2 Der Neuankömmling

Mazrim Taim. Vor Rand hatten in den vergangenen Jahrhunderten schon andere Männer behauptet, der Wiedergeborene Drache zu sein. In den letzten paar Jahren vor Rand hatte es sogar eine ganze Schwemme von falschen Drachen gegeben. Manche von ihnen konnten tatsächlich die Macht lenken. Mazrim Taim war einer davon. Er hatte ein Heer um sich gesammelt und Saldaea mit Krieg überzogen, bevor er gefangengenommen wurde. Basheres Miene verzog sich nicht, doch er packte das Heft seines Schwertes so fest, daß seine Knöchel weiß hervortraten. Turnad blickte ihn an und wartete auf Befehle. Taims Flucht auf dem Weg nach Tar Valon, wo er einer Dämpfung unterzogen werden sollte, war der Grund, warum Bashere überhaupt nach Andor gekommen war. So sehr fürchtete und haßte Saldaea Mazrim Taim. Königin Tenobia hatte Bashere mit einem Heer ausgesandt, Taim zu verfolgen, wohin sich der Mann auch wandte, wie lange es auch dauern mochte, um sicherzugehen, daß Taim Saldaea nie wieder unsicher machen könne.

Die Töchter standen gelassen da, doch unter den Andoranern entfachte dieser Name eine Unruhe, als habe man eine Fackel auf dürres Gras geworfen. Amyrilla zogen sie gerade wieder auf die Beine, doch nun kippten ihre Pupillen schon wieder nach oben und sie wäre erneut zusammengebrochen, hätte nicht Karind sie aufgefangen und langsam auf die Fliesen hinabgleiten lassen. Elegar taumelte rückwärts unter die Arkaden und krümmte sich würgend zusammen. Die anderen keuchten, preßten sich Taschentücher vor den Mund, packten die Hefte ihrer Schwerter und befanden sich offensichtlich in einem Zustand der Panik. Selbst die standhafte Karind leckte sich nervös die Lippen.

Rand nahm die Hand von seiner Jackentasche. »Die Amnestie«, sagte er, und die beiden Männer aus Saldaea warfen ihm einen langen, ausdruckslosen Blick zu.

»Und was ist, wenn er nicht Eurer Amnestie wegen gekommen ist?« fragte Bashere nach kurzer Pause. »Wenn er immer noch behauptet, der Wiedergeborene Drache zu sein?« Die Andoraner bewegten sich unruhig. Niemand wollte sich innerhalb einiger Meilen Umkreis um einen Ort befinden, an dem die Eine Macht in einem Duell verwendet wurde.

»Falls er das glaubt«, erwiderte Rand energisch, »werde ich ihn eines Besseren belehren.« Er hatte einen Angreal der seltensten Art in der Tasche, einen, der für Männer geschaffen war: die Statue eines kleinen, fetten Mannes mit einem Schwert. So stark Taim auch sein mochte, dem hatte er doch nichts entgegenzusetzen. »Aber wenn er der Amnestie wegen gekommen ist, dann ist er frei, so wie jeder andere Mann.« Was Taim auch in Saldaea angerichtet haben mochte — er konnte sich nicht leisten, einen Mann abzuweisen, der die Macht lenken konnte und dem man nicht erst alles vom ersten Schritt an beibringen mußte. Einen solchen Mann brauchte er dringend. Er würde niemanden abweisen, bis auf einen der Verlorenen natürlich, wenn es nicht absolut notwendig war.

Demandred und Sammael, Semirhage und Mesaana und... Rand verdrängte Lews Therins Gedanken. Jetzt konnte er sich keine Ablenkung leisten.

Wieder legte Bashere eine Pause ein, bis er weitersprach, doch schließlich nickte er und ließ sein Schwert los. »Eure Amnestie gilt natürlich. Aber merkt Euch, al'Thor: Wenn Taim jemals wieder seinen Fuß auf den Boden Saldaeas setzt, wird er das nicht überleben. Es gibt zu vieles, das man nicht mehr vergessen kann. Nicht einmal ein Befehl von mir oder von Tenobia selbst wird ihm dieses Schicksal ersparen.«

»Ich werde ihn aus Saldaea heraushalten.« Entweder war Taim hergekommen, um sich ihm zu unterwerfen, oder es würde notwendig sein den Mann zu töten. Unbewußt faßte Rands Hand nach seiner Tasche und drückte durch den Stoff hindurch den fetten kleinen Mann. »Holt ihn herein.«

Tumad sah Bashere an, doch dessen Nicken kam so schnell, daß es wirken mußte, als habe sich Tumad auf den von Rand ausgesprochenen Befehl hin verbeugt. Rand war gereizt, sagte aber nichts, und Tumad eilte mit seinem leicht schaukelnden Gang davon. Bashere verschränkte die Arme vor der Brust und stand da, ein Knie leicht gebeugt, ganz das Bild eines entspannten Mannes. Doch diese dunklen, schrägstehenden Augen, die auf den Fleck gerichtet waren, an dem Tumad den Hof verlassen hatte, ließen darauf schließen, daß er nur darauf warte, etwas töten zu können.

Wieder traten die Andoraner nervös von einem Fuß auf den anderen. Manche taten einen Schritt in Richtung Ausgang, hielten aber dann doch inne. Sie atmeten schwer, als wären sie meilenweit gerannt.

»Ihr könnt gehen«, sagte Rand zu ihnen.

»Was mich betrifft«, begann Lir, »werde ich Euch zur Seite stehen«, während im gleichen Moment Naean mit scharfer Stimme einwarf: »Ich werde nicht weglaufen vor...«

Rand unterbrach beide: »Geht!«

Sie wollten ihm beweisen, daß sie keine Angst hatten, auch wenn sie sich beinahe bepinkelten. Andererseits wollten sie weglaufen und alle Würde sausen lassen, soweit sie diese vor ihm nicht sowieso schon aufgegeben hatten. Es war eine einfache Wahl. Er war der Wiedergeborene Drache. Wollte man seine Gunst erhalten, mußte man gehorsam sein. Gehorsam bedeutete in diesem Falle, zu tun, was sie sowieso am liebsten getan hätten. So verbeugten sich die Männer weitschweifig, die Damen knicksten tief und spreizten dabei die Röcke, alles murmelte: »Mit Eurer Erlaubnis, mein Lord Drache« oder »Wie Ihr befehlt, mein Lord Drache«, und dann... Nun, sie rannten nicht gerade davon, gingen aber so schnell, wie sie es ohne den Anschein übermäßiger Eile fertigbrachten — in der entgegengesetzten Richtung. Zweifellos wollten sie kein zufälliges Zusammentreffen mit Mazrim Taim auf seinem Weg zu Rand riskieren.

Das Warten zog sich bei dieser Hitze hin, denn es brauchte seine Zeit, einen Mann vom Eingang des Palastes durch das Gewirr von Korridoren hierherzubringen, doch sobald die Andoraner weg waren, rührte sich niemand mehr. Bashere blickte stur zu dem Fleck hin, an dem Taim auftauchen würde. Die Töchter beobachteten alles, aber das taten sie immer, und auch wenn sie jetzt aussahen, als seien sie bereit, jeden Moment die Schleier wieder hochzureißen, dann war das nichts anderes als ihr Dauerzustand. Von ihren Augen abgesehen, hätten sie genausogut Statuen sein können.

Endlich warfen Stiefelschritte ihr Echo in den Hof. Rand hätte fast nach Saidin gegriffen, hielt sich dann aber doch zurück. Der Mann würde in der Lage sein, zu erkennen, daß er vom Glühen der Macht umgeben war, sobald er den Hof betrat Rand konnte sich nicht leisten, den Anschein zu erwecken, er fürchte ihn.

Tumad trat zuerst in den grellen Sonnenschein hinaus, und dann folgte ihm ein schwarzhaariger Mann von etwas überdurchschnittlicher Größe, dessen dunkler Teint und schrägstehende Augen, Hakennase und hohe Backenknochen seine Abstammung aus Saldaea deutlich machten, obwohl er keinen Bart trug und wie ein wohlhabender andoranischer Kaufmann gekleidet war, der nun möglicherweise schwere Zeiten erlebte.

Sein dunkelblauer Kurzmantel war aus Wolle bester Qualität gefertigt und mit noch dunklerem Samt besetzt aber die Manschetten wirkten abgewetzt, die Hosen beulten sich an den Knien aus und auf seinen rissigen Stiefeln lag eine Staubschicht. Trotzdem schritt er stolz einher, was nicht leichtfallen mochte mit vier von Basheres Männern hinter sich, die ihre geschweiften Klingen entblößt hatten und mit den Spitzen aus nächster Nähe auf seine Rippen zielten. Die Hitze schien ihn kaum zu berühren. Die Blicke der Töchter folgten ihm auf seinem Weg.

Rand musterte Taim, während der Mann mit seiner Eskorte den Hof überquerte. Er war mindestens fünfzehn Jahre älter als Rand — fünfunddreißig oder vielleicht ein paar Jahre mehr. Es war nur wenig bekannt und noch weniger schriftlich niedergelegt, was Männer mit der Fähigkeit, die Macht zu lenken, betraf, denn dieses Thema mieden anständige Leute für gewöhnlich. Aber Rand hatte in Erfahrung gebracht, was eben möglich gewesen war. Nur relativ wenige Menschen befaßten sich überhaupt mit dieser Thematik; das war eines von Rands Problemen. Seit der Zerstörung der Welt waren die meisten Männer dieser Art solche gewesen, denen diese Fähigkeit angeboren war und bei denen sie sich in der Pubertät langsam bemerkbar machte. Manche schafften es, jahrelang den Wahnsinn zu meiden, bis sie von Aes Sedai aufgespürt und einer Dämpfung unterzogen wurden. Andere waren bereits hoffnungslos wahnsinnig, wenn man sie fand, manchmal nur ein knappes Jahr, nachdem sie Saidin zum erstenmal berührt hatten. Rand hatte sich inzwischen schon seit zwei Jahren seine geistige Gesundheit bewahrt. Und vor sich hatte er nun einen Mann, der das zehn oder fünfzehn Jahre lang geschafft hatte. Das allein war schon etwas wert.

Sie blieben auf eine Geste Tumads ein paar Schritte vor ihm stehen. Rand öffnete den Mund, doch bevor er etwas sagen konnte, machte sich Lews Therin völlig verzweifelt in seinem Hirn bemerkbar. Sammael und Demandred haßten mich, ganz gleich, welche Ehren ich ihnen zuteil werden ließ. Je mehr Ehre, desto größer der Haß, bis sie ihre Seelen verkauften und überliefen. Besonders Demandred. Ich hätte ihn töten sollen! Ich hätte sie alle toten sollen! Die Erde verbrennen, um alle zu töten! Die Erde verbrennen!

Mit erstarrtem Gesicht kämpfte Rand um seinen Verstand. Ich bin Rand al'Thor. Rand al'Thor! Ich habe Sammael und Demandred oder die anderen niemals kennengelernt. Das Licht senge mich, ich bin Rand al'Thor! Wie ein schwaches Echo kam von irgendwoher ein weiterer Gedanke: Das Licht soll mich verbrennen. Es klang wie eine Bitte. Dann war Lews Therin weg, zurückgetrieben in die Schatten seiner armseligen Existenz.

Bashere ergriff in das Schweigen hinein die Initiative. »Ihr sagt, Ihr wärt Mazrim Taim?« Es klang zweifelnd, und Rand blickte ihn verwirrt an. War das nun Taim oder nicht? Nur ein Verrückter würde diesen Namen annehmen, wenn er nicht sein eigener war.

Der Mund des Gefangenen verzog sich ganz leicht zu etwas, was ein Anflug eines Lächelns sein mochte, und er rieb sich das Kinn. »Ich habe mich rasiert, Bashere.« In seiner Stimme lag mehr als nur eine Andeutung von Spott. »Es ist heiß, so weit unten im Süden, oder hattet Ihr das nicht bemerkt? Selbst hier ist es heißer, als es eigentlich sein sollte. Wollt Ihr einen Beweis, daß ich es bin? Soll ich für Euch die Macht benützen?« Der Blick aus seinen schwarzen Augen huschte zu Rand hinüber und dann zu Bashere zurück, dessen Gesicht mit jeder Minute dunkler anlief. »Vielleicht doch besser nicht, jedenfalls nicht jetzt. Ich erinnere mich an Euch. Ich hatte Euch bei Irinjavar geschlagen, bis diese Visionen am Himmel erschienen. Aber das weiß natürlich jeder. Was weiß nicht jeder, sondern ausschließlich Mazrim Taim und Ihr?« Er schien so auf Bashere konzentriert, daß er die Wachen und ihre Schwertspitzen, die noch immer fast seine Rippen berührten, gar nicht mehr bemerkte. »Wie ich hörte, habt Ihr nicht berichtet, was mit Musar und Hachari und ihren Frauen geschah.« Der Spott war verflogen, und nun berichtete er lediglich über tatsächlich Geschehenes. »Sie hätten nicht versuchen dürfen, mich unter einer weißen Waffenstillstandsflagge zu töten. Ich nehme an, Ihr habt gute Arbeitsplätze als Diener für sie gefunden? Alles, was sie jetzt noch tun wollen, ist zu dienen und zu gehorchen. Nichts anderes kann sie noch glücklich machen. Ich hätte sie töten können. Alle vier hatten die Dolche gezogen.«

»Taim«, grollte Bashere, wobei seine Hand an das Heft seines Schwertes fuhr, »Ihr...!«

Rand trat zwischen sie und packte ihn am Handgelenk. Die Klinge war erst halb aus der Scheide. Die Klingen der Wachen und auch Tumads berührten Taim nun. So, wie sie gegen seinen Mantel drückten, drangen sie wahrscheinlich bis auf die Haut durch, doch er zuckte nicht mit der Wimper. »Seid Ihr gekommen, um mich zu sehen, oder um Lord Bashere herauszufordern? Wenn Ihr das noch einmal versucht, lasse ich Euch durch ihn töten. Meine Amnestie betrifft das, was Ihr getan habt, aber sie schließt nicht ein, daß Ihr euch mit Euren Verbrechen brüstet.«

Taim musterte Rand einen Augenblick lang, bevor er sich äußerte. Trotz der Hitze schwitzte der Kerl kaum. »Um Euch zu sehen. Ihr wart derjenige, den ich in jener Vision am Himmel sah. Man behauptet, es sei der Dunkle König selbst gewesen, gegen den Ihr gekämpft habt.«

»Nicht der Dunkle König«, sagte Rand. Bashere kämpfte nicht direkt gegen seinen Griff an, aber er konnte die Anspannung im Arm des Mannes spüren. Ließe er jetzt los, dann würde er innerhalb eines Herzschlags die Klinge ziehen und Taim durchbohren. Es sei denn, er gebrauchte die Macht. Oder Taim kam ihm zuvor. Das mußte er wenn möglich vermeiden. Er behielt den Griff an Basheres Handgelenk bei. »Er nannte sich Ba'alzamon, aber ich glaube, es war Ishamael. Ich habe ihn später dann im Stein von Tear getötet.«

»Wie ich hörte, habt Ihr etliche der Verlorenen getötet. Sollte ich Euch mit ›mein Lord Drache‹ ansprechen? Ich habe gehört daß dieser Haufen hier diesen Titel benützt. Habt Ihr vor, alle Verlorenen zu töten?«

»Kennt Ihr eine andere Möglichkeit, mit ihnen zu verfahren?« fragte Rand. »Entweder sie sterben, oder die Welt stirbt. Es sei denn, Ihr glaubt man könne sie dazu überreden, den Schatten genauso im Stich zu lassen wie einst das Licht.« Das wurde langsam lächerlich. Hier stand er und unterhielt sich mit einem Mann, dem sich unter dem Mantel fünf Schwertspitzen in die Haut bohrten. Vermutlich blutete er schon. Und er stand hier und hielt einen weiteren Mann fest, der seine Schwertspitze den anderen hinzufügen und mehr als nur ein bißchen Blut fließen lassen wollte. Wenigstens waren Basheres Männer zu diszipliniert um ohne den Befehl ihres Generals mehr zu unternehmen. Und wenigstens hielt Bashere den Mund. Rand bewunderte Taims Kaltblütigkeit und fuhr so schnell fort, wie er konnte, ohne daß es erschien, als sei er besonders in Eile.

»Welche Verbrechen Ihr auch begangen habt, Taim, sie verblassen doch vor denen der Verlorenen. Habt Ihr jemals eine ganze Stadt gefoltert, Tausende von Menschen dazu gezwungen, sich gegenseitig zu quälen, die eigenen geliebten Menschen zu zerbrechen? Semirhage hat das getan, und aus einem einzigen Grund, um nämlich zu beweisen, daß sie es fertigbringt — aus purer Lust am Quälen. Habt Ihr Kinder ermordet? Graendal schon. Sie bezeichnete es als Freundschaftsdienst, damit sie nicht leiden müßten, wenn sie ihre Eltern versklavte und verschleppte.« Er hoffte, die anderen aus Saldaea lauschten wenigstens halb so aufmerksam wie Taim. Der Mann hatte sich tatsächlich interessiert vorgebeugt. Er hoffte aber auch, daß sie ihm nicht zu viele Fragen stellen würden, woher er dieses Wissen bezog. »Habt Ihr den Trollocs Menschen zum Fraß vorgeworfen? Das haben alle Verlorenen getan, denn Gefangene, die sich nicht zum Überlaufen zwingen ließen, wurden grundsätzlich den Trollocs als Futter überlassen, falls man sie nicht schon vorher aus Wut ermordet hatte. Aber Demandred ließ sogar die Bewohner zweier ganzer Städte gefangennehmen, von denen er glaubte, sie hätten ihm Unrecht getan, bevor er zum Schatten überlief, und alle, Männer, Frauen und Kinder, wanderten in die Bäuche der Trollocs. Mesaana hat Schulen in den von ihr beherrschten Gebieten errichten lassen. Schulen, in denen man Kinder und junge Leute darin unterrichtete, wie man dem Dunkeln König am besten diene, und daß man Freunde und Kameraden, die nicht schnell oder willig genug lernten, einfach töten müsse. Ich könnte noch lange so weitermachen. Vom Anfang der Liste, alle dreizehn Namen durch, und dann stünden bei jedem Namen hundert genauso schlimme Verbrechen zu Buche. Was Ihr auch angestellt habt, es kann sich damit wohl kaum messen. Und nun seid Ihr gekommen, um meine Begnadigung zu erhalten, um im Licht zu wandeln und Euch mir zu unterwerfen, und um den Dunklen König mit aller Kraft zu bekämpfen, härter, als Ihr jemals jemanden bekämpft habt. Die Verlorenen beginnen zu wanken. Ich habe vor, sie alle zu jagen und zu töten, sie auszulöschen. Und Ihr werdet mir helfen. Damit verdient Ihr Euch die Begnadigung. Und um Euch die Wahrheit zu sagen: Ihr werdet sie Euch vielleicht Hunderte Male verdienen müssen, bevor die Letzte Schlacht vorüber ist.«

Endlich spürte er, wie sich Basheres Arm entspannte und sein Schwert zurück in die Scheide glitt. Rand konnte sich gerade noch davon abhalten, erleichtert zu seufzen. »Ich sehe keinen Grund, ihn nun noch so scharf zu bewachen. Nehmt Eure Schwerter weg.«

Langsam steckten Tumad und die anderen die Schwerter zurück. Langsam, aber immerhin gehorchten sie.

Dann sagte Taim: »Unterwerfen? Ich dachte eher an ein Bündnis zwischen uns.« Die Soldaten aus Saldaea wirkten augenblicklich wieder kampfbereit, und obwohl sich Bashere hinter Rand befand, fühlte er deutlich, wie sich sein ganzer Körper versteifte. Die Töchter bewegten keinen Muskel, nur Jalanis Hand zuckte ein wenig in Richtung ihres Schleiers. Taim neigte seinen Kopf ein wenig. Er war sich der Reaktion auf seine Worte offensichtlich nicht bewußt. »Natürlich wäre ich der geringere Partner, aber ich habe Euch Jahre voraus, in denen ich den Umgang mit der Macht lernen konnte. Es gibt vieles, das ich Euch beibringen könnte.«

In Rand stieg Zorn auf, bis ein roter Schleier seine Sicht zu verdecken schien. Er hatte Dinge ausgesprochen, von denen er eigentlich keine Ahnung haben dürfte, hatte damit vielleicht ein Dutzend Gerüchte ausgelöst, was ihn und die Verlorenen betraf, alles, damit die Taten dieses Kerls nicht mehr so schlimm erschienen, und dann besaß der Mann die Unverschämtheit, von einem Bündnis zu sprechen? Lews Therin tobte in seinem Kopf. Töte ihn! Töte ihn jetzt auf der Stelle! Töte ihn! Ausnahmsweise einmal beherrschte Rand sich nicht, als er grollte: »Kein Bündnis! Keine Partner! Ich bin der Wiedergeborene Drache, Taim! Ich! Wenn Ihr Kenntnisse besitzt, die ich brauchen kann, dann werde ich sie benützen, aber Ihr geht, wohin ich es Euch befehle, macht genau das, was ich Euch befehle und sobald ich es befohlen habe!«

Übergangslos sank Taim auf ein Knie nieder. »Ich unterwerfe mich dem Wiedergeborenen Drachen. Ich werde dienen und gehorchen.« Als er sich erhob, zuckten seine Mundwinkel wieder leicht in diesem Anflug eines Lächelns. Tumad starrte ihn mit offenem Mund an.

»So schnell?« sagte Rand leise. Der Zorn war nicht verflogen; er glühte heiß in ihm. Er wußte nicht, was geschehen würde, gäbe er diesem Gefühl nach. Lews Therin plapperte noch immer in den Schatten seines Verstands. Töte ihn! Mußt ihn töten! Rand schob Lews Therin weg, bis nur noch kaum hörbares Gemurmel übrigblieb. Vielleicht sollte er gar nicht überrascht über solche Wandlungen sein. Seltsame Dinge geschahen um einen Ta'veren herum, besonders dann, wenn er so stark war wie er selbst. Daß ein Mann innerhalb eines Augenblicks seine Meinung änderte, auch wenn sie vorher fest wie Stein war, sollte ihn nicht sehr überraschen. Doch der Zorn hatte ihn gepackt, und außerdem spürte er noch beträchtliches Mißtrauen. »Ihr habt Euch als Wiedergeborener Drache bezeichnet, ganz Saldaea mit Krieg überzogen, wurdet nur gefangen, weil man Euch bewußtlos geschlagen habt, und dann gebt Ihr so schnell auf? Warum?«

Taim zuckte die Achseln. »Welche Wahl habe ich schon? Allein durch die Welt streifen, ohne Freunde, gehetzt, während Ihr allen Ruhm erntet? Und das auch nur, falls mich Bashere oder Eure Aielfrauen nicht töten, bevor ich die Stadt verlasse. Selbst wenn sie das nicht schaffen, werden mich die Aes Sedai früher oder später in die Enge treiben. Ich bezweifle, daß die Burg plant, Mazrim Taim zu vergessen. Die Alternative wäre, Euch zu folgen, denn dann kann ich wenigstens einen Teil dieses Ruhms für mich beanspruchen.« Zum erstenmal blickte er sich um, sah seine Wächter an, die Töchter, und schüttelte den Kopf, als könne er es nicht glauben. »Ich hätte doch durchaus derjenige sein können. Wie konnte ich denn sonst sichergehen? Ich kann mit der Macht umgehen; ich bin stark. Was sagte mir denn, daß ich nicht der Wiedergeborene Drache sei? Alles, was ich zu tun hatte, war, wenigstens eine der Prophezeiungen zu erfüllen.«

»Beispielsweise am Hang des Drachenberges geboren zu werden?« sagte Rand kalt. »Das war die erste Prophezeiung, die erfüllt werden mußte.«

Taims Mundwinkel zuckten wieder. Es sollte wohl gar kein Lächeln werden, denn es berührte niemals seine Augen. »Die Sieger schreiben die Geschichtsbücher. Hätte ich den Stein von Tear eingenommen, würden die Geschichtsbücher beweisen, daß ich am Drachenberg geboren wurde, von einer Frau, die noch niemals von einem Mann berührt worden war, und daß die Himmel ihre strahlenden Pforten weit geöffnet hatten, um mein Kommen zu begrüßen. Also die Art von Dingen, die sie eben jetzt von Euch behaupten. Doch Ihr habt mit Euren Aiel den Stein eingenommen, und die Welt jubelt Euch als dem Wiedergeborenen Drachen zu. Ich weiß genug, um mich dem nicht entgegenzustellen; ihr seid derjenige. Also, da ich nicht den ganzen Laib haben kann, begnüge ich mich mit den Scheiben, die für mich abfallen.«

»Vielleicht erntet Ihr Ruhm, Taim, und vielleicht auch wieder nicht. Wenn Ihr anfangt Euch darüber Gedanken zu machen, dann denkt zuerst an die anderen, die das gleiche getan haben wie Ihr. Logain: gefangen, einer Dämpfung unterzogen; Gerüchte behaupten, er sei in der Burg gestorben. Ein namenloser Bursche wurde von den Tairenern in den Haddon Sümpfen enthauptet. Einen weiteren haben die Leute in Murandy verbrannt. Bei lebendigem Leib verbrannt, Taim! Und das gleiche haben die Illianer vor vier Jahren mit Gorin Rogad gemacht.«

»Nicht die Art von Schicksal, die ich gern teilen würde«, sagte Taim gefaßt.

»Dann vergeßt den Ruhm und denkt an die Letzte Schlacht. Alles, was ich unternehme, ist auf Tarmon Gai'don ausgerichtet. Alles, was ich Euch befehle, wird darauf ausgerichtet sein. Ihr selbst werdet darauf hinarbeiten!«

»Selbstverständlich.« Taim spreizte die Hände. »Ihr seid der Wiedergeborene Drache. Das bezweifle ich nicht, und ich bekenne mich öffentlich dazu. Wir marschieren auf Tarmon Gai'don zu. Die Schlacht von der die Prophezeiungen behaupten, Ihr würdet sie gewinnnen. Und die Geschichtsbücher werden schreiben, daß Mazrim Taim zu Eurer Rechten stand.«

»Vielleicht«, erwiderte Rand knapp. Er hatte bereits zu viele Prophezeiungen durchlebt, um noch daran zu glauben, daß sie wörtlich zu nehmen seien. Oder, daß sie auch nur irgend etwas tatsächlich sicherstellten. Seiner Auffassung nach legten die Prophezeiungen die Rahmenbedingungen fest, unter denen eine bestimmte Sache geschehen konnte; nur, wenn diese Bedingungen zutrafen, hieß das noch lange nicht, diese Sache werde wirklich geschehen. Das konnte lediglich passieren. Einige der in den Prophezeiungen des Drachen niedergeschriebenen Bedingungen verlangten nahezu nach seinem Tod, damit der Sieg errungen würde. Der Gedanke daran verbesserte seine Laune nicht gerade. »Das Licht gebe, daß Eure Chance nicht so schnell kommt. Also. Welche Kenntnisse besitzt Ihr, die ich benötige? Könnt Ihr Männern beibringen, wie man die Macht benützt? Könnt Ihr einen Mann überprüfen, um festzustellen, ob er diese Fähigkeit besitzt und unterrichtet werden kann?« Es war bei den Männern nicht so wie bei den Frauen, daß sie diese Fähigkeit in anderen spüren konnten. Der Unterschied zwischen Männern und Frauen in bezug auf den Gebrauch der Macht war ebenso groß wie der Unterschied zwischen Männern und Frauen überhaupt. Manchmal unterschieden sie sich nur um Haaresbreite, dann aber wieder war es, als vergleiche man Stein mit Seide.

»Eure Amnestie? Sind wirklich ein paar Narren aufgetaucht, um zu lernen, wie sie Euch und mir nacheifern können?«

Bashere, die Arme verschränkt und die Beine gespreizt, starrte Taim nur verachtungsvoll an, doch Tumad und die anderen Wachen bewegten sich unruhig. Die Töchter blieben gelassen. Rand hatte keine Ahnung, was die Töchter von den etwa zwanzig Männern hielten, die seinem Aufruf gefolgt waren; sie ließen sich nie etwas anmerken. Nachdem bei den Leuten aus Saldaea die Erinnerung an Taim als einen falschen Drachen noch frisch war, konnten diese ihr Unbehagen jedoch kaum verbergen.

»Antwortet mir einfach nur, Taim. Wenn Ihr verrichten könnt, was ich verlange, dann sagt es mir. Falls nicht...« Das war der Zorn, der aus ihm sprach. Er konnte den Mann nicht wieder wegschicken, und wenn er sich auch jeden Tag mit ihm herumstreiten müßte. Taim dagegen schien sich einzubilden, er würde ihn wegschicken.

»Ich kann beides«, sagte er schnell. »Ich habe während dieser Jahre selbst fünf aufgespürt, obwohl ich gar nicht wirklich nach ihnen suchte, doch nur einer hatte den Mut, über die reine Überprüfung hinaus dabeizubleiben.« Er zögerte und fügte dann hinzu: »Nach zwei Jahren wurde er wahnsinnig. Ich mußte ihn töten, bevor er mich tötete.«

Zwei Jahre. »Ihr habt es viel länger als er durchgehalten. Wie?«

»Besorgt?« fragte Taim leise und zuckte dann die Achseln. »Ich kann Euch nicht helfen. Ich weiß es nicht. Es ist einfach so geschehen. Ich bin geistig genauso gesund wie...« Sein Blick huschte zu Bashere hinüber, dessen bösen Blick er jedoch ignorierte, »...wie Lord Bashere.«

Trotzdem hatte Rand plötzlich seine Zweifel. Die Hälfte der Töchter war wieder dazu übergegangen, den Rest des Hofes aufmerksam zu beobachten. Es war aber unwahrscheinlich, daß sie sich zu sehr auf eine mögliche Bedrohung konzentrierten und alle anderen deshalb ignorierten. Die mögliche Bedrohung ging von Taim aus, und so hatte die andere Hälfte der Töchter nach wie vor die Blicke auf ihn und Rand gerichtet um augenblicklich jedes Anzeichen dafür zu entdecken, daß die Bedrohung real sei. Ein jeder Mann mußte sich dessen ja wohl bewußt sein und des plötzlichen Tods, der in ihren Augen aufblitzen, in ihren Händen Gestalt annehmen konnte. Rand war sich dessen bewußt, dabei wollten sie ihn nur beschützen. Und dazu hatten Tumad und die anderen Wachen nach wie vor die Hände an den Heften ihrer Schwerter, bereit, sie wieder zu ziehen. Falls sich Basheres Männer und die Aiel dazu entschlossen, Taim zu töten, hätte es der Mann ziemlich schwer, den Hof lebendig zu verlassen, und wenn er auch die Macht einsetzte, es sei denn, Rand half ihm. Und doch schenkte Taim weder den Soldaten noch den Töchtern äußerlich mehr Beachtung als den Säulen oder den Fliesen unter seinen Stiefeln. Tapferkeit, wirklich oder vorgetäuscht, oder etwas anderes? Eine Art von Wahnsinn?

Nach einem Augenblick des Schweigens sprach Taim weiter: »Ihr traut mir noch nicht. Ihr habt ja auch keinen Grund dazu. Noch nicht. Mit der Zeit werdet Ihr mir aber zu vertrauen lernen. Im Hinblick auf dieses zukünftige Vertrauen habe ich Euch ein Geschenk mitgebracht.« Unter seinem abgetragenen Mantel zog er ein in Lumpen gehülltes Bündel hervor, das ein bißchen größer als zwei geballte Männerfäuste war.

Mit gerunzelter Stirn nahm Rand es entgegen, und ihm stockte der Atem, als er die harte Form darin fühlte. Hastig riß er die vielfarbigen Lumpen weg und enthüllte eine handtellergroße Scheibe, eine Scheibe genau wie die auf der roten Flagge über dem Palast, zur Hälfte weiß und zur Hälfte schwarz, das uralte Sinnbild für die Aes Sedai aus der Zeit vor der Zerstörung der Welt. Er ließ seine Finger über die ineinandergefügten Tränen gleiten.

Nur sieben davon waren jemals angefertigt worden, und zwar aus Cuendillar. Siegel am Gefängnis des Dunklen Königs, Siegel, die den Dunklen König von der Welt fernhielten. Er besaß zwei weitere, sorgfältig versteckt Sehr gut behütet. Nichts konnte Cuendillar beschädigen, nicht einmal die Eine Macht! Selbst der hauchdünne Rand einer aus dem Herzstein gefertigten Tasse würde auf Stahl, ja sogar auf Diamant, Kratzer hinterlassen. Und doch waren drei der sieben zerbrochen worden. Er hatte sie zerschmettert liegen sehen. Und er hatte Moiraine beobachtet, wie sie einen dünnen Splitter von einem glatt abgeschnitten hatte. Die Siegel wurden schwächer, und das Licht allein mochte wissen, warum oder wie. Die Scheibe in seinen Händen fühlte sich so hart und glatt an wie Cuendillar, wie eine Mischung aus dem feinsten Porzellan und dem härtesten Stahl, und doch war er sicher, sie würde zerbrechen, ließe er sie auch nur auf die Fliesen zu seinen Füßen fallen.

Drei zerstört. Drei in seinem Besitz. Wo war das siebte? Nur vier Siegel noch standen zwischen der Menschheit und dem Dunklen König. Vier, falls das letzte noch unbeschädigt war. Nur vier standen zwischen der Menschheit und der Letzten Schlacht. Wie gut hielten sie überhaupt noch, so geschwächt, wie sie waren?

Lews Therins Stimme kam mit einemmal donnernd und mächtig zurück: Zerstöre es, zerstöre sie alle, muß sie zerstören, muß muß muß sie alle zerstören und zuschlagen muß schnell zuschlagen muß jetzt zuschlagen zerstöre es zerstöre es zerstöre es...

Rand zitterte, solche Mühe bereitete es ihm, diese Stimme in sich niederzukämpfen, einen klebrigen Nebelhauch in seinem Innern abzustreifen, der wie Spinnweben in ihm zu haften drohte. Seine Muskeln schmerzten, als ringe er mit einem Wesen aus Fleisch und Blut, mit einem Riesen. Eine Handvoll klebrigen Nebels nach der anderen, des Nebels, der Lews Therin war, stopfte er in die tiefsten Ritzen, die dunkelsten Schatten, die er in seinem Verstand finden konnte.

Mit einemmal wurde ihm bewußt, daß er heiser vor sich hin murmelte: »Muß es jetzt zerstören sie alle zerstören es zerstören zerstören zerstören.« Und plötzlich merkte er auch, daß er die Hände hoch über dem Kopf hielt das Siegel dort oben hielt, bereit, es auf den weißen Fliesen zu zerschmettern. Das einzige, was ihn davon abhielt, war Bashere, der auf Zehenspitzen vor ihm stand und mit hochgereckten Armen Rands Arme festhielt.

»Ich weiß zwar nicht, was das ist«, sagte Bashere ruhig, »aber ich glaube, Ihr solltet vielleicht noch warten, bevor Ihr Euch entscheidet, es zu zerschmettern, ja?«

Tumad und die anderen beobachteten Taim nicht mehr, sondern starrten Rand mit weit aufgerissenen Augen an. Sogar die Töchter hatten die Blicke auf ihn gerichtet und sahen ihn besorgt an. Sulin trat einen halben Schritt in Richtung der Männer vor, und Jalani hatte, offenbar völlig unbewußt, eine Hand nach Rand ausgestreckt.

»Nein.« Rand schluckte; seine Kehle brannte. »Ich glaube nicht, daß ich das tun sollte.« Bashere trat langsam zurück, und Rand senkte das Siegel genauso langsam und vorsichtig. Wenn Rand vorher Taim für unerschütterlich gehalten hatte, wurde er jetzt eines Besseren belehrt. Entsetzen prägte das Gesicht des Mannes. »Wißt Ihr, was das ist, Taim?« fuhr ihn Rand an. »Ihr müßt es wissen, sonst hättet Ihr es mir nicht gebracht. Wo habt Ihr es gefunden? Habt Ihr noch eines? Wißt Ihr, wo sich ein anderes befindet?«

»Nein«, sagte Taim mit unsicherer Stimme. Er sah nicht so aus, als fürchte er sich; eher wie ein Mann, unter dessen Füßen plötzlich eine Felsklippe nachgab und der sich gerade noch auf festen Boden retten konnte. »Das ist das einzige. Ich ... ich habe alle möglichen Gerüchte gehört, seit ich den Aes Sedai entkam. Ungeheuer, die einfach aus der Luft heraus auftauchen. Eigenartige, nie gesehene Tiere. Menschen, die mit Tieren sprechen, und Tiere, die sich mit Menschen verständigen. Aes Sedai, die genau auf dieselbe Art wahnsinnig werden, wie man es von uns annimmt. Ganze Dörfer, deren Bewohner durchdrehen und sich gegenseitig umbringen. Einiges könnte durchaus stimmen. Die Hälfte dessen, was ich als Wahrheit kenne, klingt kein bißchen weniger verrückt. Ich hörte auch, daß einige der Siegel zerbrochen seien. Dieses hier könnte sogar ein Hammer zerschlagen.«

Bashere runzelte die Stirn, starrte das Siegel in Rands Händen an, und dann schnappte er vor Überraschung nach Luft. Er hatte verstanden.

»Wo habt Ihr es gefunden?« wiederholte Rand. Falls er die letzten aufspüren könnte... Aber was dann? Lews Therin rührte sich, doch er hörte nicht auf ihn.

»Am allerletzten Ort, an dem Er so etwas erwarten würdet«, antwortete Taim, »und das dürfte wohl auch der erste Ort sein, an dem man eine Suche nach den anderen beginnt. Ein verfallener, kleiner Bauernhof in Saldaea. Ich habe angehalten und um Wasser gebeten, da gab der Bauer es mir. Er war alt, hatte keine Kinder oder Enkel, um es ihnen zu vererben, und er glaubte, ich sei der Wiedergeborene Drache. Er behauptete, seine Familie habe es mehr als zweitausend Jahre lang gehütet. Er behauptete auch, in den Trolloc-Kriegen seien sie Könige und Königinnen gewesen, und Adlige unter Artur Falkenflügel. Seine Geschichte könnte der Wahrheit entsprechen. Sie ist auch nicht unwahrscheinlicher, als so etwas in einer Hütte nur ein paar Tagesritte von der Grenze zur Fäule zu entdecken.«

Rand nickte und bückte sich dann, um die Lumpen aufzusammeln. Er war daran gewöhnt, daß in seiner Umgebung die unwahrscheinlichsten Dinge geschahen. Gelegentlich mußte so etwas ja auch anderswo passieren. Er wickelte das Siegel schnell wieder ein und hielt es Bashere hin. »Bewacht dies sorgfältig!«

Zerstört es! Er unterdrückte die Stimme mit aller Macht. »Nichts darf damit passieren.«

Bashere nahm das Bündel andächtig mit beiden Händen entgegen. Rand war nicht sicher, ob die anschließende Verbeugung ihm galt oder dem Siegel. »Zehn Stunden oder zehn Jahre lang. Es ist bei mir sicher, bis Ihr es benötigt.«

Einen Augenblick lang musterte Rand ihn. »Jeder wartet nur darauf, daß ich wahnsinnig werde. Alle fürchten sich davor, nur Ihr nicht. Gerade eben müßt Ihr doch gedacht haben, jetzt sei es endgültig soweit, aber selbst dann habt Ihr euch nicht vor mir gefürchtet.«

Bashere zuckte die Achseln und grinste hinter seinem graumelierten Schnurrbart hervor. »Als ich zum erstenmal in einem Sattel schlief, war Muad Cheade Generalfeldmarschall. Der Mann war so verrückt wie ein Rammler im Frühling, wenn der Schnee schmilzt. Zweimal am Tag durchsuchte er seinen Leibdiener nach Gift, er trank nichts außer Essig und Wasser, wovon er behauptete, es mache ihn immun gegen das Gift, das ihm der Kerl verabreiche, aber er aß alles, was ihm der Mann kochte, solange ich ihn kannte. Einmal ließ er eine Gruppe Eichen fällen, weil er behauptete, sie hätten ihn angesehen. Und dann bestand er darauf, sie anständig zu begraben und hielt selbst die Grabrede. Habt Ihr eine Ahnung, wie lange es dauert, Gräber für dreiundzwanzig Eichen zu graben?«

»Warum hat denn niemand etwas unternommen?

Seine Familie?«

»Diejenigen, die nicht sowieso genauso verrückt oder noch verrückter waren, hatten schon Angst, ihn auch nur schief anzuschauen. Tenobias Vater hätte ohnehin niemanden an Cheade herangelassen. Er war ja vielleicht verrückt, aber er war der beste Heerführer, den ich je erlebt habe. Er hat niemals eine Schlacht verloren. Er kam nicht einmal einer Niederlage nahe.«

Rand lachte. »Und jetzt folgt Ihr mir, weil Ihr glaubt, ich sei ein noch besserer Stratege als der Dunkle König selbst?«

»Ich folge Euch, weil Ihr seid, wer Ihr seid«, sagte Bashere leise. »Die ganze Welt muß Euch folgen, sonst werden die Überlebenden sich wünschen, sie wären ebenfalls gestorben.«

Bedächtig nickte Rand. Die Prophezeiungen sagten voraus, er werde Länder zerbrechen und sie dann zusammenführen. Nicht, daß er das wollte, doch waren eben die Prophezeiungen sein einziger Leitfaden, wie er in die Letzte Schlacht gehen sollte und wie sie gewinnen. Aber auch ohne die Weissagung war ihm klar, daß dieses Zusammenfügen der Nationen notwendig sei. In der Letzten Schlacht würde nicht nur einfach er gegen den Dunklen König kämpfen. Das konnte er denn doch nicht glauben. Falls er wirklich verrückt wurde, dann doch nicht so verrückt, daß er sich für mehr als einen Menschen hielt. Es würde auch den Kampf der Menschheit gegen die Trollocs und Myrddraal bedeuten und gegen jede Art von Schattenwesen, die die Fäule ausspeien mochte, und gegen Schattenfreunde, die sich aus ihren Verstecken erheben würden. Auf diesem Weg zur Tarmon Gai'don drohten noch andere Gefahren, und wenn dann die Menschheit nicht einig war... Du tust einfach, was zu tun ist. Er war nicht sicher, ob da er selbst oder Lews Therin aus ihm gesprochen hatte, aber es stimmte, soweit er das beurteilen konnte.

Er ging mit schnellen Schritten zur nächsten Arkade hinüber und sagte nach hinten zu Bashere gewandt: »Ich nehme Taim mit zu diesem Bauernhof. Wollt Ihr auch mitkommen?«

»Zu dem Bauernhof?« fragte Taim.

Bashere schüttelte den Kopf. »Nein, danke«, sagte er trocken. Er zeigte wohl gewöhnlich keine Nerven, doch Rand und Taim zusammen waren wahrscheinlich mehr, als er verkraften konnte. Diesen Bauernhof wollte er auf jeden Fall meiden. »Meine Männer, die für Euch die Straßen überwachen, lassen langsam in der Aufmerksamkeit nach. Ich habe vor, einige von ihnen zusammenzustauchen und sie wieder einmal ein paar Stunden lang richtig im Sattel sitzen zu sehen. Ihr wolltet sie heute Nachmittag inspizieren. Hat sich daran etwas geändert?«

»Welchen Bauernhof?« fragte Taim.

Rand seufzte. Mit einemmal fühlte er sich sehr müde. »Nein, das hat sich nicht geändert. Ich werde kommen, wenn ich kann.« Es war zu wichtig, um den Befehl wieder aufzuheben, wenn auch nur Bashere und Mat Bescheid wußten, warum. Sonst durfte niemand auf die Idee kommen, es handle sich um mehr als eine nebensächliche Angelegenheit, eine nutzlose Zeremonie zu Ehren eines Mannes, der Gefallen an dem Pomp zu finden schien, der sich mit seinem Rang verband. Der Wiedergeborene Drache ging aus, um sich von seinen Soldaten bejubeln zu lassen. Und noch einen Besuch mußte er heute machen, und die anderen sollten glauben, er wolle ihn geheimhalten. Die meisten würden auch nichts davon bemerken, aber er zweifelte nicht daran, daß diejenigen, die sich für solche Aktivitäten interessierten, davon erfahren würden.

Er nahm sein Schwert, das er an eine der dünnen Säulen gelehnt hatte, und schnallte es über die geöffnete Jacke. Der Gürtel war aus schmucklosem, dunklem Wildschweinleder gefertigt, und auch die Scheide und das lange Heft wiesen keine Verzierungen auf. Die Gürtelschnalle dagegen war ein kleines Kunstwerk, ein fein gearbeiteter Drache, in den Stahl eingeätzt und mit Gold belegt. Er sollte diese Schnalle eigentlich loswerden und eine einfachere anlegen. Doch das brachte er auch wieder nicht fertig, denn sie war ein Geschenk Aviendhas gewesen. Genaugenommen war dies der Grund, warum er sie loswerden sollte. Er kam einfach aus diesem gedanklichen Teufelskreis nicht heraus.

Noch etwas wartete an dieser Stelle auf ihn: ein zwei Fuß langes Stück Speer mit einer grün weißen Troddel gleich unter der scharfen Spitze. Er packte ihn, als er sich wieder dem Hof zuwandte. Eine der Töchter hatte Drachen in den kurzen Schaft geschnitzt. Einige Leute bezeichneten ihn bereits als das Szepter des Drachen, vor allem Elenia und dieser Haufen Adlige. Rand behielt das Ding immer bei sich, um sich selbst daran zu erinnern, daß er mehr Feinde besaß als nur die jetzt sichtbaren.

»Von welchem Bauernhof sprecht Ihr?« Taims Stimme klang jetzt härter. »Wohin wollt Ihr mich mitnehmen?«

Einen langen Augenblick musterte Rand den Mann. Taim war ihm nicht sympathisch. Etwas am Verhalten des Burschen hinderte ihn daran, Sympathie zu empfinden. Vielleicht lag es auch an ihm selbst. So lange Zeit über war er der einzige Mann gewesen, der auch nur daran denken konnte, die Macht zu benützen, ohne sich vor Angst schwitzend nach Aes Sedai umblicken zu müssen. Nun, wenigstens schien es eine lange Zeit gewesen zu sein, und zumindest würden die Aes Sedai nicht versuchen, ihn einer Dämpfung zu unterziehen; jetzt nicht mehr, da sie wußten, wer er war. War es wirklich so einfach? Eifersucht, daß er nicht mehr einzigartig war? Er glaubte das eigentlich nicht. Von allem anderen abgesehen, war er ja froh über jeden Mann, der mit der Macht umgehen konnte und trotzdem immer noch unbehelligt auf der Welt wandelte. Endlich war er nicht mehr der ewige Außenseiter. Nein, so konnte er das auch wieder nicht sehen, solange Tarmon Gai'don drohte. Er war einmalig; er war der Wiedergeborene Drache. Welche Gründe auch immer dahinterstanden: Er mochte den Mann einfach nicht.

Töte ihn! kreischte Lews Hierin. Töte sie alle! Rand unterdrückte die Stimme. Ihm mußte Taim ja nicht sympathisch sein; er mußte ihn nur benützen. Das war das Schwierige daran.

»Ich nehme Euch dorthin mit, wo Ihr mir dienen könnt«, sagte er kalt. Taim zuckte nicht zusammen und machte nicht einmal eine böse Miene. Nur seine Mundwinkel zuckten wieder einen Moment lang in einem Anflug dieses Beinahe-Lächelns.

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