekt, wie man ihn einer Königin gezollt hätte, und sie waren es gewohnt, daß man ihnen alles ohne jedes Widerstreben und ohne Verzögerung mitteilte, was sie wissen wollten. Offensichtlich hatten sie Antworten auf alles mögliche verlangt, über Rands Pläne oder über Egwenes Gesundheitszustand, wann sie wieder in der Lage sei, in die Welt der Träume zu kommen, oder ob es möglich sei, in Tel'aran'rhiod die Träume anderer Menschen zu überwachen, bis zu den Fragen, ob man die Welt der Träume auch körperlich betreten könne oder jemand gegen seinen Willen dorthin mitnehmen. Sie hatten sogar mehr als einmal gefragt, ob es möglich sei, durch das, was man in den Träumen tat, die wirkliche Welt zu beeinflussen, eine glatte Unmöglichkeit, an der sie aber offensichtlich zweifelten. Morvrin hatte ein bißchen von Tel'aran'rhiod gelesen, genug jedenfalls, um eine Unmenge Fragen zu stellen, aber Elayne vermutete, Siuan habe auch einen erklecklichen Teil dazu beigetragen. Sie glaubte, Siuan versuche sie zu überreden, selbst an den Treffen teilnehmen zu dürfen, aber die Aes Sedai hielten es wohl für großzügig genug, wenn sie Siuan den Ring als Hilfe bei ihrer Arbeit mit den Augen und Ohren benützen ließen. Was sie aufregte, war das Einmischen der Aes Sedai in diese Arbeit.

Was die Aiel betraf... Weise Frauen — oder zumindest die Traumgängerinnen, die Elayne aus eigener Anschauung kannte — wußten nicht nur so ziemlich alles, was man über die Welt der Träume überhaupt wissen konnte, sondern betrachteten diese Welt fast als ihren eigenen Grund und Boden. Es paßte ihnen nicht, wenn jemand unwissentlich hierherkam, und sie hatten eine ziemlich grobe Art, mit dem umzugehen, was sie als töricht betrachteten. Darüber hinaus waren sie sowieso recht verschlossen, offenbar wild entschlossen in ihrer Loyalität zu Rand. So sagten sie nicht viel mehr, als daß er am Leben sei, oder daß Egwene nach Tel'aran'rhiod zurückkehren werde, sobald sie gesund genug sei, während sie andere Fragen, die sie als unangemessen betrachteten, überhaupt nicht beantworten wollten. Das konnte beispielsweise eintreten, wenn sie der Meinung waren, die Fragende wisse überhaupt noch nicht genug, um die Antwort zu erhalten, oder wenn Frage oder Antwort oder beides jene eigenartige Weltanschauung der Aiel verletzten, die ganz auf Ehre und Verpflichtung beruhte. Elayne wußte nicht viel mehr über Ji'e'toh, als daß es existierte und daß es zu sehr eigentümlichen und empfindlichen Verhaltensweisen führte.

Alles in allem war es eine katastrophale Kombination, die sich alle sieben Tage aufs Neue ergab, und jede Seite gab der anderen die alleinige Schuld daran. Wenigstens vermutete Elayne das.

Sheriam und die fünf anderen hatten sich anfangs —jeden Abend von ihnen unterrichten lassen, aber jetzt beschränkte sich das auf zwei Gelegenheiten: den Abend, bevor sie mit den Weisen Frauen zusammentrafen, als wollten sie da ihre Fähigkeiten für einen Wettbewerb noch einmal aufpolieren, und den Abend danach, wobei sie meist recht schweigsam waren und wahrscheinlich aufarbeiten wollten, was eigentlich schiefgegangen war und wie sie damit fertigwerden konnten. Myrelle kochte wahrscheinlich schon jetzt, weil sie die Katastrophen der kommenden Nacht vorhersah. Es würde bestimmt wieder einiges danebengehen.

Morvrin wandte sich an Myrelle und öffnete den Mund, doch mit einemmal befand sich noch eine andere Frau unter ihnen. Elayne brauchte einen Augenblick, um in diesen alterslosen Gesichtszügen Gera zu erkennen, eine der Köchinnen. Sie trug eine Stola mit grünen Fransen und der Flamme von Tar Valon auf dem Rücken und wog nicht mehr als die Hälfte ihres normalen Gewichts. Gera schwenkte einen mahnenden Finger in Richtung der Aes Sedai — und war verschwunden.

»Also das träumt sie, ja?« sagte Carlinya kühl. An ihrem schneeweißen Seidenkleid wuchsen lange Ärmel, deren Spitzen über ihre Hände hingen, während gleich unter dem Kinn ein enger Kragen das Ganze abschloß. »Jemand sollte sich mit ihr ein wenig unterhalten.«

»Laß mal, Carlinya«, schmunzelte Anaiya. »Gera ist eine gute Köchin. Laß ihr doch ihre Träume. Ich kann mir schon vorstellen, wie sie das reizt.« Plötzlich wurde sie schlanker und größer. Ihre Gesichtszüge änderten sich nicht entscheidend. Sie war immer noch die gleiche, einfache, mütterliche Frau wie sonst. Lachend wandelte sie sich zurück zu ihrem normalen Aussehen. »Kannst du nicht einsehen, daß man an solchen Sachen seinen Spaß haben kann, Carlinya?« Selbst Carlinyas Schnauben klang unterkühlt.

»Ganz eindeutig«, warf Morvrin ein, »hat uns Gera gesehen. Wird sie sich daran erinnern?« Der Blick aus ihren dunklen, stählernen Augen war nachdenklich. Ihr Kleid, aus einfacher dunkler Wolle gewebt, war das beständigste unter denen der sechs. Einzelheiten änderten sich wohl auch bei ihr, aber so unmerklich, daß selbst Elayne kaum einen Unterschied feststellen konnte.

»Natürlich wird sie das«, sagte Nynaeve beißend. Sie hatte das schon früher erklärt. Sechs Aes Sedai blickten sie mit hochgezogenen Augenbrauen an, und sie mäßigte ihren Tonfall. Ein wenig. Auch sie haßte es, Töpfe ausschrubben zu müssen. »Wenn sie sich an den Traum erinnert, wird sie sich auch daran erinnern.

Aber eben nur als Teil eines Traums.«

Morvrin runzelte die Stirn. Sie kam Beonin am nächsten, wenn es darum ging, zu zweifeln und immer gleich einen Beweis zu verlangen. Nynaeves frustriert leidende Miene würde sie in Schwierigkeiten bringen, von ihrem Tonfall ganz abgesehen. Bevor Elayne jedoch etwas anbringen konnte, um die Aufmerksamkeit der Aes Sedai von Nynaeve abzulenken, sagte Leane mit einem beinahe albernen Lächeln: »Glaubt Ihr nicht, daß wir jetzt gehen sollten?«

Siuan schnaubte verächtlich ob dieser Schüchternheit, und Leane richtete einen scharfen Blick auf sie. »Ja, Ihr werdet soviel Zeit wie möglich in der Burg zubringen wollen«, sagte Siuan diesmal auch recht demütig, und nun schnaubte Leane.

Sie spielten ihre Rollen wirklich gut. Sheriam und die anderen kamen nie auf den Gedanken, Siuan und Leane seien mehr als einfach zwei der Dämpfung unterzogene Frauen, die sich an einen Lebenszweck klammerten, der sie vielleicht auch am Leben halten würde, und die sich noch an den Rest dessen klammerten, was sie einst gewesen waren. Zwei Frauen, die sich auf kindische Weise ständig gegenseitig an die Kehlen fuhren. Die Aes Sedai hätten daran denken sollen, daß Siuan schon immer in dem Ruf gestanden hatte, eine willensstarke und schlaue Drahtzieherin zu sein, und für Leane hatte das ebenfalls, wenn auch in geringerem Maße, gegolten. Hätten sie sich als einig erwiesen oder ihre wahren Gesichter gezeigt, dann hätten sich die sechs daran erinnert und sehr genau unter die Lupe genommen, was immer die beiden sagten. Aber uneins und immer bereit, die andere mit ätzenden Bemerkungen in die Enge zu treiben, fast unterwürfig den Aes Sedai gegenüber, und doch schien ihnen das gar nicht bewußt zu sein... Wenn dann die eine gezwungen schien, dem grollend zuzustimmen, was die andere gesagt hatte, verstärkte das den erwünschten Eindruck noch. Genauso wie in dem Fall, daß die eine aus offensichtlichem Trotz der anderen widersprach. Elayne wußte, daß sie all diesen Aufwand trieben, um Sheriam und die anderen dazu zu bringen, Rand zu unterstützen. Sie hätte allerdings nur zu gern gewußt, was sie sonst noch damit erreichen wollten.

»Sie haben recht«, unterstützte sie Nynaeve energisch, wobei sie Siuan und Leane einen angewiderten Blick zuwarf. Ihre Scheinheiligkeit ärgerte Nynaeve bis zur Weißglut; sie selbst hätte niemals so demütig gespielt, und wäre es um ihr Leben gegangen. »Ihr solltet mittlerweile wissen: Je längere Zeit Ihr hier verbringt, desto weniger real werdet Ihr. Der Schlaf, während man sich in Tel'aran'rhiod aufhält, ist auch nicht so erholsam wie gewöhnlicher Schlaf. Erinnert Euch nun bitte auch daran, daß Ihr sehr vorsichtig sein müßt, wenn Ihr etwas Außergewöhnliches bemerkt.« Sie haßte es wirklich, sich wiederholen zu müssen — diese Tatsache zeigte sich deutlich an ihrem Tonfall —, aber bei diesen Frauen, das gab auch Elayne zu, war es entschieden zu oft notwendig. Wenn es bei Nynaeve nur nicht so klänge, als spreche sie mit geistig minderbemittelten Kindern. »Wenn jemand sich so wie Gera vorhin nach Tel'aran'rhiod hineinträumt und der Traum zu einem Alptraum wird, dann kann sich dieser Alptraum manchmal hier halten, und das ist äußerst gefährlich. Meidet alles, was ungewöhnlich auf Euch wirkt. Und bemüht Euch diesmal, Eure Gedanken unter Kontrolle zu halten. Woran Ihr hier denkt, kann gelegentlich zur Wirklichkeit werden. Dieser Myrddraal, der letztesmal wie aus dem Nichts heraus erschien, war vielleicht ein Überrest aus einem Alptraum, aber ich glaube eher, eine von Euch hat ihre Gedanken zu weit ausschweifen lassen. Ihr habt gerade über die Schwarzen Ajah gesprochen, falls Ihr euch noch erinnert, und darüber diskutiert, ob sie Schattenwesen in die Burg einließen.« Und als sei das noch nicht schlimm genug gewesen, fügte sie hinzu: »Ihr werdet bei den Weisen Frauen morgen keinen Eindruck schinden, wenn Ihr einen Myrddraal mitten hinein setzt.« Elayne stöhnte leicht auf.

»Kind«, sagte Anaiya sanftmütig und rückte die blaugefranste Stola zurecht, die sie plötzlich um hatte, »Ihr habt sehr gute Arbeit geleistet, aber das entschuldigt noch keine spitze Zunge.«

»Man hat Euch eine Reihe von Privilegien zugestanden«, sagte Myrelle, und das alles andere als sanft, »aber Ihr scheint zu vergessen, daß es tatsächlich Privilegien sind.« Ihr Stirnrunzeln allein hätte genügen sollen, um Nynaeves Beine zum Zittern zu bringen. Myrelle hatte Nynaeve in den letzten Wochen immer härter angepackt. Auch sie hatte jetzt ihre Stola angelegt. Genauer gesagt, alle trugen nun die Stola. Ein schlechtes Zeichen.

Morvrin schnaubte gehässig: »Als ich zu den Aufgenommenen gehörte, hätte jedes Mädchen, das so mit einer Aes Sedai sprach, den nächsten Monat mit dem Schrubben von Fußböden verbracht, und sei auch ihre Erhebung zur Aes Sedai für den nächsten Tag vorgesehen!«

Elayne griff schnell in das Gespräch ein, in der Hoffnung, das Schlimmste verhüten zu können. Nynaeve zeigte einen Gesichtsausdruck, den sie wohl für versöhnlich hielt, der aber in Wirklichkeit beleidigt und halsstarrig wirkte. »Ich bin sicher, sie hat es nicht böse gemeint, Aes Sedai. Wir haben sehr hart gearbeitet. Bitte vergebt uns.« Vielleicht half es, wenn sie sich selbst mit einbrachte, obwohl sie ja nichts getan hatte. Es konnte natürlich auch dazu führen, daß sie beide Böden schrubbten. Wenigstens sah Nynaeve nun zu ihr herüber. Und sie dachte offensichtlich dabei angestrengt nach. Ihre Miene glättete sich zu etwas, das man gerade noch als Verzeihung heischend betrachten konnte, und dann knickste sie und blickte zu Boden, als schäme sie sich. Vielleicht war das ja wirklich der Fall. Vielleicht. Elayne sprach weiter in einem Tonfall, als habe sich Nynaeve offiziell entschuldigt und als sei ihr verziehen worden: »Ich weiß, daß Ihr alle soviel Zeit wie möglich in der Burg verbringen wollt, also sollten wir möglichst nicht länger warten. Wenn Ihr euch alle bitte Elaidas Arbeitszimmer vorstellen würdet, genau so, wie Ihr es beim letztenmal gesehen habt?« In Salidar bezeichnete niemand jemals Elaida als die Amyrlin, und genauso wurde natürlich das Büro der Amyrlin in der Weißen Burg von ihnen nicht so genannt. »Wenn alle die Vorstellung genau im Kopf haben, werden wir zusammen ankommen.«

Anaiya war die erste, die nickte, aber selbst Carlinya und Beonin ließen sich durch ihr Manöver ablenken.

Es war unklar, ob sich nun eigentlich die zehn in Bewegung setzten, oder ob sich Tel'aran'rhiod um sie herum verschob. Dem wenigen nach, das Elayne von dieser Welt verstand, konnte beides möglich sein. Man konnte die Welt der Träume unglaublich verändern und den eigenen Wünschen anpassen. Im einen Augenblick standen sie auf der Straße in Salidar, und im nächsten in einem geräumigen, kunstvoll ausgestatteten Zimmer. Die Aes Sedai nickten zufrieden. Sie waren hier noch unerfahren genug, um sich über alles zu freuen, was so geklappt hatte, wie sie es wünschten.

So eindeutig, wie Tel'aran'rhiod die wachende Welt widerspiegelte, so spiegelte sich in diesem Raum die Macht der Frauen wider, die ihn während der letzten dreitausend Jahre benützt hatten. Die Lampen auf den vergoldeten Ständern waren nicht entzündet, aber es war hell genug, denn dieser eigenartige Lichtschein war ja vorhanden, der immer in Tel'aran'rhiod und den Träumen darin herrschte. Der hohe Kamin war mit goldenem Marmor aus Kandor verschalt, und der Fußboden bestand aus polierten Sandsteinplatten von den Verschleierten Bergen. Die Wände hatten vor verhältnismäßig kurzer Zeit — vor nur etwa tausend Jahren —eine neue Täfelung aus hellem, seltsam schlierigem Holz erhalten, in das man wundersame Tiere und Vögel geschnitzt hatte, von denen Elayne überzeugt war, daß sie der Phantasie des Schnitzers entsprungen waren. Perlig schimmernder Stein umrahmte hohe Fenster, die den Blick auf einen Balkon freigaben, der sich gleich über dem privaten Garten der Amyrlin befand. Diese Steinrahmen hatte man aus einer namenlosen Stadt geborgen, die während der Zerstörung der Welt im Meer der Stürme untergegangen war, und niemand hatte seither weitere Stücke dieser Art von Stein irgendwo auf der Welt gefunden.

Jede Frau, die diesen Raum benützte, prägte ihm etwas von ihrer Persönlichkeit auf, und das war bei Elaida genauso. Ein schwerer, thronähnlicher Stuhl, dessen hohe Rückenlehne von einer in Elfenbein eingelegten Flamme von Tar Valon gekrönt wurde, stand hinter einem massiven Schreibtisch, in den man ganze Gruppen von Ringen, die immer an drei Punkten zusammenhingen, eingeschnitzt hatte. Die Tischfläche war leer bis auf drei kunstvoll lackierte Holzkästchen altaranischer Machart, die in genau gleichen Abständen darauf standen. Eine schlichte weiße Vase stand auf einer ebenfalls weißen Säule mit ganz strenger Linienführung vor der einen Wand. Die Vase war mit Rosen gefüllt, deren Anzahl und Farbe sich bei jedem Blick veränderte, die aber immer gleich mathematisch genau angeordnet waren. Rosen um diese Jahreszeit und bei diesem Wetter! Es war eine reine Verschwendung der Einen Macht, wenn man damit Rosen künstlich zur Blüte trieb. Aber Elaida hatte das schon gemacht als sie noch die Ratgeberin von Elaynes Mutter gewesen war.

Über dem Kamin hing ein Gemälde in modernem Stil — auf gespannte Leinwand gemalt — von zwei Männern, die in den Wolken gegeneinander kämpften, indem sie Blitze schleuderten. Der eine Mann hatte ein Gesicht aus Feuer, und der andere war Rand. Elayne war in Falme gewesen, und fand, daß dieses Gemälde der Wahrheit recht gut entsprach. Wo sich Rands Gesicht befand, war undeutlich ein Riß in der Leinwand zu sehen, als habe jemand einen schweren Gegenstand darauf geworfen, und der Riß war dann wohl ganz ordentlich repariert worden. Offenbar brauchte Elaida etwas, was sie ständig an den Wiedergeborenen Drachen erinnerte, und genauso offensichtlich war sie nicht gerade glücklich darüber, das Bild andauernd ansehen zu müssen.

»Wenn Ihr mich bitte entschuldigt«, sagte Leane, noch bevor die anderen mit ihrem zufriedenen Nicken fertig waren, »ich muß nachsehen, ob meine Leute ihre Botschaften empfangen haben.« Jede Ajah außer der Weißen besaß ein eigenes Netz von Augen und Ohren, Spione, die sie über alle Nationen verstreut hatten, und auch so manche einzelne Aes Sedai hatte ihr eigenes Netz aufgebaut, doch Leane war ein seltener Ausnahmefall, vielleicht sogar einzigartig, denn sie hatte als Behüterin der Chronik ein Netz sogar in Tar Valon selbst errichtet. Kaum hatte sie ausgesprochen, da verschwand sie auch schon.

»Sie sollte nicht allein hier herumlaufen«, sagte Sheriam in frustriertem Tonfall. »Nynaeve, geht zu ihr und bleibt bei ihr.«

Nynaeve zog an ihrem Zopf. »Ich glaube nicht...«

»Das ist bei Euch sehr oft der Fall«, unterbrach Myrelle sie. »Tut ausnahmsweise einmal, was man Euch sagt und sobald man es Euch sagt, Aufgenommene.«

Nynaeve tauschte einen trockenen Blick mit Elayne, dann nickte sie, wobei sie sichtlich ein Seufzen unterdrücken mußte, und verschwand. Elayne empfand nur wenig Mitleid. Hätte Nynaeve nicht zuvor in Salidar ihre Gereiztheit so deutlich gezeigt, dann wäre es jetzt vielleicht möglich gewesen, zu erklären, daß sich Leane überall in der Stadt befinden mochte, daß es fast unmöglich sei, sie aufzuspüren, und daß sie schon seit Wochen allein in Tel'aran'rhiod herumschnüffelte.

»Jetzt müssen wir aber sehen, was wir in Erfahrung bringen können«, sagte Morvrin, doch bevor eine von ihnen etwas sagen konnte, saß plötzlich Elaida mit wütender Miene hinter ihrem Schreibtisch.

Eine Frau mit unnachgiebigem, strengen Gesicht, nicht schön, aber doch recht gut aussehend, mit dunklem Haar und dunklen Augen, so erschien ihnen Elaida in einem blutroten Kleid mit der gestreiften Stola der Amyrlin um die Schultern. »Wie ich es dank meiner Gabe vorhergesagt habe«, sagte sie würdigem, getragenen Tonfall. »Die Weiße Burg wird unter meiner Führung wiedervereinigt. Unter meiner!« Sie deutete ruckartig auf den Fußboden. »Kniet nieder und bittet um die Vergebung Eurer Sünden!« Damit war sie wieder verschwunden.

Elayne ließ langsam die angehaltene Luft wieder heraus und war dankbar dafür, daß sie offensichtlich nicht die einzige gewesen war.

»Eine Weissagung?« Beonin runzelte nachdenklich die Stirn. Es klang nicht besorgt, obwohl sie ja Grund genug gehabt hätte. Elaida hatte die Gabe, die Zukunft vorhersagen zu können, allerdings eben nur sporadisch. Wenn solch eine Vorhersage über eine Frau kam und sie wußte, daß etwas Bestimmtes geschehen werde, dann geschah es auch.

»Ein Traum«, sagte Elayne und war überrascht, wie beherrscht ihre Stimme sich anhörte. »Sie schläft und träumt. Kein Wunder, daß sie alles so träumt, wie sie es gern hätte.« Bitte, Licht, laß es nicht wahr werden.

»Habt Ihr die Stola bemerkt?« fragte Anaiya, ohne jemand Bestimmtes anzusprechen. »Sie hatte keinen blauen Streifen.« Die Stola der Amyrlin sollte einen Farbstreifen für jede der sieben Ajahs aufweisen.

»Ein Traum«, sagte Sheriam ausdruckslos. Bei ihr klang es, als befürchte sie nichts, aber sie hatte wieder ihre blaugefranste Stola um und zog sie fest zusammen. Genau wie Anaiya.

»Ob sich das nun so verhält oder nicht«, sagte Morvrin gelassen, »könnten wir doch mit dem anfangen, was wir hier erledigen wollten.« Morvrin konnte so schnell nichts erschüttern.

Die plötzlich ausbrechende Aktivität unter den sechs nach den Worten der Braunen Schwester ließ deutlich werden, wie still es vorher im Raum gewesen war. Sie selbst, Carlinya und Anaiya schlüpften geschwind hinaus in das Vorzimmer, wo sich der Arbeitstisch der Behüterin befand. Das war unter Elaida Alviarin Freidhen, eine Weiße seltsamerweise, obwohl doch sonst die Behüterinnen immer aus der gleichen Ajah kamen wie die Amyrlin selbst.

Siuan blickte ihnen gereizt hinterher. Sie behauptete, man könne oft mehr aus Alviarins Papieren ersehen als aus denen Elaidas, denn Alviarin wußte offenbar oftmals mehr als die Frau, der sie angeblich diente, und zweimal hatte Siuan bereits den Beweis dafür gefunden, daß Alviarin Elaidas Befehle widerrufen hatte, anscheinend ohne alle Folgen. Nicht, daß sie Elayne und Nynaeve von diesen Befehlen erzählt hätte. Siuans Bereitschaft zur Zusammenarbeit hatte ihre Grenzen.

Sheriam, Beonin und Myrelle versammelten sich um den Schreibtisch Elaidas, öffneten eines der lackierten Kästchen und begannen, in den darin liegenden Papieren zu stöbern. Hier bewahrte Elaida ihre neueste Korrespondenz und die Berichte, die ständig einliefen, auf. Jedesmal, wenn eine von ihnen den Deckel losließ, der so hübsch mit goldenen Habichten geschmückt war, die zwischen weißen Wolken unter einem blauen Himmel stritten, war das Kästchen mit einemmal wieder geschlossen, bis sie dann endlich daran dachten und es offenhielten. Die Papiere selbst veränderten sich andauernd, selbst mitten beim Lesen noch. Das Papier war hier wirklich ein flüchtiges Element. Unter vielen verblüfften und enttäuschten Tsssts und verärgertem Aufstöhnen widmeten sich die Aes Sedai der Suche nach Informationen.

»Hier ist ein Bericht von Danelle«, sagte Myrelle und überflog schnell eine Seite Text. Siuan schob sich näher heran, um mitlesen zu können, denn Danelle, eine junge Braune, hatte zu jenen Verschwörerinnen gehört, die sie abgesetzt hatten, doch Beonin sah sie stirnrunzelnd an, und daraufhin zog sie sich, leise vor sich hin grollend, wieder in ihr Eck zurück. Beonin wandte ihre Aufmerksamkeit bereits wieder dem Kästchen und den Dokumenten zu, als Siuan noch keine drei Schritte getan hatte, und die anderen beiden Frauen harten sowieso nichts bemerkt. Myrelle redete derweil weiter: »Sie sagt, Mattin Stepaneos habe das Angebot mit Freude angenommen, Roedran bemühe sich noch immer, alle Seiten gleichzeitig zufriedenstellen zu wollen, während Alliandre und Tylin mehr Zeit benötigen, um sich ihre Antworten zu überlegen. Es ist noch eine Notiz in Elaidas Handschrift darauf: ›Macht ihnen Druck! ‹« Sie schnalzte mit der Zunge, als der Bericht sich in ihrer Hand in Luft auflöste. »Es stand nicht drin, worum es überhaupt geht, aber es kann nur zwei Möglichkeiten geben, wenn es um gerade diese vier zusammen geht.«

Mattin Stepaneos war König von Illian und Roedran König von Murandy, während Alliandre Königin von Ghealdan war und Tylin die Herrscherin von Altara. Der Gegenstand der Verhandlungen konnte nur entweder Rand sein oder die Aes Sedai, die sich gegen Elaida gestellt hatten.

»Damit wissen wir wenigstens, daß unsere Abgesandten immer noch die gleichen Chancen haben wie die Elaidas«, sagte Sheriam. Natürlich hatte Salidar niemanden zu Mattin Stepeanos entsandt, denn Lord Brend vom Rat der Neun, also Sammael, stellte die wahre Macht in Illian dar. Elayne hätte eine ganze Menge dafür gegeben, zu erfahren, was Elaida Sammael angeboten hatte, daß dieser nun tatsächlich zugestimmt oder eben Mattin Stepaneos hatte zustimmen lassen. Sie war sicher, die drei Aes Sedai hätten genausoviel dafür gegeben, aber sie fuhren lediglich fort, weitere Dokumente aus dem lackierten Kästchen zu nehmen.

»Die steckbriefliche Suche nach Moiraine ist noch in Kraft«, sagte Beonin und schüttelte den Kopf, als aus dem einzelnen Blatt in ihrer Hand plötzlich ein ganzes dickes Bündel wurde. »Sie weiß noch nicht, daß Moiraine tot ist.« Sie schnitt den Papieren eine Grimasse und ließ sie fallen. Sie wurden verstreut wie abgestorbene Blätter vom Wind, und dann lösten sie sich auf, bevor sie den Boden erreichten. »Elaida hat auch immer noch vor, sich einen Palast bauen zu lassen.«

»Hätte sie gern«, meinte Sheriam trocken. Ihr Hand zuckte vor und nahm etwas auf, was wie eine kurze Notiz aussah. »Shemerin ist geflohen. Die Aufgenommene Shemerin.«

Alle drei blickten kurz Elayne an, bevor sie sich wieder dem Inhalt des Kästchens widmeten, das sie nun erneut öffnen mußten. Keine gab irgendeinen Kommentar zu Sheriams Worten.

Elayne hätte beinahe mit den Zähnen geknirscht. Sie und Nynaeve hatten ihnen berichtet, daß Elaida Shemerin, eine Gelbe Schwester, zur Aufgenommenen degradieren wolle, aber natürlich hatten sie ihr nicht geglaubt. Man konnte eine Aes Sedai sehr wohl bestrafen oder sogar ausstoßen, aber eine Degradierung war unmöglich, sonst hätte man sie gleich einer Dämpfung unterziehen können. Aber es schien, daß Elaida trotzdem genau das tat, gleich, was die Gesetze der Burg vorschrieben. Vielleicht änderte sie die Gesetzgebung jetzt auch noch selbst ab.

Eine ganze Anzahl von Dingen, die sie diesen Frauen berichtet hatten, war ihnen offensichtlich nicht abgenommen worden. Solch junge Frauen, Aufgenommene, konnten doch nicht genug von der Welt wissen, um einzuschätzen, was möglich war und was nicht! Junge Frauen waren leichtgläubig und leicht zu beeinflussen; sie sahen und glaubten manchmal Dinge, die es gar nicht gab. Es kostete Elayne Mühe, nicht mit dem Fuß aufzustampfen. Eine Aufgenommene nahm das an, was die Aes Sedai ihr gaben, und verlangte keine Dinge, die ihr die Aes Sedai nicht geben wollten. Beispielsweise Entschuldigungen. Sie behielt ihre Gefühle für sich und machte eine ausdruckslose Miene.

Siuan beherrschte sich in solchen Fällen weniger. Jedenfalls zumeist. Wenn die Aes Sedai sie nicht ansahen, bedachte sie diese mit ihren finstersten Blicken. Klar, wenn eine der drei dann in ihre Richtung blickte, wandelte sich ihre Miene im Handumdrehen zu demütiger Ergebenheit. Darin hatte sie bereits eine Menge Übung. Ein Löwe überlebt, indem er sich wie ein Löwe verhält, hatte sie Elayne einmal gesagt, und eine Maus, indem sie sich wie eine Maus verhält. Trotzdem war Siuan selbst nur die armselige Imitation einer Maus.

Elayne glaubte, in Siuans Blick etwas wie Besorgnis zu erkennen. Dies war Siuans Aufgabe gewesen, seit sie den Aes Sedai bewies, daß sie problemlos den Ring benutzen konnte — sicher, erst nachdem sie und Leane heimlichen Unterricht durch Nynaeve und Elayne erhalten hatten — und eine hervorragende Informationsquelle darstellte. Es kostete Zeit, den Kontakt mit den über die verschiedenen Länder verstreuten Augen und Ohren wiederherzustellen und ihre Berichte von der Weißen Burg nach Salidar umzulenken. Falls Sheriam und die anderen vorhatten, diese Aufgabe selbst zu übernehmen, wäre Siuan nicht mehr so nützlich für sie. In der Geschichte der Burg war noch niemals ein Agentennetz von einer Frau geführt worden, die nicht wenigstens Aes Sedai war, bis Siuan mit ihren Kenntnissen der Augen und Ohren der Amyrlin selbst nach Salidar gekommen war, und darüber hinaus kannte sie auch noch die Augen und Ohren der Blauen Ajah, denn die hatte sie vor ihrer Wahl zur Amyrlin geleitet. Beonin und Carlinya zögerten ganz unverhohlen, sich da auf eine Frau zu verlassen, die nicht mehr zu ihnen gehörte, und die anderen waren auch nicht gerade begeistert gewesen. Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Sie alle fühlten sich nicht wohl in Gegenwart einer Frau, die eine Dämpfung hinter sich hatte.

Es gab auch für Elayne im Moment nichts zu tun. Die Aes Sedai mochten dies vielleicht als Lektion bezeichnen und betrachteten es möglicherweise wirklich als solche, aber sie wußte aus Erfahrung, wenn sie ungebeten versuchte, sie weiter zu unterrichten, würde man ihr fast den Kopf dafür abreißen. Sie war dabei, um jede Frage zu beantworten, die die anderen an sie stellen wollten, und sonst gar nichts. So stellte sie sich einen Hocker vor. Der erschien prompt, mit in Rankenform geschnitzten Beinen. Sie setzte sich hin und wartete. Ein Stuhl wäre bequemer gewesen, würde aber wieder Kritik hervorrufen. Wenn eine Aufgenommene es sich bequem machte, nahman von ihr an, sie habe nicht genug zu tun. Einen Augenblick später ließ Siuan einen beinahe identischen Hocker erscheinen. Sie lächelte Elayne etwas gezwungen zu und schnitt den Rücken der Aes Sedai eine Grimasse.

Als Elayne dieses Zimmer in Tel'aran'rhiod zum erstenmal betreten hatte, hatte vor dem schweren Schreibtisch ein Dutzend oder mehr solcher Hocker im Halbkreis gestanden. Bei jedem Besuch waren es weniger gewesen, und jetzt stand keiner mehr dort. Sie war sicher, daß das eine Bedeutung haben mußte, doch welche, das konnte sie sich nicht vorstellen. Sie zweifelte nicht daran, daß es auch Siuan aufgefallen war. Vermutlich hatte die schon einen Grund im Kopf, dachte aber nicht daran, ihre Überlegungen mit Nynaeve oder Elayne zu teilen.

»Die Kampfhandlungen in Schienar und Arafel haben stark nachgelassen«, murmelte Sheriam mehr in sich selbst hinein, »aber es steht immer noch nichts drin, warum sie überhaupt begannen. Auch wenn es nur bloße Scharmützel waren, kämpfen doch die Menschen der Grenzlande nicht gegeneinander. Sie haben schließlich die Fäule im Nacken.« Sie kam aus Saldaea, und Saldaea gehörte zu den Grenzlanden.

»Wenigstens bleibt es in der Fäule noch ruhig«, sagte Myrelle. »Beinahe zu ruhig. Das kann nicht andauern. Es ist schon gut, daß Elaida in den Grenzlanden genug Augen und Ohren besitzt.« Siuan brachte eine Mischung aus schuldbewußtem und gleichzeitig wütendem Blick hervor, mit dem sie die Aes Sedai bedachte. Elayne glaubte nicht, daß sie bisher den Kontakt mit ihren Agenten in den Grenzlanden wieder aufgenommen hatte. Der Weg nach Salidar war eben sehr weit.

»Ich würde mich wohler fühlen, wenn man von Tarabon dasselbe behaupten könnte.« Das Blatt in Beonins Hand wurde länger und breiter. Sie blickte darauf nieder, schnaubte, und warf es weg.

»Die Augen-und-Ohren in Tarabon, sie schweigen immer noch. Allesamt. Die einzige Nachricht aus Tarabon, die sie bekommen hat, besteht aus Gerüchten von Amadicia her, daß Aes Sedai in den Krieg verwickelt seien.« Sie schüttelte den Kopf über den absurden Vorgang, solche Gerüchte überhaupt zu Papier zu bringen. Aes Sedai ließen sich nicht in Bürgerkriege verwickeln. Jedenfalls nicht so offensichtlich, daß man es bemerken würde. »Und wie es scheint, liegen auch aus Arad Doman kaum mehr als eine Handvoll ziemlich verwirrender Berichte vor.«

»Im Falle Tarabons werden wir selbst bald genug Bescheid wissen«, sagte Sheriam beruhigend. »Nur noch ein paar Wochen.«

Die Suche ging noch stundenlang weiter. Die Dokumente wurden nie knapp, und das lackierte Kästchen war nie leer. Manchmal nahm sogar der Inhalt zu, wenn irgendein Schriftstück entnommen wurde. Natürlich blieben nur die kürzesten Schriftstücke lang genug stabil, um sie ganz lesen zu können, aber gelegentlich fanden sie im Kasten einen Brief oder einen Bericht wieder, den sie schon einmal überflogen hatten. Lange Zeitspannen über herrschte nur Schweigen, aber dazwischen rief das eine oder andere Schriftstück doch Kommentare hervor, und ein paarmal diskutierten die Aes Sedai sogar heftig. Siuan begann aus Langeweile mit einem Fadenspiel, und schien sich dabei so auf ihre Fingerfertigkeit zu konzentrieren, daß sie augenscheinlich auf nichts anderes mehr achtete. Elayne wünschte, sie könne das auch, oder noch besser, sie habe ein Buch zum Lesen in Händen — prompt erschien ein Buch auf dem Boden zu ihren Füßen, Die Reisen des Jain Fernstreicher, bevor sie es schnell wieder verschwinden ließ — aber man ließ den Frauen, die sowieso keine Aes Sedai waren, mehr Freiheiten als solchen, die zu Aes Sedai ausgebildet wurden. Trotzdem, beim Zuhören erfuhr sie auch einige interessante Dinge.

Eine Einmischung der Aes Sedai in Tarabon war nicht das einzige Gerücht dieser Art, das seinen Weg auf Elaidas Schreibtisch gefunden hatte. So schien den Gerüchten zufolge der Rückzug der Weißmäntel auf Befehl Pedron Nialls alle möglichen Gründe zu haben, von der Absicht, den Thron Amadicias zu erringen — was bestimmt nicht mehr nötig war — bis hin zu der Vermutung, er wolle die Bürgerkriege und die Anarchie in Tarabon und Arad Doman unterdrücken und Rand unterstützen! Elayne würde das erst glauben, wenn die Sonne im Westen aufging. Es gab Berichte über eigenartige Vorkommnisse in Illian und Cairhien und vielleicht noch in anderen Gebieten, aber nur diese fanden sie im Moment unter den Papieren, daß ganze Dörfer vom Wahnsinn erfaßt worden seien, Alpträume bei Tageslicht durch die Straßen wandelten, doppelköpfige Kälber, die sogar sprechen konnten, sollten angeblich geboren worden sein, und Schattenwesen tauchten plötzlich aus heiterem Himmel auf. Sheriam und die beiden anderen übergingen diese Berichte leichthin. Die gleiche Art von unmöglichen Geschichten war auch aus Teilen von Altara und Murandy und über den Fluß weg aus Amadicia bis nach Salidar gedrungen. Die Aes Sedai taten das als pure Hysterie unter den Menschen ab, die vom Wiedergeborenen Drachen erfahren harten. Elayne war sich da nicht so sicher. Sie hatte Dinge erlebt, von denen die Aes Sedai nichts wußten, trotz all ihrer Erfahrung und ihres fortgeschrittenen Alters. Von ihrer Mutter sagten Gerüchte, sie stelle im Westen Andors ein Heer zusammen, und das ausgerechnet auch noch unter der uralten Flagge von Manetheren! Andere wiederum besagten, Rand halte sie gefangen oder sie fliehe von einem Land ins andere, einschließlich der Grenzlande und Amadicias, wobei letzteres ja absolut undenkbar war. Offensichtlich glaubte man in der Burg nichts von alledem. Elayne wünschte, sie wüßte, was sie nun glauben könne.

Sie hörte auf, sich über den wirklichen Verbleib ihrer Mutter Gedanken zu machen, als sie vernahm, daß Sheriam ihren Namen nannte. Sie sprach nicht mit ihr, sondern las nur hastig etwas auf einem quadratischen Blatt, aus dem schnell eine lange Pergamenturkunde mit drei Siegeln am unteren Ende wurde. Elayne Trakand sollte unter allen Umständen aufgespürt und in die Burg zurückgebracht werden. Sollte dabei noch mehr Schlamperei vorkommen, werde es den Versagern so ergehen, daß sie »diese Macura-Frau beneiden« würden. Das ließ Elayne einen Schauer über den Rücken laufen. Auf ihrem Weg nach Salidar hätte eine Frau namens Ronde Macura es um ein Haar fertiggebracht, sie und Nynaeve wie die Wäschebündel in die Wäscherei zur Burg schleppen zu lassen. Wie Sheriam vorlas, sei »das Herrscherhaus Andors der Schlüssel«, was nicht viel Sinn ergab. Wozu sollte dieser Schlüssel dienen?

Keine der drei Aes Sedai warf auch nur einen Blick in ihre Richtung. Sie tauschten lediglich Blicke und fuhren mit ihrer Suche fort. Vielleicht hatten sie ihre Anwesenheit vergessen, vielleicht auch nicht. Aes Sedai machten, was sie wollten. Sollte man sie vor Elaida abschirmen, war das die Entscheidung der Aes Sedai, und sollten sie sich aus irgendeinem Grund entschließen, sie an Händen und Füßen gefesselt Elaida auszuliefern, war das auch ihre Angelegenheit. »Die Forelle fragt den Frosch nicht nach seiner Meinung, bevor sie zuschnappt«, hatte Lini ihren Erinnerungen zufolge gesagt.

Elaidas Reaktion auf die von Rand erlassene Amnestie ließ sich am Zustand des entsprechenden Berichts ablesen. Elayne sah sie beinahe vor sich, wie sie das Blatt in ihrer Faust zerknüllte und es zerreißen wollte, es dann jedoch in eisiger Stimmung wieder glättete und in das Kästchen legte. Elaidas Wutanfälle waren stets eiskalt und nicht hitzig wie bei anderen. Sie hatte keine Notiz auf dieses Dokument geschrieben, aber auf ein anderes hatte sie einen beißenden Kommentar gekritzelt. Dort wurden die Aes Sedai in der Burg einzeln aufgelistet. Aus ihren Worten ging hervor, daß sie beinahe schon soweit war, öffentlich zu erklären, alle, die ihrem Befehl zur Rückkehr in die Burg nicht Folge leisteten, seien Verräterinnen. Sheriam und die anderen beiden sprachen ganz gelassen über diese Möglichkeit. Wie viele Schwestern dem Befehl auch nachkommen würden, einige würden jedenfalls einen weiten Weg zurücklegen müssen und andere hatten den Aufruf vermutlich noch nicht einmal erhalten. Jedenfalls würde eine solche öffentliche Erklärung aller Welt bestätigen, daß die Burg gespalten war. Elaida mußte ja fast schon von Panik ergriffen sein, wenn sie eine solche Möglichkeit überhaupt in Betracht zog, oder aber vollkommen durchgedreht vor Wut.

Etwas Kaltes rieselte Elaynes Rücken herunter, und es hatte nichts damit zu tun, daß Elaida nun wütend war oder Angst hatte. Zweihundertundvierundneunzig Aes Sedai befanden sich in der Burg und standen auf Elaidas Seite. Das war fast ein Drittel aller Aes Sedai, beinahe genauso viele, wie sich in Salidar versammelt hatten. Wahrscheinlich war das Beste, was sie in bezug auf die übrigbleibenden erwarten durften, etwa eine Teilung im gleichen Verhältnis. Nach einem großen Ansturm zu Beginn hatte die Anzahl der Neuankömmlinge in Salidar stark abgenommen. Aus dem Strom war ein dünnes Rinnsal geworden. Vielleicht spielte sich in der Burg genau dasselbe ab. Man konnte ja hoffen...

Eine Zeitlang suchten sie schweigend weiter, und dann rief Beonin: »Elaida, sie hat eine Delegation zu Rand al'Thor gesandt!« Elayne sprang auf und wurde gerade noch durch eine hastige Geste Siuans vom Sprechen abgehalten. Die Geste verlor allerdings etwas von ihrer Wirkung, weil Siuan vergessen hatte, zuerst ihr Fadenspiel verschwinden zu lassen.

Sheriam griff nach dem einzelnen Blatt, aber bevor ihre Hand es berührte, wurden drei daraus. »Wo schickt sie die Abordnung hin?« fragte sie zur gleichen Zeit, als Myrelle rief: »Wann haben sie Tar Valon verlassen?« Die Würde bewahrten sie alle nur noch mühsam.

»Nach Cairhien«, sagte Beonin. »Und ich habe nicht gesehen, wann sie loszogen, falls es überhaupt erwähnt wurde. Aber sie werden sich bestimmt nach Caemlyn begeben, sobald sie wissen, wo er sich aufhält.«

Trotzdem war das natürlich gut, denn sie würden etwa einen Monat oder mehr benötigen, um von Cairhien nach Caemlyn zu ziehen. Die Delegation aus Salidar würde sicher früher bei ihm ankommen. Elayne besaß eine zerfledderte Landkarte, die sie in Salidar unter ihre Matratze gesteckt hatte, und darauf hatte sie jeden Tag markiert, wie weit sie ihrer Meinung nach in Richtung Caemlyn vorwärtsgekommen sein konnten.

Die Graue hatte aber noch nicht ausgesprochen. »Wie es scheint, will Elaida ihm ihre Unterstützung anbieten. Und eine Eskorte zur Weißen Burg.« Sheriam zog die Augenbrauen hoch.

»Das ist doch unsinnig!« Myrelles dunkle Wangen liefen rot an. »Elaida gehörte zu den Roten.« Eine Amyrlin gehörte zu allen Ajahs und zu keiner einzelnen mehr, aber natürlich konnte keine so einfach vergessen, woher sie kam.

»Diese Frau würde alles tun«, sagte Sheriam. »Vielleicht findet er die Unterstützung der Weißen Burg verlockend?«

»Können wir Egwene eine Botschaft über die Aielfrauen übermitteln?« schlug Myrelle mit Zweifeln in der Stimme vor.

Siuan hüstelte laut und künstlich, aber nun hatte Elayne wirklich die Nase voll. Egwene vorzuwarnen war natürlich beinahe lebenswichtig, denn Elaidas Leute würden sie garantiert zurück zur Burg schleifen, sollten sie Egwene in Cairhien antreffen, und der Empfang würde alles andere als herzlich ausfallen, aber der Rest...! »Wie könnt Ihr glauben, Rand würde auf irgend etwas hören, was Elaida sagt! Glaubt Ihr etwa, er weiß nicht, daß sie eine Rote Ajah war und was das zu bedeuten hat? Sie werden ihm keineswegs ihre Unterstützung anbieten, und das wißt Ihr genau! Wir müssen ihn warnen!« Darin lag ein gewisser Widerspruch, wie ihr sehr wohl klar war, aber ihre Zunge war ganz in der Gewalt der Sorge. Wenn Rand etwas zustieß, würde sie sterben.

»Und was schlagt Ihr vor, daß wir unternehmen sollen, Aufgenommene?« fragte Sheriam kühl.

Elayne fürchtete, sie wirke wie ein Fisch, weil sie mit offenem Mund dastand. Sie hatte keine Ahnung, was sie antworten sollte. Doch sie wurde mit einemmal durch einen Schrei aus einiger Entfernung gerettet, auf den wortloses Kreischen aus dem Vorzimmer folgten. Sie stand der Tür am nächsten, doch als sie hinausrannte, hatte sie die anderen bereits auf den Fersen.

Das Zimmer war bis auf den Schreibtisch der Behüterin leer, auf dem sauber angeordnete Stapel von Papieren und Halter voll mit Schriftrollen und anderen Dokumenten lagen, und dazu stand noch eine Stuhlreihe an der einen Wand, wo sich die Aes Sedai hinsetzen konnten, während sie auf ein Gespräch mit Elaida warteten. Anaiya, Morvrin und Carlinya waren weg, aber einer der hohen Türflügel auf den Flur hinaus schloß sich gerade. Die verzweifelten Schreie einer Frau drangen durch den schmalen Spalt und wurden abgeschnitten, als die Türe zu war. Sheriam, Myrelle und Beonin rannten Elayne fast über den Haufen, so eilig hatten sie es, auf den Flur hinauszukommen. Sie erschienen wohl leicht verschwommen, beim Aufprall fühlten sie sich aber solide genug an.

»Seid vorsichtig!« schrie Elayne, aber es blieb ihr nichts anderes übrig, als den Rock zu lupfen und ihnen zusammen mit Siuan hinterherzurennen, so schnell es nur ging. Sie betraten eine Szene wie aus einem Alptraum. Buchstäblich.

Etwa dreißig Schritt zu ihrer Rechten erweiterte sich der mit Wandteppichen ausgestattete Korridor zu einer Steinhöhle, die sich bis in die Ewigkeit zu erstrecken schien. Beleuchtet wurde sie in Abständen vom trüben, roten Glühen von vereinzelten Feuern und Fackeln in Wandhaltern. Überall befanden sich Trollocs, große, menschenähnliche Gestalten, deren fast zu menschliche Gesichter von tierischen Schnauzen und Fängen und Schnäbeln verunziert wurden, und auf deren Köpfen Hörner oder fedrige Kämme zu sehen waren. Diejenigen in größerer Entfernung erschienen undeutlicher als die nächsten, nur halb ausgebildete Gestalten, während die nächsten Riesen waren, zweimal so groß wie ein normaler Mann und damit sogar noch größer als die wirklichen Trollocs, alle in Leder und schwarze Dornenpanzer gehüllt, und so heulten und kreischten sie beim Tanz um Lagerfeuer und Suppenkessel, die an Gestellen und seltsam verzerrten Rahmen und Metallgerüsten hingen.

Es war wirklich ein Alptraum, wenn auch weitaus größer, als Elayne es bisher von Egwene oder den Weisen Frauen vernommen hatte. Einmal von dem schlafenden Verstand befreit, der ihn erschaffen hatte, trieben solche Dinge manchmal ziellos durch die Welt der Träume, und gelegentlich blieben sie an einem bestimmten Fleck haften. Die Traumgängerinnen der Aiel zerstörten jeden ganz selbstverständlich, wenn sie auf einen stießen, aber sie und Egwene hatten ihr geraten, das beste sei, jeden ganz zu meiden, den sie irgendwo antraf. Unglücklicherweise hatte Carlinya offensichtlich nicht hingehört, als sie und Nynaeve ihnen das erklärten.

Die Weiße Schwester hing an Händen und Füßen gebunden mit dem Kopf nach unten an einer Kette, die in der Dunkelheit über ihnen verschwand. Elayne sah das Glühen Saidars um sie herum, und doch wand sich Carlinya verzweifelt und schrie, als sie langsam mit dem Kopf voran in einen großen, schwarzen Kessel voll blasenschlagenden, kochenden Öls gesenkt wurde. In dem Augenblick, als Elayne in den Korridor hinausrannte, standen Anaiya und Morvrin genau an der Grenze, wo aus dem Flur plötzlich eine Höhle wurde. Nur einen Herzschlag lang standen sie dort, und dann plötzlich schienen sich ihre verschwommenen Gestalten auf die Grenze zu in die Länge zu ziehen wie Rauch, der in einen Schornstein hineingesaugt wird. Kaum hatten sie die Grenze berührt, befanden sie sich auch schon drinnen. Morvrin schrie, als zwei Trollocs an großen Eisenrädern drehten, die sie immer weiter streckten. Immer dünner schien sie so zu werden. Anaiya dagegen hing gefesselt an ihren Handgelenken, und um sie herum tanzten Trollocs und schlugen mit Peitschen, deren Schnüre mit Metallspitzen versehen waren, auf sie ein. Die Peitschen rissen lange Streifen aus ihrem Kleid.

»Wir müssen uns verknüpfen«, sagte Sheriam, und das Glühen, das sie umgab, verschmolz mit dem um Myrelle und Beonin. Aber selbst so verstärkt erschien es blaß dem Strahlen gegenüber, das eine einzelne Frau in der wachenden Welt umgab, eine Frau, die eben nicht nur ein verschwommener Traum war.

»Nein!« schrie Elayne verzweifelt. »Ihr dürft dies nicht als real anerkennen! Ihr müßt es als...« Sie packte Sheriam am Arm, aber der Strang aus Feuer, den die drei gewoben hatten, so schwach er auch trotz ihrer Verknüpfung war, berührte die Trennlinie zwischen Traum und Alptraum. Das Gewebe verschwand augenblicklich, als sei es von dem Alptraum absorbiert worden, und im gleichen Augenblick verzerrten sich die Gestalten der drei Aes Sedai wie feiner Nebel, der vom Wind erfaßt wird. Sie hatten gerade noch Zeit erschrocken aufzuschreien, bevor sie die Grenzlinie berührten und verschwanden. Sheriam erschien im Innern wieder. Ihr Kopf ragte aus einer düsteren Metallglocke heraus. Trollocs legten Hebel und Handgriffe an der Außenseite um, und Sheriams rotes Haar flog wild, als sie immer gellender schrie. Von den anderen beiden war nichts zu sehen, aber Elayne glaubte weitere Schreie aus einiger Entfernung wahrnehmen zu können. Irgend jemand heulte »Nein!«, immer und immer wieder, während eine andere Stimme um Hilfe rief.

»Erinnert Ihr euch daran, was wir Euch sagten, wie man einen Alptraum vertreibt?« fragte Elayne.

Die Blick auf die gleiche Szene vor ihnen gerichtet, rückte Siuan. »Die Wirklichkeit einfach nicht anerkennen.

Versuchen, sich die Szene vorzustellen, wie sie ohne den Alptraum aussähe.«

Das war nun Sheriams Fehler gewesen, vielleicht auch der aller Aes Sedai hier. Indem sie versuchten, die Macht gegen den Alptraum einzusetzen, hatten sie ihn als real anerkannt, und diese Bereitschaft hatte sie hineingezogen, als wären sie von selbst hineingelaufen, und würde sie dort hilflos binden, wenn sie sich nicht an das erinnerten, was sie vergessen harten. Es gab aber kein Anzeichen dafür. Die gellenden Schreie bohrten sich tief in Elaynes Gehör.

»Der Korridor«, murmelte sie nun und versuchte, sich das Bild des Flurs vorzustellen, wie sie ihn zuletzt gesehen hatte. »Denkt an den Korridor, so, wie Ihr euch an ihn erinnert.«

»Versuche ich ja, Mädchen«, grollte Siuan. »Es funktioniert aber nicht.«

Elayne seufzte. Siuan hatte recht. Keine Einzelheit der Szene, die sie vor sich sahen, begann auch nur zu verschwimmen. Sheriams Kopf vibrierte richtiggehend über der Metallglocke, die den Rest von ihr umhüllte. Morvrins Heulen wurde durch röchelndes Luftholen unterbrochen. Elayne bildete sich fast ein, hören zu können, wie die Gelenke der Frau knackend auseinandergezerrt wurden. Carlinyas Haar, das unter sie herunterhing, berührte fast die brodelnde Oberfläche des kochenden Öls. Zwei Frauen reichten einfach nicht. Der Alptraum war zu groß.

»Wir brauchen die anderen«, sagte sie.

»Leane und Nynaeve? Mädchen, wenn wir wüßten, wo wir sie finden können, wären Sheriam und die anderen tot, bis...« Sie brach ab und starrte Elayne an. »Ihr meint doch nicht Leane und Nynaeve, oder? Ihr meint Sheriam und...« Elayne nickte lediglich; sie fürchtete sich zu sehr, um weiterzusprechen. »Ich glaube nicht, daß sie uns von dort aus hören oder sehen können. Die Trollocs haben nicht einmal in unsere Richtung geblickt. Das bedeutet, wir müssen es von innen her probieren.« Elayne nickte wieder. »Mädchen«, sagte Siuan mit tonloser Stimme, »Ihr habt den Mut eines Löwen und den Verstand eines Kormorans.« Schwer seufzend fügte sie hinzu: »Aber ich sehe auch keinen anderen Weg.«

Elayne pflichtete ihr insgeheim in bezug auf alles bis auf den Mut bei. Hätte sie nicht die Knie ganz eng aneinandergepreßt, läge sie vermutlich zusammengebrochen auf den Fußbodenfliesen, die in allen Farben der Ajahs gehalten waren. Ihr wurde bewußt, daß sie ein Schwert in der Hand hielt, eine große, schimmernde Stahlklinge, völlig nutzlos, und hätte sie denn gewußt, wie man damit umgeht. Sie ließ es fallen, und es verschwand, bevor es auf dem Boden aufschlug. »Abwarten hilft uns auch nicht weiter«, knurrte sie. Noch etwas länger, und das bißchen Mut, das sie mühsam genug zusammengebracht hatte, wäre verflogen.

Gemeinsam schritten Siuan und sie der Grenzlinie zu. Elaynes Fuß berührte diese Trennlinie, und mit einemmal spürte sie, wie sie hineingezogen wurde, so wie Wasser durch ein Rohr.

Im ersten Moment befand sie sich noch im Flur und blickte zu den Schrecken auf der anderen Seite hinüber, und im nächsten lag sie auf dem Bauch auf unbehauenen grauen Steinen, Handgelenke und Beine gefesselt und hinten bis zu ihrem Kreuz hochgezogen, und die Schrecken spielten sich um sie herum ab. Die Höhle erstreckte sich endlos in alle Richtungen und der Korridor der Burg schien nicht mehr zu existieren. Schreie erfüllten die Luft und hallten von den Felswänden und der Höhlendecke mit ihren tropfenden Stalaktiten wider. Ein paar Schritt von ihr entfernt stand ein riesiger schwarzer Kessel dampfend über einem tosenden Feuer. Ein Trolloc mit Bärenschnauze und Hauern warf Klumpen hinein, die aus irgendwelchen unidentifizierbaren Wurzeln zu bestehen schienen. Ein Kochtopf. Trollocs fraßen alles. Einschließlich Menschen. Sie stellte sich ihre Hände und Füße frei vor, doch das grobe Seil grub sich immer noch in ihre Haut. Selbst der blasseste Schatten von Saidar war verflogen, und die Wahre Quelle existierte nicht mehr für sie, jedenfalls hier. Es war tatsächlich ein Alptraum, und sie war darin wirklich und wahrhaftig gefangen.

Siuans Stimme schnitt durch die Schreie. Sie klang allerdings eher nach einem schmerzvollen Stöhnen. »Sheriam, hört mir zu!« Das Licht allein mochte wissen, was man ihr gerade antat. Elayne konnte keine der anderen sehen. Nur hören. »Das ist ein Traum! Aaah ... uaaaaah! D-denkt daran, wie es eigentlich sein sollte!«

Elayne nahm den Ruf auf. »Sheriam! Anaiya! Wer mich hören kann, hört zu! Ihr müßt Euch den Korridor vorstellen, wie er vorher war! Wie er wirklich aussieht! Das hier ist nur real, solange Ihr daran glaubt!« Sie stellte sich ganz fest das Bild des Korridors vor, bunte Fliesen in sauberen Reihen und vergoldete Lampenständer und Wandbehänge in leuchtenden Farben. Nichts änderte sich. Die Schreie hallten immer noch von den Wänden wider »Ihr müßt an den Korridor denken! Behaltet das Bild im Kopf, dann wird es auch zur Wirklichkeit. Ihr könnt damit fertigwerden, wenn Ihr euch anstrengt!« Der Trolloc blickte sie an. Mittlerweile hatte er ein Messer mit scharfer, spitzer Klinge in der Hand. »Sheriam, Anaiya, Ihr müßt Euch konzentrieren! Myrelle, Beonin, konzentriert Euch auf den Korridor!« Der Trolloc hievte sie herum, so daß sie auf der Seite lag. Sie versuchte, sich wegzuwinden, aber ein mächtiges Knie hielt sie mühelos fest, während das Ding begann, ihre Kleidung aufzuschlitzen, wie ein Jäger das erlegte Wild abhäutete. Verzweifelt bewahrte sie das Bild des Korridors im Geist. »Carlinya, Morvrin, bei der Liebe zum Licht, konzentriert Euch! Denkt an den Korridor! Den Korridor! Ihr alle! Denkt ganz fest daran!« Der Trolloc knurrte etwas in einer harten Sprache, die nicht für menschliche Kehlen geeignet war, und drehte sie mit einer kurzen Bewegung auf den Bauch zurück. Dann kniete er sich auf sie. Seine dicken Knie drückten ihr die Arme auf den Po. »Der Korridor!« kreischte sie. Er packte mit seinen schweren Fingern ihr Haar und riß ihren Kopf hoch. »Der Korridor! Denkt an den Korridor!« Die Klinge des Trollocs berührte ihren weit vorgestreckten Hals unterhalb des linken Ohrs. »Der Korridor! Der Korridor!« Die Klinge begann zu schneiden.

Plötzlich blickte sie auf bunte Bodenfliesen unter ihrer Nase nieder. Schnell umfaßten ihre Hände ihren Hals, wobei sie glücklich war, sie wieder frei bewegen zu können, und dann fühlte sie Feuchtigkeit. So hielt sie sich die Finger vors Gesicht und sah sie an. Blut, aber nur ein kleiner Schmierer. Sie schauderte. Hätte dieser Trolloc es geschafft, ihr die Kehle durchzuschneiden... Keine Heilkunst hätte ihr dann noch helfen können. Erneut schaudernd, stemmte sie sich langsam hoch. Sie befand sich wieder im Flur der Weißen Burg außerhalb des Büros der Amyrlin, und keine Spur der Trollocs oder der Höhle war mehr zu sehen.

Siuan war auch da. Sie wirkte wie eine Anhäufung von Schwellungen und Schrammen, die man in ein zerrissenes Kleid gesteckt hatte. Und da waren auch die Aes Sedai, verschwommene, zerfledderte Gestalten. Carlinya sah noch am besten aus. Sie stand zitternd und mit weit aufgerissenen Augen da und befühlte ihr dunkles Haar, das nun als struppiger Rest eine Handbreit von ihrem Kopf entfernt endete. Sheriam und Anqaiya kamen ihr wie weinende Häufchen blutverschmierter Lumpen vor. Myrelle krümmte sich mit totenblassem Gesicht zusammen, nackt nur von langen roten Kratzern und Striemen bedeckt. Morvrin stöhnte bei jeder Bewegung, und sie bewegte sich auch völlig unnatürlich, als funktionierten ihre Gelenke nicht mehr richtig, Beonins Kleid schien in Fetzen gerissen worden zu sein, und sie lag schwer atmend auf den Knien, mit noch weiter aufgerissenen Augen als sonst. Wahrscheinlich stützte sie sich so an der Wand ab, weil sie sonst umgekippt wäre.

Plötzlich fiel Elayne auf, daß ihr das eigene Kleid und sogar das Unterhemd von den Schultern hing, an der Vorderseite säuberlich aufgeschnitten. Ein Jäger, der einen erlegten Hirsch abzieht. Sie zitterte so sehr, daß sie beinahe gestürzt wäre. Die Kleidung wieder zu reparieren war eine einfache Sache und erforderte nur einen Gedanken, aber sie wußte nicht, wie lange es dauern würde, ihre Erinnerungen zu reparieren.

»Wir müssen zurück«, sagte Morvrin, die schwerfällig zwischen Sheriam und Anaiya niederkniete. Trotzdem sie steif wirkte und immer wieder ächzte, klang sie so zuverlässig und beruhigend wie immer. »Hier ist Heilung mit Hilfe der Macht notwendig, und in diesem Zustand kann das keine von uns.«

»Ja.« Carlinya berührte wieder ihr kurzes Haar. »Ja, es ist wohl am besten, wir kehren nach Salidar zurück.« Ihre Stimme war eine entschieden unsichere Imitation ihrer sonstigen Kälte.

»Ich werde noch eine kleine Weile bleiben, falls niemand etwas dagegen hat«, sagte Siuan zu ihnen. Oder besser, sie schlug es in diesem unpassenden, demütigen Tonfall vor. Ihr Kleid war wieder ganz, aber die Striemen blieben. »Ich kann vielleicht noch ein paar nützliche Dinge in Erfahrung bringen. Ich habe nicht viel mehr abbekommen als ein paar Beulen, und da habe ich Schlimmeres erlebt, wenn ich in einem Boot gestürzt bin.«

»Ihr seht eher so aus, als habe Euch jemand ein Boot auf den Kopf fallen lassen«, erwiderte Morvrin, »aber Ihr habt die Wahl.«

»Ich bleibe auch noch«, sagte Elayne. »Ich kann Siuan helfen, und ich habe überhaupt keine Verletzungen.« Sie war sich des Schnitts an ihrer Kehle jedesmal bewußt, wenn sie schlucken mußte.

»Ich brauche keine Hilfe«, sagte Siuan, doch gleichzeitig stellte Morvrin mit noch energischerer Stimme fest: »Ihr habt Euch heute nacht ausgezeichnet bewährt und kühlen Kopf bewahrt, Kind. Verderbt diesen Eindruck jetzt nicht. Ihr kommt mit uns.«

Elayne rückte mürrisch. Streiten würde ihr auch nichts einbringen — höchstens Küchendienst. Man hätte glauben können, die Braune Schwester sei hier die Lehrerin und Elayne die Schülerin. Sie dachten wahrscheinlich, sie sei auf die gleiche Art in den Alptraum gestolpert wie sie selbst. »Denkt daran, Ihr könnt aus jedem Traum direkt in Euren eigenen Körper entkommen. Ihr müßt nicht zuerst nach Salidar zurückkehren.« Sie konnte nicht feststellen, ob die Aes Sedai überhaupt zugehört hatten, Morvrin hatte sich sofort abgewandt, als sie bestätigend nickte.

»Nur mit der Ruhe, Sheriam«, sagte die mollige Frau beruhigend. »Wir sind in ein paar Augenblicken wieder in Salidar. Keine Angst, Anaiya.« Sheriam hatte wenigstens mit Weinen aufgehört, obwohl sie noch vor Schmerzen stöhnte. »Carlinya, helft Ihr bitte Myrelle? Seid Ihr bereit, Beonin? Beonin?« Die Graue hob den Kopf und sah Morvrin einen Augenblick verständnislos an, bevor sie nickte.

Die sechs Aes Sedai verschwanden.

Nach einem letzten Blick auf Siuan, kam ihnen Elayne sofort nach, doch nach Salidar sprang sie keineswegs. Bestimmt würde jemand kommen und sich um den Schnitt an ihrer Kehle kümmern, falls sie ihn überhaupt bemerkt hatten, aber eine Weile lang würden sie sich ausschließlich um sechs Aes Sedai kümmern, die beim Aufwachen aussehen würden, als habe man sie durch einen riesigen Fleischwolf gedreht. Diese paar Minuten hatte Elayne noch, und außerdem ein ganz anderes Ziel im Kopf.

Der Große Saal im Palast ihrer Mutter in Caemlyn tauchte nicht so einfach wie gebeten vor ihr auf. Sie hatte ein Gefühl, als müsse sie erst einen Widerstand überwinden, bis sie auf den roten und weißen Fliesen unter dem großen Kuppeldach stand, mitten unter Reihen massiver weißer Säulen. Noch einmal schien von überall und nirgendwoher ein fahler Lichtschein zu kommen.

Die riesigen Fenster ganz oben, auf denen der Weiße Löwe von Andor abwechselnd mit den frühesten Königinnen und Szenen großer andoranischer Siege zu sehen waren, erschienen ihr der Nacht draußen wegen dunkel und unklar.

Sofort wurde ihr die Veränderung klar, von der sie wußte, daß sie zu diesem Widerstand geführt hatte. Auf dem Podest an der Kopfseite des Saals, wo der Löwenthron hätte stehen sollen, stand statt dessen eine grandiose Monstrosität, aus goldfunkelnden Drachen bestehend mit roten Emailleschuppen und strahlenden Sonnensteinen an Stelle der Augen. Man hatte den Thron ihrer Mutter aber nicht aus dem Saal entfernt. Er stand noch einmal ein Stück höher hinter dieser Monstrosität und ragte somit über ihr auf.

Elayne schritt langsam durch den Saal und die weißen Marmorstufen hinauf, wo sie den vergoldeten Thron der andoranischen Königinnen betrachtete. Der Weiße Löwe von Andor, mit Mondperlen auf einem Feld aus Rubinen hoch oben an der Rückenlehne klar umrissen, hätte sich normalerweise gerade über dem Kopf ihrer Mutter befunden.

»Was machst du da, Rand al'Thor!« flüsterte sie heiser. »Was glaubst du eigentlich, was du da tust?«

Sie hatte furchtbare Angst, daß er ohne ihre Hilfe alles verderben würde, weil sie ihn nicht vor allen Fußangeln warnen konnte. Sicher, mit den Tairenern war er gut fertiggeworden, und offensichtlich auch mit den Adligen Cairhiens, aber ihr Volk war anders, offen und geradeheraus, und sie haßten es, wenn man sie wie Marionetten behandelte oder gar zu etwas zwingen wollte. Was in Tear oder Cairhien funktioniert hatte, konnte hier zu einer Explosion führen, als sei die gesamte Gilde der Feuerwerker tätig geworden.

Wenn sie nur bei ihm sein könnte. Wenn sie ihn nur in Bezug auf die Delegation der Weißen Burg vorwarnen könnte. Elaida hatte bestimmt irgendeine List im Sinn, eine Falle, die zuschnappen würde, wenn er sie am wenigsten erwartete. War er dann vernünftig genug, um sie kommen zu sehen? Außerdem hatte sie ja auch keine Ahnung, welchen Auftrag die Delegation aus Salidar zu erfüllen hatte. Trotz Siuans Mühe waren die meisten Aes Sedai in Salidar ziemlich gespaltener Ansicht in bezug auf Rand al'Thor. Er war wohl der Wiedergeborene Drache, derjenige, von dem man weissagte, er sei der Retter der Menschheit, doch andererseits war er ein Mann, der die Macht lenken konnte, und damit zum Wahnsinn verdammt, verflucht dazu, Tod und Zerstörung über die Welt zu bringen.

Paß gut auf ihn auf, Min, dachte sie. Gehe schnell zu ihm und dann behüte ihn wohl.

Wie ein Stich durchfuhr sie die Eifersucht, daß Min bei ihm sein und das tun durfte, was sie eigentlich tun wollte. Vielleicht mußte sie ihn wirklich teilen, aber wenigstens einen Teil von ihm würde sie auf jeden Fall ganz für sich behalten. Und sie würde ihn als Behüter an sich binden, gleich, welchen Preis sie dafür zu zahlen hatte.

»Es wird vollbracht werden.« Sie streckte eine Hand nach dem Löwenthron aus, um so zu schwören, wie alle Königinnen geschworen hatten, seit es den Staat Andor gab. Das Podest war zu hoch für sie, um das Holz des Thrones fühlen zu können, doch die gute Absicht war doch wohl, was zählte. »Es wird vollbracht werden.«

Die Zeit wurde knapp. In Salidar würde nun bald eine Aes Sedai kommen, um sie zu wecken und den armseligen Kratzer an ihrer Kehle mit Hilfe der Macht zu heilen. Seufzend trat sie aus dem Traum heraus in ihren Körper.

Demandred kam hinter einer der Säulen des Großen Saals hervor und blickte nachdenklich zu den beiden Thronen und dem Fleck hinüber, an dem das Mädchen verschwunden war. Elayne Trakand, wenn er sich nicht vollkommen irrte, und dem verschwommenen Anblick nach zu urteilen, benutzte sie einen kleinen Ter'Angreal, wie man ihn zur Ausbildung von Anfängern unter Studenten verwendet hatte. Er hätte viel darum gegeben, zu wissen, was in ihr vorging, aber ihre Worte und der Gesichtsausdruck waren eindeutig genug. Es gefiel ihr nicht, ganz und gar nicht, was al'Thor hier tat, und sie hatte vor, etwas dagegen zu unternehmen. Eine willensstarke junge Frau, wie er annahm. Auf jeden Fall hatte er damit einen weiteren Faden aus dem Durcheinander entwirrt, wenn auch vielleicht nur einen ganz unbedeutenden.

»Laßt den Herrn des Chaos regieren«, sagte er zu den Thronen — obwohl ihm immer noch nicht klar war, warum das eigentlich notwendig sei —, und dann öffnete er ein Tor, um Tel'aran'rhiod wieder zu verlassen.

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