35 Der Saal entscheidet

Egwene starrte Sheriam an und fragte sich, ob sie lachen sollte. Vielleicht hatte sie während ihrer Zeit mit den Aiel vergessen, was bei den Aes Sedai als Humor galt. Sheriam sah sie mit diesem zeitlosen, gelassenen Gesicht an, und die schrägstehenden grünen Augen blinzelten nicht einmal. Egwene schaute zu den anderen. Sieben ausdruckslose, abwartende Gesichter. Siuan lächelte vielleicht flüchtig, aber dieses Lächeln konnte genausogut der natürliche Schwung ihrer Lippen sein. Das flackernde Lampenlicht ließ ihrer aller Gesichtszüge auf einmal fremd und unmenschlich erscheinen.

Egwenes Kopf fühlte sich leicht und ihre Knie schwach an. Ohne nachzudenken, sank sie auf den Stuhl mit der hohen Rückenlehne. Und stand sofort wieder auf. Das hatte ihren Geist zumindest ein wenig geklärt. »Ich bin nicht einmal eine Aes Sedai«, sagte sie atemlos. Es mußte eine Art Scherz oder ... oder ... oder etwas sein.

»Das kann umgangen werden«, sagte Sheriam entschlossen und zog ihre hellblaue Schärpe nachdrücklich fester.

Beonins honigfarbene Zopfe schwangen, als sie bestätigend nickte. »Der Amyrlin-Sitz ist eine Aes Sedai — das Gesetz ist recht klar; es steht an mehreren Stellen geschrieben ›der Amyrlin-Sitz der Aes Sedai‹, aber nirgendwo wird gesagt, daß man eine Aes Sedai sein muß, um die Amyrlin zu werden.« Jede Aes Sedai war mit dem Burgrecht vertraut, aber die Grauen mußten als Vermittler die Gesetze jedes Landes kennen, und Beonin nahm einen belehrenden Tonfall an, als wollte sie etwas erklären, worüber niemand so gut Bescheid wüßte wie sie. »Das Gesetz, das bestimmt, wie die Amyrlin gewählt werden soll, beinhaltet nur ›die Frau, die berufen wird‹ oder ›sie, die vor dem Saal steht‹ oder ähnliches. Die Worte ›Aes Sedai‹ werden von Anfang bis Ende nicht einmal erwähnt. Niemals. Manche mögen sagen, daß die Absicht der Begründer des Gesetzes bedacht werden müsse, aber es ist eindeutig, daß, was auch immer die Absicht der Frauen, die das Gesetz geschrieben haben, gewesen sein mag...« Sie runzelte die Stirn, als Carlinya sie unterbrach.

»Sie glaubten zweifellos, es würde soweit verstanden, daß keine Festschreibung notwendig sei. Folgerichtig bedeutet ein Gesetz jedoch, was es den Buchstaben nach besagt, was auch immer seine Begründer im Sinn hatten.«

»Gesetze haben selten etwas mit Folgerichtigkeit zu tun«, sagte Beonin bissig. »In diesem Fall jedoch«, räumte sie kurz darauf ein, »habt Ihr vollkommen recht.« Und an Egwene gewandt, fügte sie hinzu:

»Und der Saal sieht es auch so.«

Sie meinten es alle ernst, sogar Anaiya, als sie sagte: »Ihr werdet eine Aes Sedai sein, Kind, ebenso bald, wie Ihr zum Amyrlin-Sitz erhoben werdet. Kurzum.« Sogar Siuan, trotz dieses leichten Lächelns, das wirklich ein Lächeln war.

»Ihr könnt die Drei Eide leisten, sobald wir wieder in der Burg sind«, belehrte Sheriam sie. »Wir hatten überlegt, sie Euch jetzt schon leisten zu lassen, aber ohne die Eidesrute könnten sie vielleicht als ungültig angesehen werden. Also sollten wir besser warten.«

Egwene hätte sich fast wieder hingesetzt, bevor sie sich fing. Vielleicht hatten die Weisen Frauen recht gehabt. Vielleicht hatte das leibhaftige Reisen durch Tel'aran'rhiod ihrem Geist geschadet. »Das ist verrückt«, wehrte sie sich. »Ich kann nicht die Amyrlin werden. Ich bin ... ich bin...« Ihr lagen viele Einwände auf der Zunge, aber sie brachte nichts hervor. Sie war zu jung. Siuan war schon die jüngste Amyrlin gewesen, die jemals ernannt wurde, und sie war damals bereits dreißig. Sie hatte ihre Ausbildung kaum begonnen, egal was sie über die Welt der Träume wußte. Amyrlins waren klug und erfahren. Und sie sollten sicherlich weise sein. Alles, was sie empfand, war wirr und durcheinander. Die meisten Frauen verbrachten zunächst zehn Jahre als Novizinnen und weitere zehn Jahre als Aufgenommene. Es stimmte, daß einige schneller vorangingen, sogar weitaus schnellen Aber sie war erst seit weniger als einem Jahr Novizin und noch kürzer eine Aufgenommene.

»Es ist unmöglich!« brachte sie schließlich mühsam hervor.

Morvrins Schnauben erinnerte sie an Sorilea. »Beruhigt Euch, Kind, oder ich werde dafür sorgen. Dies ist nicht der richtige Zeitpunkt, nervös zu werden oder in Ohnmacht zu fallen.«

»Aber ich wüßte gar nicht, was ich tun sollte! Nicht einmal, wie ich anfangen sollte!« Egwene atmete tief ein. Das beruhigte ihr rasendes Herz zwar nicht wirklich, aber es half dennoch. Ein wenig. Aielmut. Was auch immer sie taten — sie würde nicht zulassen, daß sie sie einschüchterten. Sie betrachtete Morvrins vorgetäuscht hartes Gesicht und fügte im Geiste hinzu: Sie kann mich häuten, aber sie kann mich nicht einschüchtern. »Es ist lächerlich. Ich werde mich nicht vor allen zum Narren machen. Wenn der Saal mich deshalb berufen hat, dann lehne ich ab.«

»Ich fürchte, diese Möglichkeit habt Ihr nicht«, seufzte Anaiya, während sie ihr Gewand glättete, ein erstaunlich gekräuseltes Kleidungsstück aus rosa Seide mit elfenbeinfarbener Spitze an jedem Saum. »Ihr könnt eine Berufung zur Amyrlin ebensowenig verweigern, wie Ihr eine Berufung vor Gericht verweigern könntet. Sogar die Formulierung der Berufungen ist die gleiche.« Das war ermutigend. O ja, das war es.

»Jetzt hat der Saal die Wahl.« Myrelle klang ein wenig traurig, was Egwene auch nicht half.

Sheriam legte, plötzlich lächelnd, einen Arm um Egwenes Schultern. »Macht Euch keine Sorgen, Kind. Wir werden Euch helfen und Euch anleiten. Darum sind wir hier.«

Egwene schwieg. Sie wußte keine Antwort. Vielleicht hatte es nichts mit Einschüchterung zu tun, wenn sie dem Gesetz gehorchte, aber es fühlte sich sehr ähnlich an. Sie deuteten ihr Schweigen als Einverständnis, und sie vermutete, daß es das auch war. Siuan wurde unverzüglich fortgeschickt und grollte, weil ihr die Aufgabe übertragen wurde, die Sitzenden persönlich aufzuwecken und ihnen mitzuteilen, daß Egwene eingetroffen war.

Unruhe entstand, bevor Siuan aus der Tür war. Egwenes Reitgewand wurde Gegenstand einer heftigen Debatte — an der sie keineswegs teilhatte —, und eine rundliche Dienerin wurde aus ihrem Schlaf auf einem Stuhl im Hinterzimmer aufgeschreckt und mit der Ermahnung fortgeschickt, daß sie nur ja kein Wort über ihren Auftrag verlauten lassen sollte, alle Gewänder von Aufgenommenen zu besorgen, die sie finden konnte und die Egwene vielleicht passen könnten. Egwene probierte in dem vorderen Raum acht Gewänder an, bevor sie eines fand, das einigermaßen paßte. Es war oben herum zu eng, aber wenigstens an den Hüften ausreichend weit. Die ganze Zeit über, während die Dienerin Gewänder hereinbrachte und Egwene sie anprobierte, belehrten Sheriam und die anderen sie abwechselnd darüber, was geschehen würde, was sie tun und sagen müßte.

Sie ließen sie alles wiederholen. Die Weisen Frauen dachten, daß es genügte, etwas einmal zu sagen, und wehe dem Lehrling, der nicht zuhörte und ihre Worte nicht mitbekam. Egwene erinnerte sich von einer Novizinnen-Unterrichtsstunde in der Burg an einiges von dem, was sie jetzt sagen sollte, und sie wiederholte es schon beim ersten Mal Wort für Wort richtig, aber die Aes Sedai ließen sie es wieder und immer wieder nachsprechen. Egwene konnte das nicht verstehen. Bei allen anderen als Aes Sedai hätte sie behauptet, es geschähe aus Nervosität, auch wenn ihre Gesichter Ruhe ausstrahlten. Sie begann sich zu fragen, ob sie irgend etwas falsch machte, und fing an, verschiedene Worte zu betonen.

»Sagt die Worte so, wie es Euch gelehrt wird«, fauchte Carlinya, und Myrelle, die kaum weniger kalt klang, sagte: »Ihr könnt Euch keinen Fehler leisten, Kind. Nicht einen einzigen!«

Sie ließen sie die Worte noch fünf weitere Male wiederholen, und als sie einwandte, sie habe jedes Wort richtig wiedergegeben, habe genau erklärt, wer wo stehen würde und wer was sagen würde, dachte sie, Morvrin würde sie ohrfeigen, wenn Beonin oder Carlinya es nicht zuerst taten. Auf jeden Fall wirkte ihr Stirnrunzeln wie Schläge, und Sheriam sah sie an, als sei sie eine trotzige Novizin. Egwene seufzte und fing wieder von vorne an. »Ich gehe mit dreien von Euch als Begleitung hinein...«

Es war eine stille Prozession, die durch die fast menschenleeren, vom Mond beschienenen Straßen zog. Wenige der vereinzelten Menschen, die sich noch hier aufhielten, sahen sie auch nur an. Sechs Aes Sedai mit einer Aufgenommenen in ihrer Mitte waren hier vielleicht — oder vielleicht auch nicht — ein gewohnter Anblick, aber sicherlich war es nicht ausreichend seltsam, um Aufmerksamkeit zu bewirken. Ehemals beleuchtete Fenster lagen jetzt im Dunkeln, und Ruhe hatte sich auf die Stadt gesenkt, so daß ihre Schritte auf dem festgetretenen Erdboden weit zu hören waren. Egwene betastete den Großen Schlangenring, der wieder fest an ihrer linken Hand steckte. Ihre Knie zitterten.

Sie blieben vor einem rechteckigen, dreistöckigen Gebäude stehen. Alle Fenster waren dunkel, aber es wirkte im Mondlicht wie ein Gasthaus. Carlinya, Beonin und Anaiya sollten hierbleiben, und zumindest die beiden Erstgenannten waren nicht sehr erfreut darüber. Sie beschwerten sich nicht, was sie auch zuvor in dem Haus nicht getan hatten, aber sie richteten unnötigerweise ihre Röcke, hielten den Kopf starr erhoben und sahen Egwene nicht an.

Anaiya strich Egwene beruhigend übers Haar. »Es wird gut werden, Kind.« Sie trug ein Bündel unter dem Arm — das Gewand, das Egwene anziehen würde, wenn alles vorüber wäre. »Ihr habt schnell gelernt.«

Ein volltönender Gong erklang einmal, zweimal und dann noch ein drittes Mal im Inneren des Gebäudes. Egwene zuckte beinahe zusammen. Einen Herzschlag lang herrschte Stille, und dann hörte sie erneut den metallischen Klang des Gongs. Myrelle glättete unbewußt ihr Gewand. Erneut herrschte Stille, die von dem dreifachen Ruf durchbrochen wurde.

Sheriam öffnete die Tür, und Egwene folgte ihr mit Myrelle und Morvrin hinein. Egwene dachte unwillkürlich, daß sie sie wie Wächter umstanden, die sichergehen wollten, daß sie nicht davonlief.

Der große Raum mit der hohen Decke im Inneren war beileibe nicht dunkel. Lampen säumten die vier breiten Kamine, und weitere säumten die zum nächsten Stockwerk führende Treppe und den mit einem Geländer versehenen Wandelgang, von dem aus man den Raum überblicken konnte. Je eine große, verzweigte Stehlampe, die gespiegelt wurde, um das Licht noch zu verstärken, stand in jeder Ecke des Raums. Vor den Fenstern hängende Decken hielten alles Licht im Inneren.

Neun Stühle waren zu beiden Seiten des Raums in je einer Reihe aufgestellt, denen innen jeweils drei weitere Stühle gegenüberstanden. Die Frauen, die diese Plätze eingenommen hatten, die Sitzenden der sechs in Salidar vertretenen Ajahs, trugen Stolen und Gewänder in den Farben ihrer Ajahs. Sie wandten die Köpfe Egwene zu, und ihre Gesichter zeigten nur ruhige Gelassenheit.

Am anderen Ende des Raums stand ein weiterer Stuhl auf einem kleinen Podest: Ein hoher, schwerer Stuhl, dessen Beine spiralförmig geschnitzt waren und der dunkelgelb gestrichen war, um den Eindruck von Gold zu erwecken. Eine Stola lag über den Armlehnen, die siebenfarbig gestreift war. Egwene schien Meilen von diesem Stuhl entfernt zu stehen.

»Wer tritt vor den Saal der Burg?« fragte Romanda mit hoher, klarer Stimme. Sie saß unmittelbar unter dem goldenen Stuhl den drei Blauen Schwestern gegenüber. Sheriam trat lautlos zur Seite und gab den Blick auf Egwene frei.

»Jemand, der ergeben im Licht wandelt«, sagte Egwene. Ihre Stimme hätte zittern sollen. Sie würden das doch sicherlich nicht wirklich tun.

»Wer tritt vor den Saal der Burg?« fragte Romanda erneut.

»Jemand, der bescheiden im Licht wandelt.« Dies würde jeden Moment zu der Verhandlung ihres Vergehens werden, sich als Aes Sedai ausgegeben zu haben. Nein, das nicht. Dann hätten sie sie einfach abgeschirmt und solange eingesperrt. Aber sicherlich...

»Wer tritt vor den Saal der Burg?«

»Jemand, der auf den Ruf des Saales hin kommt, ergeben und bescheiden im Licht wandelt und nur darum bittet, den Willen des Saales annehmen zu dürfen.«

Eine dunkle schlanke Frau erhob sich bei den Grauen unter Romanda. Als jüngste Sitzende sprach Kwamesa die rituelle Frage aus, die auf die Zerstörung der Welt zurückdatierte. »Ist jemand außer Frauen anwesend?«

Romanda schlug ihre Stola zurück und ließ sie über der Rückenlehne ihres Stuhls liegen, als sie aufstand. Sie würde als Älteste zuerst antworten. Sie schlug auch ihr Gewand zurück und ließ es mit dem Unterkleid zusammen bis zur Taille hinabgleiten. »Ich bin eine Frau«, verkündete sie.

Kwamesa legte ihre Stola sorgfältig über den Stuhl und zog sich ebenfalls bis zur Taille aus. »Ich bin eine Frau«, sagte sie.

Dann erhoben sich auch die anderen, entblößten sich und verkündeten, nachdem sie den Beweis geliefert hatten, sie seien Frauen. Egwene hatte ein wenig mit dem Gewand der Aufgenommenen mit dem engen Leibchen zu kämpfen, das man ihr besorgt hatte, und brauchte Myrelles Hilfe bei den Knöpfen, aber sie war bald genauso entblößt wie alle anderen.

»Ich bin eine Frau«, sagte Egwene zusammen mit den anderen.

Kwamesa ging langsam im Raum umher, hielt vor jeder Frau mit einem fast beleidigend direkten Blick inne, blieb dann wieder vor ihrem eigenen Stuhl stehen und verkündete, daß nur Frauen anwesend seien. Die Aes Sedai setzten sich, und die meisten zogen sich wieder an. Nicht eigentlich eilig, aber doch nur wenige verschwendeten viel Zeit. Egwene hätte fast den Kopf geschüttelt. Sie konnte sich erst im späteren Verlauf der Zeremonie wieder bedecken. Vor langer Zeit hätte Kwamesas Frage weitere Beweise erfordert. In jenen Zeiten wurden formelle Zeremonien ›in Licht gekleidet‹ durchgeführt. Was würden diese Frauen aus einem Aiel-Dampfzelt oder einem shienarischen Bad machen?

Es war keine Zeit zum Nachdenken.

»Wer erhebt sich für diese Frau«, fragte Romanda, »und bittet für sie, Herz für Herz, Seele für Seele, Leben für Leben?« Sie saß aufrecht und wirkte höchst würdevoll, obwohl ihr rundlicher Busen entblößt blieb.

»Ich bitte für sie«, sagte Sheriam bestimmt, kurz darauf nacheinander von den lauten Stimmen Morvrins und Myrelles gefolgt.

»Tretet vor, Egwene al'Vere«, befahl Romanda brüsk. Egwene trat drei Schritte vor und kniete sich hin. Sie fühlte sich wie erstarrt. »Warum seid Ihr hier, Egwene al'Vere?«

Sie war wirklich erstarrt. Sie fühlte nichts in ihrem Inneren. Sie konnte sich auch nicht mehr an die Antworten erinnern, aber irgendwie lösten sie sich dennoch von ihrer Zunge. »Ich wurde vom Saal der Burg gerufen.«

»Was wollt Ihr, Egwene al'Vere?«

»Der Weißen Burg dienen, nicht mehr und nicht weniger.« Licht, sie würden es wirklich tun!

»Wie würdet Ihr dienen, Egwene al'Vere?«

»Mit meinem Herzen und meiner Seele und meinem Leben im Licht wandelnd. Ohne Angst oder Begehren im Licht wandelnd.«

»Wo würdet Ihr dienen, Egwene al'Vere?«

Egwene atmete tief ein. Sie konnte diesem Wahnsinn noch Einhalt gebieten. Sie war sicherlich noch nicht soweit, um wirklich... »Auf dem Amyrlin-Sitz, wenn es dem Saal der Burg richtig erscheint.« Ihr Atem gefror. Jetzt war es zu spät zur Umkehr. Vielleicht war es schon im Herzen des Steins zu spät gewesen.

Delana stand als erste auf, dann Kwamesa und Janya und weitere, bis neun Sitzende vor ihren Stühlen standen und Annahme signalisierten. Romanda saß noch fest auf ihrem Platz. Neun von achtzehn. Die Annahme mußte einstimmig erfolgen — der Saal strebte stets nach Übereinstimmung, und letztendlich geschahen alle Abstimmungen einstimmig, obwohl es oft vieler Gespräche bedurfte, bis es gelang —, aber heute abend gäbe es außer den zeremoniellen Sätzen keinerlei Gespräche, und dies war eine regelrechte, wenn auch knappe Ablehnung. Sheriam und die anderen hatten sie wegen ihres Einwandes ausgelacht, daß dies geschehen könnte, und das so bereitwillig, daß sie sich vielleicht Sorgen gemacht hätte, wenn die ganze Sache nicht so lächerlich gewesen wäre, aber sie hatten sie andererseits auch fast beiläufig davor gewarnt, daß dies geschehen könnte. Keine Ablehnung, sondern die Feststellung, daß die Sitzenden, die sich nicht erhoben hatten, keine Schoßhunde sein wollten. Laut Sheriam nur eine Geste, ein Zeichen, aber als sie Romandas und Lelaines starre Gesichter betrachtete, war sich Egwene dessen keineswegs sicher. Sie hatten auch gesagt, es würden vielleicht nur drei oder vier sein.

Die stehenden Frauen setzten sich schweigend wieder hin. Niemand sprach, aber Egwene wußte, was sie tun mußte. Ihre Erstarrung war gewichen.

Sie erhob sich und trat auf die nächste Sitzende zu, eine Grüne mit strengen Gesichtszügen namens Samalin, die sich nicht erhoben hatte. Während Egwene sich vor Samalin wieder hinkniete, kniete sich Sheriam mit einer weiten Waschschüssel in Händen neben sie. Die Oberfläche des Wassers kräuselte sich. Sheriam wirkte kühl und nüchtern, während Egwene zu schwitzen begann, aber Sheriams Hände zitterten. Morvrin kniete sich ebenfalls hin und reichte Egwene ein Tuch, während Myrelle mit Handtüchern über dem Arm neben ihr wartete, Myrelle schien aus irgendeinem Grund verärgert.

»Bitte erlaubt mir zu dienen«, sagte Egwene. Strikt geradeaus schauend, raffte Samalin ihre Röcke bis zu den Knien. Sie war barfuß. Egwene wusch und trocknete beide Füße und trat dann zu der nächsten Grünen, einer etwas rundlichen Frau namens Malind. Sheriam und die anderen hatten ihr die Namen aller Sitzenden genannt. »Bitte erlaubt mir zu dienen.« Malind hatte ein hübsches Gesicht mit vollen Lippen und dunklen Augen, aber sie lächelte nicht. Sie war eine derjenigen, die aufgestanden waren, aber auch sie war barfuß.

Alle Sitzenden im Raum waren barfuß. Während Egwene all diese Füße wusch, fragte sie sich, ob die Sitzenden gewußt hatten, wie viele sich nicht erheben würden. Sie hatten eindeutig gewußt, daß einige es tun würden, daß dieser Dienst nötig sein würde.

Sie wusch und trocknete den letzten Fuß — er gehörte Janya, die die Stirn runzelte, als dächte sie an etwas völlig anderes, aber zumindest war sie aufgestanden —, ließ das Tuch in die Waschschüssel fallen, kehrte zu ihrem Platz am Anfang der Reihe zurück und kniete sich wieder hin. »Bitte erlaubt mir zu dienen.« Noch eine Chance.

Delana erhob sich erneut als erste, aber Samalin tat es ihr dieses Mal sofort nach. Niemand sprang auf, aber sie erhoben sich doch eine nach der anderen, bis nur noch Lelaine und Romanda sitzen geblieben waren und einander, nicht Egwene, ansahen. Schließlich zuckte Lelaine kaum merklich die Achseln, zog gemächlich ihr Leibchen hoch und stand ebenfalls auf. Romanda wandte den Kopf und sah Egwene an. Sie ließ ihren Blick so lange auf ihr ruhen, bis Egwene Schweiß zwischen ihren Brüsten hinab und an den Rippen entlang rinnen spürte. Aber zumindest zog Romanda sich dann betont langsam an und folgte dem Beispiel der anderen. Egwene hörte ein erleichtertes Keuchen hinter sich, wo Sheriam und die anderen warteten.

Aber es war noch nicht vorbei. Romanda und Lelaine kamen zusammen zu ihr, um sie dann zu dem gelb bemalten Stuhl zu führen. Sie stand davor, während sie ihr das Leibchen hochzogen und die Stola des Amyrlin-Sitzes um ihre Schultern drapierten, wobei sie und alle anderen Sitzenden sagten: »Ihr werdet im Glanz des Lichts zum Amyrlin-Sitz erhoben, auf daß die Weiße Burg ewig bestehen möge. Egwene al'Vere, die Hüterin der Siegel, die Flamme von Tar Valon, der Amyrlin-Sitz.« Lelaine nahm Egwene den Großen Schlangenring von der linken Hand und gab ihn Romanda, die ihn dann an Egwenes rechte Hand steckte. »Möge das Licht den Amyrlin-Sitz und die Weiße Burg erleuchten.«

Egwene lachte. Romanda blinzelte, Lelaine sah sie verwirrt an, und sie waren nicht die einzigen. »Ich habe mich nur gerade an etwas erinnert«, sagte sie und fügte dann hinzu: »Töchter.« So nannte die Amyrlin die Aes Sedai. Sie hatte sich an das erinnert, was als nächstes käme. Sie konnte nicht umhin, es als Gegenleistung für die Erleichterung ihres Weges durch Tel'aran'rhiod anzusehen. Egwene al'Vere, der Hüterin der Siegel, der Flamme von Tar Valon, dem Amyrlin-Sitz, gelang es, sich angemessen und ohne zurückzuschrecken auf diesem harten, hölzernen Stuhl niederzulassen. Sie betrachtete beides als Sieg des Willens.

Sheriam, Myrelle und Morvrin traten vor — welche von ihnen gekeucht hatte, war an ihren ernsten Gesichtern nicht zu erkennen —, und die Sitzenden bildeten hinter ihnen eine Reihe, die sich bis zur Tür erstreckte. Sie stellten sich dem Alter nach auf, so daß Romanda ganz am Ende der Reihe zu stehen kam.

Sheriam vollführte einen tiefen Hofknicks. »Bitte erlaubt mir zu dienen, Mutter.«

»Ihr dürft der Burg dienen, Tochter«, erwiderte Egwene so ernst wie möglich. Sheriam küßte ihren Ring und trat beiseite, während Myrelle einen Hofknicks vollführte.

Die Reihe wurde fortgeführt. Es gab bei der Durchführung einige Überraschungen. Keine der Sitzenden war trotz ihrer Aes Sedai-Gesichter wirklich jung. Die hellhaarige Delana, die Egwene für fast so alt wie Romanda gehalten hatte, stand ungefähr in der Mitte der Reihe, während Lelaine und Janya, beide recht hübsche Frauen ohne eine Spur Grau im dunklen Haar, erst unmittelbar vor der weißhaarigen Gelben kamen. Jede vollführte einen Hofknicks, küßte Egwenes Ring mit vollkommen ausdruckslosem Gesicht — obwohl einige Egwenes gestreiften Saum ansahen — und verließ den Raum schweigend durch eine Hintertür. Normalerweise wäre die Zeremonie noch nicht zu Ende gewesen, aber der Rest würde bis zum Morgen warten müssen.

Schließlich war Egwene mit den drei Frauen allein, die für sie gebeten hatten. Sie war sich noch immer nicht sicher, was das bedeutete. »Was wäre geschehen, wenn Rowanda nicht aufgestanden wäre?« Vermutlich hätte sie noch eine Gelegenheit bekommen — eine weitere Runde Füße waschen und um die Erlaubnis bitten, dienen zu dürfen —, aber sie war sich sicher, daß sie auch noch eine dritte Chance bekommen hätte, wenn Romanda sie zum zweiten Mal abgelehnt hätte.

»Dann wäre sie sehr wahrscheinlich in wenigen Tagen selbst zur Amyrlin ernannt worden«, erwiderte Sheriam. »Sie oder Lelaine.«

»Das habe ich nicht gemeint«, sagte Egwene. »Was wäre mit mir geschehen? Wäre ich wieder eine Aufgenommene gewesen?« Anaiya und die anderen eilten lächelnd zu ihr, und Myrelle half Egwene aus dem gestreiften weißen Gewand in ein hellgrünes Seidengewand, das sie nur bis zum Schlafengehen tragen würde. Es war schon spät, aber die Amyrlin konnte nicht im Gewand einer Aufgenommenen umhergehen.

»Sehr wahrscheinlich«, antwortete Morvrin kurz darauf. »Ich weiß nicht, ob es gut wäre oder nicht, eine Aufgenommene zu sein, von der jede Sitzende wüßte, daß sie um ein Haar den Amyrlin-Sitz innegehabt hätte.«

»Das ist erst selten geschehen«, sagte Beonin, »aber eine Frau, welcher der Amyrlin-Sitz verweigert wird, wird üblicherweise verbannt. Der Saal strebt nach Harmonie, und sie wäre unweigerlich eine Quelle der Unruhe.«

Sheriam sah Egwene wie zur Betonung ihrer Worte direkt in die Augen. »Wir wären sicherlich verbannt worden. Myrelle, Morvrin und ich bestimmt, da wir aufgestanden sind und für Euch gebeten haben, und Carlinya, Beonin und Anaiya ebenfalls.« Plötzlich lächelte sie. »Aber es ist anders gekommen. Die neue Amyrlin soll ihre erste Nacht eigentlich in nachdenklicher Betrachtung und im Gebet verbringen, aber wenn Myrelle mit diesen Knöpfen fertig ist, wäre es vielleicht besser, wenn wir wenigstens einen Teil der Zeit damit verbrächten, Euch über die Lage in Salidar aufzuklären.«

Alle sahen sie an. Myrelle stand hinter ihr und schloß den letzten Knopf, aber sie konnte den Blick der Frau spüren. »Ja, ich glaube, das wäre vielleicht das beste.«

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