Egwene bahnte sich gutgelaunt ihren Weg durch die Menge, nachdem sie sich von den Musikanten an der Straßenecke — einer schwitzenden Frau, die auf einer langen Flöte spielte, und einem rotgesichtigen Mann, der ein neunsaitiges Instrument zupfte — abgewandt hatte. Die Sonne stand wie geschmolzenes Gold hoch am Himmel, und die Pflastersteine waren heiß genug, daß sie sich durch die Sohlen ihrer weichen Stiefel brannten. Schweiß tropfte ihr von der Nase herab, ihr Umhängetuch fühlte sich wie eine schwere Decke an, obwohl es locker um die Oberarme geschlungen war, und es lag genug Staub in der Luft, daß sie bereits jetzt das Gefühl hatte, sich waschen zu müssen, aber sie lächelte dennoch. Einige Leute sahen sie fragend an, wenn sie glaubten, daß sie nicht hinsah, was sie fast zum Lachen brachte. So betrachteten sie Aiel nun einmal. Die Menschen sahen, was sie zu sehen erwarteten, und sie sahen nur eine Frau in Aielkleidung, ohne jemals ihre Augen oder ihre Größe zu beachten.
Straßenhändler und Hausierer priesen lauthals ihre Waren an und versuchten damit, sich gegen die Rufe der Schlächter und Kerzenmacher, das Rasseln und Klappern der Silberschmieden und Töpferläden und das Quietschen ungeölter Radachsen durchzusetzen. Fluchende Wagenlenker und Männer, die neben Ochsenkarren einhergingen, kamen sich mit dunkel lackierten Sänften und schlichten Kutschen mit Haussiegeln an den Türen ins Gehege. Überall waren Musikanten, Akrobaten und Jongleure zu sehen. Eine Gruppe blasser Frauen in Reitkleidung und mit Schwertern stolzierte vorüber. Sie ahmten das ihrer Vorstellung nach typische Verhalten von Männern nach, lachten zu raun und bahnten sich auf eine Art ihren Weg durch die Menge, die auf hundert Schritt ein Dutzend Kämpfe bewirkt hätte, wenn sie wirklich Männer gewesen wären. Der Hammer eines Hufschmieds traf klirrend auf den Amboß auf. Die Luft war von Murmeln und Tumult erfüllt, die Geräuschkulisse einer Stadt, die sie unter den Aiel fast vergessen hatte. Vielleicht hatte sie sie sogar vermißt.
Sie mußte mitten auf der Straße lachen. Als sie zum ersten Mal die Geräusche einer Stadt gehört hatte, war sie wie betäubt gewesen. Manchmal schien es ihr, als sei das Mädchen von damals mit den großen Augen jemand anderes gewesen.
Eine Frau, die ihre kastanienbraune Stute durch die Menge lenkte, sah sie neugierig an. Man hatte dem Pferd kleine Silberglöckchen in die lange Mähne geflochten, und die Frau trug ebenfalls Glöckchen in ihrem dunklen, bis zur Taille reichenden Haar. Sie war hübsch und wahrscheinlich nicht wesentlich älter als Egwene, aber ihr Gesicht wirkte hart, sie blickte scharf um sich und trug nicht weniger als sechs Messer an ihrem Gürtel, von denen eines so groß wie das einer Aiel war. Sie war zweifellos eine Jägerin des Horns.
Ein großer, gutaussehender Mann in einem grünen Mantel und mit zwei auf den Rücken gebundenen Schwertern beobachtete, wie die Frau vorüberritt. Er war wahrscheinlich ebenfalls ein Jäger des Horns. Sie schienen überall zu sein. Als die Frau auf dem Kastanienbraunen in der Menge verschwand, wandte der Mann sich um und bemerkte, daß Egwene ihn betrachtete. Er lächelte plötzlich neugierig, straffte die breiten Schultern und kam auf sie zu.
Egwene setzte hastig ihr abweisendstes Gesicht auf, versuchte Sorilea angestrengt mit Siuan Sanche in Verbindung zu bringen, die Stola vom Amyrlin-Sitz um die Schultern.
Er blieb überrascht stehen. Als er sich dann abwandte, hörte sie ihn deutlich grollen: »Flammende Aiel.« Sie konnte nicht umhin, erneut zu lachen. Er mußte es trotz des Lärms gehört haben, denn er erstarrte und schüttelte den Kopf. Aber er schaute nicht zurück.
Es gab zwei Gründe für Egwenes gute Stimmung. Zum einen hatten die Weisen Frauen letztendlich zugestimmt, daß das Wandern durch die Stadt eine genauso gute Übung war wie das Wandern um deren Außenmauern. Sorilea schien am wenigsten zu verstehen, warum Egwene auch nur eine Minute länger als nötig unter Massen von Feuchtländern verbringen wollte, die sich innerhalb der Stadtmauern besonders zusammendrängten. Aber hauptsächlich war sie guter Stimmung, weil die Weisen Frauen ihr gesagt hatten, sie könne jetzt, da die Kopfschmerzen, die sie so verwirrt hatten, vollkommen vergangen waren — sie hatte sie nicht ganz verbergen können — bald nach Tel'aran'rhiod zurückkehren. Noch nicht bis zum nächsten Treffen in drei Nächten, aber bis zum darauffolgenden.
Das bedeutete nicht nur in einer Hinsicht eine Erleichterung. Es bedeutete, sich nicht mehr heimlich in die Welt der Träume stehlen zu müssen. Es bedeutete, nicht mehr alles mühsam selbst herausfinden zu müssen. Es bedeutete, keine Angst mehr haben zu müssen, daß die Weisen Frauen sie erwischen und sich weigern könnten, sie weiterhin zu unterrichten. Es bedeutete, nicht mehr lügen zu müssen. Es war notwendig gewesen — sie konnte es sich nicht leisten, Zeit zu verschwenden; es gab so vieles zu lernen, und sie konnte nicht glauben, noch genug Zeit dafür zu haben —, aber das würden sie niemals verstehen.
Auch Aiel befanden sich in der Menge, sowohl im Cadin'sor als auch im Weiß der Gai'shain. Die Gai'shain gingen dorthin, wo sie hingeschickt wurden, aber es war durchaus möglich, daß sich die anderen zum ersten Mal — und höchstwahrscheinlich auch zum letzten Mal — innerhalb der Stadtmauern aufhielten. Die Aiel mochten Städte anscheinend nicht, obwohl eine große Anzahl von ihnen vor sechs Tagen hierhergekommen war, um zuzusehen, wie Mangin gehängt wurde. Es hieß, er hätte sich die Schlinge selbst um den Hals gelegt und irgendeinen Aielscherz darüber gemacht hatte, ob das Seil ihm den Hals oder sein Hals das Seil brechen würde. Sie hatte mehrere Aiel diesen Scherz, aber niemals eine Bemerkung über die Hinrichtung wiedergeben hören. Rand hatte Mangin gemocht, dessen war sie sich sicher. Berelain hatte den Weisen Frauen von dem Urteil erzählt, als teile sie ihnen mit, ihre Wäsche sei am nächsten Tag fertig, und die Weisen Frauen hatten es unbewegt aufgenommen. Egwene glaubte nicht, daß sie die Aiel jemals verstehen würde. Sie befürchtete auch sehr, Rand nicht mehr zu verstehen. Berelain verstand sie nur zu gut. Sie interessierte sich nur für achtsame Männer.
Bei diesen Gedanken war es schwierig, ihre gute Stimmung wiederzuerlangen. Im Inneren der Stadt war es sicherlich nicht kühler als außerhalb der Stadtmauern — tatsächlich vielleicht sogar heißer, da kein Lüftchen wehte und die Menschen sich zusammendrängten — und fast ebenso staubig, aber zumindest gab es hier mehr zu sehen als nur die Asche des Vortors. In einigen Tagen würde sie wieder lernen können, wirklich lernen können. Das ließ sie wieder lächeln.
Sie blieb neben einem drahtigen, verschwitzten Feuerwerker stehen. Es war leicht zu erkennen, was er war. Sein dichter Schnurrbart war nicht von dem transparenten Schleier bedeckt, den Taraboner häufig trugen, aber die sackartige, an den Beinen bestickte Hose und ein ebenso sackartiges, über der Brust besticktes Hemd kennzeichneten ihn ausreichend gut.
Er verkaufte Finken und andere Singvögel in grob zusammengezimmerten Käfigen. Da ihr Gildehaus von den Shaido niedergebrannt worden war, versuchten eine Anzahl Feuerwerker Möglichkeiten zu finden, nach Tarabon zurückzukehren.
»Ich weiß es aus einer höchst zuverlässigen Quelle«, erzählte er einer hübschen, bereits langsam ergrauenden Frau in einem schlicht geschnittenen, dunkelblauen Kleid. Sie war zweifellos eine Händlerin, die diejenigen anfuhr, die in Cairhien auf bessere Zeiten warteten. »Die Aes Sedai spalten sich«, flüsterte ihr der Feuerwerker über einen gefangenen Vogel gebeugt zu. »Die Aes Sedai stehen im Krieg miteinander.« Die Händlerin nickte zustimmend.
Egwene blieb stehen, um angeblich den Kauf eines grünköpfigen Finks zu erwägen, und ging dann wieder weiter, wobei sie einem rundgesichtigen Feuerwerker aus dem Weg springen mußte, der in einem auffallenden, flickenbesetzten Mantel einherschritt. Feuerwerker wußten sehr wohl, daß sie unter den wenigen Feuchtländern in der Wüste willkommen waren. Aiel schüchterten sie nicht ein. Zumindest erweckten sie den Anschein.
Dieses Gerücht beunruhigte sie. Nicht daß sich die Burg gespalten hatte — das hätte nicht länger geheimbleiben können —, aber die Erwähnung eines Krieges unter den Aes Sedai. Zu wissen, daß Aes Sedai gegen Aes Sedai angingen, war genauso, als wüßte sie, daß ein Teil ihrer Familie gegen einen anderen anginge, was kaum vorstellbar war, wenn man die Gründe nicht kannte, und' doch war der Gedanke, daß es vielleicht zu mehr kommen könnte... Wenn es nur eine Möglichkeit gäbe, die Burg zu heilen, sie ohne Blutvergießen wieder zusammenzufügen.
Ein Stück weiter die Straße hinab verteilte eine schwitzende Vortor-Frau, die man vielleicht als hübsch bezeichnet hätte, wenn ihr Gesicht sauberer gewesen wäre, aus einem Bauchladen neben Bändern und Nadeln auch Gerüchte. Sie trug ein blaues Seidenkleid, dessen Rock mit roten Schlitzen versehen und das für eine größere Frau gedacht war. Der stark zerschlissene Saum gab ihre plumpen Schuhe frei, und Löcher in Ärmeln und Leibchen ließen erkennen, wo eine Stickerei entfernt worden war. »Ich sage Euch etwas«, redete sie auf die Frauen ein, die in ihrem Bauchladen stöberten. »In der Stadt wurden Trollocs gesehen, ja, dieses Grün wird gut zu Euren Augen passen. Hunderte von Trollocs und...«
Egwene hielt kaum inne. Wenn auch nur ein Trolloc irgendwo in der Stadt aufgetaucht wäre, hätten die Aiel es gewußt, lange bevor es Straßentratsch geworden wäre. Sie wünschte, die Weisen Frauen würden tratschen. Nun, manchmal taten sie es, aber nur über andere Aiel. Für die Aiel war nichts über die Feuchtländer allzu fesselnd. Dadurch, daß Egwene in Elaidas Studierzimmer in Tel'aran'rhiod ein- und ausgehen und die Briefe der Frau lesen durfte, war sie es jedoch gewohnt zu wissen, was in der Welt geschah.
Egwene erkannte jäh, daß sie ihre Umgebung und die Gesichter der Menschen auf andere Art betrachtete. In Cairhien befanden sich genauso zweifelsfrei, wie sie schwitzte, Augen-und-Ohren der Aes Sedai. Elaida erhielt täglich durch Brieftauben einen Bericht — wenn nicht mehr — aus Cairhien. Burgspione, Ajahspione, Spione für einzelne Aes Sedai. Sie waren überall, häufig dort, wo man sie am wenigsten erwartete und häufig auch jemand, den man am wenigsten erwartete. Warum standen diese Akrobaten einfach nur da? Ruhten sie sich aus oder beobachteten sie sie? Plötzlich bewegten sie sich wieder, indem einer von ihnen auf den Schultern eines anderen einen Handstand vollführte.
Ein Spion für die Gelben Ajah hatte einmal auf einen von Elaida ausgegebenen Befehl hin versucht, Elayne und Nynaeve zu fesseln und nach Tar Valon zu verschleppen. Egwene wußte nicht genau, ob Elaida sie auch wollte, aber etwas anderes anzunehmen, wäre töricht. Egwene konnte nicht glauben, daß Elaida jemandem vergab, der eng mit der Frau zusammengearbeitet hatte, die sie abgesetzt hatte.
Was das betraf, hatten wahrscheinlich auch die Aes Sedai von Salidar hier Augen-und-Ohren. Sollten sie jemals von ›Egwene Sedai der Grünen Ajah‹ erfahren... Jedermann konnte es sein. Diese hagere Frau an der Ladentür, die anscheinend einen Ballen dunkelgrauen Stoff betrachtete, oder die schlampige Frau, die sich neben dem Eingang der Schenke rekelte und sich mit der Schürze Luft zufächelte, oder dieser dicke Bursche mit seinem Handkarren voller Pasteten — warum sah er sie so seltsam an? Fast wäre sie zum nächstgelegenen Stadttor gerannt.
Es war tatsächlich der dicke Bursche, der sie aufhielt, oder besser gesagt, die Art, wie er die Pasteten plötzlich mit seinen Händen zu verdecken versuchte. Er sah sie an, weil sie ihn angesehen hatte. Er befürchtete wahrscheinlich, daß eine Aiel›wilde‹ ihm einen Teil seiner Pasteten nehmen würde, ohne zu bezahlen.
Egwene lachte leise. Aiel. Sogar Leute, die ihr ins Gesicht sahen, vermuteten, daß sie eine Aiel war. Ein Burgspion, der sie suchte, würde achtlos an ihr vorübergehen. Da sie sich jetzt erheblich besser fühlte, schlenderte sie weiterhin ziellos durch die Straßen und belauschte, was immer sie konnte.
Egwene hatte sich daran gewöhnt, Dinge schon Wochen oder sogar Tage, nachdem sie geschehen waren, zu wissen und auch sicher zu wissen, daß sie geschehen waren. Ein Gerücht mochte hundert Meilen an einem Tag oder in einem Monat bewältigen und gebar jeden Tag zehn Töchter. Heute erfuhr sie, daß Siuan hingerichtet worden war, weil sie die Schwarze Ajah aufgedeckt hatte, daß Siuan eine Schwarze Ajah sei und noch lebe und daß die Schwarze Ajah jene Aes Sedai, die keine Schwarzen von der Burg seien, vertrieben habe. Es waren keine neuen Gerüchte, sondern lediglich Abwandlungen eines alten. Ein neues Gerücht das sich wie Feuer auf einer Sommerwiese ausbreitete, besagte, daß die Burg hinter all den falschen Drachen stecke. Das verärgerte sie so sehr, daß sie mit starrem Rücken davonschritt, wann immer sie es hörte.
Was bedeutete, daß sie recht häufig mit starrem Rücken davonschritt. Sie hörte, daß Andoraner in Aringill irgendeine Adlige zur Königin ernannt hatten — Dylin, Delin, der Name variierte —, da Morgase nun tot war, was der Wahrheit entsprechen könnte, und daß Aes Sedai in Arad Doman umherliefen und sehr unwahrscheinliche Dinge täten, was sicherlich nicht der Wahrheit entsprach. Der Prophet kam nach Cairhien; der Prophet war zum König von Ghealdan gekrönt worden — nein, von Amadicia; der Wiedergeborene Drache hatte den Propheten wegen Blasphemie getötet. Die Aiel gingen alle fort; nein, sie wollten sich niederlassen und bleiben. Berelain sollte den Sonnenthron einnehmen. Ein hagerer kleiner Mann mit durchtriebenen Augen wurde von seinen Zuhörern vor einer Schenke fast erschlagen, weil er behauptete, Rand sei einer der Verlorenen, aber da mischte sich Egwene ohne nachzudenken ein.
»Habt Ihr kein Ehrgefühl?« fragte sie kalt. Die vier grobgesichtigen Männer, die den hageren Burschen gerade hatten ergreifen wollen, sahen sie blinzelnd an. Sie waren aus Cairhien, nicht wesentlich größer als sie, aber weitaus massiver, und doch hielt sie sie mit ihrer Selbstsicherheit am Fleck. Damit und durch die Anwesenheit von Aiel auf der Straße. Sie waren nicht so töricht, unter solchen Umständen einer vermeintlichen Aielfrau gegenüber grob zu werden. »Wenn Ihr einen Mann für seine Behauptungen zur Rechenschaft ziehen wollt, dann stellt ihm Euch ehrenhaft einer nach dem anderen. Dies ist keine Schlacht. Ihr beschämt Euch, wenn Ihr zu viert einen einzelnen angreift.«
Sie sahen sie an, als wäre sie verrückt, und sie errötete allmählich. Sie hoffte, sie hielten dies für Verärgerung. Nicht: Wie könnt Ihr es wagen, jemand Schwächeren anzugreifen, sondern: Wie könnt Ihr es wagen, ihn Euch nicht einer nach dem anderen vorzunehmen? Sie hatte sie gerade zurechtgewiesen, als folgten sie Ji'e'toh. Und natürlich hätte keine Notwendigkeit bestanden, sie zurechtzuweisen, wenn dem so wäre.
Einer der Männer neigte den Kopf in einer halbherzigen Verbeugung. Seine Nase war nicht nur gekrümmt, sondern ihr fehlte auch die Spitze. »Hm ... er ist jetzt fort ... hm... Können wir auch gehen, Herrin?«
Es stimmte. Der hagere Mann hatte ihre Einmischung genutzt und war verschwunden, wie sie verächtlich erkannte. Er war davongelaufen, weil er Angst hatte, gegen vier Männer anzutreten. Wie konnte er die Schande ertragen? Licht, sie tat es schon wieder.
Sie öffnete den Mund, um den Männern zu sagen, daß sie natürlich gehen könnten —, aber kein Laut drang hervor. Sie deuteten ihr Schweigen als Einverständnis oder auch als Entschuldigung und eilten davon, aber sie bemerkte es kaum. Sie war zu sehr damit beschäftigt, die Rückfront einer berittenen Gesellschaft zu betrachten, die sich ihren Weg die Straße hinauf bahnte.
Sie erkannte die ungefähr ein Dutzend mit grünen Mänteln bekleideten Soldaten nicht, die sich ihren Weg durch die Menge erzwangen, aber mit ihrer Eskorte verhielt es sich anders. Sie konnte nur die Rücken der Frauen sehen — fünf oder sechs, glaubte sie, zwischen den Soldaten —, sogar nur Teile ihrer Rücken, aber das war mehr als genug. Viel mehr. Die Frauen trugen leichte Staubmäntel, helles Leinen mit Braunschattierungen, und Egwene merkte, daß sie unmittelbar auf eine anscheinend rein weiße, auf den Rücken eines dieser Mäntel gestickte Scheibe starrte. Diese Stickerei zeigte die Weiße Flamme von Tar Valon von der Grenze, die die Weiße Ajah kennzeichnete. Sie erhaschte einen Blick auf Grün, auf Rot. Auf Rot! Fünf oder sechs Aes Sedai, die auf den Königlichen Palast zuritten, wo auf einem Stufenturm eine Nachahmung des Drachenbanners neben einer von Rands karmesinroten Flaggen mit dem uralten Aes-Sedai-Symbol im schwachen Wind flatterte. Einige nannten dies das Drachenbanner und andere Al'Thors Banner oder auch das Aielbanner oder wiesen ihm noch ein Dutzend weitere Namen zu.
Sie folgte ihnen in ungefähr zwanzig Schritt Entfernung, indem sie sich durch die Menge schlängelte, und blieb dann stehen. Eine Rote Schwester — zumindest eine Rote, die sie gesehen hatte — mußte bedeuten, daß dies die lange erwarteten Abgesandten der Burg waren, diejenigen, die Rand, laut Elaidas Brief, nach Tar Valon begleiten würden. Es waren mehr als zwei Monate vergangen, seit dieser Brief von einem Eilboten gebracht worden war. Diese Gesellschaft mußte bald danach aufgebrochen sein.
Sie würden Rand nicht finden — nicht bis er unbemerkt hineingeschlüpft war. Sie hatte entschieden, daß er irgendwie die Begabung, die man das Schnelle Reisen nannte, wiederentdeckt haben mußte, wenn sie sich auch nicht erklären konnte, wie es vonstatten ging —, aber unabhängig davon, ob sie Rand fanden oder nicht, durften sie Egwene nicht finden. Das Beste, was sie erwarten konnte, war, wie eine Aufgenommene kurzerhand und ohne eine vereidigte Schwester, die sie überwachen würde, aus der Burg geworfen zu werden, und das war nur zu erwarten, wenn Elaida wirklich nicht sie suchte. Aber selbst dann würden sie sie nach Tar Valon zurückbefördern — mit Elaida. Sie hegte keine Illusionen darüber, sich fünf oder sechs Aes Sedai widersetzen zu können.
Mit einem letzten Blick auf die Aes Sedai raffte sie ihre Röcke und rannte los, schoß zwischen den Menschen hindurch, stieß manchmal gegen sie und duckte sich unter den Köpfen von Pferdegespannen von Wagen oder Kutschen hindurch. Verärgertes Geschrei folgte ihr. Als sie schließlich eines der hohen, eckigen Stadttore passierte, peitschte der heiße Wind ihr Gesicht. Von Gebäuden ungehindert, brachte er Staubwogen mit sich, die sie husten ließen, aber sie lief weiter, den ganzen Weg zu den niedrigen Zelten der Weisen Frauen zurück.
Zu ihrer Überraschung stand vor Amys Zelt eine graue Stute, deren Sattel und Zaumzeug goldverziert waren und die von einem Gai'shain beaufsichtigt wurde, der den Blick senkte, wenn er das lebhafte Tier berührte. Sie betrat das Zelt in geduckter Haltung und fand die Reiterin, Berelain, mit Amys, Bair und Sorilea Tee trinkend vor, die es sich auf hellen, mit Quasten versehenen Kissen bequem gemacht hatten. Eine weiß gewandete Frau, Rodera, kniete auf einer Seite und wartete demütig darauf, die Tassen erneut zu füllen.
»Aes Sedai sind in der Stadt«, sagte Egwene, sobald sie das Zelt betreten hatte. »Sie reiten auf den Sonnenpalast zu. Es muß Elaidas Abordnung für Rand sein.«
Berelain erhob sich ohne Hast. Egwene mußte, wenn auch widerwillig, zugeben, daß die Frau Anmut besaß. Ihre Reitkleidung war schicklich geschnitten, denn auch sie war nicht so töricht, in ihrer üblichen Kleidung in der Sonne zu reiten. Die anderen erhoben sich mit ihr. »Ich sollte wohl zum Palast zurückkehren«, seufzte sie. »Das Licht weiß, wie sie sich fühlen werden, wenn niemand zu ihrer Begrüßung erscheint. Amys, würdet Ihr Rhuarc benachrichtigen, daß er mich treffen soll?«
Amys nickte, aber Sorilea sagte: »Ihr solltet nicht so sehr auf Rhuarc vertrauen, Mädchen. Rand al'Thor hat Cairhien in Eure Obhut gegeben. Reicht den meisten Männern den Finger, und sie werden die ganze Hand nehmen, bevor Ihr es merkt. Reicht einem Clanhäuptling den Finger, und er wird den ganzen Arm nehmen.«
»Das stimmt«, murmelte Amys. »Rhuarc ist der Schatten meines Herzens, aber es stimmt.«
Berelain zog schmale Reithandschuhe aus ihrem Gürtel und streifte sie über. »Er erinnert mich an meinen Vater. Manchmal zu sehr.« Sie verzog einen Moment reumütig das Gesicht. »Aber er ist ein sehr guter Berater.
Und er weiß, wann er gebraucht wird und wie sehr. Ich glaube, daß sogar die Aes Sedai beeindruckt sein müssen, wenn Rhuarc sie ansieht.«
Amys lachte kehlig. »Er ist beeindruckend. Ich werde ihn zu Euch schicken.« Sie küßte Berelain leicht auf die Stirn und auf beide Wangen.
Egwene sah verwundert zu. So küßte eine Mutter ihren Sohn oder ihre Tochter. Was ging tatsächlich zwischen Berelain und den Weisen Frauen vor? Sie konnte natürlich nicht fragen. Eine solche Frage wäre beschämend für sie und für die Weisen Frauen. Und auch für Berelain, obwohl sie es nicht wissen würde, wobei Egwene nichts dagegen hätte, Berelain zu beschämen.
Als Berelain sich zum Gehen wandte, legte Egwene eine Hand auf den Arm der Frau. »Sie müssen vorsichtig behandelt werden. Sie werden Rand nicht freundlich gesinnt sein, aber ein falsches Wort könnte sie zu offenen Feinden machen.« Das war nur zu wahr, aber es war noch nicht das, was sie sagen mußte. Sie hätte sich lieber die Zunge herausgerissen, als Berelain um einen Gefallen zu bitten.
»Ich hatte schon früher mit Aes Sedai zu tun, Egwene Sedai«, erwiderte die andere Frau trocken.
Egwene versagte es sich, tief durchzuatmen. Es mußte getan werden, aber sie würde diese Frau nicht erkennen lassen, wie schwer es ihr fiel. »Elaida ist Rand nicht wohlgesinnt, nicht mehr als ein Wiesel einem Huhn, und diese Aes Sedai sind Elaidaner. Wenn sie hier erfahren, daß Rand eine Aes Sedai zur Seite steht, könnte Elaida sehr wohl bald darauf verschwinden.« Als sie Berelains undurchdringliches Gesicht sah, mochte sie nicht mehr sagen.
Nach einem langen Moment lächelte Berelain. »Egwene Sedai, ich werde für Rand tun, was immer ich kann.« Sowohl das Lächeln als auch der Tonfall ihrer Stimme waren voller Andeutungen.
»Mädchen«, sagte Sorilea scharf, und wundersamerweise bekamen Berelains Wangen rote Flecke.
Berelain sah Egwene nicht an, als sie mit jetzt sorgsam neutral gehaltener Stimme sagte: »Ich würde es zu schätzen wissen, wenn Ihr es Rhuarc nicht erzähltet.« Sie sah niemanden im besonderen an, aber sie versuchte, Egwenes Anwesenheit zu ignorieren.
»Das werden wir nicht tun«, warf Amys schnell ein, woraufhin Sorilea nur noch den Mund aufsperrte. »Das werden wir nicht tun.« Die Wiederholung war, sowohl Festigkeit als auch eine Frage beinhaltend, an Sorilea gerichtet, und schließlich nickte die älteste Weise Frau, wenn auch ein wenig widerwillig. Berelain seufzte wahrhaft erleichtert, bevor sie das Zelt verließ.
»Das Kind hat Mut«, stellte Sorilea lachend fest, sobald Berelain gegangen war. Sie lehnte sich wieder gegen die Kissen und bedeutete Egwene, sich auf dem Platz neben ihr niederzulassen. »Wir sollten den richtigen Ehemann für sie aussuchen, einen Mann, der zu ihr paßt. Sofern ein solcher unter den Feuchtländern überhaupt zu finden ist.«
Egwene wischte sich Gesicht und Hände mit einem feuchten Tuch ab, das Rodera gebracht hatte, und fragte sich währenddessen, ob diese Eröffnung ausreichte, sich ehrenhaft nach Berelain zu erkundigen. Sie nahm einen Teebecher aus dem grünen Porzellan des Meervolks entgegen und setzte sich dann in den Kreis der Weisen Frauen. Wenn eine der anderen Sorilea ansprach, genügte dies vielleicht.
»Seid Ihr sicher, daß diese Aes Sedai dem Car'a'carn schaden wollen?« fragte Amys statt dessen.
Egwene errötete. An Klatsch zu denken, wenn man sich um wichtige Dinge kümmern mußte. »Ja«, erwiderte sie schnell, und dann langsamer: »Zumindest... Ich weiß nicht genau, ob sie ihm schaden wollen, und wenn, dann ohnehin nicht absichtlich.« In Elaidas Brief hatte es geheißen, daß ihm ›alle Ehre und aller Respekt‹ gebühre. Was glaubte eine ehemalige Rote Schwester wohl, wieviel ein Mann, der die Macht lenken konnte, davon verdiente? »Aber ich bezweifle nicht, daß sie vorhaben werden, ihn irgendwie dazu zu bringen, den Wünschen Elaidas zu folgen. Sie sind nicht seine Freunde.« Inwieweit waren die Aes Sedai von Salidar seine Freunde? Licht, sie mußte mit Nynaeve und Elayne sprechen. »Und es wird sie nicht kümmern, daß er der Car'a'carn ist.« Sorilea brummte verstimmt.
»Ihr glaubt, daß sie versuchen werden, Euch zu schaden?« fragte Bair, und Egwene nickte.
»Wenn sie entdecken, daß ich hier bin...« Sie versuchte, ein Schaudern zu unterdrücken, indem sie ihren Minztee trank. Sie würden entweder als rechte Hand von Rand oder als unbeaufsichtigte Aufgenommene ihr Bestes tun, sie zur Burg zurückzubefördern. »Sie werden mir meine Freiheit nicht lassen, wenn sie es verhindern können. Elaida wird verhindern wollen, daß Rand irgend jemandem außer ihr zuhört.« Bair und Amys wechselten grimmige Blicke.
»Dann ist die Antwort einfach.« Sorilea klang, als sei bereits alles beschlossen. »Ihr werdet bei den Zelten bleiben, wo sie Euch nicht finden werden. Weise Frauen meiden Aes Sedai auf jeden Fall. Wenn Ihr einige weitere Jahre bei uns bleibt, werden wir eine gute Weise Frau aus Euch machen.«
Egwene ließ fast ihren Becher fallen. »Ihr schmeichelt mir«, sagte sie vorsichtig, »aber ich werde früher oder später gehen müssen.« Sorilea wirkte nicht überzeugt. Egwene hatte in gewisser Weise gelernt, mit Amys and Bair zurechtzukommen, aber Sorilea...
»Ich denke, nicht so bald«, belehrte Bair sie mit einem Lächeln, das den Worten den Stachel nehmen sollte. »Ihr müßt noch viel lernen.«
»Ja, und sie möchte bald wieder damit beginnen«, fügte Amys hinzu. Egwene hatte Mühe, nicht zu erröten, und Amys runzelte die Stirn. »Ihr wirkt sonderbar. Habt Ihr Euch heute morgen überanstrengt? Ich war sicher, daß Ihr Euch weitgehend erholt hattet...«
»Das habe ich auch«, antwortete Egwene hastig. »Wirklich, das habe ich. Ich hatte schon seit Tagen keine Kopfschmerzen mehr. Es liegt an der staubigen Luft auf dem Weg hierher. Und die Stadt war beengter, als ich sie in Erinnerung hatte. Und ich war so aufgeregt — ich habe nicht richtig gefrühstückt.«
Sorilea machte Rodera ein Zeichen. »Bringt ein wenig Johannisbrot, wenn welches da ist, und Käse und alles Obst, was Ihr finden könnt.« Sie stieß Egwene in die Rippen. »Eine Frau sollte ein bißchen Fleisch auf den Rippen haben.« Und das von einer Frau, die aussah, als hätte man sie der Sonne ausgesetzt, bis der größte Teil ihrer Haut eingetrocknet war.
Egwene hatte an sich nichts gegen Essen einzuwenden — sie war heute morgen zu aufgeregt gewesen —, aber Sorilea beobachtete jeden Bissen, den sie aß, und ihr prüfender Blick machte das Schlucken ein wenig schwierig. Das und die Tatsache, daß sie darüber sprechen wollten, was mit den Aes Sedai geschehen solle. Wenn die Aes Sedai Rand feindlich gesinnt waren, würden sie beobachtet und ein Weg gefunden werden müssen, ihn zu schützen. Sogar Sorilea war angesichts der Möglichkeit daß sie sich gegen Aes Sedai stellen müßten, etwas gereizt —, aber nicht ängstlich. Sie fühlten sich unbehaglich, weil es gegen die Gebräuche war —, aber was immer nötig war, um den Car'a'carn zu schützen, mußte getan werden.
Egwene befürchtete, daß Sorileas Vorschlag, bei den Zelten zu bleiben, in einen Befehl umgewandelt werden könnte. Es gäbe keine Möglichkeit, diesen zu umgehen, keine Möglichkeit, fünfzig Augen zu meiden, außer wenn sie in ihrem Zelt blieb. Wie bewerkstelligte Rand das Schnelle Reisen? Die Weisen Frauen würden tun, was immer nötig war, so lange es Ji'e'toh nicht berührte: Weise Frauen deuteten es hier und dort vielleicht anders, aber sie hielten so starr an ihrer Deutung fest wie jede andere Aiel. Licht, Rodera war eine Shaido, eine von Tausenden, die während der Schlacht, in der die Shaido aus der Stadt vertrieben wurden, gefangengenommen wurden, aber die Weisen Frauen behandelten sie nicht anders als alle anderen Gai'shain, und soweit Egwene es beurteilen konnte, benahm sich Rodera auch nicht anders. Sie würden nicht gegen Ji'e'toh angehen, ganz gleich wie notwendig es vielleicht wäre.
Glücklicherweise wurde dieses Thema nicht angesprochen — leider aber Egwenes Gesundheit. Die Weisen Frauen besaßen nicht die Gabe der Heilung und wußten auch nicht, wie man mit Hilfe der Macht die Gesundheit eines Menschen überprüfte. Statt dessen prüften sie sie mit ihren eigenen Methoden. Einige schienen aus der Zeit vertraut, als sie unter Nynaeve gelernt hatte, eine Dorfseherin zu werden: ihr in die Augen sehen, durch eine hohle Holzröhre ihrem Herzschlag lauschen. Einige waren entschieden Aiel-Methoden. Sie berührte ihre Zehen, bis sie sich benommen fühlte und auf der Stelle auf und ab hüpfte, bis sie glaubte, ihr würden die Augen aus dem Kopf fallen.
Und sie lief um die Zelte der Weisen Frauen herum, bis Punkte vor ihren Augen flimmerten. Dann ließ sie sich von einer Gai'shain Wasser über den Kopf gießen und trank, soviel sie aufnehmen konnte, raffte ihre Röcke und lief noch eine Weile länger umher.
Aiel hielten viel von Ausdauer. Wäre sie einen Schritt zu langsam gewesen oder wäre sie stolpernd zum Stehen gekommen, bevor Amys es ihr erlaubte, hätten sie entschieden, sie habe sich noch nicht ausreichend erholt.
Als Sorilea schließlich nickte und sagte: »Ihr seid vollkommen gesund, Mädchen«, fühlte Egwene sich schwindelig und rang nach Luft. Das hätte ein vollkommen gesunder Mensch nicht getan — dessen war sie sich sicher. Sie empfand dennoch Stolz. Sie hatte sich niemals für verweichlicht gehalten, aber sie wußte sehr wohl, daß sie, bevor sie sich den Aiel angeschlossen hatte, nach der Hälfte der Prüfung versagt hätte. Noch ein Jahr, dachte sie, und ich werde genauso schnell sein wie jede andere Far Dareis Mai.
Andererseits würde sie kaum in die Stadt zurückkehren. Sie schloß sich den Weisen Frauen in ihrem Dampfzelt an — endlich einmal ließen sie nicht sie Wasser über die heißen Steine gießen, sondern Rodera übernahm diese Aufgabe — und schwelgte in der feuchten Hitze, während sich ihre Muskeln entspannten. Und sie ging dann nur, weil Rhuarc und zwei andere Clanführer, Timolan von den Miagoma und Indirian von den Codarra, zu ihnen stießen, große, kräftige Männer mit harten, nüchternen Gesichtern. Ihre Ankunft ließ sie das Zelt eiligst verlassen und ihr Umhängetuch um sich wickeln. Sie erwartete stets Gelächter, wenn sie so reagierte, da die Aiel niemals zu verstehen schienen, warum sie dem Dampfzelt enteilte, wann immer Männer es betraten. Es hätte dem Aielhumor durchaus entsprochen, sie auszulachen, aber glücklicherweise stellten sie den richtigen Zusammenhang nicht her, worüber sie sehr froh war.
Sie nahm ihre restliche Kleidung von dem sauberen Stapel vor dem Dampfzelt und eilte dann zu ihrem Zelt zurück. Die Sonne stand schon tief, und nach einer leichten Mahlzeit war sie zum Schlafen bereit, zu müde, auch nur an Tel'aran'rhiod zu denken. Und auch zu müde, sich an die meisten ihrer Träume zu erinnern — das hatten die Weisen Frauen sie gelehrt —, aber diejenigen, an die sie sich erinnerte, handelten von Gawyn.