20 Aus dem Stedding

Rand hatte gerade damit begonnen, Tabak in seine kurze Pfeife zu stopfen, als Liah ihren Kopf zur Tür hereinsteckte. Bevor sie jedoch zu Wort kam, schob sich ein schwer atmender Mann mit rundem Gesicht in rotweißer Livree an ihr vorbei und fiel auf die Knie. Rand starrte ihn völlig fassungslos an.

»Mein Lord Drache«, platzte der Mann atemlos heraus, ja, er quiekte fast dabei, »Ogier sind in den Palast gekommen! Drei von ihnen! Man hat ihnen Wein gegeben und anderes angeboten, aber sie bestehen darauf, den Lord Drache sehen zu wollen.«

Rand sprach betont freundlich, denn er wollte dem Mann nicht noch mehr Angst einjagen: »Wie lange dient Ihr schon im Palast...?« Der Mantel seiner Livree paßte dem Mann gut, er war auch nicht mehr jung. »Ich fürchte, ich kenne Euren Namen nicht.«

Dem knienden Mann fielen fast die Augen heraus. »Mein Name? Bari, mein Lord Drache. Äh, einundzwanzig Jahre, mein Lord Drache. Einundzwanzig werden es kommende Winternacht. Mein Lord Drache —die Ogier?«

Rand hatte zweimal ein Ogier-Stedding besucht, aber er wußte nicht genau, welche Etikette er beachten mußte. Die Ogier hatten die meisten großen Städte erbaut, jedenfalls deren älteste Teile, und gelegentlich verließen sie noch ihre Stedding, um Reparaturarbeiten durchzuführen, und doch glaubte er, daß Bari allenfalls bei einem König oder bei Aes Sedai ähnlich aufgeregt gewesen wäre. Vielleicht noch nicht einmal dann, Rand steckte Pfeife und Tabak in seine Tasche zurück. »Bringt mich zu ihnen.«

Bari sprang auf und hüpfte vor Aufregung beinahe auf und ab. Rand nahm an, die richtige Wahl getroffen zu haben. Der Mann zeigte keinerlei Überraschung, daß der Lord Drache sich zu den Ogiern begab, statt sie herbringen zu lassen. Er ließ Schwert und Szepter zurück, denn damit konnte er die Ogier gewiß nicht beeindrucken. Liah und Cassin kamen selbstverständlich mit, und Bari merkte er an, daß er am liebsten den ganzen Weg zurückgerannt wäre, hätte er sich nicht seinem Schritt anpassen müssen.

Die Ogier warteten in einem Innenhof mit einem Brunnen, in dessen Becken Wasserlilien schwammen und rote und goldene Fische. Es waren ein weißhaariger Mann mit einem langen, an den Hüften über den umgeschlagenen Stulpenstiefeln ausgestellten Mantel, und zwei Frauen, die eine erheblich jünger als die andere, die Röcke mit Ranken und Blättern bestickt, wobei der Rock der älteren viel reicher und kunstvoller bestickt war als bei der jüngeren. Goldene Weinkelche, die für menschliche Hände geschaffen waren, wirkten wir Spielzeug in ihren Händen. Mehrere Bäume im Hof, deren Blätter noch nicht abgefallen waren, und das Palastgebäude selbst beschatteten die Szenerie. Die Ogier waren nicht allein, denn als Rand hinzutrat, standen Sulin und gut drei Dutzend Töchter des Speers um sie herum, und dazu noch Urien und fünfzig oder mehr Aielmänner. Die Aiel besaßen den Anstand, zu schweigen, als sie Rand bemerkten.

Der Ogiermann ergriff zuerst das Wort: »Euer Name singt in meinen Ohren, Rand al'Thor«, sagte er mit einer Stimme, die wie Donner grollte. Anschließend stellte er sich und die beiden Frauen vor. Er war Haman, Sohn des Dal, Sohn des Morel. Die ältere Frau war Covril, Tochter der Ella, Tochter der Soong, und die jüngere Erith, Tochter der Iva, Tochter der Alar.

Rand erinnerte sich daran, Erith im Stedding Tsofu kennengelernt zu haben, zwei harte Tagesritte von der Stadt Cairhien entfernt. Er konnte sich nicht vorstellen, was sie in Caemlyn wollte.

Den Ogiern gegenüber erschienen die Aiel kleinwüchsig, ja, der ganze Innenhof wirkte klein. Haman überragte Rand noch einmal um die Hälfte, und er war viel breiter gebaut, Covril war nur einen Kopf — einen Ogierkopf — kleiner als er, und sogar Erith übertraf Rands Größe um fast eineinhalb Fuß. Das war jedoch noch der geringste Unterschied zwischen den Ogiern und den Menschen. Hamans Augen waren so groß und rund wie Teetassen, die breite Nase verdeckte beinahe das ganze Gesicht, und die Ohren standen aus seinem Haar heraus und waren mit weißen Haarbüscheln gekrönt. Die Enden seines langen, weißen Schnurrbarts hingen herunter, und unter dem Kinn wuchs ebenfalls ein schmaler Bart. Die Augenbrauen hingen ihm bis auf die Wangen herunter. Rand konnte den Unterschied zwischen den Gesichtern der beiden Frauen nicht genau benennen —natürlich hatten sie keine Barte und ihre Augenbrauen waren nicht ganz so lang und kräftig —, doch irgendwie erschienen ihm ihre Gesichtszüge feiner. Covrils Miene war im Augenblick wohl sehr streng —auch sie kam ihm irgendwie bekannt vor —, während Erith besorgt zu sein schien. Ihre Ohren hingen schlapp herunter.

»Bitte entschuldigt mich einen Augenblick«, sagte Rand zu ihnen.

Sulin ließ ihn kein weiteres Wort mehr sagen. »Wir sind gekommen, um mit den Baumbrüdern zu sprechen, Rand al'Thor«, sagte sie energisch. »Ihr müßt wissen, daß die Aiel schon lange Wasserfreunde der Baumbrüder gewesen sind. Wir besuchen sie oft in ihren Stedding, um mit ihnen Handel zu treiben.«

»Das ist durchaus richtig«, murmelte Haman. Für einen Ogier war es jedenfalls ein Murmeln. Wie eine Lawine, die gerade außer Sichtweite niedergeht.

»Ich bin sicher, daß die anderen gekommen sind, um mit ihnen zu sprechen«, sagte Rand zu Sulin. Er erkannte auf einen Blick die Mitglieder, die sie heute morgen als Leibgarde für ihn eingeteilt hatte — jede einzelne. Jalani beispielsweise lief dunkelrot an. Andererseits waren sich bis auf Urien selbst nicht mehr als drei oder vier der am Morgen angetretenen Roten Schilde anwesend. »Ich möchte gar nicht erst daran denken müssen, Enaila und Somara zu bitten, Euch in ihre Obhut zu nehmen.« Sulins braungebranntes Gesicht lief vor Empörung dunkel an, was die Narbe, die sie in seinen Diensten erhalten hatte, noch stärker hervortreten ließ. »Ich will allein mit ihnen sprechen. Allein«, betonte er noch einmal, wobei er Liah und Cassin anblickte. »Außer, Ihr wärt der Meinung, Ihr müßtet mich vor ihnen beschützen?« Wenn überhaupt, war sie jetzt noch mehr beleidigt; sie rief die Töchter mit blitzschnellen Handzeichen zusammen. Wie sie das machte, hätte man bei jedem anderen als ausgerechnet einem Aiel als ›eingeschnappt‹ bezeichnet. Ein paar der Aielmänner schmunzelten, als sie sich zum Gehen wandten. Rand glaubte, er habe vielleicht einen unfreiwilligen Scherz gemacht.

Als sie gingen, strich sich Haman über den langen Schnurrbart. »Die Menschen haben uns nicht immer geglaubt, daß wir sie nicht bedrohen, müßt Ihr wissen. Hmmm. Hmmm.« Diese Laute klangen wie das Summen einer riesigen Hummel. »Es steht in den alten Chroniken. Sehr alt. Es sind wirklich nur Fragmente, aber sie werden auf eine Zeit datiert, die...«

»Ältester Haman«, mahnte Covril höflich, »wenn wir uns nun dem Zweck unseres Kommens zuwenden könnten...?« Diese Hummel summte ein klein wenig höher.

Der Älteste Haman. Wo hatte Rand diese Bezeichnung schon einmal vernommen? Jedes Stedding hatte schließlich einen Rat der Ältesten.

Haman seufzte tief. »Also gut, Covril, aber du legst ungebührende Eile an den Tag. Du hast uns kaum Zeit gelassen, uns zu waschen, bevor wir hierherkamen. Ich schwöre, du hast angefangen, herumzuspringen wie ein...« Der Blick aus diesen großen Telleraugen huschte zu Rand hinüber, und dann hustete er und hielt sich dabei eine Hand von der Größe einer Speckseite vor den Mund. Die Ogier hielten ansonsten die Menschen für ausgesprochen übereilt in ihren Handlungen. Ihrer Meinung nach versuchten Menschen grundsätzlich, jetzt zu tun, was bis morgen Zeit gehabt hätte. Oder bis zum nächsten Jahr. Die Ogier waren äußerst weitsichtig. Außerdem galt es bei ihnen als beleidigend, wenn man die Menschen darauf ansprach, wie sie herumhüpften. »Es war eine ausgesprochen anstrengende Reise«, fuhr Haman mit seiner Erklärung für Rand fort, »nicht zuletzt, als wir entdeckten, daß die Shaido Aiel Al'cair'rahienallen belagerten — wirklich etwas Außergewöhnliches — und daß Ihr euch tatsächlich dort aufgehalten hattet, aber dann seid Ihr abgereist, bevor wir mit Euch sprechen konnten, und... Ich kann mir nicht helfen, aber ich habe das Gefühl, wir haben voreilig gehandelt. Nein. Nein, sprich nur, Covril. Deinetwegen habe ich meine Studien liegenlassen und meine Lehrtätigkeit, nur um quer durch die Welt zu laufen. Meine Schulklassen werden sich mittlerweile im Aufruhr befinden.« Rand hätte beinahe gegrinst. So, wie sich die Ogier aufführten, würden Hamans Schüler ein halbes Jahr brauchen, um zu begreifen, daß er wirklich weg war, und ein weiteres Jahr, um zu besprechen, wie sie sich daraufhin verhalten sollten.

»Eine Mutter hat das Recht, sich Sorgen zu machen«, sagte Covril, und ihre behaarten Ohren bebten. Sie schien hin- und hergerissen zwischen dem Respekt, der einem Ältesten gebührte, und einer völlig aus dem Rahmen des üblichen Ogierverhaltens fallenden Ungeduld. Als sie sich Rand zuwandte, richtete sie sich hoch auf, die Ohren steif aufgerichtet und das Kinn energisch vorgestreckt. »Was habt Ihr mit meinem Sohn gemacht?«

Rand blieb der Mund offen stehen. »Eurem Sohn?« »Loial!« Sie starrte ihn an, als sei er verrückt geworden. Erith blickte ihn ängstlich an und hatte die Hände auf der Brust verkrampft. »Ihr habt der Ältesten der Ältesten des Steddings Tsofu erklärt. Ihr würdet auf ihn aufpassen«, zürnte Covril weiter. »Sie haben es mir gesagt. Ihr habt Euch damals nicht als Drache bezeichnet, aber Ihr wart es. Stimmt es nicht, Erith? Hat Alar nicht gesagt, es sei Rand al'Thor gewesen?« Sie ließ der jüngeren Frau kaum die Zeit für ein kurzes Nicken. Als sie immer schneller zu sprechen begann, verzog Haman schmerzhaft das Gesicht. »Mein Loial ist zu jung, um sich Außerhalb aufzuhalten, zu jung, um kreuz und quer durch die Welt zu rennen und Sachen zu machen, die Ihr ihm zweifellos auftragt. Die Älteste Alar hat mir von Euch erzählt. Was hat mein Loial mit den Kurzen Wegen zu tun und mit Trollocs und dem Horn von Valere? Ihr werdet ihn mir sofort übergeben, bitteschön, damit ich ihn mit Erith verheiraten kann, wie es sich gehört. Sie wird ihm schon das Herumrennen austreiben.«

»Er sieht sehr gut aus«, murmelte Erith schüchtern. Ihre Ohren zitterten derartig verlegen, daß die Haarbüschel verschwommen wirkten. »Und ich glaube, er ist auch sehr tapfer.«

Rand benötigte ein paar Augenblicke, um sein seelisches Gleichgewicht zurückzugewinnen. Wenn ein Ogier energisch wurde, war es ungefähr dasselbe wie ein Bergrutsch. Eine energische Ogierfrau, die auch noch schnell sprach...

Nach Ogierauffassung war Loial tatsächlich zu jung, um das Stedding allein zu verlassen — nur wenig älter als neunzig. Die Ogier hatten nun einmal ein sehr langes Leben. Vom ersten Tag an, als Rand ihn kennengelernt hatte — und der Ogier hatte unbedingt die ganze Welt sehen wollen —, hatte sich Loial Sorgen gemacht, was geschähe, wenn den Ältesten klar würde, daß er fortgelaufen war. Und seine größte Sorge war, seine Mutter könne mit einer Braut im Schlepptau hinter ihm herkommen. Er sagte, in solchen Dingen hätten bei den Ogiern die Männer nichts zu sagen und die Frauen nicht viel; es sei alles Sache der beiden Mütter. Es sei durchaus möglich, daß man plötzlich einer Frau versprochen war, die der betreffende Mann überhaupt noch nicht gesehen hatte und erst an dem Tag kennenlernte, an dem die eigene Mutter ihn der künftigen Ehefrau und vor allem der Schwiegermutter vorstellte.

Loial schien zu glauben, die Ehe werde allem ein Ende bereiten, was er sich ersehnte, vor allem seinen Wunsch, die Welt zu sehen. Ob das nun stimmte oder nicht: Rand konnte einen Freund nicht dem ausliefern, was er am meisten fürchtete. Er war drauf und dran, ihnen zu sagen, er wisse nicht, wo sich Loial aufhielt, und ihnen vorzuschlagen, zum Stedding zurückzukehren, bis er wieder auftauchte, genauer gesagt, er hatte schon den Mund zum Sprechen geöffnet, als ihm eine Frage einfiel. Er schämte sich fast, sich an so etwas Wichtiges — jedenfalls für Loial — nicht erinnert zu haben. »Wie lange ist er schon nicht mehr im Stedding gewesen?«

»Zu lange«, grollte Haman, als rollten große Felsblöcke einen Abhang herab. »Der Junge wollte sich nie seinen Aufgaben widmen. Sprach immer davon, nach Außerhalb gehen zu wollen, als habe sich irgend etwas geändert an dem, was in den Büchern steht, die er eigentlich studieren sollte. Hmmm. Hmmm. Welche wesentliche Rolle spielt es schon, ob die Menschen die Linien auf einer Landkarte verändern? Das Land ist immer noch...«

»Er war schon viel zu lange Außerhalb«, warf Loials Mutter ein, und zwar so energisch, wie man einen Pfosten ins trockene Erdreich treibt. Haman runzelte die Stirn über ihren Einwurf, doch sie brachte es fertig, ihm geradewegs in die Augen zu schauen, obwohl ihre Ohren verlegen vibrierten.

»Mehr als fünf Jahre sind es nun«, sagte Erith. Einen Augenblick lang welkten ihre Ohren, doch dann stellten sie sich wieder stolz auf. Sie imitierte Covrils Stimme ganz ausgezeichnet, als sie sagte: »Ich will ihn zum Ehemann haben. Das war mir klar, als ich ihn kennenlernte. Ich werde ihn nicht sterben lassen. Nicht, weil er sich wie ein Narr benimmt.«

Rand und Loial hatten sich über viele Dinge unterhalten, und eins davon war das ›Sehnen‹ gewesen, aber darüber hatte Loial nicht gern gesprochen. Als die Zerstörung der Welt die Menschen in alle Himmelsrichtungen zerstreute und sie überall Zuflucht suchten, wo sie nur ein wenig Geborgenheit fanden, waren auch die Ogier aus ihren Stedding geflüchtet. Viele Jahre durchwanderten Menschen eine Welt, die täglichen Veränderungen unterworfen war, auf der Suche nach Sicherheit, und die Ogier wanderten umher und suchten nach den Stedding, die sie in den sich ständig verändernden Ländern verloren hatten. In dieser Zeit überkam sie das Sehnen. Ein Ogier, der sich von dem Stedding entfernte, wollte dorthin zurückkehren. Ein Ogier, der sich längere Zeit außerhalb seines Steddings aufhielt, mußte zurückkehren. Ein Ogier, der zu lange Zeit außerhalb eines Steddings verbrachte, starb.

»Er berichtete mir von einem Ogier, der länger draußen blieb«, sagte Rand ruhig. »Zehn Jahre lang, sagte er, wenn ich mich richtig erinnere.«

Haman schüttelte bereits das mächtige Haupt, bevor Rand ausgesprochen hatte. »Das ist hier nicht anwendbar. Ich weiß das natürlich; fünf sind bereits so lange Außerhalb geblieben, haben überlebt und sind in ihre Stedding zurückgekehrt. Wären es mehr gewesen, hätte ich wahrscheinlich davon erfahren. Über solche Verrücktheiten würde man sprechen und schriftlich berichten. Drei von denen sind innerhalb eines Jahres nach ihrer Rückkehr gestorben, der vierte war für den Rest seines Lebens behindert, und der fünften ging es nicht viel besser, denn sie benötigte von da an einen Stock zum Gehen. Immerhin fuhr sie fort, Bücher zu schreiben. Hmmm, Hmmm. Dalar konnte einige interessante Dinge berichten, was die...« Als Covril wieder den Mund öffnete, riß er den Kopf herum und fixierte sie mit einem strengen Blick, wobei er seine langen Augenbrauen hochzog. Sie fing an, hektisch ihren Rock glattzustreichen. Doch sie erwiderte immerhin den Blick. »Fünf Jahre sind eine kurze Zeit, das weiß ich schon«, sagte Haman zu Rand, während er Covril scharf aus dem Augenwinkel beobachtete, »aber wir sind an das Stedding gebunden. Wir hörten nichts in der Stadt, was darauf hingedeutet hätte, daß sich Loial hier aufhält. Ich glaube, bei dem Aufsehen, das wir hervorgerufen haben, hätte man uns bestimmt davon erzählt. Wenn Ihr uns jedoch sagt, wo er sich befindet, hat Ihr ihm einen großen Gefallen.«

»Im Gebiet der Zwei Flüsse«, antwortete Rand. Wenn man einem Freund das Leben rettete, war das gewiß kein Verrat. »Als ich ihn das letzte Mal sah, ist er in guter Gesellschaft dorthin aufgebrochen — mit Freunden. Es ist eine ruhige Gegend, die Zwei Flüsse. Friedlich.« Jetzt war es tatsächlich wieder so, dank Perrin. »Vor wenigen Monaten ging es ihm wirklich gut.« Das hatte Bode berichtet, als ihm die Mädchen erzählten, was sich zu Hause alles ereignet hatte.

»Die Zwei Flüsse«, brummte Haman. »Hmmm. Hmmm. Ja, ich weiß, wo das ist. Noch ein langer Marsch.« Die Ogier ritten nur selten, denn es gab wenige Pferde, die sie tragen konnten, und außerdem zogen sie ihre eigenen Beine ohnehin vor.

»Wir müssen sofort aufbrechen«, sagte Erith in einem festen, wenn auch höheren Grollen. Höher, wenn man es mit Haman verglich. Covril und Haman sahen sie überrascht an, und ihre Ohren Welkten vollkommen dahin. Sie war schließlich eine noch sehr junge Frau, die einen Ältesten und eine andere Frau begleitete, von der Rand vermutete, daß sie ebenfalls eine recht bedeutsame Persönlichkeit sei, so, wie sie sich Haman gegenüber benahm. Erith war höchstwahrscheinlich noch keinen Tag älter als achtzig.

Rand lächelte bei dem Gedanken — ein ganz junges Mädchen, vielleicht nur siebzig! — und sagte: »Bitte, nehmt meine Einladung in den Palast an und genießt unsere Gastfreundlichkeit. Ein paar Tage Rast könnte Eure Weiterreise sogar beschleunigen. Und möglicherweise könntet Ihr mir behilflich sein, Ältester Haman.« Natürlich — Loial hatte immer von seinem Lehrer erzählt, dem Ältesten Haman. Loials Worten nach wußte der Älteste Haman einfach alles. »Ich muß unbedingt die Wegetore auffinden. Alle.«

Alle drei Ogier sprudelten auf einmal los.

»Wegetore?« fragte Haman, wobei Ohren und Augenbrauen gleichzeitig hochschössen. »Die Kurzen Wege sind sehr gefährlich. Viel zu gefährlich.«

»Ein paar Tage?« protestierte Erith. »Mein Loial könnte derweil sterben!«

»Ein paar Tage?« fragte auch Covril im gleichen Moment. »Mein Loial könnte derw...« Sie brach ab und blickte mit zusammengepreßten Lippen und bebenden Ohren die jüngere Frau an.

Haman sah beide finster an und strich sich gereizt über den Spitzbart. »Ich weiß nicht, warum ich mich zu so etwas habe überreden lassen. Ich sollte meinen Unterricht halten und vor dem Stumpf sprechen.

Wenn du nicht eine so angesehene Sprecherin wärst, Covril...«

»Du meinst, wenn du nicht mit meiner Schwester verheiratet wärst«, gab sie tapfer zurück. »Voniel hat dir gesagt, du solltest deine Pflicht tun, Haman.« Hamans Augenbrauen senkten sich, bis die langen Enden auf seinen Wangen hingen, während ihre Ohren lange nicht mehr so steif hochstanden. »Ich wollte sagen, sie hat dich darum gebeten«, fuhr sie fort. Sie sprach nicht gerade überhastet, verlor auch keineswegs die Würde dabei, aber sie zögerte auch nicht einen Moment. »Beim Baum und bei der Ruhe, ich wollte dich nicht kränken, Ältester Haman.«

»Schattenwesen benützen die Kurzen Wege«, sagte Rand schnell, bevor Haman etwas herausbrachte. »Ich habe Wachen bei den wenigen aufgestellt, die ich erreichen konnte.« Einschließlich des Tores in der Nähe des Steddings Tsofu, doch offensichtlich nach ihrer Abreise. Diese drei konnten wohl kaum seit seinem letzten erfolglosen Besuch den ganzen Weg vom Stedding Tsofu zu Fuß zurückgelegt haben. »Nur eine Handvoll. Alle müßten aber bewacht werden, sonst könnten Myrddraal und Trollocs mehr oder weniger aus dem Nichts auftauchen, jedenfalls was die betrifft, die in ihre Hände oder Tatzen fallen. Aber ich weiß noch nicht einmal, wo sie sich alle befinden.«

Dann würden natürlich immer noch die Wege selbst bleiben. Manchmal fragte er sich, warum nicht einer der Verlorenen durch ein Wegetor ein paar tausend Trollocs in den Palast schickte. Zehn- oder Zwanzigtausend. Er hätte ziemliche Schwierigkeiten, diese aufzuhalten, falls es überhaupt möglich war. Im besten Fall wäre es Gemetzel. Nun, er konnte nichts wegen eines Wegetors unternehmen, wenn er nicht dort war. Was die Tore selbst anbelangte, konnte er allerdings etwas unternehmen.

Haman tauschte einen Blick mit Covril. Sie traten zur Seite und flüsterten miteinander. Es war erstaunlicherweise tatsächlich so leise, daß er lediglich ein Geräusch, ein Summen hörte, wie von einem großen Bienenschwarm auf dem Dach. Er hatte zweifellos recht damit gehabt, daß sie eine bedeutende Frau unter den Ogiern sei. Eine Sprecherin, das hatte er deutlich verstanden. Er überlegte, ob er zu Saidin greifen solle, um sie zu belauschen, verwarf aber diesen Einfall angewidert. Er war noch nicht so tief gesunken, daß er andere belauschte. Erith teilte ihre Aufmerksamkeit unter den beiden Ogiern und Rand auf, wobei sie ständig unbewußt ihren Rock glattstrich.

Rand hoffte, sie würden ihn nicht fragen, warum er seine Bitte nicht vor dem Ältestenrat im Stedding Tsofu vorgebracht habe. Alar, die Älteste der Ältesten dort, war unerbittlich geblieben: der Stumpf würde zusammentreten, und nichts derart Seltsames — so abwegig, daß noch niemand daran gedacht hatte — wie sein Ansinnen, die Kontrolle über die Wegetore einem Menschen zu übergeben, würde beschlossen, bevor der Stumpf zusammentrat. Wer er war, schien für sie genausowenig eine Rolle zu spielen wie für die drei hier.

Schließlich kam Haman zurück, und zwar mit gerunzelter Stirn, und die Hände hatte er in die Revers seines Mantels verkrampft. Auch Covril blickte finster drein, »Das alles ist sehr, sehr überhastet«, sagte Haman in bedächtigem Tonfall. Es klang wie am Hang abrutschender Kies. »Ich wünschte, ich könnte es vorher mit... Nun, es geht nicht. Schatten wesen, sagtet Ihr? Hmmm. Hmmm. Also gut, wenn es eilt, muß es eben schnell gehen. Ihr sollt uns niemals nachsagen, daß Ogier nicht schnell handeln könnten, wenn es die Not gebietet, und vielleicht ist das jetzt der Fall. Ihr müßt verstehen, daß der Ältestenrat jedes Steddings Eure Bitte ablehnen könnte, genau wie der Stumpf.«

»Landkarten!« schrie Rand so laut, daß alle drei Ogier zusammenzuckten. »Ich brauche Landkarten!« Er wirbelte herum und suchte nach einem der Diener, die doch immer in der Nähe zu sein schienen, nach einem Gai'schain, gleich nach wem. Sulin steckte den Kopf zu einer Tür herein. Es war klar, daß sie sich in der Nähe aufhielt, trotz allem, was er ihr an den Kopf geworfen hatte. »Landkarten!« fauchte er sie an. »Ich brauche jede Karte im Palast. Und eine Feder und Tinte. Sofort. Schnell!« Sie sah ihn fast geringschätzig an, denn die Aiel gebrauchten keine Landkarten und behaupteten sogar, sie benötigten keine, und wandte sich ab. »Rennt, Far Dareis Mai!« fauchte er. Sie blickte sich zu ihm um — und rannte los. Er hätte gern gesehen, wie sein Gesicht wohl in diesem Moment aussah, damit er später diesen Ausdruck im Notfall wieder benutzen konnte.

Haman wirkte, als hätte er am liebsten die Hände gerungen, wäre das nur mit seiner Würde zu vereinbaren gewesen. »Es gibt wirklich nicht viel zu sagen, was Ihr noch nicht wüßtet. Jedes Stedding hat ein kurzes Stück Wegs Außerhalb.« Die ersten Wegetore konnten nicht innerhalb angelegt werden, denn die Fähigkeit, die Macht zu gebrauchen, versagte in dem Stedding. Auch wenn man den Ogiern einen Talisman des Wachsens übergab, damit sie selbst die Wege zu einem neuen Wegetor hinwachsen lassen konnten, war immer noch die Macht daran beteiligt, wenn nicht sogar ihr direkter Gebrauch. »Und in allen Städten, in denen sich Ogierhaine befinden. Obwohl es mir scheint, daß die Stadt hier über den Hain hinweggewachsen ist. Und in Al'cair'rahienallen...« Er ließ kopfschüttelnd die Worte verklingen.

An diesem Namen konnte man das gesamte Problem aufhängen. Vor ungefähr dreitausend Jahren hatte es eine von den Ogiern erbaute Stadt namens Al'cair'rahienallen gegeben. Heute hieß sie Cairhien, und der Hain, den die Baumeister der Ogier angelegt hatten, damit er sie an ihr Stedding erinnern sollte, war Teil eines Anwesens, das dem gleichen Barthanes gehört hatte, in dessen Schloß nun Rands Schule eingerichtet war. Nur noch Ogier und vielleicht ein paar Aes Sedai erinnerten sich an Al'cair'rahienallen. Nicht einmal die Einwohner Cairhiens.

Was Haman auch glauben mochte: Innerhalb von dreitausend Jahren veränderte sich eine ganze Menge. Große, von Ogiern erbaute Städte existierten nicht mehr, und von einigen kannte man nicht einmal mehr die Namen. Große Städte waren emporgewachsen, mit deren Bau die Ogier nichts zu tun gehabt hatten. Amador war eine davon, erst nach den Trolloc-Kriegen erbaut, wie ihm Moiraine berichtet hatte, und Chachin in Kandor, Schol Arbela in Arafel, Fal Moran in Schienar. In Arad Doman hatte man Bandar Eban auf den Ruinen einer Stadt errichtet, die im Hundertjährigen Krieg erbaut worden war, einer Stadt, die Moiraine unter drei verschiedenen, jeweils ungewissen Namen kannte, und diese wiederum war auf den Ruinen einer namenlosen Stadt erbaut, die in den Trolloc-Kriegen untergegangen war. Rand kannte ein Wegetor in Schienar, mitten auf dem Lande in der Nähe einer mittelgroßen Stadt, deren Name den Teil des Namens der riesigen Stadt trug, die von den Trollocs geschleift worden war, und ein weiteres in der Fäule, im schattengemordeten Malkier. An anderen Orten hatte sich lediglich viel verändert, oder war gewachsen, wie Haman selbst gesagt hatte. Das Wegetor in Caemlyn befand sich mittlerweile in einem Keller. Einem sehr gut bewachten Keller. Rand wußte, daß es in Tear ein Wegetor gab, draußen in dem weiten Weideland, auf dem die Hochlords ihre berühmten Pferde züchteten. Es sollte eines irgendwo in den Verschleierten Bergen geben, wo sich einst Manetheren befunden hatte. Wo das auch sein mochte. Was die Stedding betraf, wußte er gerade, wo er Stedding Tsofu finden konnte. Moiraine hatte die Stedding und die Ogier nicht für einen wichtigen Teil seiner Ausbildung gehalten.

»Ihr wißt nicht, wo sich die Stedding befinden?« fragte Haman ungläubig, als Rand ausgesprochen hatte. »Ist das typischer Aielhumor? Ich habe den Humor der Aiel noch nie verstanden.«

»Für die Ogier«, sagte Rand mit sanfter Stimme, »ist es lange her, seit die Wege angelegt wurden. Für die Menschen ist es sehr, sehr lange her.«

»Aber erinnert Ihr euch nicht einmal an Mafal Dadaranell oder Ancohima oder Londaren Cor oder...?«

Covril legte Haman eine Hand auf die Schulter, doch das Mitleid in ihrem Blick galt Rand. »Er erinnert sich nicht«, sagte sie leise. »Ihre Erinnerungen sind verblaßt.« Es klang, als sei das der größte vorstellbare Verlust. Erith, die ihre Hände vor den Mund gepreßt hatte, schien in Tränen ausbrechen zu wollen.

Sulin kehrte zurück. Sie schien absichtlich langsam zu gehen. Im Schlepptau hatte sie eine größere Anzahl von Gai'schain, die sich die Arme mit zusammengerollten Landkarten aller Größen beladen hatten. Ein paar waren so lang, daß sie auf den Pflastersteinen des Hofs hinterhergeschleift werden mußten. Ein Mann in weißer Robe trug einen mit Elfenbein eingelegten Schreibkasten. »Ich habe Gai'schain auf die Suche nach weiteren geschickt«, sagte sie mit gepreßter Stimme, »und ein paar Feuchtländer auch.«

»Dankeschön«, erwiderte er. Ein wenig von der Anspannung wich aus ihren Zügen.

Er kauerte sich nieder und begann gleich auf dem Pflaster die Karten auszubreiten und zu sortieren. Ein Teil zeigte lediglich Pläne der Stadt selbst, und viele stellten Landesteile Andors dar. Er entdeckte bald eine, die den gesamten Großraum der Grenzlande zeigte. Das Licht mochte wissen, was diese Karte in Caemlyn zu suchen hatte. Ein paar waren alt und zerfleddert, und die Grenzen darauf hatten längst ihre Bedeutung verloren. Er entdeckte Länder, die schon vor Hunderten von Jahren verschwunden waren.

Grenzen und Ländernamen reichten aus, um die Karten nach ihrem Alter zu sortieren. Auf der ältesten lag im Norden Cairhiens das Land Hardan, dann war Hardan verschwunden und Cairhien hatte sich über die halbe Entfernung nach Schienar ausgebreitet, bevor die Grenzen wieder zurückkrochen, nachdem klargeworden war, daß der Sonnenthron nicht soviel Land beherrschen konnte. Maredo befand sich zwischen Tear und Illian; dann war Maredo weg, und die Grenzen Tears und Illians trafen sich auf den Ebenen von Maredo, und dann zogen sie sich aus den gleichen Gründen wie bei Cairhien zurück. Caralain verschwand, dann Almoth, Mosara und Irenvelle und andere mehr, manchmal aufgesogen durch andere Reiche, aber das meiste Land verwilderte, und niemand besaß es mehr. Diese Karten erzählten die Geschichte eines langsamen Rückzugs seit dem Zerfall von Falkenflügels Reich, des Rückzugs der Menschheit. Eine zweite Karte der Grenzlande zeigte nur noch Saldaea und einen Teil Arafels, aber die Grenze der Fäule hatte sich um fünfzig Meilen weiterverschoben. Die Menschheit zog sich zurück, und der Schatten drang vor.

Ein glatzköpfiger, knochiger Mann in einer schlecht sitzenden Livree eilte mit einer weiteren Armladung auf den Hof, und Rand setzte das Auswählen und Aussortieren fort.

Haman untersuchte mit ernster Miene den Schreibkasten, den ihm der Gai'schain hinhielt, dann holte er einen fast genauso großen, wenn auch einfach gearbeiteten aus einer geräumigen Manteltasche heraus. Die Feder, die er ihm entnahm, bestand aus poliertem Holz, war etwas dicker als Rands Daumen und dabei lang genug, um schmal zu wirken. Sie paßte perfekt in die wurstdicken Finger des Ogiers. Er ließ sich auf Hände und Knie nieder, um zwischen den Karten umherzukriechen, während Rand noch sortierte, stippte gelegentlich seine Feder in das Tintenfaß des Gai'schain und machte Notizen in einer Handschrift, die zu groß erschien, bis man merkte, daß sie für ihn äußerst klein war. Covril folgte ihm und spähte über seine Schulter hinweg, obwohl er sie zweimal gereizt fragte, ob sie wirklich glaube, er würde Schreibfehler machen.

Für Rand war das eine Lehrstunde. Es begann mit sieben Stedding, die über die Grenzlande hinweg verstreut waren. Zum Glück fürchteten sich die Trollocs davor, ein Stedding zu betreten, und selbst die Myrddraal mußten schon etwas ganz Großes im Sinn haben, um sie in eines hineinzutreiben. Im Rückgrat der Welt, der Drachenmauer, befanden sich dreizehn, einschließlich eines im Gebiet von Brudermörders Dolch, vom Stedding Schangtai im Süden bis zu Stedding Qichen und Stedding Sanschen im Norden, die nur wenige Meilen voneinander entfernt lagen.

»Das Land hat sich bei der Zerstörung der Welt sehr verändert«, gab Haman zu, als Rand ihn darauf ansprach. Er fuhr mit knappen Bewegungen fort, Markierungen anzubringen; zumindest für einen Ogier waren es knappe Bewegungen. »Festland wurde zum Meer und aus Meer wurde Festland, aber auch das eigentliche Festland wurde neu gefaltet. Manchmal befanden sich vorher weit entfernte Orte plötzlich nahe beieinander, und nahe waren sich mit einem Mal fern. Obwohl natürlich niemand mehr weiß, ob sich Qichen und Sanschen jemals weit voneinander befunden haben.«

»Du hast Cantoine vergessen«, verkündete Covril, was einen weiteren livrierten Diener dazu brachte, seine Armladung Karten vor Schreck fallen zu lassen.

Haman warf ihr einen Blick zu und trug dann den Namen gleich über dem Iralell ein, nicht weit nördlich der Haddon-Sümpfe. In dem Landstrich im Westen der Drachenmauer befanden sich von der Südgrenze Schienars bis zum Meer der Stürme nur vier, und alle neu gegründet wie es die Ogier sahen. Das bedeutete, Tsofu, das jüngste der vier, war seit etwa sechshundert Jahren besiedelt und die anderen noch nicht älter als tausend Jahre. An vielen Orten stellte die Existenz der Stedding — wie schon bei denen in den Grenzlanden — für Rand eine große Überraschung dar, wie diejenigen in den Verschleierten Bergen —sechs insgesamt — und einige an der Schattenküste. Auch die Schwarzen Hügel gehörten dazu, die Wälder nördlich des Ivo-Flusses und die Bergkette am Dhagon-Fluß ein kurzes Stück nördlich von Arad Doman.

Trauriger war die Liste der aufgegebenen Stedding, weil die Anzahl der dort lebenden Ogier zu sehr geschrumpft war. Auch auf dieser Liste waren das Rückgrat der Welt und die Verschleierten Berge und die Schattenküste verzeichnet genau wie ein Stedding mitten auf der Ebene von Almoth in der Nähe des großen Graswalds, und eines in der niedrigen Hügelkette im Norden der Toman-Halbinsel, direkt über dem Aryth-Meer. Am traurigsten war vielleicht die Kunde von der Aufgabe eines Steddings in Arafel am Rande der Fäule; die Myrddraal scheuten wohl davor zurück, ein Stedding zu betreten, doch die Fäule schob sich Jahr für Jahr weiter vor und erstickte alles.

Haman hielt mit seinen Eintragungen inne und sagte traurig: »Scherandu wurde vor eintausendachthundertunddreiundvierzig Jahren von der Großen Fäule verschlungen, und Chandar vor neunhundertundachtundsechzig Jahren.«

»Möge ihr Andenken im Licht gedeihen und blühen«, murmelten Covril und Erith gemeinsam.

»Ich kenne eines, das Ihr nicht eingezeichnet habt«, sagte Rand. Perrin hatte ihm berichtet, wie er einst in einem Stedding Schutz gesucht hatte. Er zog eine Karte von dem Teil Andors östlich des Arinelle hervor und deutete auf einen Punkt ein Stück oberhalb der Straße von Caemlyn nach Weißbrücke. Etwa dort mußte es liegen.

Haman verzog das Gesicht, und diesmal wirkte seine Miene fast böse. »Wo Falkenflügels Stadt stehen sollte. Das wurde niemals wieder besiedelt. Mehrere Stedding wurden gegründet und dann doch nicht mehr besiedelt. Wir versuchen, uns so weit wie möglich von den Ländern der Menschen fernzuhalten.« Alle Zeichen befanden sich mitten in rauhen Gebirgen, an Orten, die für Menschen schwer zugänglich waren, in einigen Fällen auch weit von jeder menschlichen Besiedelung entfernt. Von allen lag das Stedding Tsofu menschlichen Behausungen am nächsten, und auch Rand wußte recht gut, daß das nächste Dorf eine volle Tagesreise davon entfernt lag.

›Ein andermal wäre dies ein gutes Thema für ein Gespräch«, sagte Covril, wobei sie Rand ansprach, aber offensichtlich Haman damit ermahnen wollte, wie ihr Seitenblick klar belegte, »aber ich will noch vor Anbrach der Nacht so weit wie möglich nach Westen kommen.« Haman seufzte schwer.

»Aber sicher bleibt Ihr doch eine Weile hier«, protestierte Rand. »Du müßt doch erschöpft sein, wenn Ihr den ganzen Weg von Cairhien zu Fuß zurückgelegt habt«

»Frauen sind niemals erschöpft«, erwiderte Haman. »Sie erschöpfen nur die anderen. Das ist eine sehr alte Redensart bei uns.« Covril und Erith schnaubten voller Einigkeit. Haman knurrte noch etwas in sich hinein und fuhr mit seinen Markierungen fort, aber nun waren es die von den Ogiern erbauten Städte, in denen sich Haine befunden hatten, und in jedem Hain hatte ein Wegetor gestanden, damit die Ogier jederzeit den Weg zu ihrem Stedding zurücklegen konnten, ohne die oft so unruhigen Länder der Menschen durchwandern zu müssen.

Natürlich bezeichnete er Caemlyn und Tat Valon, Tear und Illian, Cairhien und Maradon und Ebou Dar. Das war aber schon alles, was die noch existierenden Städte betraf, und für Ebou Dar gebrauchte er den Namen Baraschta. Vielleicht gehörte Baraschta eher zu den anderen, die er als bloße Punkte an Orten einzeichnete, wo der Karte nach höchstens ein Dorf zu sehen war. Mafal Dadaranell, Ancohima und Londaren Cor natürlich, und Manetheren. Aren Mador, Aridhol, Schaemal, Deranbar, Braem, Condaris, Hai Ecorimon, Iman... Während die Liste wuchs, entdeckte Rand feuchte Flecken auf jeder Karte, mit der Haman fertig war. Er benötigte einen Augenblick, um zu begreifen, daß der Ogier-Älteste lautlos weinte, und die Tränen fielen auf die Karte, auf der er längst tote und vergessene Städte einzeichnete. Vielleicht beweinte er die Menschen, vielleicht auch nur die Erinnerungen. Rand konnte lediglich sicher sein, daß er nicht um die Städte selbst weinte, oder um die verlorenen Werke der Ogier-Steinmetzen. Für die Ogier war die Kunst der Steinbearbeitung lediglich etwas, das sie in der Zeit des Exils erlernt hatten, und welche Arbeit mit Steinen konnte sich mit den majestätischen Bäumen vergleichen?

Einer dieser Namen brannte in Rands Gedächtnis, genau wie auch seine Lage östlich von Baerlon, mehrere Tagesreisen über Weißbrücke am Arinelle. »Gab es hier einen Hain?« fragte er und strich mit dem Finger über das Zeichen Hamans.

»In Aridhol?« sagte Haman. »Ja, Ja, es gab einen. Das ist eine traurige Angelegenheit.«

Rand hob nicht den Kopf. »In Shadar Logoth«, verbesserte er den Ältesten. »Eine sehr traurige Angelegenheit. Könntet Ihr ... würdet Ihr ... mir das Wegetor zeigen, wenn ich Euch dorthin brächte?«

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