21 Nach Shadar Logoth

»Uns dorthin bringen?« fragte Covril und bedachte die Karte in Rands Händen mit einem besonders finsteren Blick. »Das würde uns ein ganzes Stück von unserem Weg abbringen, wenn ich mich richtig daran erinnere, wo sich die Zwei Flüsse befinden. Ich werde keinen weiteren Tag der Suche nach Loial verschwenden.« Erith nickte beifällig.

Haman, dessen Wangen noch immer tränenfeucht waren, schüttelte den Kopf ob ihrer Eile, sagte dann aber: »Ich kann es nicht gestatten. Aridhol — Shadar Logoth, wie Ihr es bei seinem heutigen Namen genannt habt — ist kein Ort für jemand, der so jung ist wie Erith. Um die volle Wahrheit zu sagen: Niemand sollte sich dort aufhalten.«

Rand ließ die Karte fallen und stand auf. Er kannte Shadar Logoth besser, als ihm lieb war. »Ihr werdet keine Zeit verlieren. Tatsächlich werdet Ihr sogar Zeit gewinnen. Ich werde Euch mit Hilfe einer Schnellen Reise durch ein Tor hinbringen, und auf diese Art legt Ihr noch heute den größten Teil des Weges zu den Zwei Flüssen zurück. Wir brauchen nicht lange. Ich weiß, daß Ihr mich direkt zu dem Wegetor führen könnt.«

Die Ogier spürten die Nähe eines Wegetores, wenn die Entfernung nicht zu groß war.

Das machte eine weitere Beratung auf der gegenüberliegenden Seite des Brunnens notwendig. Erith verlangte offensichtlich, daran teilnehmen zu dürfen. Rand schnappte nur ein paar Bruchstücke auf, aber es war klar, daß Haman, der sein mächtiges Haupt hartnäckig schüttelte, gegen diesen Plan war, während Covril, deren Ohren so steif hochstanden, als kämpfe sie um jede Handbreit Größe, ihn befürwortete. Zuerst blickte Covril dabei Erith genauso zornig an wie Haman. Wie auch die Beziehung zwischen Schwiegermutter und Schwiegertochter bei den Ogiern aussehen mochte, sie war offenbar der Meinung, die jüngere Frau habe in dieser Angelegenheit kein Mitspracherecht. Aber es dauerte nicht lange, da änderte sie ihre Meinung. Nun prügelten sie mit Worten gemeinsam auf Haman ein.

»...zu gefährlich. Viel zu gefährlich«, erklang wie ferner Donner von Haman.

»...heute noch beinahe dort...« Ein helleres Grollen von Covril.

»...er war schon zu lange Außerhalb...« Eriths Stimme klang dagegen wie Silberglöckchen. »...Abkürzungen bringen lange Umwege...« »...mein Loial...« »...mein Loial...«

»...Mashadar unter unseren Füßen...« »...mein Loial...« »...mein Loial...« »...als ein Ältester...«

»...mein Loial...«

»...mein Loial...«

Haman kam zu Rand zurück, wobei er seinen Mantel zurechtzog, als sei er ihm halb heruntergerissen worden. Die beiden Frauen folgten ihm. Covril beherrschte ihre Züge besser als Erith, die sich offensichtlich bemühte, ein Lächeln zu unterdrücken, doch bei beiden standen die Ohren keck hoch und vermittelten ein Gefühl der Befriedigung.

»Wir haben uns entschieden, Euer Angebot anzunehmen«, sagte Haman förmlich. »Laßt uns diese lächerliche Herumtreiberei so schnell wie möglich beenden, damit ich zu meinem Unterricht zurückkehren kann. Und zum Stumpf. Hmmm. Hmmm. Es gibt viel über Euch zu berichten, wenn ich vor dem Stumpf spreche.«

Rand war es egal, ob Haman dem Stumpf erzählte, er sei ein Sklaventreiber. Die Ogier hielten sich ohnehin von den Menschen fern, außer sie reparierten ihre alten Steinmetzarbeiten, und es war unwahrscheinlich, daß sie irgendeinen Menschen in bezug auf ihn so oder so beeinflussen würden. »Gut«, sagte er. »Ich werde jemand schicken, um Euer Gepäck aus Eurer Schenke zu holen.«

»Wir haben alles hier bei uns.« Covril schritt hinüber zur anderen Seite des Brunnens und bückte sich; beim Aufrichten hatte sie zwei Bündel in den Händen, die vorher hinter dem Becken verborgen gelegen hatten. Jedes der beiden hätten für einen Mann noch eine schwere Last dargestellt. Sie gab Erith eines davon, und dann zog sie sich den Tragriemen des anderen über den Kopf, so daß er schräg über ihren Oberkörper verlief und sie das Bündel auf dem Rücken hängen hatte.

»Wäre Loial hier«, erklärte Erith, während sie sich ihr Bündel überhängte, »dann könnten wir ohne Verzögerung den Rückweg zum Stedding Tsofu antreten. Falls nicht, könnten wir auf diese Weise sofort Weiterreisen. Ohne jede Verzögerung.«

»Ehrlich gesagt, lag es an den Betten«, vertraute ihm Haman an, und der Ogier deutete mit den Händen etwa die Größe eines menschlichen Kindes an. »Einst verfügte jede Schenke Außerhalb über zwei oder drei Ogierzimmer, aber heutzutage sind sie sehr schwer zu finden. Das ist kaum zu verstehen.« Er blickte die Landkarten mit seinen handschriftlichen Markierungen an und seufzte. »Es war sehr schwer zu verstehen.«

Rand wartete gerade lange genug, daß Haman sein Bündel holen konnte, dann griff er nach Saidin und öffnete ein Tor gleich neben dem Brunnen, ein Loch in der Luft, hinter dem eine unkrautbewachsene Straße und die zusammengebrochenen Ruinen von Gebäuden zu erkennen waren.

»Rand al'Thor.« Sulin schlenderte gemächlich in den Hof, gefolgt von einer Gruppe mit Landkarten beladener Diener und Gai'schain. Liah und Cassin befanden sich bei ihr und taten genauso unbeschwert und nebensächlich. »Ihr hattet um weitere Landkarten gebeten.« Sulins Blick zu dem Tor war beinahe schon anklagend.

»Ich kann mich selbst dort besser beschützen, als Ihr es könnt«, sagte Rand unwirsch. Er hatte eigentlich nicht so kalt mit ihr sprechen wollen, doch ins Nichts gehüllt brachte er es nicht fertig, seine Stimme anders als kalt und fern klingen zu lassen. »Es gibt nichts, was Ihr mit Euren Speeren besiegen könnt, aber einiges, was die Speere nicht erlegen werden.«

Sulin wirkte nach wie vor ziemlich steif und beleidigt. »Um so mehr ein Grund für unsere Anwesenheit.«

Das ergab für niemanden einen rechten Sinn, der nicht zu den Aiel gehörte, aber... »Ich habe nichts dagegen«, sagte er. Sollte er sich weigern, würde sie trotzdem versuchen, ihm zu folgen. Sie würde Töchter herbeirufen, die noch hindurchspringen würden, wenn er bereits dabei war, das Tor zu schließen. »Ich denke, Ihr werdet den Rest der heutigen Leibgarde gleich hinter der nächsten Tür versammelt haben. Pfeift sie herbei. Aber alle sollen sich nahe bei mir aufhalten und nichts berühren. Macht schnell. Ich will das hinter mich bringen.« Seine Erinnerungen an Shadar Logoth waren nicht die angenehmsten.

»Ich habe sie auf Euer Ansinnen hin weggeschickt«, sagte Sulin verachtungsvoll. »Laßt mich langsam bis einhundert zählen.«

»Bis zehn.«

»Bis fünfzig.«

Rand nickte, und ihre Finger flogen. Jalani eilte in den Palast, und wieder flogen Sulins Finger. Drei weibliche Gai'schain ließen ihre Armladungen Landkarten fallen, blickten überrascht drein — Aiel zeigen niemals Überraschung —, rafften die langen weißen Roben hoch und verschwanden blitzschnell in verschiedenen Richtungen in den Palast. Doch so schnell sie sich auch bewegten, Sulin war noch schneller.

Als Rand bei zwanzig angelangt war, begannen die Aiel in den Hof zu hetzen. Einige sprangen durch Fenster herein, andere von Balkonen herab. Er hätte sich beinahe verzählt. Alle waren verschleiert, und nur wenige davon waren Töchter des Speers. Sie sahen sich verwirrt um, als sie lediglich Rand und drei Ogier vorfanden, die sie neugierig anblinzelten. Ein paar ließen die Schleier wieder herab. Die Palastdiener drückten sich ängstlich aneinander.

Der Zustrom setzte sich auch nach Sulins Rückkehr fort. Sie war unverschleiert und erschien auf den Punkt genau bei fünfzig, während sich der Hof immer noch mit Aiel füllte. Ihm wurde schnell klar, daß sie die Nachricht ausgegeben hatte, der Car'a'carn befinde sich in Gefahr, da dies wohl die einzige Möglichkeit gewesen war, in der Kürze der gegebenen Zeit genügend Speere zu versammeln. Die Männer machten ein wenig säuerliche Mienen, aber die meisten beschlossen, es als guten Witz zu betrachten, woraufhin einige schmunzelten oder mit den Speeren auf die Schilde schlugen. Und keiner verließ den Hof. Sie sahen das Tor und kauerten sich nieder, um zu sehen, was geschehen würde.

Mit durch die Macht geschärftem Gehör vernahm Rand, wie eine Tochter namens Nandera, sehnig und doch immer noch gutaussehend, obwohl in ihrem Haar mehr Grau als Blond zu sehen war, Sulin zuflüsterte: »Du hast mit Gai'schain wie mit Far Dareis Mai gesprochen.«

Sulins blaue Augen blickten gelassen in Nanderas grüne. »Das habe ich. Wir werden darüber sprechen, wenn wir Rand al'Thor heute beschützt haben.«

»Wenn er sicher und behütet ist«, stimmte ihr Nandera zu.

Sulin wählte eilends zwanzig Töchter aus, von denen einige am Morgen zur fest eingeteilten Wache gehört hatten, andere aber nicht, doch als Urien Rote Schilde auswählte, bestanden auch Männer aus anderen Kriegergemeinschaften darauf, mit eingeschlossen zu werden. Diese durch das Tor sichtbare Stadt wirkte, als könne man dort Gegner vorfinden, vor denen man den Car'a'carn schützen mußte. Um bei der Wahrheit zu bleiben, würde wohl kein Aiel einem möglichen Kampf ausweichen, und je jünger sie waren, desto größer war die Wahrscheinlichkeit, daß sie sogar nach jedem möglichen Kampf suchten. Ein weiterer Streit entstand beinahe, als Rand entschied, er werde nicht mehr Männer mitnehmen als Töchter des Speers, weil das die Far Dareis Mai entehren würde, denn schließlich hatte er ihnen seine Ehre anvertraut, und er werde auch nicht mehr Töchter mitnehmen, als Sulin bereits ausgewählt hatte. Er brachte sie tatsächlich an einen Ort, an dem Kampferfahrung ihnen nicht helfen würde, und auf jeden, den er mitnahm, würde er am Ende selbst aufpassen müssen. Das erklärte er ihnen aber nicht. Wer wußte schon, wessen Ehre er damit wieder beschnitt.

»Denkt daran«, mahnte er, sobald alle ausgewählt waren, »berührt nichts! Nehmt nichts mit oder zu Euch, nicht einmal einen Schluck Wasser. Und bleibt immer in Sicht; geht auf keinen Fall in irgendein Gebäude hinein!« Haman und Covril nickten lebhaft, und das schien die Aiel mehr zu beeindrucken als Rands Worte. Solange sie nur wirklich beeindruckt waren!

Sie traten durch das Tor in eine Stadt, die schon lange tot war, eine Stadt, mehr als nur tot.

Eine goldene Sonne, die bereits mehr als den halben morgendlichen Weg zum Zenit zurückgelegt hatte, durchglühte die Ruinen einstiger Größe. Hier und da glänzte noch eine unbeschädigte Kuppel auf einem blassen Marmorpalast, aber die meisten wiesen große Löcher und Risse auf, wenn von ihnen überhaupt mehr als ein gezacktes Bruchstück übriggeblieben war. Lange Arkadengänge führten zu Türmen, so hoch, wie man sie sich in Cairhien nur erträumen konnte, aber auch diese Türme endeten als bröcklige Zahnstummel. Überall waren die Dächer eingestürzt, und Ziegel, Backsteine und Marmorquader von zusammengebrochenen Gebäuden lagen weit über das Straßenpflaster verstreut. An jeder Kreuzung standen trockene, rissige Brunnen und abgebrochene Denkmale. Auf hohen Trümmerbergen starben verkrüppelte Bäume in der Hitze und Dürre des Tages. Abgestorbene Unkräuter lagen braun und welk in den Ritzen und Schlaglöchern der Straßen. Nichts rührte sich, nicht einmal ein Vogel, keine Ratte und auch kein Windhauch. Die Stille hüllte Shadar Logoth wie ein Leichentuch ein. Shadar Logoth: wo der Schatten wartet.

Rand ließ das Tor verschwinden. Kein Aiel legte den Schleier ab. Die Ogier blickten sich mit angespannten Mienen und steif zurückgestellten Ohren um. Rand hielt an Saidin fest und kämpfte gleichzeitig dagegen an. Es war so, wie Taim einst gesagt hatte: In diesem Kampf spürte ein Mann, daß er wirklich lebte. Hier hätte er diesen Anstoß ohnehin gebraucht, auch wenn er die Macht nicht gebrauchen könnte, oder vielleicht gerade dann.

In den Tagen der Trolloc-Kriege war Aridhol eine bedeutende Hauptstadt gewesen, ein Verbündeter Manetherens und der übrigen der Zehn Nationen. Als diese Kriege schon so lange gedauert hatten, daß der Hundertjährige Krieg dagegen unbedeutend erschien, als es schien, daß der Schatten an allen Fronten siegreich sei und jeder Sieg des Lichts nicht mehr erreichen könne, als Zeit zu gewinnen, wurde ein Mann namens Mordeth Ratgeber des Herrschers in Aridhol, und er riet dem Herrscher, um zu gewinnen und zu überleben, müsse Aridhol noch härter sein als der Schatten selbst, grausamer als der Schatten, und noch weniger vertrauensselig. Langsam formten sie die Stadt und das Land nach diesem Bild, bis am Ende Aridhol wenn nicht schwärzer als der Schatten, so doch zumindest genauso schwarz war. Obwohl noch immer der Krieg gegen die Trollocs tobte, wandte sich Aridhol schließlich nach innen, sich selbst zu, und verschlang sich selbst.

Etwas davon blieb zurück, etwas, das jeden später davon abhielt, hier zu leben. Nicht ein einziger Kieselstein an diesem Ort, der nicht von diesem Haß und Mißtrauen durchdrungen war, die Aridhol ermordet und Shadar Logoth zurückgelassen hatten. Und jeder Kieselstein konnte nach einer Weile diese Seuche weiterverbreiten.

Und noch mehr als nur dieser Makel war zurückgeblieben, obwohl der schon ausreichte, um jeden Menschen klaren Verstands von hier fernzuhalten.

Rand drehte sich langsam um und blickte hoch zu Fenstern, die wie leere Augenhöhlen zurückstarrten, deren Augäpfel man ausgestochen hatte. Obwohl die Sonne immer höher wanderte, spürte er unsichtbare Beobachter. Als er sich früher hier befunden hatte, war dieses Gefühl erst aufgetreten, wenn die Sonne langsam unterging. Viel mehr als der Makel war zurückgeblieben. Ein Trolloc-Heer, das hier gelagert hatte, war ausgelöscht worden, war spurlos verschwunden, bis auf ein paar Schmierereien mit Blut an Hauswänden, in denen sie den Dunklen König angefleht hatten, sie zu retten. Nachts durfte man sich nicht in Shadar Logoth aufhalten.

Dieser Ort jagt mir Angst ein, murmelte Lews Therin jenseits des Nichts. Ängstigst du dich nicht?

Rand stockte der Atem. Sprach die Stimme tatsächlich zu ihm? Ja, ich habe auch Angst.

Es ist Dunkelheit hier. Schwärze, schwärzer als schwarz. Sollte der Dunkle König unter Menschen leben wollen,

würde er diesen Ort erwählen.

Ja. Das würde er.

Ich muß Demandred töten.

Rand blinzelte überrascht. Hat Demandred etwas mit Shadar Logoth zu tun?

Ich erinnere mich nun endlich daran, Ishamael getötet zu haben. Es lag Staunen in dieser Stimme, Staunen über diese neue Erkenntnis. Er hatte den Tod verdient. Auch Lanfear hatte den Tod verdient, aber ich bin froh, daß nicht ich derjenige war, der sie getötet hat.

War es nur Zufall, wenn diese Stimme mit ihm zu sprechen schien? Oder hörte Lews Therin ihn und antwortete? Wie habe ich — wie hast du Ishamael getötet? Sag mir, wie.

Tod. Ich wünsche mir die Ruhe des Todes. Aber nicht hier. Ich will nicht hier sterben.

Rand seufzte. Nur Zufall. Er wollte auch nicht hier sterben. Ein Palast ganz in der Nähe, die Säulen vor der Fassade abgebrochen, zeigte eine deutliche Neigung zur Straße hin. Er konnte jeden Moment einstürzen und sie an diesem Fleck begraben. »Führt uns«, sagte er zu Haman. Und zu den Aiel fügte er hinzu: »Denkt daran, was ich Euch gesagt habe. Berührt nichts, nehmt nichts mit und bleibt immer in Sichtweite.«

»Ich hatte nicht erwartet, daß es so schlimm wird«, brummte Haman. »Es überdeckt fast den Ruf des Wegetores.« Erith stöhnte und Covril wirkte, als hielte nur ihre Würde sie davon ab, genauso zu stöhnen. Die Ogier fühlten die Ausstrahlung eines Ortes sehr deutlich.

Haman deutete in eine Richtung. Der Schweiß auf seinem Gesicht hatte nichts mit der Hitze zu tun. »Dorthin.«

Zerbröckelnde Pflastersteine knirschten unter Rands Stiefelsohlen wie zermalmte Knochen. Haman führte sie um Ecken und Straßen, an einem Ruinenblock nach dem anderen vorbei, aber er war sich der Richtung sicher. Die sie umgebenden Aiel liefen fast auf Zehenspitzen. Die Augen über den schwarzen Schleiern blickten nicht drein, als befürchteten sie einen Angriff, sondern als habe dieser Angriff bereits begonnen.

Die unsichtbaren Beobachter und eingestürzten Gebäude brachten Erinnerungen zurück, auf die Rand gern verzichtet hätte. Hier hatte sich Mat auf einen Weg begeben, der ihn bis zum Horn von Valere geführt hatte, und vielleicht war es auch diese Straße, die ihn letzten Endes nach Rhuidean und in jenen Ter'Angreal geführt hatte, über den er nicht reden wollte. Hier war Perrin verschwunden, als sie gezwungen gewesen waren, in der Nacht zu fliehen, und als Rand ihn schließlich wiedergetroffen hatte, fern von hier, hatte er goldene Augen, einen traurigen Blick und Geheimnisse gehabt, die Moiraine Rand niemals weitergegeben hatte.

Auch er war nicht ungeschoren davongekommen, obwohl ihn Shadar Logoth nicht unmittelbar berührt hatte. Padan Fain war ihnen allen hierher gefolgt, ihm und Mat und Perrin, Moiraine und Lan, Nynaeve und Egwene. Padan Fain, fahrender Händler und gelegentlich Besucher der Zwei Flüsse. Padan Fain, Schattenfreund. Mehr als ein Schattenfreund mittlerweile, und schlimmeres, wie Moiraine behauptet hatte. Fain hatte sie alle hierher verfolgt, doch was von hier aus fortging, war mehr als Fain gewesen, oder vielleicht weniger. Fain, oder das, was von Fain übriggeblieben war, wünschte Rands Tod. Er hatte alle bedroht, die Rand liebte, falls Rand nicht zu ihm kam. Und Rand war nicht gekommen. Perrin hatte sich darum gekümmert und die Zwei Flüsse wieder gesichert, aber Licht, wie das weh tat! Was hatte Fain nur mit den Weißmänteln angestellt? Konnte Pedron Niall etwa ein Schattenfreund sein? Wenn das sogar auf manche Aes Sedai zutraf, war es auch bei dem Kommandierenden Lordhauptmann der Kinder des Lichts möglich.

»Dort ist es«, sagte Haman, und Rand fuhr zusammen. Shadar Logoth war der letzte Ort auf der Welt, an dem man sich in Gedanken verlieren durfte.

Wo der Älteste stand, hatte sich einst ein geräumiger Platz erstreckt, dessen eine Hälfte aber mittlerweile von verwittertem Schutt bedeckt war. Mitten auf dem Platz, wo man ansonsten einen Brunnen erwartet hätte, stand statt dessen ein kunstvollfiligraner Zaun aus einem glänzenden Material, so hoch wie ein Ogier und von Rost unberührt. Er umschloß etwas, das wie ein hohes Steindenkmal aussah und in das so feine Ranken und Blätter eingehauen waren, daß man beinahe glaubte, den Windhauch zu spüren, der sie bewegte, und man war überrascht, wenn man feststellte: sie waren grau und nicht grün. Das Wegetor, aber es wirkte keineswegs wie irgendeine Art von Eingang oder Ausgang.

»Sie haben den Hain gefällt, kaum daß die Ogier zum Stedding abgereist waren«, brummte Haman zornig mit heruntergezogenen langen Augenbrauen, »höchstens zwanzig oder dreißig Jahre später, und sie haben ihre Stadt erweitert.«

Rand berührte den Zaun mit einem Strang aus Luft, wobei er sich fragte, wie sie ihn durchdringen sollten, dann jedoch riß er die Augen auf, als der ganze Zaun sich mit einem Mal in zwanzig oder mehr Einzelteile auflöste, die ihrerseits mit lautem Krachen umstürzten, daß sogar die Ogier zusammenfuhren. Rand schüttelte den Kopf. Selbstverständlich. Metall, das sich so lange ohne eine Spur von Rost gehalten hatte, mußte mit Hilfe der Macht hergestellt worden sein. Vielleicht stammte es sogar aus dem Zeitalter der Legenden, aber die Bügel, die den Zaun zusammengehalten hatten, waren durchgerostet und hatten nur auf einen kräftigen Stoß gewartet.

Covril legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Ich möchte Euch bitten, es nicht zu öffnen. Zweifellos hat Euch Loial gesagt, wie man es öffnet, denn er hat immer schon zuviel Interesse an solchen Dingen gezeigt, aber die Kurzen Wege sind gefährlich.«

»Ich kann es verschließen«, sagte Haman, »damit man es nur wieder öffnen kann, falls man den Talisman des Wachstums besitzt. Hmmm. Hmmm. Eine simple Sache, einfach durchzuführen.« Allerdings schien er nicht gerade erpicht darauf zu sein. Und er trat keineswegs näher heran.

»Es könnte gebraucht werden, ohne daß man die Zeit hat, so etwas aufzutreiben«, sagte Rand zu ihm. Möglicherweise mußte man alle Wege benützen, welche Gefahren dort auch drohen mochten. Sollte er sie auf irgendeine Weise reinigen können... Aber das wäre beinahe genauso großspurig wie seine Prahlerei Taim gegenüber, er werde Saidin säubern.

Er machte sich daran, Stränge von Saidin um das Wegetor zu verweben, wobei er alle Fünf Mächte benutzte. Er hob sogar die Einzelteile des Zauns wieder auf und brachte sie an ihren jeweiligen Platz zurück. Vom ersten Strang an, den er webte, schien die Verderbnis Saidins in ihm zu pulsieren. Die Vibration wurde langsam stärker. Es mußte an dem Bösen in Shadar Logoth selbst liegen, ein Mitschwingen des Bösen mit dem Bösen. Selbst im Nichts geborgen wurde ihm schwindlig von diesen Schwingungen. Es war, als schwinge die ganze Welt unter seinen Füßen mit. Er verspürte den Drang, alles herauszukotzen, was er je gegessen hatte. Trotzdem gab er nicht nach. Er konnte schließlich genausowenig Männer hierher auf Wache entsenden, wie er sie hätte suchen lassen können.

Was er wob und dann nach innen stülpte, war eine hinterhältige Falle, wie sie einem so hinterhältigen Ort gerecht wurde. Ein Wachgewebe von überragender Gemeinheit. Menschen konnten unbehelligt hindurchschreiten, vielleicht sogar die Verlorenen, denn er konnte das Tor nur gegen Menschen oder Schattenwesen schützen, aber nicht gegen beides, doch selbst ein männlicher Verlorener konnte das Gewebe nicht erkennen. Sollte irgendeine Art von Schattenwesen hindurchzugehen versuchen... Das war eben die Gemeinheit daran. Sie würden nicht gleich sterben, ja, möglicherweise könnten sie es sogar zurück über die Stadtmauer schaffen. Es würde jedenfalls lange genug dauern, daß die Toten weit entfernt lägen und somit den nächsten Myrddraal, der hierherkam, nicht abschrecken konnten. Lange genug vielleicht, um einem Trolloc-Heer das Verlassen der Stadt zu ermöglichen und dabei die eigenen Toten mitzunehmen. Grausam genug für einen Trolloc. Das Ding zurechtzuweben, machte ihn genauso krank wie der Makel auf Saidin.

Das Gewebe abzunabeln und Saidin loszulassen brachte nicht viel Erleichterung. Der Rückstand an Schmutz, der jedesmal blieb, pulsierte nach wie vor in ihm. Es war beinahe ein Gefühl, als bebe der Boden unter seinen Füßen. Seine Zähne und Ohren schmerzten. Er konnte es nicht erwarten, von hier wegzukommen.

Er holte tief Luft und bereitete sich darauf vor, erneut zur Macht zu greifen und ein Tor zu öffnen —aber dann hielt er mit gerunzelter Stirn inne. Schnell zählte er alle, und dann noch einmal etwas langsamer. »Jemand fehlt. Wer?«

Die Aiel brauchten nur einen Augenblick, um sich zu beraten.

»Liah«, sagte Sulin durch ihren Schleier hindurch.

»Sie kam gleich hinter mir.« Jalanis Stimme war unverkennbar.

»Vielleicht hat sie irgend etwas entdeckt?« Er glaubte, Desoras Stimme zu erkennen.

»Ich habe allen befohlen, zusammenzubleiben!« Zorn überflutete das Nichts wie Wogen, die sich schäumend an einem Felsen brachen. Eine von ihnen fehlte, ausgerechnet hier, und sie nahmen es mit dieser lichtversengten Kühle, wie sie den Aiel zu eigen war. Eine Tochter des Speers fehlte. Eine Frau fehlte, und das in Shadar Logoth. »Wenn ich sie finde...!« Einen Fingerbreit nach dem anderen unterdrückte er den Zorn, der die ihn einhüllende Leere zu erfassen drohte. Was er mit Liah machen wollte, war, sie anzuschreien, daß sie in Ohnmacht fiel, und sie dann für den Rest ihres Lebens zu Sorilea schicken. Dieser Zorn erweckte brutale Mordgelüste in ihm. »Teilt Euch paarweise auf. Ruft nach ihr, seht Euch überall um, aber geht nirgends hinein, gleich, aus welchem Grund. Und haltet Euch von Schatten fern. Hier könntet Ihr sterben, bevor Ihr überhaupt etwas merkt. Falls Ihr sie in einem Gebäude entdeckt und sie nicht gleich herauskommt, ruft zuerst nach mir, auch wenn es so aussieht, als sei alles in Ordnung.«

»Wir können schneller suchen, wenn wir allein auf die Suche gehen«, sagte Urien, und Sulin nickte zustimmend. Es nickten überhaupt viel zu viele.

»Paare!« Rand unterdrückte seinen Zorn wieder mit Mühe. Das Licht soll die Sturheit der Aiel versengen! »Auf diese Weise habt Ihr wenigstens jemand, der Euch Rückendeckung gibt. Tut endlich ausnahmsweise einmal, was ich Euch befehle, wenn ich es Euch befehle. Ich war schon hier und weiß einiges über diesen Ort.«

Ein paar Minuten später, in denen sie beratschlagten, wie viele bei Rand zurückbleiben sollten, verteilten sich zwanzig Aielpaare. Die eine, die bei ihm verblieb, war Jalani, wie Rand glaubte, obwohl man das bei dem Schleier nur schwer sagen konnte. Ausnahmsweise schien sie nicht glücklich darüber zu sein, ihn bewachen zu dürfen. In den grünen Augen lag eine klare Andeutung von Ärger.

»Ich denke, wir könnten ein weiteres Paar bilden«, sagte Haman, wobei er Covril anblickte.

Sie nickte, »Und Erith kann hier bleiben.«

»Nein!« sagten Rand und Erith fast im gleichen Moment. Die älteren Ogier wandten sich mit mißbilligenden Mienen ab. Eriths Ohren hingen schlapp herunter, bis sie beinahe herabzufallen drohten.

Rand zwang sich zur Ruhe. Früher schien es ihm, daß im Nichts geborgen aller Zorn sich nur irgendwo in großer Entfernung abspiele und lediglich durch einen dünnen Faden mit ihm zusammenhing. Doch jetzt drohte ihn der Zorn mehr und mehr zu überwältigen, das Nichts zu überwältigen. Was sich als katastrophal herausstellen mochte. Aber davon einmal abgesehen... »Es tut mir leid. Ich hatte kein Recht, Euch anzuschreien, Ältester Haman, oder Euch, Sprecherin Covril.« War das nun die richtige Anrede gewesen? War es vielleicht irgendeine Art von Titel? Nichts an ihren Mienen wies auf eine Antwort hin. »Ich würde es begrüßen, wenn Ihr alle bei mir bleiben würdet. Dann können wir gemeinsam suchen.«

»Selbstverständlich«, sagte Haman. »Ich weiß wirklich nicht, wie ich Euch mehr Schutz bieten könnte als Ihr selbst, aber ich stehe zu Eurer Verfügung.« Covril und Erith nickten zustimmend. Rand hatte keine Ahnung, was Haman damit sagen wollte, aber es schien ihm der falsche Zeitpunkt, um Fragen zu stellen, nachdem sich die drei offensichtlich entschlossen hatten, ihn beschützen zu wollen. Er hegte keinen Zweifel daran, daß er alle drei beschützen konnte, solange sie sich nahe bei ihm befanden.

»Solange Ihr Euren eigenen Weg geht, Rand al'Thor.« Die Tochter mit den grünen Augen war tatsächlich Jalani, und sie klang erfreut darüber, daß sie nicht nur herumstehen und warten mußte. Rand hoffte, wenigstens den anderen einen besseren Eindruck vermittelt zu haben, was sie an diesem Ort erwartete.

Von Beginn an war es eine deprimierende Suche. Sie gingen unter den Blicken unsichtbarer Beobachter eine Straße nach der anderen entlang, kletterten über Schutthaufen und schrien abwechselnd: »Liah! Liah!« Covrils Ruf ließ die schief ragenden Wände knarren, und bei Hamans Schrei ächzten sie unheilkündend. Keine Antwort. Die einzigen Geräusche, die sie wahrnahmen, waren die Rufe der anderen Suchtrupps, die in den Straßen ein hohles und spottendes Echo warfen: Liah! Liah!

Die Sonne befand sich schon fast senkrecht über ihren Köpfen, als Jalani sagte: »Ich glaube nicht, daß sie soweit gekommen sein kann, Rand al'Thor. Es sei denn, sie wollte vor uns wegrennen, und das würde sie nicht tun.«

Rand war gerade dabei, in die Schatten unter mächtigen Säulen zu spähen, die über breiten Steinstufen emporragten, um in einen großen Saal blicken zu können. Soweit er erkennen konnte, befand sich da darin nichts außer Staub. Keine Fußspuren. Die unsichtbaren Beobachter hatten sich weit in den Hintergrund zurückgezogen. Sie waren nicht ganz verschwunden, aber fast. So wandte er sich wieder Jalani zu. »Wir müssen sie finden. Vielleicht ist sie...« Er wußte nicht weiter. »Ich werde sie nicht hier zurücklassen, Jalani.«

Die Sonne wanderte höher und begann ihren Abstieg. Rand stand auf etwas, das wohl einst ein Palast gewesen sein mochte, oder ein ganzer Gebäudeblock. Jetzt war es ein Hügel und im Laufe der Jahre so verwittert, daß nur eine Anzahl zerbröckelter Backsteine und Bruchstücke behauenen Natursteins, die aus der trockenen Erde herausragten, davon kündeten, was hier einst gestanden hatte. »Liah!« rief er durch den Trichter seiner Hände. »Liah!«

»Rand al'Thor«, rief eine Tochter des Speers von der Straße herauf, und als sie ihren Schleier sinken ließ, erkannte er Sulin. Sie und eine andere, noch immer verschleierte Tochter standen bei Jalani und den Ogiern. »Kommt herunter.«

Er kletterte inmitten einer Staubwolke herab. Steinchen, Bruchstücke des Baumaterials von einst, folgten ihm als Lawine, und dieser Schutt rutschte so schnell ab, daß er zweimal fast gestürzt wäre. »Habt Ihr sie gefunden?«

Sulin schüttelte den Kopf. »Wir hätten sie bestimmt mittlerweile gefunden, wäre sie noch am Leben. Sie wäre von allein nicht weit weggelaufen. Falls sie jemand verschleppt haben sollte, hätte sie sich widersetzt, und falls sie schwer verwundet wurde und unsere Rufe nicht beantworten konnte, dann wäre sie meiner Meinung nach jetzt sicher auch tot.« Haman seufzte traurig. Die langen Augenbrauen der Ogierfrauen senkten sich auf ihre Wangenknochen. Aus irgendeinem Grund galten ihre traurigen, mitleidigen Blicke Rand.

»Sucht weiter«, sagte er.

»Dürfen wir in den Gebäuden suchen? Es gibt so viele Räume, die wir von außen nicht einsehen können.«

Rand zögerte. Es war noch nicht einmal Spätnachmittag, aber er spürte die unsichtbaren Augen auf sich ruhen. So stark waren sie beim ersten Mal, als er hierhergekommen war, erst bei Sonnenuntergang fühlbar gewesen. In Shadar Logoth war man in den Schatten nicht sicher. »Nein. Aber wir suchen weiter.«

Er wußte nicht genau, wie lange er noch rufend die Straßen hinauf und hinunter schritt, aber nach einer Weile traten Urien und Sulin in seinen Weg. Beide hatten die Schleier abgelegt. Die Sonne ruhte auf den Baumwipfeln im Westen — ein blutroter Ball an einem wolkenlosen Himmel. Die Schatten erstreckten sich lang über die Ruinen.

»Ich werde suchen, solange Ihr wollt«, sagte Urien, »aber mit Rufen und Umschauen kommen wir nicht weiter. Wenn wir die Gebäude durchsuchen würden...«

»Nein.« Das klang wie ein Krächzen, und Rand räusperte sich erst einmal. Licht, er hätte so gern einen Schluck Wasser gehabt. Die unsichtbaren Beobachter standen an jedem Fenster, in jeder Öffnung, Tausende, und warteten gespannt. Schatten hüllten die Stadt ein. Die Schatten waren in Shadar Logoth kein sicherer Aufenthaltsort, doch die Dunkelheit würde den sicheren Tod bringen. Mashadar erhob sich bei Sonnenuntergang. »Sulin, ich...« Er brachte es nicht über sich, ihr zu sagen, daß sie aufgeben und Liah zurücklassen mußten, ob sie nun tot war oder noch am Leben, und wenn sie auch irgendwo bewußtlos liegen mochte, hinter einer Mauer oder unter einem Schutthaufen, der möglicherweise über ihr abgerutscht war. Es konnte durchaus sein.

»Was uns auch beobachten mag, es wartet, glaube ich, auf den Anbruch der Nacht«, sagte Sulin. »Ich habe in Fenster geschaut, aus denen mich etwas angeblickt hat, aber es war nichts da. Der Tanz der Speere wird nicht leicht, wenn wir den Gegner nicht sehen können.«

Rand wurde bewußt, daß er sich gewünscht hatte, sie möge erneut sagen, Liah sei tot, damit sie diesen schrecklichen Ort verlassen konnten. Liah mochte irgendwo verwundet liegen; das war durchaus möglich. Er berührte seine Manteltasche. Der Angreal in Form dieses fetten kleinen Mannes befand sich zusammen mit Schwert und Szepter in Caemlyn. Er wußte nicht genau, ob er alle beschützen konnte, wenn es erst einmal dunkel war. Moiraine war der Meinung gewesen, die komplette Weiße Burg sei nicht in der Lage, Mashadar zu töten. Falls man bei ihm von einem lebenden Wesen sprechen konnte.

Haman räusperte sich. »Woran ich mich bei Aridhol erinnere«, sagte er mit finsterer Miene, »also bei Shadar Logoth, ist die Tatsache, daß wir wahrscheinlich alle sterben werden, wenn die Sonne untergeht.«

»Ja.« Rand hauchte dieses Wort zögernd in die Abendluft. Liah, die vielleicht noch am Leben war. Alle die anderen. Covril und Erith hatten ein Stück entfernt die Köpfe zusammengesteckt. Er schnappte ein gemurmeltes »Loial« auf.

Die Pflicht ist schwerer als ein Berg, der Tod leichter als eine Feder.

Lews Therin mußte das bei ihm aufgeschnappt haben, denn wie es schien, drangen Erinnerungen von beiden Seiten durch diese Sperre, doch der Satz schnitt ihm ins Herz.

»Wir müssen jetzt fort von hier«, sagte er zu ihnen. »Ob Liah nun tot ist oder noch lebt, wir ... müssen gehen.« Urien und Sulin nickten lediglich, aber Erith trat zu ihm heran und tätschelte ihm mit erstaunlicher Sanftheit die Schulter — sanft, trotz einer Hand, mit der sie seinen ganzen Kopf hätte umfassen können.

»Wenn ich Euch bemühen darf«, sagte Haman, »wir haben uns um einiges länger hier aufgehalten als erwartet.« Er deutete auf die untergehende Sonne. »Würdet Ihr uns den Gefallen erweisen, uns auf die gleiche Art aus dieser Stadt herauszubefördern, auf die Ihr uns hergebracht habt? Ich würde das sehr begrüßen.«

Rand erinnerte sich an den Wald außerhalb von Shadar Logoth. Kein Myrddraal oder Trolloc würde sich diesmal dort aufhalten, und das Licht allein mochte wissen, in welcher Entfernung oder Richtung sich das nächste Dorf befand. »Ich werde mehr als das tun«, sagte er. »Ich kann Euch genauso schnell zu den Zwei Flüssen bringen.«

Die beiden älteren Ogier nickten ernst. »Der Segen von Licht und Ruhe möge Euch für Eure Hilfe zuteil werden«, murmelte Covril. Eriths Ohren bebten vor Spannung, vielleicht weil sie hoffte, Loial zu sehen und weil sie Shadar Logoth verlassen konnte.

Rand zögerte noch einen Augenblick. Loial würde sich wahrscheinlich in Emondsfeld aufhalten, aber dorthin konnte er sie nicht bringen. Zu viele Gerüchte über seinen Überraschungsbesuch würden aus den Zwei Flüssen nach außen dringen. Ein Stück vom Dorf entfernt also, weit genug, um die Bauernhöfe zu meiden, die in der Nahe lagen.

Der senkrechte Lichtschlitz erschien und erweiterte sich. Der Makel Saidins pochte wieder in seinem Inneren, schlimmer als zuvor, und der Boden schien gegen seine Stiefelsohlen zu trommeln.

Ein halbes Dutzend Aiel sprang hindurch, und die drei Ogier folgten ihnen mit einer Eile, die unter den gegebenen Umständen keineswegs unziemlich schien. Rand blieb noch kurz stehen und blickte zurück auf die Ruinenstadt. Er hatte versprochen, daß die Töchter für ihn sterben dürften.

Als die letzten Aiel durch das Tor sprangen, zischte Sulin. Er sah sie fragend an, doch sie schaute auf seine Hand. Seinen Handrücken, auf dem er mit den Fingernägeln einen tiefen Riß hinterlassen hatte, aus dem Blut quoll. Er war so sicher in das Nichts gehüllt, daß genausogut jemand anders die Schmerzen hätte empfinden können. Die äußerliche Verletzung spielte keine Rolle; sie würde heilen. Er hatte sich tief in seinem Inneren schlimmere zugefügt, die niemand sehen konnte. Eine für jede Tochter des Speers, die für ihn gestorben war, und er sorgte dafür, daß sie nicht heilten.

»Wir sind hier fertig«, sagte er und trat durch das Tor direkt in das Gebiet der Zwei Flüsse. Das Pochen verschwand mit dem Tor.

Mit gerunzelter Stirn versuchte Rand sich zu orientieren. Es war nicht leicht, ein Tor genau an den richtigen Ort zu bringen, wenn man noch nie dort gewesen war, aber er hatte sich einen Platz ausgesucht, den er kannte, eine mit Unkraut durchwachsene Wiese, die niemand je benützt hatte, etwa einen guten Zwei-Stunden-Marsch südlich von Emondsfeld. Im fahlen Zwielicht konnte er Schafe erkennen, eine ordentliche Herde, und einen Jungen mit einem Schäferstab in Händen und einen Bogen über dem Rücken, der sie aus hundert Schritt Entfernung anstarrte. Rand benötigte die Macht nicht, um zu erkennen, daß dem Jungen die Augen beinahe herausfielen, und das war auch verständlich. Dann ließ der Junge den Stab fallen und rannte los, auf ein Bauernhaus zu, das sich noch nicht dort befunden hatte, als Rand das letzte Mal hier war. Ein Bauernhaus mit Ziegeldach.

Einen Augenblick lang fragte sich Rand, ob er sich überhaupt in den Zwei Flüssen befinde. Nein, die Stimmung dieses Orts sagte ihm, daß er das Tor richtig ausgelegt hatte. Der Duft, der in der Luft lag, roch nach zu Hause. All diese Veränderungen, von denen Bode und der Rest der Mädchen ihm erzählt hatten, hatte er noch gar nicht richtig verarbeitet. Für ihn konnte sich immer noch nichts an den Zwei Flüssen jemals verändern. Sollte er die Mädchen hierher zurückschicken, nach Hause? Was du tun solltest, ist, dich von ihnen fernzuhalten. Der bloße Gedanke ärgerte ihn schon.

»Emondsfeld liegt in dieser Richtung«, sagte er. Emondsfeld. Perrin. Tam könnte sich ebenfalls dort aufhalten, in der Weinquellenschenke bei Egwenes Eltern. »Dort sollte Loial zu finden sein. Ich weiß nicht, ob Ihr es vor Anbruch der Dunkelheit schafft. Ihr könntet auch in dem Bauernhaus um ein Quartier bitten. Ich bin sicher, sie haben einen Schlafplatz für Euch. Sagt ihnen nichts von mir. Erzählt niemandem, wie Ihr hierhergekommen seid.« Der Junge hatte zugesehen, aber wenn plötzlich Ogier auftauchten, würde man die Geschichte eines solchen Jungen wohl für übertrieben halten.

Haman und Covril rückten die Bündel auf ihren Rücken zurecht, tauschten einen Blick, und sie sagte: »Wir werden nichts darüber sagen, wie wir hierherkamen.

Sollen die Leute erzählen, was sie wollen.«

Haman strich sich über den Bart und räusperte sich. »Ihr dürft Euch nicht umbringen.«

Selbst im Nichts empfand Rand Überraschung. »Was?«

»Der Weg vor Euch«, polterte Haman, »ist lang, dunkel, und, wie ich sehr fürchte, blutgetränkt. Ich fürchte ebenfalls sehr stark, daß Ihr uns alle auf diesen Weg führt. Aber Ihr müßt überleben, um sein Ende zu erreichen.«

»Das werde ich«, erwiderte Rand kurz angebunden. »Lebt wohl.« Er bemühte sich, ein wenig Wärme in die Worte zu legen, war sich aber des Erfolgs nicht sicher.

»Lebt ebenfalls wohl«, sagte Haman, und die Frauen wiederholten die Worte, bevor sich die drei dem Bauernhaus zuwandten. Aber nicht einmal bei Erith klang es, als glaube sie an die Erfüllung dieses guten Wunsches.

Rand stand noch einen Augenblick lang da. Menschen waren aus dem Haus gelaufen und beobachteten die Annäherung der Ogier, aber Rand blickte nach Nordwesten; nicht in Richtung Emondsfeld, sondern in Richtung des Hofes, auf dem er aufgewachsen war. Als er sich abwandte und ein Tor nach Caemlyn öffnete, war es, als reiße er sich den eigenen Arm ab. Der Schmerz war ein viel passenderes Andenken an Liah als der Kratzer.

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