Mit dem Drachenszepter auf den Knien saß Rand entspannt auf dem Drachenthron. Oder zumindest tat er so, als sitze er gemütlich da. Throne waren nicht zur Entspannung geschaffen, und dieser am wenigsten von allen, wie es schien, und doch faßte auch diese Tatsache nur einen Teil seiner Schwierigkeiten zusammen. Auch, daß er Alanna ständig wahrnahm, war nur ein Teil, obwohl das Gefühl ihn andauernd irritierte. Falls er das den Töchtern sagte, würden sie... Nein. Wie konnte er auch nur daran denken? Er hatte sie genügend eingeschüchtert, damit sie sich zurückhielt. Sie hatte noch nicht einmal versucht, die Innenstadt zu betreten. Er würde es wissen, wenn sie das tat. Nein, im Augenblick war Alanna eine noch geringere Sorge als das völlig unzureichende Sitzkissen.
Trotz des silbergeschmückten blauen Kurzmantels, den er bis zum Kragen zugeknöpft hatte, konnte ihm die Hitze nichts anhaben. Er beherrschte Taims Trick mittlerweile wirklich gut. Doch wenn reine Ungeduld Schweiß hervorriefe, hätte er jetzt tropfen müssen, als sei er gerade aus einem Fluß gestiegen. Sich körperlich abzukühlen, stellte kein Problem mehr dar. Im Gegensatz zum Stillsitzen. Er hatte vor, Elayne Andor vollständig und ohne größere Schäden zu übergeben, und heute morgen würde er den ersten größeren Schritt tun, um das sicherzustellen. Falls sie jemals ankamen.
»...und außerdem«, sagte der hochgewachsene, knochige Mann, der vor dem Thron stand, mit monotoner Stimme, »eintausendvierhundertundreiundzwanzig Flüchtlinge aus Murandy, fünfhundertsiebenundsechzig aus Altara und einhundertneun aus Illian. Soweit die Volkszählung innerhalb des eigentlichen Stadtgebiets bis heute ermitteln konnte, muß ich dazu sagen.« Die wenigen Büschel grauen Haars, die Halwin Norry geblieben waren, standen hinter seinen Ohren steif wie Schreibfedern empor, was gut zu ihm paßte, denn er war Morgases Hauptbuchhalter gewesen. »Ich habe für die Zählung dreiundzwanzig weitere Schreiber eingestellt, aber ihre Anzahl ist dem Ansturm immer noch keineswegs gewachsen und...«
Rand hörte nicht mehr hin. Er war wohl dankbar dafür, daß der Mann nicht wie so viele andere weggelaufen war, aber er war nicht sicher, ob für Norry irgend etwas anderes existierte als die Zahlen in seinen Büchern. Er verlas die Anzahl der Todesfälle während der Woche und den Preis der Zwiebeln, die vom Land herangeschafft wurden, im gleichen trockenen Tonfall und ordnete die täglichen Bestattungen von mittellosen, alleinstehenden Flüchtlingen genauso teilnahmslos an wie die Einstellungen von Steinmetzen, die bei der Reparatur der Stadtmauer helfen sollten. Illian war nur ein anderes Land für ihn, nicht der Aufenthaltsort Sammaels, und Rand war eben nur ein weiterer Herrscher.
Wo sind sie? fragte er sich nervös. Warum hat Alanna nicht wenigstens versucht, sich an mich heranzumachen? Moiraine hätte sich niemals so leicht abschrecken lassen.
Wo sind alle die Toten? flüsterte Lews Therin. Warum schweigen sie nicht endlich?
Rand schmunzelte grimmig. Das mußte wohl ein Scherz sein.
Sulin hockte entspannt auf dem Boden an einer Seite des Podestes, auf dem der Thron stand, während der rothaarige Urien auf der anderen Seite saß. Heute warteten zwanzig Aethan Dor, Rote Schilde, zusammen mit den Töchtern unter den Säulen des Großen Saals. Einige hatten das rote Stirnband angelegt. Sie standen herum oder kauerten da oder saßen auf dem Boden; ein paar unterhielten sich leise, aber wie gewöhnlich wirkten sie bereit, innerhalb eines Herzschlags zuzuschlagen; sogar die Töchter und die beiden Roten Schilde, die gerade beim Würfelspiel waren. Mindestens ein Augenpaar schien jederzeit Norry zu beobachten, denn nur wenige Aiel trauten einem Feuchtländer, der Rand so nahe kommen durfte.
Mit einem Mal erschien Bashere an der mächtigen Tür des Saals. Als er nickte, richtete sich Rand auf. Endlich, verdammt noch mal. Die grünweiße Troddel flog, als er eine Geste mit dem drachenbewehrten Seanchanspeer vollführte. »Ehr habt Eure Sache gut gemacht, Meister Norry. Euer Bericht war lückenlos. Ich werde dafür sorgen, daß das Gold zur Verfügung steht, das Ihr benötigt. Doch nun muß ich mich anderen Dingen widmen, wenn Ihr mir das vergeben wollt.«
Dem Mann sah man weder Neugier an, noch war er beleidigt, weil er so plötzlich unterbrochen wurde. Er hörte nur mitten im Satz mit seinem Bericht auf und verbeugte sich, wobei er im gleichen trockenen Tonfall sagte: »Wie der Lord Drache befiehlt«, und trat drei Schritte zurück, bevor er sich umdrehte. Er sah Bashere noch nicht einmal im Vorbeigehen an. Nichts existierte für ihn als seine Hauptbücher.
Ungeduldig nickte Rand Bashere zu und setzte sich hoch aufgerichtet und mit steifem Kreuz auf dem Thron zurecht. Die Aiel verstummten. Nun erschienen sie ihm noch einmal so kampfbereit.
Als der Mann aus Saldaea eintrat, kam er nicht allein. Zwei Männer und zwei Frauen folgten dicht hinter ihm, keiner davon jung, alle in teure Seide und Brokat gehüllt. Sie bemühten sich, so zu tun, als existiere Bashere nicht und beinahe wäre es ihnen auch gelungen, aber bei den wachsamen Aiel unter den Säulen war das etwas anderes. Dyelin mit ihren goldenen Haaren kam lediglich leicht ins Stolpern, doch Abelle und Luan, beide bereits ergraut und mit harten Gesichtern, sahen die in den Cadin'sor gekleideten Gestalten finster an und faßten instinktiv nach den Schwertern, die sie heute nicht gegürtet hatten, während Ellorien, eine mollige, dunkelhaarige Frau, die an sich hübsch gewesen wäre, hätte sie nicht andauernd eine so versteinerte Miene zur Schau getragen, stocksteif stehenblieb und die Aiel anfunkelte, bevor sie sich wieder gefangen hatte und mit einem schnellen Schritt neben den anderen war. Ihr erster ungehinderter Blick auf Rand ließ Bestürzung erkennen, und zwar bei allen vier. Sie tauschten kurze, erstaunte Blicke. Vielleicht hatten sie geglaubt, er sei älter.
»Mein Lord Drache«, verkündete Bashere lauthals, als er vor dem Podest stehenblieb, »Herr des Morgens, Prinz des Sonnenaufgangs, Wahrer Verteidiger des Lichts, vor dem die Welt in Ehrfurcht das Knie beugt, ich präsentiere Euch Lady Dyelin aus dem Hause Taravin, Lord Abelle aus dem Hause Pendar, Lady Ellorien aus dem Hause Traemane und Lord Pelivar aus dem Hause Coelan.«
Da sahen die vier Andoraner denn doch Bashere an, aber nur mit zusammengepreßten Lippen und scharfen Seitenblicken. Es hatte etwas in seiner Stimme gelegen, das klang, als übergebe er Rand vier Pferde. Zu behaupten, sie stünden mit noch steiferem Kreuz da, wäre dasselbe, als behaupte man, Wasser sei nasser geworden, und doch schien es so, als sie zu Rand aufblickten. Vor allem zu Rand. Unwillkürlich wanderten ihre Blicke auch hinüber zum Löwenthron, der auf seinem eigenen Podest hinter seinem Kopf schimmerte und glitzerte.
Er hätte ihnen am liebsten in die empörten Gesichter gelacht. Empört waren sie, aber auch vorsichtig und unwillkürlich auch ein wenig beeindruckt. Er und Bashere hatten gemeinsam diese Liste von Titeln ausgearbeitet, aber das über die Welt, die das Knie vor ihm beugte, war neu und Basheres eigene Erfindung. Den Tip hatte ihm allerdings bereits Moiraine gegeben. Er glaubte fast, ihre silbrige Stimme wieder zu hören. Der erste Eindruck, den Menschen von Euch bekommen, ist derjenige, den sie am längsten in Erinnerung behalten. Das ist die Art der Welt. Ihr könnt von einem Thron zurücktreten, und selbst wenn Ihr Euch dann wie ein Bauer im Schweinestall aufführt, wird ein Teil in jedem dieser Menschen die Erinnerung daran wecken, daß Ihr einst auf einem Thron gesessen habt. Doch wenn sie zuerst nur einen jungen Mann sehen, einen Jungen vom Land, werden sie seine spätere Thronbesteigung ablehnen, selbst wenn es sein gutes Recht ist und ganz gleich, wieviel Macht er besitzt. Also, wenn ein oder zwei Titel den entscheidenden Unterschied ergeben, würde alles ein gutes Stück leichter werden.
Ich war der Herr des Morgens, murmelte Lews Therin. Ich bin der Prinz des Sonnenaufgangs.
Rand verzog nicht das Gesicht. »Ich werde Euch nicht willkommen heißen, denn dies ist Euer Land und der Palast Eurer Königin, aber ich freue mich, daß Ihr meine Einladung angenommen habt,« Nach fünf Tagen und mit nur wenigen Stunden Vorbereitungszeit, aber das erwähnte er nicht. Er erhob sich, legte das Drachenszepter auf den Thron und stieg von dem Podest herab. Mit reserviertem Lächeln — Seid niemals feindselig, außer es muß sein, hatte Moiraine gesagt, aber vor allem dürft Ihr niemals überfreundlich sein. Seid nicht übereifrig. — deutete er auf fünf bequeme Polsterstuhle mit gepolsterten Lehnen, die unter den Säulen im Kreis aufgestellt waren. »Kommt mit mir. Wir unterhalten uns und trinken ein wenig eisgekühlten Wein.«
Sie folgten ihm gezwungenermaßen, wobei sie die Aiel und ihn mit gleicher Neugier musterten, und vielleicht auch mit gleicher Feindseligkeit was sie nur schwerlich verbergen konnten. Als sie alle saßen, kamen lautlos Gai'schain in ihren weißen Kapuzenroben und brachten Wein und goldene Pokale, deren Außenseiten bereits feucht waren von Kondenswasser. Ein weiterer stand mit einem Federfächer hinter jedem Stuhl und wedelte dem dort Sitzenden sanft Kühlung zu. Bei jedem Stuhl außer dem Rands. Sie bemerkten das natürlich, genau wie den fehlenden Schweiß auf seinem Gesicht. Doch auch die Gai'schain schwitzten trotz ihrer langen Gewänder nicht, genausowenig wie die anderen Aiel.
Er beobachtete die Gesichter der Adligen über seinen Pokal hinweg. Die Andoraner waren stolz darauf, anderen gegenüber ehrlicher zu sein als viele, und man hörte sie häufig beteuern, das Spiel der Häuser habe sich in anderen Ländern viel eher durchgesetzt als bei ihnen. Doch sie glaubten nach wie vor, wenn nötig, könnten sie durchaus bei Daes Dae'mar mitspielen.
Das stimmte auch auf gewisse Weise, aber in Wirklichkeit hielten die Adligen Cairhiens und sogar die aus Tear die Andoraner für unfähig, wenn es sich um subtile Intrigen und Gegenintrigen handelte, wie sie im Großen Spiel üblich waren. Diese vier jedenfalls wahrten größtenteils die Fassung, aber wenn jemand sie beobachtete, den Moiraine ausgebildet hatte und der dann auch noch in Tear und Cairhien eine harte Schule durchlaufen hatte, verrieten sie eben doch mit jedem Blick und jeder leichten Änderung ihres Gesichtsausdrucks eine ganze Menge.
Zuerst dämmerte es ihnen, daß kein Stuhl für Bashere bereitstand. Sie tauschten kurze Blicke und ihre Mienen erhellten sich kaum merklich, besonders als sie merkten, daß Bashere aus dem Thronsaal schritt. Alle vier gestatteten sich, ihm einen Blick und ein ganz leichtes, zufriedenes Lächeln hinterherzuschicken. Sie mußten schließlich ein Heer aus Saldaea, das sich in Andor befand, genauso ablehnen wie Naean und die anderen. Nun waren ihre Gedanken ganz offensichtlich: vielleicht hatte dieser Ausländer doch weniger Einfluß, als sie gefürchtet hatten. Also, dieser Bashere war nicht besser als ein altgedienter Lakai behandelt worden!
Dann blinzelte Dyelin ein wenig, beinahe im gleichen Moment wie Luan, während es ihnen die anderen beiden nur einen Moment später nachtaten. Ganz kurz starrten sie Rand an, daß klar war: sie mieden lediglich den Blick zueinander. Bashere war ein Ausländer, doch er war auch Generalfeldmarschall von Saldaea, dreifacher Lord und der Onkel von Königin Tenobia. Wenn Rand ihn schon wie einen Diener behandelte...
»Ausgezeichneter Wein.« Luan blickte in seinen Pokal und zögerte etwas, bevor er hinzufügte: »Mein Lord Drache.« Es klang, als müsse man ihm jedes Wort aus dem Mund ziehen.
»Aus dem Süden«, sagte Ellorien, nachdem sie am Wein genippt hatte. »Ein guter Jahrgang von den Hügeln von Tunaigh. Ein Wunder, daß man dieses Jahr in Caemlyn noch Eis auftreiben kann. Ich habe gehört, daß die Menschen dieses Jahr bereits als das Jahr ohne Winter‹ bezeichnen.«
»Glaubt Ihr, ich würde Zeit und Mühe daran verschwenden, Eis aufzutreiben«, sagte Rand, »wenn die Welt von so vielen Plagen heimgesucht wird?«
Abelles kantiges Gesicht wurde blaß, und er schien sich zum nächsten Schluck zwingen zu müssen. Andererseits leerte Luan seinen Pokal mit voller Absicht in einem Zug und hielt ihn hin, damit ihn ein Gai'schain nachfüllen konnte. Dessen grüne Augen blitzten zornig, ganz im Gegensatz zum Ausdruck des unbeirrt mild lächelnden, sonnengebräunten Gesichts. Feuchtländer zu bedienen war, als sei man ein Diener, und die Aiel verabscheuten auch nur den bloßen Gedanken daran. Wie sich diese Abscheu mit dem Konzept des Gai'schain vertrug, hatte Rand noch nicht herausbekommen, aber es war nun einmal so.
Dyelin hatte ihren Pokal fest auf die Knie gestellt und beachtete ihn nicht mehr. Aus dieser Nähe konnte Rand in ihrem goldenen Haar einige graue Strähnen sehen. Sie war trotzdem hübsch, da sie durch das Haar Morgase und Elayne glich. Als nächste in der Thronfolge mußte sie zumindest eine Cousine Morgases sein und ihr recht nahe stehen. Sie runzelte kurz die Stirn, als sie ihn ansah, und schien den Kopf schütteln zu wollen, doch dann sagte sie: »Wir sind über die Heimsuchungen der Welt besorgt, doch am meisten über diejenigen in Andor. Habt Ihr uns hergeholt, um ein Mittel dagegen zu finden?«
»Falls Ihr eines kennt«, erwiderte Rand schlicht. »Falls nicht, muß ich woanders suchen. Viele glauben, die rechte Kur zu kennen. Wenn ich diejenige nicht finden kann, die mir zusagt, muß ich eben die nächstbeste wählen.« Das ließ sie ihre Lippen verziehen. Auf ihrem Weg hierher hatte Bashere sie durch einen Innenhof geführt, in dem sie Arymilla und Lir und die anderen zurückgelassen hatten, um sich auszuruhen. Es machte den Eindruck, als entspannten sie sich im Palast. »Ich nehme an, Ihr wollt mir helfen, Andor wieder zusammenzufügen. Ihr habt meine Proklamation vernommen?« Er mußte nicht erst sagen, um welche es sich handelte, denn in diesem Zusammenhang konnte nur eine gemeint sein.
»Eine Belohnung, die der erhält, der Neuigkeiten von Elayne bringt«, sagte Ellorien tonlos, und ihre Miene versteinerte sich noch mehr, »die zur Königin gekrönt werden soll, nun, da Morgase tot ist.«
Dyelin nickte. »Das erscheint mir eine gute Sache.«
»Mir nicht!« fauchte Ellorien. »Morgase hat ihre Freunde betrogen und ihre ältesten Anhänger vertrieben. Laßt uns dem Hause Trakand ein Ende auf dem Löwenthron bereiten.« Sie schien Rand vergessen zu haben. Das hatten sie alle.
»Dyelin«, sagte Luan knapp. Sie schüttelte den Kopf, als habe sie all das schon öfters gehört doch er fuhr fort: »Sie hat den ersten Anspruch. Ich stimme für Dyelin.«
»Elayne ist Tochter-Erbin«, sagte ihnen die Frau mit dem goldenen Haar in ruhigem Ton. »Ich stimme für Elayne.«
»Welche Rolle spielt es schon, für wen einer von uns stimmt?« wollte Abelle wissen. »Wenn er Morgase getötet hat, wird er...« Abelle hielt inne und verzog das Gesicht. Dann blickte er Rand an, nicht trotzig, aber herausfordernd, als wolle er sagen: ›Stellt mit mir an, was Ihr wollt. ‹ Und er erwartete wohl auch das Schlimmste.
»Glaubt Ihr das wirklich?« Rand sah den Löwenthron auf seinem Podest traurig an. »Warum, beim Licht, sollte ich Morgase töten, nur um den Thron anschließend Elayne zu übergeben?«
»Nur wenige wissen, was sie glauben sollen«, sagte Ellorien unbeholfen. Auf ihren Wangen waren noch immer rote Flecken zu sehen. »Die Menschen behaupten viele Dinge, und die meisten davon sind schlichtweg töricht.«
»Beispielsweise?« Er stellte ihr die Frage, doch es war Dyelin, die sie beantwortete, wobei sie ihm in die Augen sah: »Daß Ihr in der Letzten Schlacht kämpfen und den Dunklen König töten werdet. Daß Ihr ein falscher Drache seid, oder die Marionette der Aes Sedai, oder beides. Daß Ihr Morgases unehelicher Sohn seid, oder ein Hochlord aus Tear, oder ein Aielmann.« Sie runzelte einen Augenblick lang erneut die Stirn, sprach aber weiter: »Daß Ihr der Sohn einer Aes Sedai und des Dunklen Königs seid. Daß Ihr der Dunkle König selbst seid, oder der fleischgewordene Schöpfer.
Daß Ihr die Welt zerstören werdet, oder sie retten, sie unterjochen, ein neues Zeitalter bringen. Es gibt so viele Meinungen, wie es Münder gibt. Die meisten sagen. Ihr hattet Morgase getötet. Viele glauben das auch in bezug auf Elayne. Sie sagen, Eure Proklamation sei nur eine Maske, um dahinter Eure Verbrechen zu verbergen.«
Rand seufzte. Einige dieser Ansichten waren schlimmer als alles, was er bisher vernommen hatte. »Ich werde nicht erst fragen, welche davon Ihr glaubt.« Warum sah sie ihn immer noch so eigenartig und finster an? Sie war nicht die einzige. Auch Luan blickte genauso drein, und Abelle und Ellorien warfen ihm die Art von schnellen Seitenblicken zu, die er von Arymillas Haufen erwartete, wenn sie glaubten, er sehe gerade nicht hin. Sie beobachten. Beobachten. Das war Lews Therin mit heiserem Kichern im Flüsterton. Ich sehe dich. Wer sieht mich? »Werdet Ihr mir statt dessen behilflich sein, Andor wieder zu einer Einheit zusammenzufügen? Ich will nicht, daß aus Andor ein neues Cairhien wird oder, noch schlimmer, ein neues Tarabon oder Arad Doman.«
»Ich kenne einiges aus dem Karaethon-Zyklus«, sagte Abelle. »Ich glaube, Ihr seid der Wiedergeborene Drache, aber nichts sagt aus, daß Ihr herrschen werdet, nur, daß Ihr in Tarmon Gai'don gegen den Dunklen König kämpfen werdet.«
Rands Hand verkrampfte sich so hart um seinen Pokal, daß die dunkle Oberfläche des Weins bebte. Um wie vieles leichter wäre alles, wenn diese vier den meisten Hochlords von Tear ähnelten oder den Adligen Cairhiens, aber keiner von ihnen wollte auch nur ein Stückchen mehr Macht für sich selbst, als er bereits besaß. Auf welche Weise auch der Wein gekühlt worden war, bezweifelte er doch, daß die Eine Macht diese vier einschüchtern werde. Höchstwahrscheinlich würden sie mir sagen, ich solle sie töten und dafür vom Licht verbrannt werden!
Brennen sollst du dafür. Lews Therins verdrießliche Stimme ergab ein trauriges Echo.
»Wie oft muß ich eigentlich noch sagen, daß ich Andor nicht regieren will? Wenn Elayne auf dem Löwenthron sitzt, werde ich Andor verlassen. Und wenn es nach mir ginge, würde ich es nie mehr betreten.«
»Sollte irgend jemand Anspruch auf den Thron haben«, sagte Ellorien mit gepreßter Stimme, »dann ist es Dyelin. Solltet Ihr tatsächlich meinen, was Ihr sagt, dann laßt sie krönen und geht. Dann wird Andor eine Einheit sein, und zweifellos werden Euch die andoranischen Soldaten in die Letzte Schlacht folgen, wenn das notwendig wird.«
»Ich lehne das immer noch ab«, sagte Dyelin mit fester Stimme und wandte sich sodann Rand zu. »Ich werde warten und überlegen, mein Lord Drache. Wenn ich sehe, daß Elayne am Leben ist und gekrönt wird und Ihr Andor verlaßt, werde ich Euch meine Anhänger zur Verfügung stellen, gleich, ob jemand anders in Andor das gleiche macht oder nicht. Doch wenn die Zeit vergeht und Ihr hier immer noch regiert, oder falls Eure Aielwilden hier dasselbe anstellen wie angeblich in Cairhien und Tear...« — sie blickte die Töchter und die Roten Schilde finster an, und auch die Gai'schain, als sehe sie im Geist, wie sie brandschatzten und raubten —, »oder wenn Ihr diese ... Männer, die Ihr nach Eurer Amnestie hier versammelt, auf Andor loslaßt, wende ich mich gegen Euch, gleich, ganz gleich, was die anderen in Andor unternehmen.«
»Und ich reite an deiner Seite«, sagte Luan mit fester Stimme.
»Ich auch«, sagte Ellorien, und Abelle stimmte ebenfalls zu.
Rand warf den Kopf in den Nacken und lachte unwillkürlich, halb vor Freude, halb vor Zorn. Licht! Und ich hielt einen ehrlichen Widerstand für besser, als hinter meinem Rücken zu intrigieren oder mir die Stiefel zu lecken!
Sie blickten ihn nervös an und dachten zweifellos, der Wahnsinn nage an ihm. Vielleicht hatten sie recht. Er war sich seiner selbst nicht mehr sicher.
»Überlegt, was immer Ihr wollt«, sagte er zu ihnen und stand auf, um das Ende der Audienz anzuzeigen.
»Ich meine es so, wie ich es sagte. Aber denkt auch an das Folgende: Tarmon Gai'don rückt näher. Ich weiß nicht, wie lange Ihr noch Zeit zum Überlegen haben werdet.«
Sie verabschiedeten sich von ihm — ein gehemmtes Kopfnicken, wie es unter Gleichstehenden üblich war, noch ausgeprägter als bei ihrer Ankunft — doch als sie sich zum Gehen wandten, griff Rand nach Dyelins Ärmel. »Ich habe eine Frage an Euch.« Die anderen blieben stehen und wollten sich schon zurückwenden. »Eine private Frage.« Sie zögerte einen Augenblick und nickte dann. Ihre Begleiter gingen ein Stück weiter durch den Thronsaal. Sie beobachteten alles genau, waren aber nicht nahe genug, um zu lauschen. »Ihr habt mich so ... seltsam angesehen«, sagte er. Ihr und jeder andere Adlige in Camlyn. Jeder andoranische Adlige zumindest. »Warum?«
Dyelin blickte zu ihm auf und nickte schließlich. »Wie hieß Eure Mutter?«
Rand blinzelte. »Meine Mutter?« Kari al'Thor war seine Mutter gewesen. Als das sah er sie jedenfalls an. Sie hatte ihn von Kindheit an aufgezogen bis sie starb. Doch er entschloß sich, ihr die kalte Wahrheit zu sagen, die er in der Wüste erfahren hatte. »Meine Mutter hieß Shaiel. Sie war eine Tochter des Speers. Mein Vater war Janduin, der Clanhäuptling der Taardad Aiel.« Sie zog zweifelnd die Augenbrauen hoch. »Ich schwöre jeden Eid darauf, den Ihr hören wollt. Was hat das mit meiner Frage zu tun? Sie sind beide schon lange tot.«
Erleichterung überzog ihre Miene. »Wie es scheint, ist es nur eine zufällige Ähnlichkeit — nicht mehr. Ich will damit nicht sagen, daß Ihr Eure wahren Eltern nicht kennt, aber Euch steht der Westen Andors ins Gesicht geschrieben.«
»Eine Ähnlichkeit? Ich bin in den Zwei Flüssen aufgewachsen, aber meine Eltern waren die genannten. Wem sehe ich ähnlich, daß Ihr mich so anseht?«
Sie zögerte und seufzte dann. »Ich glaube nicht, daß es eine Rolle spielt. Eines Tages müßt Ihr mir erzählen, wieso Ihr Aieleltern hattet und doch in Andor aufgewachsen seid. Vor fünfundzwanzig Jahren oder mehr ist die Tochter-Erbin Andors mitten in der Nacht verschwunden. Sie hieß Tigraine. Sie hinterließ einen Ehemann, Taringail, und einen Sohn, Galad. Ich weiß, daß es nur ein Zufall ist, aber ich sehe Tigraine in Eurem Gesicht. Es war ein Schock für mich.«
Auch Rand empfand einen Schock. Ihm wurde ganz kalt. Bruchstücke des Berichts der Weisen Frauen schössen ihm durch den Kopf ... eine junge Feuchtländerin mit goldenem Haar, in Seide gekleidet ... ein Sohn, den sie liebte, ein Ehemann, den sie nicht liebte ... Shaiel war der Name, den sie annahm. Sie nannte niemals einen anderen ... Ihr habt etwas von Ihr in Euren Gesichtszügen. »Wieso ist Tigraine verschwunden? Ich interessiere mich für die Geschichte Andors.«
»Ich wäre Euch dankbar, wenn Ihr das nicht als Geschichte bezeichnen würdet, mein Lord Drache. Ich war ein junges Mädchen, als es geschah, und ich war häufig hier im Palast. Eines Morgens befand sich Tigraine nicht im Palast, und man hat sie nie wieder gesehen. Einige behaupteten, Taringail sei darin verwickelt, aber er war halb wahnsinnig vor Schmerz. Taringail Damodred wünschte sich mehr als alles auf der Welt, daß seine Tochter Königin von Andor würde und sein Sohn König von Cairhien. Taringail kam aus Cairhien. Diese Heirat sollte die Kriege mit Cairhien beenden, und das geschah auch. Doch Tigraines Verschwinden ließ sie vermuten, daß Andor den Vertrag brechen wolle, und so intrigierten sie auf die übliche Weise Cairhiens, was schließlich ›Lamans Stolz‹ auslöste. Und natürlich wißt Ihr, wohin das wiederum führte«, fügte sie trocken hinzu. »Gitara Sedai hatte wirklich nicht recht, wie mein Vater sagte.«
»Gitara?« Ein Wunder, daß er sich nicht wie erstickt anhörte. Diesen Namen hatte er mehr als einmal gehört. Es war eine Aes Sedai namens Gitara Moroso gewesen, eine Frau mit der Gabe des Hellsehens, die verkündete, der Drache sei am Abhang des Drachenberges wiedergeboren worden, und die auf diese Weise Moiraine und Siuan auf ihre lange Suche geschickt hatte. Es war Gitara Moroso gewesen, die Jahre zuvor zu ›Shaiel‹ gesagt hatte, wenn sie nicht in die Wüste fliehe und niemandem davon erzähle und anschließend eine Tochter des Speers werde, würde Andor und die ganze Welt von einer unvorstellbaren Katastrophe heimgesucht.
Dyelin nickte ein wenig ungeduldig. »Gitara war die Ratgeberin von Königin Modrellein«, sagte sie knapp, »aber sie verbrachte mehr Zeit mit Tigraine und Luc, Tigraines Bruder, als mit der Königin. Nachdem Luc nach Norden geritten war und nicht mehr zurückkehrte, entstanden Gerüchte, Gitara habe ihm eingeredet, er könne sich seinen Ruhm in der Fäule erringen, oder vielleicht auch sein Schicksal erfüllen. Andere behaupteten, er werde dort den Wiedergeborenen Drachen finden, oder die Letzte Schlacht hinge davon ab, daß er sich dorthin begebe. Das war ungefähr ein Jahr vor Tigraines Verschwinden. Was mich betrifft, so bezweifle ich, daß Gitara irgend etwas damit oder mit Luc zu tun hatte. Sie blieb Ratgeberin der Königin, bis Modrellein starb. Man sagte, sie starb an gebrochenem Herzen, Tigraines und Lucs wegen. Womit natürlich der Streit um die Thronfolge begann.« Sie blickte zu den anderen hinüber, die unruhig dastanden und mißtrauische, ungeduldige Mienen zeigten, aber sie konnte es sich nicht verkneifen, noch etwas hinzuzufügen: »Ohne diese Geschehnisse hättet Ihr ein anderes Andor vorgefunden. Tigraine wäre Königin, Morgase lediglich Hochsitz des Hauses Trakand und Elayne wäre nicht geboren worden. Seht Ihr, Morgase heiratete Taringail, kaum daß sie den Thron innehatte. Wer weiß, was sonst noch anders verlaufen wäre?«
Während er beobachtete, wie sie sich den anderen wieder anschloß und mit ihnen hinausging, dachte er über etwas nach, was bestimmt anders verlaufen wäre. Er befände sich nämlich nicht in Andor, denn er wäre gar nicht geboren worden. Alles drehte sich immer wieder in endlosen Kreisen, und eines führte zwangsläufig zum anderen. Tigraine ging heimlich in die Wüste. Das wiederum ließ Laman Damodred den Avendoraldera fällen, ein Geschenk der Aiel, um sich daraus einen Thron zimmern zu lassen, ein unfreundlicher Akt, der die Aiel dazu brachte, das Rückgrat der Welt zu überqueren, um ihn zu töten — das war ihr einziges Ziel gewesen, auch wenn die Länder es als den Aielkrieg bezeichneten — und mit den Aiel kam eine Tochter des Speers namens Shaiel, die gleich nach der Geburt starb. So viele Leben mußten in ihrem Ablauf verändert werden, so viele Leben beendet, damit sie ihn zur rechten Zeit und am rechten Ort zur Welt bringen und dabei sterben konnte, Kari al'Thor war die Mutter, an die er sich erinnerte, wenn auch nur verschwommen, und doch wünschte er, Tigraine oder Shaiel oder wie auch immer gekannt und wenigstens eine kurze Zeit mit ihr verbracht zu haben.
Nutzlose Träumereien. Sie war schon lange tot. Es war geschehen und vorbei. Also, warum kam er trotzdem nicht davon los?
Das Rad der Zeit und das Rad des Lebens eines Mannes drehen sich eins wie das andere ohne Mitleid und ohne Gnade, murmelte Lews Therin.
Bist du wirklich da? dachte Rand. Wenn du mehr bist als eine Stimme und ein paar alte Erinnerungen, dann antworte mir! Bist du wirklich da? Schweigen. Jetzt könnte er Moiraines Rat gebrauchen.
Mit einem Mal wurde ihm bewußt, daß er die weiße Marmorwand des Großen Saals anstarrte, und zwar in nordwestlicher Richtung. In Richtung Alanna. Sie befand sich nicht in Culains Jagdhund. Nein! Sie soll brennen! Er würde Moiraine nicht durch eine Frau ersetzen, die ihn auf solche Weise in die Falle gelockt hatte. Er konnte keiner Frau trauen, die mit der Burg in Verbindung stand. Mit drei Ausnahmen: Elayne, Nynaeve und Egwene. Er hoffte jedenfalls, daß er ihnen vertrauen könne. Wenigstens ein bißchen.
Aus irgendeinem Grund blickte er zu der mächtigen Kuppeldecke auf, deren bunte Fenster Szenen aus Schlachten zeigten und Königinnen und dazwischen immer wieder den Weißen Löwen. Diese Frauenfiguren, die größer als im wirklichen Leben wirkten, schienen ihn mißbilligend anzusehen und sich zu fragen, was er hier mache. Einbildung natürlich, aber warum? Weil er von Tigraines Herkunft erfahren hatte? Einbildung oder Wahnsinn?
»Es ist jemand gekommen, den Ihr meiner Meinung nach sehen solltet«, sagte Bashere, der plötzlich neben ihm stand. Rand riß sich von den Frauengestalten in der Kuppel los. Hatte er deren Blicke wirklich erwidert und sie zornig angefunkelt? Bashere hatte jemanden aus seiner Reitertruppe dabei. Der Bursche war größer als Bashere, was bei dessen Statur nicht schwer war, hatte einen dunklen Bart und schrägstehende grüne Augen.
»Nur wenn es sich um Elayne handelt«, sagte Rand unfreundlicher, als er vorgehabt hatte, »oder wenn er beweist, daß der Dunkle König tot ist. Ich werde heute vormittag nach Cairhien gehen.« Er hatte das nicht vorgehabt, bis zu dem Augenblick, als er die Worte aussprach. Dort befand sich Egwene. Und die Königinnen oben gab es dort nicht. »Es ist Wochen her, seit ich das letzte Mal dort war. Wenn ich sie nicht im Auge behalte, wird irgendein Lord oder eine Lady hinter meinem Rücken den Sonnenthron für sich beanspruchen.« Bashere sah ihn mit einem eigenartigen Blick an. Er rechtfertigte sich zu oft.
»Wie Ihr meint, aber Ihr werdet diesen Mann zuerst noch anhören wollen. Er behauptet, er komme von Lord Brend, und ich glaube, er sagt die Wahrheit.« Die Aiel sprangen unvermittelt auf; sie wußten, wer diesen Namen benützte.
Rand sah Bashere verblüfft an. Das letzte, was er erwartete, war ein Abgesandter Sammaels. »Bringt ihn herein.«
»Hamad«, sagte Bashere mit einer kurzen Kopfbewegung, und der jüngere Mann aus Saldaea trabte weg.
Ein paar Minuten später kam Hamad zurück, und mit ihm eine Gruppe von Soldaten aus dem Heer Saldaeas, die mißtrauisch einen Mann in die Mitte genommen hatten. Auf den ersten Blick schien nichts an diesem ihre besondere Vorsicht zu rechtfertigen. Er war unbewaffnet und trug einen langen, grauen Mantel mit Stehkragen. Er hatte einen lockigen Bart, der die Oberlippe frei ließ, wie es in Illian Mode war und eine Stupsnase und einen breiten Mund, der entsprechend grinste. Als er aber näher kam, erkannte Rand, daß dieses Grinsen sich nicht ein bißchen änderte. Das gesamte Gesicht des Mannes schien erstarrt, der heitere Ausdruck eingefroren. Im Gegensatz dazu strahlten die dunklen Augen hinter dieser Maske entsetzliche Angst aus.
Als er sich noch zehn Schritt von Rand entfernt befand, hob Bashere die Hand, und die Wache blieb stehen. Der Illianer, der nur Rand im Auge hatte, schien das gar nicht zu bemerken, bis Hamad ihm seine Schwertspitze auf die Brust setzte, damit er stehenbleiben mußte, weil er sonst durchbohrt worden wäre. Er sah die leicht gekrümmte Klinge nur kurz an und wandte dann seinen Blick wieder Rand zu und starrte diesen mit angsterfülltem Blick aus einem grinsenden Gesicht heraus an. Seine Hände hingen schlaff herab und zuckten im Gegensatz zu seinem Gesicht von Zeit zu Zeit.
Rand wollte auf ihn zugehen, doch mit einem Mal befanden sich Sulin und Urien zwischen ihnen. Sie verstellten ihm nicht direkt den Weg, standen aber doch so, daß er sich zwischen ihnen hindurchdrängen mußte, wollte er den Mann erreichen.
»Ich frage mich, was man mit ihm angestellt hat«, sagte Sulin, wobei sie den Mann musterte. Eine Anzahl von Töchtern und Roten Schilden war unter den Säulen hervorgetreten. Einige von ihnen hatten sogar Schleier angelegt. »Wenn er kein Schattenabkömmling ist, dann ist er doch zumindest vom Schatten berührt worden.«
»Einer wie er könnte Dinge tun, die wir nicht voraussehen«, sagte Urien. Er war einer von denen, die einen roten Stoffstreifen um die Schläfen gebunden hatten. »Vielleicht durch eine bloße Berührung töten. Das wäre wahrhaftig eine schöne Botschaft, um sie einem Feind zu senden.«
Sie blickten Rand nicht direkt an, aber er nickte. Vielleicht hatten sie recht. »Wie nennt man Euch?« fragte er. Sulin und Urien traten einen Schritt zur Seite, als sie sahen, daß er stehengeblieben war.
»Ich komme von ... von Sammael«, sagte der Mann hölzern unter diesem Grinsen hervor. »Ich bringe eine Botschaft für ... für den Wiedergeborenen Drachen. Für Euch.«
Also, das war direkt genug. War er ein Schattenfreund oder nur eine arme Seele, die Sammael in einem dieser gemeinen Gewebe gefangen hatte, von denen ihm Asmodean erzählt hatte? »Welche Botschaft?« fragte Rand.
Der Mund des Illianers bewegte sich, als kämpfe er um Worte. Was jedoch herauskam, hatte nichts mehr mit der Stimme zu tun, die er vorher benützt hatte. Diese war tiefer, voll von Selbstvertrauen, und sprach in einem anderen Dialekt: »Wir werden auf unterschiedlichen Seiten stehen, Ihr und ich, wenn der Tag der Wiederkehr des Großen Herrn anbricht, aber warum sollten wir uns jetzt gegenseitig töten und es Demandred und Graendal überlassen, sich über unseren Leichen um die Weltherrschaft zu streiten?« Rand kannte diese Stimme aus einem Erinnerungsfetzen Lews Therins, den er im Gedächtnis behalten hatte.
Sammaels Stimme. Lews Therin fauchte wortlos vor Wut. »Ihr habt bereits sehr viel zu verdauen«, fuhr der Illianer fort — oder besser: fuhr Sammael fort. »Warum noch mehr abbeißen? Und das Kauen ist schwer, selbst wenn Ihr Glück habt und Semirhage oder Asmodean Euch nicht in den Rücken fallen, während Ihr mit Kauen beschäftigt seid. Ich schlage Euch einen Waffenstillstand vor, der bis zum Tag der Wiederkehr gelten soll. Wenn Ihr nicht gegen mich vorgeht, gehe ich auch nicht gegen Euch vor. Ich werde mich verpflichten, nicht weiter Östlich vorzurücken als zu den Ebenen von Maredo, nicht weiter nach Norden als bis Lugard und nicht weiter nach Westen als Jehannah. Wie Ihr seht, überlasse ich Euch bei weitem den größeren Anteil. Ich behaupte nicht, für den Rest der Auserwählten zu sprechen, aber zumindest wißt Ihr, daß Ihr von mir nichts zu befürchten habt und auch nichts von den Ländern, die ich beherrsche. Ich werde mich verpflichten, ihnen bei keinem Vorgehen gegen Euch behilflich zu sein und ihnen auch nicht zu helfen, sich gegen Euch zu verteidigen. Ihr habt bisher viel Erfolg damit gehabt, die Auserwählten vom Spielbrett zu entfernen. Ich bezweifle nicht, daß Ihr auch weiterhin erfolgreich sein werdet, mehr noch als zuvor, denn Ihr wißt, daß Eure südliche Flanke sicher ist und die anderen ohne meine Hilfe auskommen müssen. Ich schätze, am Tag der Wiederkehr wird es nur noch Euch und mich geben, wie es auch sein sollte. Wie es geplant war.« Die Kiefer des Mannes schlossen sich mit einem Klicken, und die Zähne waren wieder hinter dem eingefrorenen Grinsen verborgen. Seine Augen hatten einen fast wahnsinnigen Ausdruck.
Rand hatte die Augen aufgerissen. Ein Waffenstillstand mit Sammael? Selbst wenn er dem Manne insoweit trauen könnte, den Vertrag einzuhalten, selbst wenn es bedeutet hätte, daß eine Gefahr wenigstens zurückgestellt werden konnte, während er sich mit allen anderen auseinandersetzte, hätte das auch bedeutet, unzählige Tausende Sammaels Gnade zu überlassen, und Gnade war eine Eigenschaft, die dieser Mann niemals besessen hatte. Er spürte, wie Zorn über die Oberfläche des Nichts glitt, und dadurch wurde ihm bewußt, daß er Saidin ergriffen hatte. Dieser Maelstrom von krankhaft sengender Süße und gefrierendem Schmutz schien ein Echo seines Zorns wiederzugeben. Lews Therin. Es war nur gerecht, wenn er in seinem Wahn vor Zorn durchdrehte. Das Echo vibrierte von seinem eigenen Zorn, bis er den Lews Therins und den eigenen nicht mehr auseinanderhalten konnte.
»Nehmt diese Botschaft mit zu Sammael«, sagte er mit kalter Stimme. »Für jeden Tod, den er seit seinem Erwachen verursacht hat, mache ich ihn verantwortlich und ziehe ihn zur Rechenschaft. Für jeden Mord, den er begangen hat, mache ich ihn verantwortlich und ziehe ihn zur Rechenschaft. Er ist der gerechten Strafe in den Rorn M'doi entkommen und bei Nol Caimaine und Sohadra...« Weitere Erinnerungen Lews Therins, aber dieser Schmerz bei dem Gedanken daran, was dort angerichtet worden war, die Pein ob dessen, was Lews Therins Augen gesehen hatten, brannten sich in die Oberfläche des Nichts, als entstammten sie Rands Erinnerungen. »...Doch nun werde ich Gerechtigkeit üben. Richtet ihm aus: Es gibt keinen Waffenstillstand mit den Verlorenen. Keinen Waffenstillstand mit dem Schatten.«
Der Bote hob eine sich ständig verkrampfende Hand, um sich den Schweiß vom Gesicht zu wischen. Nein, keinen Schweiß. Seine Hand hatte sich rot gefärbt. Leuchtend rote Tropfen lösten sich aus seinen Poren und er zitterte von Kopf bis Fuß. Hamad schnappte nach Luft und trat zurück, und er war nicht der einzige. Bashere hatte das Gesicht verzogen und strich sich über den Schnurrbart. Sogar die Aiel hatten die Augen aufgerissen. Über und über rot brach der Illianer zusammen. Ein zuckender Haufen lag da, um den herum sich eine Blutlache immer weiter ausbreitete. Jedes Zucken der Arme und Beine hinterließ neue Blutlachen auf dem Boden.
Rand beobachtete sein Sterben tief im Nichts geborgen ohne jede innere Regung. Das Nichts schirmte ihn vor Gefühlen ab, und er hätte ohnehin nichts ändern können. Auch wenn er die Kunst des Heilens mit Hilfe der Macht beherrschte, glaubte er nicht, daß er diesen Tod aufhalten gekonnt hätte.
»Ich glaube«, sagte Bashere bedächtig, »Sammael wird seine Antwort bekommen, wenn dieser Bursche hier nicht mehr zurückkehrt. Ich habe davon gehört, daß Boten umgebracht wurden, weil sie schlechte Nachrichten brachten, doch niemals, um dem Absender mitzuteilen, daß die Nachrichten schlecht sind.«
Rand nickte. Dieser Tod änderte nichts, genausowenig wie das, was er von Tigraine erfahren hatte. »Laßt ihn begraben. Ein Gebet wird nicht schaden, auch wenn es vielleicht nicht hilft.« Warum schienen ihn die Königinnen in ihren bunten Glasfenstern immer noch anzuklagen? Bestimmt hatten sie zu ihren Lebzeiten genauso schlimme Dinge erlebt, womöglich sogar in diesem Saal. Er konnte immer noch blind in Richtung auf Alanna deuten und sie wahrnehmen; selbst das Nichts schirmte das nicht ab. Konnte er Egwene vertrauen? Sie behielt Geheimnisse für sich. »Ich werde vielleicht die Nacht in Cairhien verbringen.«
»Ein eigenartiges Ende eines seltsamen Mannes«, sagte Aviendha, die um den Podest herum schritt. Kleine Türen dahinter führten in Ankleidezimmer und von da aus in die Korridore des Palastes.
Rand wollte schon zwischen sie und das treten, was da auf den roten und weißen Fliesen lag, doch dann hielt er sich zurück. Nach einem neugierigen Blick beachtete Aviendha den Leichnam nicht mehr. Als sie noch eine Tochter des Speers gewesen war, hatte sie sicher genauso viele Tote gesehen wie mittlerweile er. Als sie den Speer aufgab, hatte sie womöglich bereits genauso viele getötet, wie er zu dieser Zeit hatte sterben sehen.
Sie konzentrierte sich nun ganz auf ihn, musterte ihn von Kopf bis Fuß und überzeugte sich davon, daß er unverletzt geblieben war. Ein paar der Töchter lächelten sie an und traten zur Seite. Wo nötig, schubsten sie die Roten Schilde beiseite, doch sie blieb, wo sie war, rückte ihr Tuch zurecht und beobachtete ihn aufmerksam. Es war gut, wenn sie im Gegensatz zu dem, was die Töchter glaubten, nur deshalb in seiner Nähe blieb, weil es ihr die Weisen Frauen befohlen hatten, um ihn zu beobachten, denn er ertappte sich schon wieder dabei, daß er sie gleich an Ort und Stelle am liebsten in den Arm genommen hätte. Gut, daß sie ihn gar nicht begehrte. Er hatte ihr das Elfenbeinarmband geschenkt, das sie trug, Rosen unter Dornen, weil es ihrer Natur entsprach. Es war ihr einziges Schmuckstück, bis auf die silberne Halskette mit Gliedern in Form jener Muster, die von den Kandori als ›Schneeflocken‹ bezeichnet wurden. Er wußte nicht, von wem sie das hatte.
Licht! dachte er angewidert. Er begehrte Aviendha und Elayne, obwohl ihm klar war, daß er keine von beiden haben konnte. Du bist schlimmer, als Mat jemals von sich selbst glaubte. Sogar Mat besaß genug Vernunft um sich von einer Frau fernzuhalten, wenn er glaubte, er bringe sie damit in Gefahr.
»Ich muß ebenfalls nach Cairhien«, sagte sie.
Rand verzog das Gesicht. Was ihn an einer Nacht in Cairhien so reizte, war unter anderem, daß er sie nicht wieder im gleichen Zimmer mit ihr verbringen mußte.
»Es hat nichts zu tun mit...«, fing sie in scharfem Ton an, doch dann biß sie sich auf die volle Unterlippe, und ihre blaugrünen Augen blitzten. »Ich muß mit den Weisen Frauen sprechen, vor allem mit Amys.«
»Selbstverständlich«, erwiderte er. Vielleicht gab es eine Möglichkeit, sie dort zurückzulassen.
Bashere berührte ihn am Arm. »Ihr wolltet meinen Reitern heute nachmittag beim Exerzieren zusehen.« Der Tonfall klang beiläufig, doch der Blick aus den schrägstehenden Augen verlieh den Worten Gewicht.
Es war auch wirklich wichtig, aber Rand spürte ein starkes Bedürfnis, aus Caemlyn, ja aus ganz Andor zu entfliehen. »Morgen. Oder übermorgen.« Er mußte den Blicken dieser Königinnen entkommen. Er durfte sich nicht länger fragen, ob einer von ihrem eigenen Blut — Licht, er war ja von ihrem Blut! — auch ihr Land zerreißen würde, wie er es bei so vielen anderen bereits getan hatte. Weg von Alanna. Wenn auch nur für eine Nacht, aber er mußte weg.