52 Gewebe der Macht

Die Männer, die im Schankraum der Wanderin am Tisch saßen, waren überwiegend Einheimische. Männer mit langen Westen trugen diese gerne aus farbenfroher Seide — oft auch mit Brokat — über heilen Hemden mit weiten Ärmeln. Granate oder Perlen schmückten die Fingerringe, die Ohrkreolen waren nicht vergoldet, sondern aus massivem Gold, und Mondsteine und Saphire glitzerten auf den Knäufen gebogener, in den Gürteln steckender Dolche. Mehrere Männer hatten Seidenumhänge um die Schultern geschlungen, die mit einer Silber- oder Goldkette zwischen den mit Blumen oder Tieren bestickten schmalen Aufschlägen befestigt waren. Die Umhänge wirkten in der Tat seltsam — zu klein, um sie richtig anziehen zu können und nur als Überwurf gedacht —, aber die Männer trugen zusätzlich zu den gebogenen Dolchen auch noch lange, schmale Schwerter und schienen durchaus bereit, beides zu benutzen, wenn ein falsches Wort oder ein falscher Blick erfolgte oder weil sie sich zufällig danach fühlten.

Es war eine bunte Menge: zwei murandianische Händler mit gedrehten Schnurrbärten und jenen lächerlichen kleinen Spitzbärten, ein Domani mit Haaren bis über die Schultern und einem dünnen Schnurrbart, der ein Goldarmband, eine eng anliegende goldene Halskette und eine große Perle in seinem linken Ohr trug, ein dunkler Atha'an Miere in einem hellgrünen Umhang mit tätowierten Händen und zwei in einer Schärpe steckenden Dolche, ein Taraboner mit einem durchlässigen Schleier, der einen dichten, fast den Mund verbergenden Schnurrbart trug, sowie eine Anzahl Fremde, die von überallher gekommen sein konnten. Aber alle Männer hatten einen Stapel Münzen vor sich aufgeschichtet, obwohl sich die jeweilige Höhe unterschied. So nahe am Tarasin-Palast zog die Wanderin Gäste an, die Gold übrig hatten.

Mat schüttelte die fünf Würfel in dem Lederbecher und ließ sie dann auf den Tisch rollen. Sie blieben mit zwei Kronen, zwei Sternen und einem Becher auf den Oberflächen liegen. Ein guter Wurf, hätte nicht besser sein können. Sein Glück verlief wellenförmig, und im Moment schien die Welle ihren Tiefpunkt erreicht zu haben, was bedeutete, daß er nur höchstens bei der Hälfte seiner Würfe gewann. Gerade hatte er bei zehn Würfen in Folge verloren, ein für ihn eigentlich ungewöhnlicher Verlauf. Mat reichte den Würfelbecher an einen blauäugigen Fremden weiter, ein Mann mit einem harten, hageren Gesicht, der trotz seines einfachen braunen Umhangs anscheinend viele Münzen zur Verfügung hatte.

Vanin beugte sich herab, um Mat etwas ins Ohr zu flüstern. »Sie sind wieder draußen. Thom sagt, er weiß immer noch nicht, wie.« Mat schnitt dem dicken Mann eine Grimasse, woraufhin er sich schneller aufrichtete, als man es einem Mann seiner Statur zugetraut hätte.

Mat trank seinen Silberbecher gewürzten Wein halb leer und blickte stirnrunzelnd auf den Tisch hinab. Wieder! Der blauäugige Mann ließ die Würfel auf den Tisch rollen, und sie blieben mit drei Kronen, einer Rose und einem Zepter auf der Oberfläche liegen. Der Sieg wurde rund um den Tisch murmelnd gewürdigt.

»Blut und Asche«, murrte Mat. »Als nächstes wird die Tochter der Neun Monde hereinspazieren und mich fordern.« Der blauäugige Bursche verschluckte sich an seinem Siegestrunk. »Kennt Ihr den Namen?« fragte Mat.

»Mir ist nur der Wein in die falsche Kehle geraten«, antwortete der Mann mit einem schleppenden Akzent, den Mat nicht kannte. »Welcher Name war es?«

Mat machte eine beschwichtigende Geste. Er hatte Streitigkeiten schon aus weniger guten Gründen entstehen sehen. Er schob das Gold und Silber in seine Börse zurück und steckte sie in die Umhangtasche, während er aufstand. »Ich höre auf. Das Licht möge alle hier segnen.« Die Männer am Tisch erwiderten den Segen, sogar die Fremden. Die Menschen in Ebou Dar waren sehr höflich.

Obwohl es noch früh am Tag war, war der Schankraum recht gut besetzt, und ein weiteres Würfelspiel trug zu Gelächter und Stöhnen bei. Zwei der jüngeren Söhne von Herrin Anan halfen den Schankmädchen, das Frühstück zu servieren. Die Wirtin selbst saß in der Nähe der geländerlosen weißen Steintreppe an der Rückseite des Raumes und behielt alles im Auge. Neben ihr saß eine junge, hübsche Frau, deren schwarze Augen lustig zwinkerten, als kenne sie einen Witz, den niemand sonst kannte. Ihr Gesicht war ein von glänzendem schwarzen Haar umgebenes, vollkommenes Oval, und der tiefe Ausschnitt ihres mit einem roten Gürtel versehenen, grauen Gewandes gab einen quälenden Anblick frei. Die Belustigung in ihren Augen verstärkte sich noch, als sie Mat anlächelte.

»Bei Eurem Glück, Lord Cauthon«, sagte Herrin Anan, »sollte mein Mann Euch fragen, wohin er seine Fischerboote schicken soll.« Ihr Tonfall klang aus irgendeinem Grund sehr nüchtern.

Mat akzeptierte den Titel ohne Verwunderung. In Ebou Dar würden außer Lords selbst nur wenige einen Lord herausfordern. Es war für ihn eine einfache Rechnung. Es gab erheblich weniger Lords als Bürgerliche, wodurch sich die Gefahr verringerte, daß jemand versuchen würde, ein Messer in ihn zu versenken. Aber er hatte dennoch während der letzten zehn Tage drei Männern den Kopf einschlagen müssen. »Ich fürchte, mein Glück erstreckt sich nicht auf solche Dinge, Herrin.«

Olver tauchte wie aus dem Nichts neben ihm auf. »Können wir am Pferderennen teilnehmen, Mat?« fragte er eifrig.

Frielle, Herrin Anans mittlere Tochter, kam heran und nahm den Jungen bei den Schultern. »Verzeiht, Lord Cauthon«, sagte sie besorgt. »Er ist mir gerade entwischt. Bei der Wahrheit des Lichts, das hat er getan.« Da sie bald verheiratet werden sollte — die eng anliegende Silberhalskette für ihren Hochzeitsdolch umgab bereits ihren schlanken Hals —, hatte sie sich freiwillig erboten, sich um Olver zu kümmern, und dabei lachend erwähnt, daß sie selbst sechs Söhne haben wollte. Mat vermutete, daß sie jetzt auf Töchter zu hoffen begann.

Nalesean, der die Treppe herunterkam, fing Mats Blick auf, der streng genug ausfiel, um den Tairener mitten im Schritt innehalten zu lassen. Nalesean hatte Wind mit Olver als Reiter — es ritten nur Jungen — für zwei Rennen eingetragen, und Mat hatte nichts davon gewußt, bis es geschehen war. Daß sich Wind als so schnell erwiesen hatte, wie sein Name hoffen ließ, verbesserte die Sache dennoch nicht. Zwei Siege verschafften Olver den Geschmack auf mehr. »Es ist nicht Euer Fehler«, beruhigte Mat Frielle. »Steckt ihn mit meinem Segen in ein Faß, wenn es sein muß.«

Olver sah ihn vorwurfsvoll an, aber kurz darauf sauste er schon wieder herum und bedachte Frielle mit einem unverschämten Grinsen, das er irgendwo abgeschaut hatte. Es wirkte bei seinen großen Ohren und dem breiten Mund seltsam. Er würde niemals ein gutaussehender Bursche werden. »Ich werde still sitzen, wenn ich Eure Augen betrachten darf. Ihr habt wunderschöne Augen.«

Frielle trug viel von ihrer Mutter in sich, und das nicht nur bezüglich ihres Aussehens. Sie lachte melodisch und tätschelte Olver, woraufhin er errötete. Ihre Mutter und die großäugige junge Frau blickten lächelnd auf die Tischplatte.

Mat stieg kopfschüttelnd die Treppe hinauf. Er mußte mit dem Jungen reden. Er konnte nicht einfach jede Frau, die er sah, so angrinsen. Und einer Frau zu sagen, daß sie wunderschöne Augen hätte! In diesem Alter! Mat wußte nicht, wo Olver das herhatte.

Als er neben Nalesean trat, sagte der Mann: »Sie sind erneut entkommen, stimmt's?« Es war keine richtige Frage, und als Mat nickte, zog er an seinem Spitzbart und fluchte. »Ich werde die Männer zusammenrufen, Mat.«

Nerim machte sich in Mats Quartier zu schaffen, wischte den Tisch mit einem Tuch ab, als hätten die Töchter des Speers heute morgen nicht bereits staubgewischt. Er teilte sich nebenan einen kleineren Raum mit Olver und verließ die Wanderin nur selten. Ebou Dar war zügellos und unzivilisiert, behauptete er.

»Geht mein Lord aus?« fragte Nerim in klagendem Tonfall, als Mat seinen Hut hochnahm. »In diesem Umhang? Ich fürchte, auf Eurer Schulter befindet sich ein Weinfleck von letzter Nacht. Ich hätte ihn schon entfernt, wenn Mylord den Umhang heute morgen nicht so eilig umgelegt hätte, und außerdem hat der Ärmel einen Riß — von einem Messer, glaube ich —, den ich genäht hätte.«

Mat ließ sich von ihm eine graue Jacke mit Stickereien auf den Manschetten und dem hohen Kragen bringen und gab ihm statt dessen den goldverzierten Umhang.

»Ich vertraue darauf, daß Mylord heute zumindest versuchen wird, sich keinen Blutfleck einzutragen. Blut ist sehr schwer zu entfernen.«

Sie hatten sich auf diesen Kompromiß geeinigt. Mat fand sich mit Nerims düsterem Gesicht und seinen trüben Ansichten ab und ließ den Mann Dinge verrichten, die er ebenso leicht selbst hätte erledigen können. Im Gegenzug stimmte Nerim widerwillig zu, nicht ernsthaft zu versuchen, ihn tatsächlich anzuziehen.

Er überprüfte die Dolche, die unter seiner Jacke in den Ärmeln und in den herabgezogenen Schäften seiner Stiefel steckten, ließ den Speer und den Bogen ohne Sehne aber in der Ecke lehnen, ging dann hinab und trat vor das Gasthaus. Der Speer schien Dummköpfe zum Kampf zu reizen.

Trotz seines Hutes perlte, unmittelbar nachdem er aus der vergleichsweisen Kühle des Gasthauses herausgetreten war, Schweiß auf Mats Gesicht. Die Morgensonne hätte in normalen Zeiten bereits den Eindruck der Mittagszeit im Hochsommer erweckt, und der Mol-Hara-Platz war noch dazu dicht bevölkert. Mat blieb zunächst stirnrunzelnd am Tarasin-Palast stehen. Wie konnten sie ungesehen entkommen, wo doch Thom im Inneren und Vanin draußen wachten? Sie gingen fast an jedem Tag aus. Nachdem dies drei Mal geschehen war, hatte Mat dafür gesorgt, daß jede Tür dieser Masse weißen Gesteins bewacht wurde, wobei die Wächter ihre Plätze schon vor der Dämmerung einnahmen. Es waren mit ihm und Nalesean eigentlich ausreichend viele Wachen. Niemand hatte irgend etwas gesehen, und doch kam Thom unmittelbar vor der Mittagszeit heraus und verkündete, daß die Frauen irgendwie hinausgelangt seien. Der alte Gaukler schien fast außer sich und bereit, sich den Schnurrbart auszureißen. Mat wußte, was vor sich ging. Sie taten es gerade ihm zum Trotz.

Nalesean und die anderen warteten mürrisch und schwitzend und standen dicht zusammengedrängt. Nalesean betastete sein Schwertheft, als wünschte er sich heute eine Gelegenheit, es zu benutzen.

»Wir werden heute auf die andere Seite des Flusses gehen«, sagte Mat. Mehrere der Rotwaffen wechselten unbehagliche Blicke. Sie hatten die Geschichten gehört.

Vanin schüttelte den Kopf. »Zeitverschwendung«, sagte er tonlos. »Lady Elayne würde niemals an einen solchen Ort gehen. Die Aiel-Frauen vielleicht oder Birgitte, aber nicht Lady Elayne.«

Mat schloß einen Moment die Augen. Wie hatte Elayne es geschafft, einen guten Mann in so kurzer Zeit zu verderben? Er hoffte noch immer, daß Vanin mit der Zeit und fern ihres Einflusses wieder vernünftig würde, aber allmählich verlor er diese Hoffnung. Licht, wie er adlige Frauen verachtete! »Nun, wenn wir sie heute nicht sehen, können wir den Rahad vergessen —sie werden dort auffallen wie eine bemalte Lerche in einer Schar Drosseln —, aber ich beabsichtige sie auch dann zu finden, wenn sie sich unter einem Bett im Krater des Verderbens verbergen. Macht euch wie immer zu zweit auf die Suche und gebt einander Rückendeckung. Jetzt treibt einige Bootsführer auf, die uns hinüberbringen können. Verdammt, ich hoffe, daß sie nicht alle hinausgefahren sind, um den MeervolkSchiffen Obst zu verkaufen.«

Für Elayne sahen die Straßen genauso aus wie in Tel'aran'rhiod, fünf- bis sechsstöckige Ziegelsteingebäude, teilweise mit einer dünnen Schicht Mörtel bedeckt, die eng zusammenstanden und über dem unebenen Straßenpflaster aufragten. Jegliche Schatten schwanden zu dieser Tageszeit, wenn die goldene Sonne über den Köpfen brannte, vollständig aus den schmalen Gassen. Fliegen summten überall umher. Die einzigen Unterschiede zur Welt der Träume waren die vor den Fenstern hängende Wäsche, die Menschen — obwohl sich in der Mittagshitze nicht viele Leute draußen aufhielten —und der Geruch, ein äußerst stechender, kränklicher Geruch nach Verfall, der sie veranlaßte, nicht zu tief atmen zu wollen. Leider ähnelten sich alle Straßen im Rahad.

Sie legte Birgitte eine Hand auf den Arm und hieß sie anhalten, als sie ein grobes Ziegelsteingebäude erblickte, bei dem vor einigen Fenstern schmuddelige Wäsche hing. Das leise Weinen eines Babys drang von irgendwo dort drinnen heraus. Das Gebäude hatte die richtige Anzahl Stockwerke — sechs. Sie war sicher, daß es sechs gewesen waren. Nynaeve beharrte darauf, daß es nur fünf waren.

»Ich glaube nicht, daß wir hier stehenbleiben und das Haus anstarren sollten«, sagte Birgitte leise. »Die Leute schauen schon.«

Das stimmte nicht ganz, in Wahrheit sorgte sich Birgitte nur um sie. Männer ohne Hemden und häufig in zerrissenen Westen stolzierten die Straße entlang, wobei das Sonnenlicht auf ihren Messingkreolen und den mit Buntglas geschmückten Ringen glitzerte, oder sie schlichen wie Köter dahin. Die Frauen taten es ihnen in üblicherweise abgetragenen Kleidern und mit billigem Schmuck gleich. Alle trugen einen gebogenen Dolch im Gürtel und häufig auch ein einfach gearbeitetes Messer.

In Wahrheit gönnte niemand ihr und Birgitte einen zweiten Blick, obwohl Birgittes gealtertes Gesicht häufig herausfordernd wirkte und sie selbst für eine Ebou Dari groß war. Als Elayne Birgitte ansah, erblickte sie eine Frau mit feinen Fältchen in den Augenwinkeln und von Grau durchzogenem schwarzen Haar. Die Verkleidungen waren leichter zu durchschauen, je näher man dem blieb, wie ein Mensch wirklich war. Daher war auch Birgittes Haar, das ihr in vier dicken, mit grünen Bändern befestigten Flechten über den Rücken hing, erheblich länger, als jede Ebou Dari es trug, aber auch Elayne hatte ihr Haar nicht geschnitten, und niemand schien es zu beachten. Es war eine perfekte Verkleidung. Sie wünschte nur, sie müßte nicht auch schwitzen. Mit dem komplizierteren Gewebe aus Geist, das die Fähigkeit der Frauen, die Macht zu lenken, verbarg, war Elayne heute morgen auf ihrem Weg aus dem Palast direkt an Merilille vorbeigegangen. Sie trug es auch jetzt noch. Sie hatten Vandene und Adeleas mehr als einmal auf dieser Seite des Flusses gesehen.

Ihre Kleidung war natürlich nicht Teil des Gewebes, sondern es waren abgetragene Wollgewänder mit ausgefranster Stickerei an den Ärmeln und um den Halsausschnitt. Auch ihre Strümpfe waren aus Wolle und zumindest Elaynes juckten. Tylin hatte sie mit den Kleidungsstücken, verschiedenen Ratschlägen und den in Scheiden steckenden Hochzeitsdolchen versorgt. Anscheinend wurden verheiratete Frauen seltener herausgefordert als unverheiratete, und Witwen, die eine weitere Heirat ablehnten, am seltensten. Auch ihre betagte Erscheinung war hilfreich. Niemand forderte eine grauhaarige Großmutter heraus, auch wenn sie jemanden herausfordern könnte.

»Wir sollten hineingehen«, sagte Elayne, und Birgitte ging voraus, eine Hand auf dem Dolch in ihrem rauhen, braunen Wollgürtel, um die ungestrichene Tür aufzustoßen. Innen erwartete sie ein düsterer, von groben Türen gesäumter Gang, und an der entgegengesetzten Seite war eine steile, enge Treppe aus Ziegelsteinen zu sehen. Elayne unterdrückte ein erleichtertes Seufzen.

Ob man nun eine weiße Scheide mit sich führte oder nicht — ein Gebäude zu betreten, in das man nicht hineingehörte, konnte sehr wohl bedeuten, dort in eine Messerstecherei zu geraten. Auch das Fragenstellen oder Neugier konnten dies bewirken. Tylin hatte davon abgeraten, aber sie hatten bereits am ersten Tag nur durch blaue Türen gekennzeichnete Wirtshäuser betreten, um zu behaupten, sie kauften Sachen aus alten Lagerräumen auf, um sie auszubessern und weiterzuverkaufen.

Sie war mit Birgitte zusammen losgegangen und hatte Nynaeve mit Aviendha arbeiten lassen, damit sie mehr erledigen könnten. Die Schankräume waren finstere, schmutzige Orte, und bei zwei Gelegenheiten hatte Birgitte sie wieder hinausgedrängt, beide mit den Dolchen in der Hand und gerade noch rechtzeitig, bevor sie in ernsthafte Schwierigkeiten gerieten. Beim zweiten Mal mußte Elayne die Macht lenken, von zwei Frauen ertappt, die nach ihnen auf die Straße traten, und Birgitte war sich sicher, daß ihnen tatsächlich den restlichen Tag über jemand gefolgt war. Nynaeve und Aviendha hatten die gleichen Schwierigkeiten, nur daß ihnen niemand folgte. Nynaeve hatte in der Tat eine andere Frau mit einem Stuhl getroffen. So wurde sogar von harmlosen Fragen abgesehen, und sie hofften nur, daß sie nicht durch eine Tür in einen Dolch hineinspazierten.

Birgitte ging die steile Treppe hinauf voran. Küchengerüche vermischten sich auf Übelkeit erregende Weise mit dem allgemeinen Gestank des Rahad. Das Baby hörte auf zu weinen, aber dafür begann irgendwo in dem Gebäude eine Frau zu schreien. Im dritten Stockwerk öffnete ein breitschultriger Mann mit entblößtem Oberkörper eine Tür, als sie gerade auf gleicher Höhe waren. Birgitte sah ihn stirnrunzelnd an, und er hob beide Hände, die Handflächen ihnen zugewandt, wich aus dem Flur wieder zurück und trat die Tür hinter sich zu. Im obersten Stockwerk, wo sich der Lagerraum hätte befinden sollen, wenn dies das richtige Gebäude war, saß eine hagere Frau in einem groben Leinenhemd auf einem Stuhl im Eingang und genoß den leisen Luftzug, während sie ihren Dolch schärfte. Sie drehte ihnen den Kopf zu, und die Klinge wurde nicht mehr über den Schleifstein gezogen. Sie wandte den Blick nicht von ihnen ab, während sie die Treppe langsam wieder hinuntergingen, und das leise Kratzen von Metall auf Stein begann erst wieder, als sie die unterste Stufe erreicht hatten. In diesem Moment atmete Elayne erleichtert aus.

Sie war überaus froh, daß Nynaeve ihre Wette nicht angenommen hatte. Zehn Tage. Sie war eine blauäugige Närrin gewesen. Dies war bereits der elfte Tag seit ihrer großspurigen Behauptung — elf Tage, in denen sie manchmal glaubte, abends in derselben Straße zu stehen wie am Morgen, elf Tage ohne einen Hinweis auf die Schale. Manchmal waren sie im Palast geblieben, einfach um ihre Gedanken zu klären. Alles war sehr enttäuschend. Wenigstens hatten Vandene und Adeleas ebensowenig Glück. Soweit Elayne es erkennen konnte, würde niemand im Rahad bereitwillig zwei Worte mit Aes Sedai wechseln. Die Leute entschwanden, sobald sie erkannten, mit wem sie es zu tun hatten. Sie hatte zwei Frauen beobachtet, die Adeleas erstechen wollten, zweifellos um die Närrin auszurauben, die im Rahad in Seidengewändern umherging, aber als die Braune Schwester die beiden auf Strängen aus Luft emporhob und durch ein Fenster im zweiten Stockwerk steckte, war niemand sonst in Sicht. Nun, sie würde nicht zulassen, daß die beiden die Schale fänden und sie ihr vor der Nase wegschnappten.

Als sie wieder auf der Straße standen, wurde Elayne noch durch etwas anderes daran erinnert, daß es im Rahad schlimmere Dinge gab als Enttäuschung. Genau vor ihr sprang ein schlanker Mann mit blutverschmierter Brust und einem Dolch in der Hand aus einem Eingang und wirbelte sofort wieder herum, um sich einem anderen Mann entgegenzustellen, der ihm folgte. Der zweite war größer und schwerer und blutete an einer Wange. Sie umkreisten einander, die Blicke ineinander verschränkt und die ausgestreckten Klingen blitzend und sich vortastend. Eine kleine Menschenmenge versammelte sich wie aus dem Boden gewachsen, um zuzusehen. Niemand kam angelaufen, aber es ging auch niemand vorbei.

Elayne und Birgitte traten auf eine Seite der Straße, aber sie gingen nicht weiter. Das hätte im Rahad Aufmerksamkeit erregt — das letzte, was sie wollten. Elayne gelang es, an den beiden Männern vorbei dorthin zu blicken, wo nur vage, verschwommene, schnelle Bewegung erkennbar war, bis sich die Bewegung plötzlich verlangsamte. Sie blinzelte und zwang sich, wieder hinzusehen. Der Mann mit der blutverschmierten Brust stolzierte umher, grinste und fuchtelte mit seiner bluttriefenden Klinge herum. Der größere Mann lag keine zwanzig Schritte entfernt mit dem Gesicht nach unten auf der Straße und keuchte schwach.

Elayne trat instinktiv näher — ihre nicht sehr ausgeprägte Fähigkeit zu Heilen war besser als nichts, wenn ein Mann verblutete, und zum Krater des Verderbens mit dem, was jedermann hier über Aes Sedai dachte —, jedoch kniete sich, bevor sie einen zweiten Schritt tun konnte, eine andere Frau neben den Mann. Sie war vielleicht ein wenig älter als Nynaeve und trug ein blaues Gewand mit rotem Gürtel, das in etwas besserem Zustand war als die meisten Gewänder im Rahad. Elayne glaubte zunächst, sie sei die Geliebte des Mannes. Niemand machte Anstalten zu gehen. Jedermann beobachtete schweigend, wie die Frau den Mann auf den Rücken drehte.

Elayne zuckte zusammen, als die Frau, statt dem Mann sanft das Blut von den Lippen zu wischen, eine Handvoll Kräuter aus ihrer Tasche nahm und ihm einige davon hastig in den Mund steckte. Bevor sie ihre Hand zurückzog, umhüllte sie das Schimmern Saidars, und sie begann die Heilenden Stränge geschickter zu weben, als Elayne es vermocht hätte. Der Mann keuchte so heftig, daß er die meisten Kräuterblätter wieder ausstieß, erschauderte — und lag dann still, die halb geöffneten Augen der Sonne zugewandt.

»Es war anscheinend zu spät.« Die Frau erhob sich und stellte sich vor den hageren Burschen. »Ihr müßt Masics Frau sagen, daß Ihr ihren Mann getötet habt, Baris.«

»Ja, Asra«, erwiderte Baris demütig.

Asra wandte sich ohne ein weiteres Wort ab, und die kleine Menschenmenge teilte sich vor ihr. Als sie in nur wenigen Schritten Entfernung an Elayne und Birgitte vorbeiging, bemerkte Elayne zwei Dinge an ihr. Das eine war ihre Kraft. Elayne spürte ihr bewußt nach. Sie erwartete ein hinreichendes Maß an Kraft vorzufinden, aber Asra wäre wahrscheinlich nicht einmal gestattet worden, den Test zur Aufgenommenen zu machen. Das Heilen mußte ihr stärkstes Talent sein — vielleicht ihr einziges, da sie eine Wilde sein mußte —und vom Gebrauch ausgezeichnet geschärft. Vielleicht glaubte sie sogar, daß diese Kräuter nötig wären. Und als zweites bemerkte Elayne das Gesicht der Frau. Es war nicht sonnengebräunt, wie sie zunächst vermutet hatte. Asra war höchstwahrscheinlich eine Domani. Was, unter dem Licht, tat eine Domani-Wilde im Rahad?

Elayne wäre der Frau gefolgt, aber Birgitte zog sie in die entgegengesetzte Richtung. »Ich kenne diesen Ausdruck in Euren Augen, Elayne.« Birgitte suchte die Straße ab, als erwarte sie, daß einer der Vorübergehenden sie belauschte. »Ich weiß nicht, warum Ihr dieser Frau hinterherjagen wollt, aber sie scheint geachtet zu sein. Kommt Ihr dieser Frau zu nahe, sehen wir uns vielleicht mehr Klingen gegenüber, als wir zusammen bewältigen können.«

Das war schlicht die Wahrheit, und sie waren auch nicht nach Ebou Dar gekommen, um Domani-Wilde zu suchen.

Sie berührte Birgittes Arm und deutete auf zwei Männer, die gerade vor ihnen um die Ecke traten. In seinem Satinumhang sah Nalesean jeder Zoll wie ein tairenischer Lord aus. Sein Reiseumhang war bis zum Hals geschlossen, und sein verschwitztes Gesicht glänzte fast ebenso wie sein geölter Bart. Er starrte jedermann, der ihn auch nur ansah, dermaßen an, daß er unweigerlich in einen Kampf verwickelt wäre, und er liebkoste sein Schwertheft so, als würde er einen solchen Kampf ersehnen. Mat stolzierte einher, und abgesehen von seinem verstimmten Ausdruck hätte man glauben können, er amüsiere sich. Mit dem geöffneten Umhang, dem tief in die Stirn gezogenen Hut und dem Tuch um den Hals wirkte er, als hätte er die Nacht damit verbracht, durch Wirtshäuser zu ziehen, was sehr gut möglich war. Elayne erkannte zu ihrer Überraschung, daß sie seit Tagen nicht an ihn gedacht hatte. Es drängte sie, Hand an sein Ter'angreal zu legen, aber die Schale war unendlich wichtiger.

»Es ist mir niemals zuvor aufgefallen«, murmelte Birgitte, »aber ich glaube, Mat ist der Gefährlichere von den beiden. A N'Shar in Mameris. Ich frage mich, was sie auf dieser Seite des Eldar tun.«

Elayne starrte sie an. Wovon sprach Birgitte? »Sie haben wahrscheinlich alle Weinfässer auf der anderen Seite leergetrunken. Wirklich, Birgitte, ich wünschte, Ihr würdet Eure Gedanken auf das richten, weshalb wir hier sind.« Dieses Mal würde sie nicht fragen.

Als Mat und Nalesean an ihnen vorbeigeschlendert waren, verbannte Elayne sie wieder aus ihrem Geist und überprüfte die Straße. Es wäre wundervoll, wenn sie die Schale heute fänden, weil sie bei einem nächsten Versuch gemeinsam mit Aviendha suchen müßte. Sie fing an, sie zu mögen — trotz ihrer äußerst sonderbaren Vorstellungen von Rand und ihr; äußerst sonderbar! —, aber sie neigte dazu, Frauen zu ermutigen, die bereit waren, einen Dolch zu ziehen. Aviendha schien sogar enttäuscht, wenn Männer den Blick senkten, wenn sie sie anstarrte, anstatt eine Klinge zu ziehen, so wie Frauen es tun würden!

»Dort entlang«, sagte Elayne und deutete in die entsprechende Richtung. Nynaeve konnte mit den fünf Stockwerken nicht recht haben. Oder? Elayne hoffte, daß Egwene einen Weg gefunden hätte.

Egwene wartete geduldig, während Logain noch mehr Wasser trank Sein Zelt war nicht so geräumig wie seine Räume in Salidar, aber es war immer noch größer als die meisten anderen im Lager. Es mußte Platz für sechs Schwestern, und somit sechs Stühle, vorhanden sein, die den Schild gegen ihn aufrechterhielten. Egwenes Vorschlag, ihn abzubinden, war mit Ungläubigkeit und fast verächtlich aufgenommen worden. Niemand war bereit, dies zu unterstützen, besonders jetzt nicht, da sie erst vor kurzem vier Frauen ohne Prüfung oder die Eidesrute zu Aes Sedai erhoben hatte, und vielleicht niemals. Siuan hatte gesagt, sie würden es nicht tun. Der Brauch forderte sechs, obwohl ihn, wenn er so geschwächt war, lediglich drei Schwestern hätten festhalten können. Eine einzige Lampe lieferte angemessene Beleuchtung. Egwene und Logain saßen auf den am Boden ausgelegten Decken.

»Laßt es mich noch einmal wiederholen«, sagte Logain, als er den Zinnbecher senkte. »Ihr wollt wissen, was ich von al'Thors Straferlaß halte?« Einige der Schwestern regten sich auf ihren Stühlen, vielleicht weil er es unterlassen hatte, sie ›Mutter‹ zu nennen, aber noch wahrscheinlicher, weil ihnen das Thema mißfiel.

»Ich möchte wissen, was Ihr denkt. Ihr müßt doch sicherlich eine Meinung haben. Wenn Ihr mit ihm in Caemlyn wärt, hättet Ihr wahrscheinlich einen Ehrenplatz erhalten. Hier müßt Ehr jeden Tag gedämpft werden. Nun, Ihr habt den Wahnsinn fünf Jahre lang aufgehalten, behauptet Ihr. Wie groß ist Eurer Ansicht nach die Chance, daß jeder andere, der zu ihm kommt, das auch tun könnte?«

»Soll ich wirklich wieder gedämpft werden?« Seine Stimme klang leise, sein Tonfall verletzt und wütend. »Ich habe Euch alles gegeben. Ich habe alles getan, was Ihr verlangt habt. Ich habe Euch angeboten, jeden Eid zu schwören, den Ihr fordert.«

»Der Saal wird bald entscheiden. Einigen wäre es recht, wenn Ihr bequemerweise bald sterben würdet.

Alle wissen, daß Aes Sedai nicht lügen können, wenn sie Eure Geschichte erzählen. Aber ich glaube nicht, daß Ihr das fürchten müßt. Ihr habt uns zu gut gedient, als daß ich zulassen könnte, daß Ihr Schaden erleidet. Und was auch geschehen mag — Ihr könnt noch immer Euer Amt erfüllen und dafür sorgen, daß die Rote Ajah nach Eurem Belieben bestraft wird.«

Logain richtete sich ruckartig auf, und sie umarmte Saidar und hüllte ihn innerhalb eines Herzschlags in sichere Stränge aus Luft. Die Schwestern, die ihn abschirmten, hielten all ihre Kraft darauf konzentriert — ein weiterer Brauch; man muß seine ganze Kraft einsetzen, um einen Menschen abzuschirmen —, aber mehrere konnten ihre Gewebe teilen, und eine könnte einen Teil zu ihm abgeleitet haben, wenn sie glaubten, er wollte ihr vielleicht Schaden zufügen. Sie wollte nicht riskieren, daß er verletzt würde.

Die Stränge hielten ihn auf den Knien fest, aber er schien sie nicht zu beachten. »Ihr wollt wissen, was ich von al'Thors Straferlaß halte? Ich wünschte, ich wäre jetzt bei ihm! Verdammt seid Ihr alle! Ich habe alles getan, was Ihr verlangt habt! Das Licht verbrenne Euch alle!«

»Beruhigt Euch, Meister Logain.« Egwene war überrascht, daß ihre Stimme so ruhig klang. Ihr Herz raste, wenn auch sicherlich nicht aus Angst vor ihm. »Ich schwöre Euch, ich werde Euch niemals Schaden zufügen oder zulassen, daß Euch von irgend jemandem aus meinem Gefolge ein Leid geschieht, wenn ich es verhindern kann, es sei denn, Ihr wendet Euch gegen uns.« Der Zorn war aus seinem Gesicht gewichen und wurde durch Ausdruckslosigkeit ersetzt. Hörte er noch zu? »Aber der Saal wird seinen Beschlüssen folgen. Habt Ihr Euch jetzt wieder beruhigt?« Er nickte erschöpft, und sie ließ die Stränge fahren. Er sank wieder zu Boden, ohne sie anzusehen. »Ich werde erneut mit Euch über den Straferlaß sprechen, wenn Ihr wieder gefaßter seid. Vielleicht in ein oder zwei Tagen.« Er nickte noch einmal kurz, sah sie aber noch immer nicht an.

Als sie in die Abenddämmerung hinaustrat, verbeugten sich die beiden Behüter, die draußen wachten, vor ihr. Zumindest kümmerte es die Gaidin nicht, daß sie erst achtzehn Jahre alt und als Aufgenommene nur dadurch eine Aes Sedai geworden war, daß man sie zur Amyrlin erhoben hatte. Für die Behüter war eine Aes Sedai eine Aes Sedai, und die Amyrlin war die Amyrlin. Dennoch wagte sie erst auszuatmen, als sie weit genug fort war, so daß die beiden es nicht mehr hören konnten.

Das Lager war ziemlich groß, Zelte für Hunderte von Aes Sedai und für Aufgenommene, Novizinnen und Diener. Karren und Wagen und Pferde breiteten sich überall im Wald aus. Die Essensgerüche der Abendmahlzeit hingen schwer in der Luft. Rundum erstreckten sich die Herdfeuer von Gareth Brynes Heer. Die meisten seiner Männer würden nicht in Zelten, sondern auf dem Boden schlafen. Die sogenannte Horde der Roten Hand lagerte nicht mehr als zehn Meilen südlich. Talmanes änderte diesen Abstand niemals um mehr oder weniger als eine Meile, am Tag oder bei Nacht, über zweihundert Meilen weit. Sie hatten bereits einen Teil ihres Planes ausgeführt, wie Siuan und Leane es vorgeschlagen hatten.

Gareth Brynes Streitmacht war in den sechzehn Tagen, seit sie Salidar verlassen hatten, angewachsen. Zwei Heere, die langsam nordwärts durch Altara marschierten und einander eindeutig nicht freundlich gesonnen waren, erweckten Aufmerksamkeit. Adlige strömten mit ihren Gefolgsleuten heran, um sich mit dem stärkeren der beiden Heere zu verbünden. Keiner jener Herren hätte die Schwüre geleistet, die sie geleistet hatten, wenn sie gewußt hätten, daß kein großer Kampf auf ihren eigenen Ländereien stattfinden würde. Tatsächlich wäre jeder, hätte er die freie Wahl gehabt, in dem Moment davongeritten, als sie erkannten, daß Egwenes Ziel Tar Valon war und nicht ein Heer der Drachenverschworenen. Aber sie hatten jene Schwüre geleistet zumindest einer Amyrlin gegenüber — vor den Aes Sedai, die sich den Saal der Burg nannten, und Hunderten weiteren Zuschauern. Diese Schwüre zu brechen, würde sie ihr Leben lang verfolgen. Außerdem glaubte keiner von ihnen, daß Elaida die geleisteten Eide vergessen würde, selbst wenn Egwenes Kopf auf einem Spieß in der Weißen Burg endete. Sie waren vielleicht in dem Bund gefangen und unterlagen der Treuepflicht, aber sie würden zu ihren glühendsten Helfern zählen. Ihr einziger Ausweg, ihren Hals heil aus dieser Schlinge zu retten, bestand darin, dafür zu sorgen, daß Egwene in Tar Valon die Stola trug.

Siuan und Leane waren darüber aufgebracht. Egwene war sich ihrer Empfindungen nicht sicher. Wenn es eine Möglichkeit gegeben hätte, Elaida zu vertreiben, ohne einen Tropfen Blut zu vergießen, hätte sie sofort zugegriffen. Sie glaubte jedoch nicht, daß diese Möglichkeit bestand.

Nach einer kleinen Mahlzeit aus Ziegenfleisch, Steckrüben und etwas, das sie nicht näher erfragte, zog Egwene sich in ihr Zelt zurück. Es war nicht das größte Zelt im Lager, aber sicherlich das größte, das nur von einer Person bewohnt wurde. Chesa befand sich bereits dort und wartete darauf, Egwene beim Auskleiden zu helfen, wobei sie unbedingt die Neuigkeit loswerden mußte, daß sie vom Dienstmädchen einer altaranischen Lady ein wenig des feinsten vorstellbaren Leinens erworben hatte, zarter Stoff, der die unvorstellbar kühlsten Unterhemden ergeben würde. Egwene ließ Chesa häufig in ihrem Zelt schlafen, obwohl das Lager aus Decken kaum Chesas eigenem Bett gleichkam. Heute abend schickte sie die Frau jedoch fort, als sie bereit zum Schlafengehen war. Die Amyrlin zu sein, beinhaltete gewisse Sonderrechte. Beispielsweise bekam ihre Dienerin ein eigenes Zelt zugewiesen, und sie konnte nachts allein schlafen, wenn sie es wollte.

Egwene war noch nicht müde genug, um schlafen zu können, aber das war unerheblich. Es war einfach, sich in Schlaf zu versetzen. Sie war von Aiel-Traumgängern ausgebildet worden. Sie betrat Tel'aran'rhiod...

...und stand in dem Raum, der in der Kleinen Burg für kurze Zeit ihr Arbeitszimmer gewesen war. Der Tisch und die Stühle waren natürlich geblieben. Man nahm keine Möbel mit, wenn man mit einem Heer aufbrach. In der Welt der Träume fühlte sich jeder Ort leer an, bis auf jene, die wirklich mehr als die meisten anderen bedeuteten. Die Kleine Burg fühlte sich bereits ... hohl an.

Sie erkannte jäh, daß die Stola der Amyrlin um ihren Hals gelegt war. Sie ließ sie gerade noch rechtzeitig verschwinden. Einen Moment später waren Nynaeve und Elayne da, Nynaeve genauso körperlich wie sie, Elayne eher nebelhaft. Siuan hatte nur widerwillig von dem echten Ring-Ter'angreal abgelassen. Ein ausdrücklicher Befehl war notwendig gewesen. Elayne trug ein grünes Gewand mit Spitzenmanschetten und einem erstaunlich tiefen, spitzenbesetzten Ausschnitt, der einen kleinen, von einer eng anliegenden goldenen Kette herabhängenden Dolch freigab, dessen Heft sich als Ansammlung von Perlen und Feuertropfen zwischen ihre Brüste schmiegte. Elayne schien stets überall, wo sie sich aufhielt, die örtlichen Gepflogenheiten zu übernehmen. Nynaeve trug erwartungsgemäß die einfache und robuste Kleidung der Zwei Flüsse.

»Hattet ihr Erfolg?« fragte Egwene hoffnungsvoll.

»Noch nicht, aber wir werden Erfolg haben.« Elayne klang so zuversichtlich, daß Egwene erstaunt war. Sie sollte sich bemühen, ebenso zu klingen.

»Es wird gewiß nicht mehr lange dauern«, sagte Nynaeve, die sogar noch hoffnungsvoller klang.

Egwene seufzte. »Vielleicht solltet ihr euch mir wieder anschließen. Ich bin sicher, daß ihr die Schale in wenigen weiteren Tagen finden könntet, aber ich denke ständig an alle diese Geschichten.« Sie waren in der Lage, auf sich selbst aufzupassen. Sie wußte das, und es wäre gut, diesen Gedanken an ihren Gräbern zu hegen. Aber Siuan behauptete, daß keine der Geschichten, die sie erzählt hatten, übertrieben waren.

»O nein, Egwene«, widersprach Nynaeve. »Die Schale ist zu wichtig. Du weißt es. Alles wird stillstehen, wenn wir sie nicht finden.«

»Und außerdem«, fügte Elayne hinzu, »in welche Schwierigkeiten könnten wir schon geraten? Wir schlafen jede Nacht im Tarasin-Palast, falls du das vergessen hast, und wenn Tylin uns auch nicht gerade zudeckt, ist sie doch immer bereit, mit uns zu reden.« Ihr Gewand sah jetzt anders aus, der Schnitt war unverändert, aber der Stoff war jetzt rauh und abgetragen. Nynaeve trug annähernd dasselbe Gewand, aber ihr Dolch wies nur neun oder zehn Glasperlen am Heft auf. Diese Kleidung war kaum für irgendeinen Palast geeignet. Und was noch schlimmer war — sie versuchte, unschuldig zu wirken. Darin hatte Nynaeve keine Übung.

Egwene schwieg dazu. Die Schale war tatsächlich wichtig, sie konnten tatsächlich auf sich selbst aufpassen, und sie wußte sehr gut, daß der Tarasin-Palast nicht überwacht wurde. »Ihr benutzt Mat, richtig?«

»Wir...« Elayne wurde sich jäh ihres Gewandes bewußt und zuckte zusammen. Aus irgendeinem Grund schien jedoch der kleine Dolch das zu sein, was sie wahrhaft erschreckte. Ihre Augen traten hervor, sie umklammerte das Heft, eine Ansammlung großer roter und weißer Glasperlen, und ihr Gesicht wurde vollkommen karmesinrot. Einen Moment später steckte sie in einem hochgeschlossenen andoranischen Gewand aus grüner Seide.

Nynaeve erkannte nur einen Herzschlag nach Elayne, was sie trug, und reagierte genauso; außer vielleicht, daß Nynaeve doppelt so stark errötete. Sie trug wieder die Kleidung der Zwei Flüsse, bevor Elayne ihr Gewand verändert hatte.

Elayne räusperte sich und hauchte: »Ich bin sicher, daß Mat uns von Nutzen sein kann, aber wir dürfen nicht zulassen, daß er sich uns in den Weg stellt, Egwene. Du weißt, wie er ist. Aber sei versichert, daß wir ihn und alle seine Soldaten, wenn wir etwas Gefährliches tun, ganz in unserer Nähe halten werden.« Nynaeve schwieg und schien verärgert. Vielleicht erinnerte sie sich an Mats Drohung.

»Nynaeve, ihr werdet Mat nicht zu hart bedrängen, nicht wahr?«

Elayne lachte. »Egwene, sie bedrängt ihn überhaupt nicht«

»Das ist die einfache Wahrheit«, warf Elayne schnell ein. »Ich habe kein Wort mit ihm gesprochen, seit wir in Ebou Dar angekommen sind.«

Egwene nickte langsam. Sie könnte der Sache auf den Grund gehen, aber es würde viel Zeit... Sie schaute an sich herab, um sich zu versichern, daß die Stola nicht wieder aufgetaucht war, und sah nur ein Flackern, daß selbst sie nicht erkennen konnte.

»Egwene«, sagte Elayne, »hast du schon mit den Traumgängern gesprochen?«

»Ja«, sagte Nynaeve. »Wissen sie, wo das Problem liegt?«

»Ich habe mit ihnen gesprochen.« Egwene seufzte. »Sie wissen es nicht, nicht wirklich.«

Es war eine seltsame Begegnung gewesen, erst vor wenigen Tagen, als sie Bairs Träume gesucht hatte. Bair und Melaine hatten sie im Stein von Tear getroffen. Amys hatte gesagt, sie würde Egwene nicht mehr lehren, und kam nicht. Zuerst hatte sich Egwene befangen gefühlt. Sie konnte sich nicht überwinden, ihnen zu sagen, daß sie eine Aes Sedai war, und noch viel weniger, daß sie die Amyrlin war, aus Angst, sie könnten es für eine weitere Lüge halten. Es wäre sicherlich nicht schwierig gewesen, die Stola zu dem Zeitpunkt erscheinen zu lassen. Aber da war auch noch ihr Toh gegenüber Melaine. Sie erwähnte es, während sie unaufhörlich darüber nachdachte, wie viele Meilen sie am nächsten Tag in einem Sattel verbringen müßte, aber Melaine war so voller Freude darüber, daß sie Töchter bekommen würde — sie schwärmte von Mins Vision —, daß sie nicht nur geradeheraus verkündete, Egwene habe ihr gegenüber kein Toh mehr, sondern auch sagte, sie würde eines der Mädchen Egwene nennen. Das war eine kleine Freude in einer Nacht voller Nichtigkeiten und Verärgerung gewesen.

»Sie sagten«, fuhr Egwene fort, »daß sie niemals von jemandem gehört hätten, der etwas erneut dringend zu finden versuchte, nachdem er es bereits gefunden hatte. Bair dachte, es wäre so, als würde man versuchen, denselben ... Apfel zweimal zu essen.« Bair hatte denselben Motai gesagt. Ein Motai war eine in der Wüste zu findende Raupe. Sehr süß und knusprig — bis Egwene herausfand, was sie da aß.

»Du meinst, wir können nicht in den Lagerraum zurückkehren?« Elayne seufzte. »Ich hatte gehofft, daß wir etwas falsch angefangen hätten. Oh, wir werden sie trotzdem finden.« Sie zögerte, und ihr Gewand veränderte sich erneut, obwohl sie es nicht zu bemerken schien. Es war noch immer andoranisch, aber jetzt rot, mit den Weißen Löwen von Andor geschmückt, die die Ärmel hinaufkletterten und über das Leibchen wanderten. Das Gewand einer Königin, auch ohne daß die Rosenkrone auf ihren rotgoldenen Locken prangte. Das Gewand einer Königin, aber mit einem eng anliegenden Leibchen, das vielleicht mehr preisgab, als eine andoranische Königin preisgeben würde. »Egwene, haben sie etwas über Rand gesagt?«

»Er ist in Cairhien und macht sich im Sonnenpalast eine schöne Zeit.« Egwene gelang es nur mühsam, nicht zusammenzuzucken. Weder Bair noch Melaine waren sehr entgegenkommend, aber Melaine murmelte düster etwas über Aes Sedai, während Bair sagte, daß sie alle gezüchtigt werden sollten. Was auch immer Sorilea sagte — eine einfache Züchtigung sollte genügen. Egwene befürchtete insgeheim, daß Merana falsch gehandelt hatte. Zumindest vertröstete er die Abgesandten Elaidas. Sie glaubte nicht, daß er auch nur annähernd so geschickt mit ihnen umgehen konnte, wie er selbst es glaubte. »Perrin ist bei ihm und dessen Frau. Perrin hat Faile geheiratet!« Das bewirkte erstaunte Ausrufe. Nynaeve sagte, Faile sei viel zu gut für ihn, aber sie äußerte es mit einem breiten Lächeln. Elayne meinte, sie hoffe, daß sie glücklich würden, aber sie klang aus irgendeinem Grund skeptisch. »Loial ist auch dort. Und Min. Also fehlen nur noch Mat und wir drei.«

Elayne biß sich auf die Unterlippe. »Egwene, würdest du eine ... Nachricht für Min an die Weisen Frauen weitergeben? Sie sollen ihr sagen... « Sie zögerte und biß sich nachdenklich auf die Lippen. »Sie sollen ihr sagen, daß ich hoffe, daß sie Aviendha mit der Zeit genauso mögen wird wie mich. Ich weiß, daß das seltsam klingt«, fügte sie lachend hinzu. »Es ist eine persönliche Angelegenheit zwischen uns.« Nynaeve sah Elayne genauso merkwürdig an, wie sie selbst dreinschaute.

»Natürlich würde ich es tun. Aber andererseits möchte ich für längere Zeit nicht wieder mit ihnen sprechen.« Es hatte nicht viel Sinn, wenn sie so wenig über Rand preisgeben wollten. Und wenn sie den Aes Sedai gegenüber so feindselig gestimmt waren.

»Oh, es ist gut«, sagte Elayne schnell. »Es ist wirklich nicht wichtig. Nun, wenn wir die Not nicht benutzen können, dann müssen wir die Füße benutzen, und in Ebou Dar schmerzen meine gerade. Wenn es euch nichts ausmacht, werde ich zu meinem Körper zurückkehren und eine Weile richtig schlafen.«

»Geh du vor«, sagte Nynaeve. »Ich bleibe noch eine Weile.« Als Elayne verschwunden war, wandte sie sich zu Egwene um. Ihr Gewand hatte sich ebenfalls verändert, und Egwene glaubte sehr gut zu wissen, warum. Es war jetzt zartblau und tief ausgeschnitten. Blumen steckten in ihrem Haar und Bänder durchzogen ihren Zopf, wie es bei ihrer Hochzeit zu Hause wäre. Egwenes Herz flog ihr zu. »Hast du etwas von Lan gehört?« fragte Nynaeve leise.

»Nein, Nynaeve, ich habe nichts von ihm gehört. Es tut mir so leid. Ich wünschte, ich könnte dir etwas Besseres sagen. Ich weiß, daß er noch lebt, Nynaeve, und daß er dich genauso liebt, wie du ihn liebst.«

»Natürlich lebt er«, sagte Nynaeve bestimmt. »Ich würde nichts anderes zulassen. Ich beabsichtige, ihn mir zu nehmen. Er gehört mir, und ich werde nicht zulassen, daß er stirbt.«

Als Egwene erwachte, saß Siuan neben ihrem Bett, in der Dunkelheit kaum zu sehen. »Ist es vollbracht?« fragte Egwene.

Ein Schimmern umgab Siuan, als sie ein kleines Wachgewebe gegen Lauscher um sie beide wob. »Von den sechs Schwestern, die seit Mitternacht wachen, haben nur drei Behüter, und jene Gaidin werden draußen Wache halten. Sie werden sich Minztee bringen lassen, mit einem kleinen Zusatz, den sie nicht bemerken sollten.«

Egwene schloß einen Moment die Augen. »Tue ich das Richtige?«

»Das fragt Ihr mich?« keuchte Siuan. »Ich habe Befehle ausgeführt, Mutter. Ich würde diesem Mann auf keinen Fall zur Flucht verhelfen, wenn es mir überlassen bliebe.«

»Sie werden ihn dämpfen, Siuan.« Egwene hatte dies bereits alles mit ihr besprochen, aber sie mußte es für sich selbst erneut aussprechen, um sich davon zu überzeugen, daß sie keinen Fehler beging. »Sogar Sheriam hört Carlinya nicht mehr zu, und Lelaine und Romanda drängen darauf. Womöglich wird sogar jemand tatsächlich tun, was Delana angedeutet hat. Ich werde keinen Mord zulassen! Wenn wir einen Mann nicht prüfen und hinrichten können, haben wir kein Recht, seinen Tod zu vereinbaren. Ich werde ihn nicht ermorden lassen, und ich kann auch nicht zulassen, daß er gedämpft wird. Wenn Merana Rand wirklich den Rücken gestärkt hat, heißt das Öl aufs Feuer zu gießen. Ich wünschte nur, ich hätte Gewißheit, daß er zu Rand geht und sich ihm anschließt, anstatt das Licht weiß wohin zu laufen, um nur das Licht weiß was zu tun. Zumindest bestünde auf diese Weise eine gewisse Möglichkeit zu ahnen, was er unternimmt.« Sie hörte, wie Siuan sich in der Dunkelheit regte.

»Ich dachte immer, die Stola wöge genauso viel wie drei gute Männer«, sagte Siuan ruhig. »Die Amyrlin hat ein paar leichte Entscheidungen zu treffen, und noch weniger, bei denen sie Gewißheit haben kann. Tut, was Ihr tun müßt, und bezahlt den Preis, wenn Ihr Euch irrt. Und manchmal auch, wenn Ihr richtig entschieden habt.«

Egwene lachte leise. »Mir scheint, als hätte ich das schon einmal gehört.« Nach einer Weile erstarb ihr Frohsinn. »Versichert Euch, daß er niemanden verletzt, wenn er geht, Siuan.«

»Wie Ihr befehlt, Mutter.«

»Das ist schrecklich«, murrte Nisao. »Wenn es bekannt wird, wird die Mißbilligung genügen, Euch ins Exil zu treiben, Myrelle. Und mich mit Euch. Vor vierhundert Jahren wäre es vielleicht alltäglich gewesen, aber heute wird niemand mehr so denken. Einige werden es als ein Verbrechen bezeichnen.«

Myrelle war froh, daß der Mond bereits untergegangen war. So blieb ihr Gesichtsausdruck verborgen. Sie konnte selbst Heilen, aber Nisao hatte sich mit der Heilung des Geistes beschäftigt, Dinge, welche die Macht nicht berühren konnte. Myrelle würde alles versuchen, was vielleicht Erfolg haben könnte. Nisao konnte sagen, was sie wollte. Myrelle wußte, daß sie sich eher die eigene Hand abhacken als diese Chance zur Weiterbildung verpassen würde.

Sie konnte ihn dort draußen in der Nacht näher kommen spüren. Sie waren noch ein gutes Stück von den Zelten entfernt, ein gutes Stück jenseits der Soldaten, und nur vereinzelte Bäume umgaben sie. Sie hatte ihn von dem Moment an gespürt, als seine bindende Kraft auf sie überging, das Verbrechen, über das sich Nisao aufregte. Die bindende Kraft eines Behüters ging ohne sein Einverständnis von einer Aes Sedai auf eine andere über. In einem Punkt hatte Nisao recht: Sie würden dieses Geheimnis so lange wie möglich bewahren müssen. Myrelle konnte seine Verletzungen spüren, von denen einige bereits fast geheilt, andere aber noch frisch waren. Und einige waren stark entzündet. Er wäre nicht vom Weg abgewichen, um den Kampf zu suchen. Er mußte so unausweichlich zu ihr kommen, wie ein Fels einen Berg hinunterrollen mußte, wenn man ihn hinabkippte. Er wäre auch nicht zu Fuß marschiert, um dem Kampf fernzubleiben. Sie hatte sein Schnelles Reisen in der Ferne im Blut gespürt, in seinem Blut. Durch Cairhien und Andor, Murandy und jetzt Altara, durch von Aufrührern und Schurken, Straßenräubern und Drachenverschworenen heimgesuchte Länder, auf sie fixiert wie ein auf das Ziel zufliegender Speer, der sich seinen Weg durch jeden bewaffneten Mann bohrte, der ihm im Weg stand. Sogar er konnte das nicht unbeschadet tun. Sie zählte seine Verletzungen im Geiste auf und wunderte sich, daß er noch lebte.

Sie hörte das Geräusch von Pferdehufen zuerst, ein steter Klang, und erst jetzt bemerkte sie das große schwarze Pferd in der Nacht. Auch der Reiter schien die Nacht zu sein. Er würde seinen Umhang tragen. Das Pferd blieb gut fünfzig Schritte von ihr entfernt stehen.

»Ihr hättet Nuhel und Croi nicht ausschicken sollen, mich zu suchen«, rief der unsichtbare Reiter mit rauher Stimme. »Ich hätte sie beinahe getötet, bevor ich erkannte, wer sie waren. Avar, Ihr könnt unbesorgt hinter diesem Baum hervorkommen.« Die Nacht schien zur Rechten in Bewegung zu geraten. Avar trug ebenfalls seinen Umhang und hatte nicht erwartet, gesehen zu werden.

»Das ist verrückt«, murmelte Nisao.

»Sei still«, zischte Myrelle. Dann rief sie mit lauterer Stimme: »Kommt zu mir.« Das Pferd rührte sich nicht. Ein Wolfshund, der seine tote Herrin beklagte, kam nicht bereitwillig zu einer neuen Herrin. Sie wob geschickt Geist und berührte den Teil von ihm, der ihre bindende Kraft enthielt. Es mußte geschickt geschehen, sonst würde er es merken, und nur der Schöpfer wußte, welche Erschütterung daraus entstehen würde. »Kommt zu mir.«

Dieses Mal ging das Pferd vorwärts, und der Mann schwang sich herab und kam die letzten Meter zu Fuß heran, ein großer Mann, dessen kantiges Gesicht im Mondlicht wie aus Stein gemeißelt schien. Dann stand er vor ihr, stand über ihr, und sie schaute in Lan Mandragorans kalte blaue Augen, und sie sah den Tod. Das Licht helfe ihr. Wie sollte sie ihn jemals lange genug am Leben erhalten?

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