19 Toh regiert

Rand glaubte, er werde diese Nacht gut schlafen können. Er war beinahe schon müde genug, um Alannas Berührung zu vergessen. Aviendha befand sich draußen bei den Weisen Frauen in ihren Zelten, statt sich wieder vor ihm auszuziehen, ohne auf seine Gefühle Rücksicht zu nehmen, und sie würde mit ihrem Atmen heute nacht seinen Schlaf nicht stören. Etwas anderes allerdings brachte ihn dazu, sich unruhig hin- und herzuwälzen: Träume. Er legte immer ein Wachgewebe zum Schutz um seine Träume, um die Verlorenen von ihnen fernzuhalten — und auch die Weisen Frauen —, doch auch das konnte nicht fernhalten, was sich bereits darin befand. Im Traum sah er riesenhafte weiße Dinge wie gigantische Vogelschwingen ohne den Vogel, die über den Himmel segelten; große Städte mit unglaublich hohen Gebäuden, die im Sonnenschein leuchteten, und auf den Straßen huschten Gegenstände wie Käfer und plattgedrückte Wassertropfen einher. Er hatte all das bereits zuvor erblickt, und zwar innerhalb des riesigen Ter'Angreal in Rhuidean, in dem er die Drachen auf seinen Unterarmen erhalten hatte, und er wußte, daß es sich um Bilder aus dem Zeitalter der Legenden handelte, doch diesmal war alles anders. Alles erschien ihm verdreht, die Farben ... stimmten irgendwie nicht, als sei etwas mit seinen Augen nicht in Ordnung. Die Schoflügelflitzer kamen ins Taumeln und stürzten ab, wobei jeder Hunderte von Menschen dem Tod entgegentrug. Gebäude zersplitterten wie Glas, Städte brannten, das Land bäumte sich auf wie ein sturmgepeitschter Ozean. Und immer wieder fand er sich einer schönen Frau mit goldenen Haaren gegenüber und sah zu, wie sich die Liebe auf ihrer Miene in blanke Angst wandelte. Ein Teil von ihm kannte sie. Ein Teil von ihm wollte sie retten, vor dem Dunklen König, vor allem, was sie in Gefahr brachte, vor dem, was er selbst gleich tun würde. So viele Teile in ihm, ein Verstand, der in glitzernde Scherben zerfiel, und alle Scherben schrien.

Er erwachte schwitzend und zitternd im Dunklen. Lews Therins Träume. Das war bisher noch nie geschehen, daß ihn die Träume des Mannes heimgesucht hatten. Er lag die wenigen Stunden über, die noch bis zum Sonnenaufgang blieben, wach im Bett, starrte ins Leere und fürchtete sich davor, die Augen zu schließen. Er hielt an Saidin fest, als könne er es benützen, um gegen einen toten Mann anzukämpfen, aber Lews Therin blieb stumm.

Als sich schließlich der Himmel hinter den Fenstern blaß verfärbte, schlüpfte ein Gai'schain leise mit einem zugedeckten Silbertablett ins Zimmer. Als er sah, daß Rand wach war, sagte er nichts, verbeugte sich aber und ging dann genauso leise hinaus. Durch die Macht, die ihn erfüllte, roch Rand den gewürzten Wein und das warme Brot, Butter und Honig und den heißen Haferbrei, den die Aiel morgens aßen, als stecke seine Nase im Tablett. Er ließ die Quelle los, zog sich an und gürtete sein Schwert. Er rührte das Tuch nicht an, mit dem die Speisen zugedeckt waren, denn er hatte keinen Appetit. So nahm er das Drachenszepter in die Armbeuge und verließ seine Gemächer.

Die Töchter standen mit Sulin, Urien und seinen Roten Schilden in dem breiten Korridor, aber sie waren nicht allein. Hinter den Wachen drängten sich Menschen Schulter an Schulter und füllten den Gang vollständig aus. Ein paar befanden sich sogar innerhalb des Rings. Aviendha stand bei einer Abordnung von Weisen Frauen. Amys war da, und Bair und Melaine, Sorilea natürlich, Chaelin, eine Rauchendes Wasser Miagoma mit grauen Strähnen im dunkelroten Haar, und Edarra, eine Neder Shiande, die nicht viel älter wirkte als er selbst, obwohl sie bereits die gleiche unerschütterliche Ruhe in ihren blauen Augen zeigte und ebenso hoch aufgerichtet und würdevoll dastand wie die anderen. Auch Berelain war dabei, doch Rhuarc und die übrigen Clanhäuptlinge fehlten. Was er ihnen zu sagen gehabt hatte, war gesagt worden, und die Aiel zogen so etwas nicht in die Länge. Aber warum standen die Weisen Frauen hier? Oder Berelain? Das grünweiße Kleid, das sie heute morgen trug, gestattete einen erfreulichen Ausblick auf ihren blassen Busen.

Adlige aus Cairhien hatten sich versammelt, und zwar außerhalb des Rings der Aiel. Colavaere, die trotz ihrer mittleren Jahre ausgesprochen gut aussah. Sie hatte das dunkle Haar zu einem kunstvollen Turm aus Locken hochgesteckt, und ihr hochgeschlossenes Kleid wies von dem goldbestickten Stehkragen bis unterhalb ihrer Knie farbige Querstreifen auf. Der stämmige Dobraine mit dem kantigen Gesicht war da, die Vorderseite des überwiegend grauhaarigen Schädels kahlgeschoren wie ein Soldat, und auf dem Brustteil seines Rocks sah man die abgewetzten Stellen, wo sonst die Riemen eines Brustharnisches verliefen. Maringil stand dort, kerzengerade aufgerichtet wie eine Klinge, das weiße Haar beinahe in Schulterlänge, aber er hatte den Schädel nicht rasiert, und sein dunkler Seidenrock, der die gleichen Streifen wie der Dobraines aufwies, fast hinunter bis zu den Knien, wäre für einen Hofball geeignet gewesen. Zwei Dutzend oder mehr drängten sich hinter ihnen, zumeist jüngere Männer und Frauen, von denen nur wenige diese waagrechten Streifen trugen, und bei den wenigen reichten sie kaum bis zu den Hüften. »Das Licht sei dem Lord Drache gnädig«, murmelten sie, verbeugten sich mit einer Hand über dem Herzen oder knicksten, und: »Das Licht ehrt uns mit der Anwesenheit des Lord Drache.«

Auch ein Kontingent Tairener war anwesend, Hochlords und Ladies, allerdings ohne den niedrigeren Adel, in samtenen Spitzhüten und Seidenmänteln mit Puffärmeln und eingesetzten Satinstreifen, in bunten Gewändern mit breiten Spitzenkragen und —manschetten und engen, perlen- oder edelsteinbesetzten Kappen, die ihn mit »Das Licht erleuchte den Lord Drache« begrüßten. Natürlich stand Meilan vor den anderen, hager, hart und ausdruckslos, mit seinem typischen grauen Spitzbart. Gleich neben ihm stand Fionnda, deren ernste Miene und eiserner Blick ihrer Schönheit keinen Abbruch taten, während das affektierte Lächeln der ansonsten so biegsamen und eleganten Anaiyeila ihr viel von ihrer durchaus vorhandenen Schönheit nahm. Absolut kein Lächeln lag dagegen auf den Zügen von Maraconn, dessen blaue Augen eine Seltenheit unter den Tairenern darstellten, oder des glatzköpfigen Gueyam oder Aracomes, der neben dem breit gebauten Gueyam gleich doppelt so schlank aussah, wenn auch beide hart wie Stahl wirkten. Sie — und Meilan — waren dicke Freunde von Hearne und Simaan gewesen. Rand hatte diese beiden, genau wie ihren Verrat, gestern nicht erwähnt, doch er war sicher, daß man hier Bescheid wisse, und genauso sicher, daß man seinem Schweigen in bezug auf diese Angelegenheit ein Gewicht verlieh, das ganz vom Gewissen des jeweiligen Mannes abhing. Seit sie nach Cairhien gekommen waren, hatten sie sich an so etwas gewöhnt, und heute morgen beobachteten sie Rand, als fürchteten sie, er werde plötzlich den Befehl für ihre Festnahme erteilen.

In Wirklichkeit beobachtete jeder irgend jemand anders mißtrauisch. Viele von ihnen schielten nervös zu den Aiel hinüber und verbargen mit unterschiedlichem Erfolg ihren Zorn. Andere beobachteten Berelain beinahe genauso aufmerksam, aber er war überrascht, festzustellen, daß selbst die Blicke der Männer, auch der Tairener, eher nachdenklich als gierig wirkten. Natürlich blickten ihn die meisten an; er war nun einmal, wer und was er war. Colavaeres kühler Blick schweifte zwischen ihm und Aviendha hin und her. Wenn er auf Aviendha ruhte, erhitzte er sich, denn bei ihnen war Blut geflossen, obwohl Aviendha es vergessen zu haben schien. Colavaere würde ganz gewiß niemals vergessen, wie Aviendha sie verprügelt hatte, nachdem sie sie in Rands Gemächern angetroffen hatte, genausowenig, wie sie vergaß, daß die Affäre mittlerweile allgemein bekannt war. Meilan und Maringil zeigten deutlich, daß sie sich einander sehr wohl bewußt waren, indem sie betont den Blick des anderen mieden. Beide beanspruchten den Thron von Cairhien, und beide hielten den anderen für ihren gefährlichsten Rivalen. Dobraine wiederum beobachtete Meilan und Maringil, wenn auch niemand wußte, wieso. Melaines Blick war auf Rand gerichtet, während Sorilea sie unter Beobachtung hielt. Aviendha blickte besorgt zu Boden. Eine junge Frau aus Cairhien mit großen Augen trug das Haar lose und schulterlang, statt der kunstvoll hochgetürmten Locken, und sie hatte ein Schwert über ihr dunkles Reitkleid gegürtet, das nur sechs farbige Querstreifen aufwies. Viele der anderen gaben sich gar keine Mühe, ihr überhebliches Lächeln zu verbergen, wenn sie sie anblickten, doch sie schien es kaum zu bemerken. Sie sah die Töchter voller Bewunderung an und dann wieder Rand voller Furcht. Er erinnerte sich an sie: Selande, eine aus der langen Reihe von schönen Frauen, die Colavaere angeschleppt hatte, weil sie glaubte, auf diese Art den Wiedergeborenen Drachen in ihren Netzen einfangen zu können, bis Rand sie davon überzeugt hatte, daß das bei ihm nicht der Fall sein werde. Unglücklicherweise hatte er das mit Aviendhas ungebetener Hilfe getan. Er hoffte, Colavaere fürchte ihn so sehr, daß sie vergessen würde, sich an Aviendha zu rächen, doch er wünschte sich, er könne Selande davon überzeugen, daß sie von ihm nichts zu befürchten habe. Man kann es nicht jedem recht machen, hatte Moiraine gesagt. Man kann nicht jeden beruhigen. Eine harte Frau.

Um alldem die Krone aufzusetzen, beobachteten die Aiel jeden mißtrauisch, mit Ausnahme der Weisen Frauen. Und aus irgendeinem Grund war auch Berelain ausgenommen. Sie warfen Feuchtländern grundsätzlich mißtrauische Blicke zu, doch sie hätte durchaus eine Weise Frau sein können.

»Ihr ehrt mich alle.« Rand hoffte, es klinge nicht zu trocken. Wieder einmal ein neuer Festumzug. Er fragte sich, wo Egwene wohl sei. Vielleicht aalte sie sich noch im Bett. Kurz überlegte er, ob er sie noch einmal aufsuchen und eine letzte Anstrengung unternehmen solle... Nein, wenn sie es ihm nicht sagen wollte, wußte er auch nicht, wie er sie dazu bringen könnte. Zu schade, daß seine Eigenschaft als Ta'veren ausgerechnet dann versagte, wenn er sie am meisten brauchte. »Unglücklicherweise bin ich heute morgen nicht in der Lage, noch einmal mit Euch zu sprechen. Ich kehre nach Caemlyn zurück.« Andor war das Problem, das er jetzt angehen mußte. Andor, und Sammael.

»Euer Befehl wird ausgeführt werden, mein Lord Drache«, sagte Berelain. »Heute morgen, damit Ihr zuschauen könnt.«

»Mein Befehl?«

»Mangin«, sagte sie. »Man hat es ihm heute morgen mitgeteilt.« Den meisten der Weisen Frauen war keine Regung anzumerken, nur Bair und Sorilea zeigten ganz offene Mißbilligung. Überraschenderweise galt diese aber Berelain!

»Ich habe nicht vor, jedesmal zuzuschauen, wenn ein Mörder gehängt wird«, sagte Rand kalt. In Wirklichkeit hatte er es vergessen, oder aber aus seinem Gedächtnis verdrängt. Einen Mann zu hängen, den man mochte, war nichts, woran man sich gern erinnerte. Rhuarc und die anderen Häuptlinge hatten es nicht einmal erwähnt, als er mit ihnen verhandelt hatte. Dazu kam noch, daß er diese Hinrichtung nicht als etwas Besonderes hinstellen durfte. Die Aiel mußten sich genauso an die Gesetze halten wie jeder andere. Das sollten die Menschen aus Tear und Cairhien bewußt sehen, damit ihnen klar wurde, daß er die Aiel keineswegs bevorzugte. Dann würde er sie nämlich genausowenig bevorzugen. Du benützt alles und jeden, dachte er, und der Gedanke machte ihn krank. Trotzdem hoffte er, es sei sein eigener Gedanke gewesen. Außerdem wollte er bei keiner Hinrichtung zugegen sein, am allerwenigsten bei der Mangins.

Meilan blickte nachdenklich drein, und auf Aracomes Stirn stand Schweiß, obwohl das auch an der Hitze liegen konnte. Colavaere, deren Gesicht blaß geworden war, schien ihn zum ersten Mal richtig zu sehen. Berelains reumütiger Blick huschte von Bair zu Sorilea, die ihr zunickte. Hatten sie ihr vielleicht vorhergesagt, daß er so antworten werde? Es erschien ihm unmöglich. Die Reaktionen der anderen schwankten zwischen Überraschung und Zufriedenheit, doch er behielt besonders Selande im Auge. Sie hatte die Augen weit aufgerissen und offensichtlich die Töchter vergessen. Wenn sie vorher Rand furchtsam angesehen hatte, dann zeigte ihr Blick nun blanke, nackte Angst. Nun, da ließ sich nichts machen.

»Ich werde sofort nach Caemlyn aufbrechen«, sagte Rand zu ihnen. Ein leises Geräusch machte sich unter den Anwesenden breit, aus Cairhien oder Tear, und es klang ein wenig wie erleichtertes Seufzen.

Es überraschte ihn nicht, daß sie ihn alle zu dem Zimmer begleiteten, das er für sein Reisen bestimmt hatte. Die Töchter und die Roten Schilde hielten alle Feuchtländer bis auf Berelain zurück. Es paßte ihnen sowieso nicht, diese Leute aus Cairhien in seine Nähe zu lassen, und er war auch ganz froh darüber, daß sie heute den Tairenern den weiteren Weg versperrten. Es gab genügend böse Blicke, aber niemand sagte etwas, jedenfalls nicht zu ihm. Nicht einmal Berelain, die gleich hinter ihm mit den Weisen Frauen und Aviendha einherschritt, sich leise mit ihnen unterhielt und gelegentlich gedämpft lachte. Es ließ ihm die Haare im Nacken zu Berge stehen, daß Berelain und Aviendha miteinander sprachen. Und sogar lachten?

An der mit geometrischen Ornamenten verzierten Tür zu seinem Reisezimmer blickte er betont über Berelain hinweg, als sie tief vor ihm knickste. »Ich werde mich bis zu Eurer Rückkehr furchtlos und ohne jemanden zu bevorzugen um Cairhien kümmern, mein Lord Drache.« Vielleicht war sie trotz der Sache mit Mangin heute morgen nur erschienen, um ihm das zu sagen und zwar so, daß die anderen Adligen es hörten. Es brachte ihr aus irgendeinem Grund ein nachsichtiges Lächeln von Sorilea ein. Er mußte unbedingt herausbekommen, was sich da abspielte; er wollte nicht, daß die Weisen Frauen sich bei Berelain einmischten. Die übrigen Weisen Frauen hatte Aviendha auf die Seite gezogen. Sie schienen abwechselnd mit ihr eindringlich zu sprechen, aber er konnte nicht verstehen, was gesagt wurde. »Wenn Ihr Perrin Aybara das nächste Mal seht«, fügte Berelain hinzu, »überbringt ihm bitte meine wärmsten Grüße. Und Mat Cauthon ebenfalls.« »Wir erwarten voller Ungeduld die Rückkehr des Lord Drache«, log Colavaere mit betont nichtssagender Miene.

Meilan funkelte sie böse an, weil sie es fertiggebracht hatte, zuerst zu sprechen, und dann hielt er eine blumige Ansprache, die aber nicht mehr aussagte als ihre Worte zuvor, was Maringil selbstverständlich noch übertrumpfen mußte, zumindest was die Übertreibungen betraf. Fionnda und Anaiyella übertrafen anschließend beide und rügten solch offenherzige Komplimente hinzu, daß er ängstlich zu Aviendha hinüberschielte. Doch diese wurde noch von den Weisen Frauen beschäftigt. Dobraine begnügte sich mit einem »Bis zur Rückkehr meines Lords Drache«, während Maraconn, Gueyam und Aracome mit wachsamen Blicken etwas Unverständliches murmelten.

Es war eine Erleichterung, all diese Leute zu verlassen und in das Reisezimmer zu gehen. Eine Überraschung erlebte er allerdings, als Melaine noch vor Aviendha mit hereinkam. Er zog fragend eine Augenbraue hoch.

»Ich muß mich mit Bael über Angelegenheiten der Weisen Frauen beraten«, sagte sie ganz geschäftsmäßig, und dann warf sie Aviendha einen scharfen Blick zu, die aber eine unschuldige Miene machte. Rand war klar, daß sie etwas verbarg. Aviendha hatte von Natur aus ein ausdrucksvolles Gesicht, aber unschuldig wirkte sie niemals, und ganz gewiß nicht so unschuldig.

»Wie Ihr wünscht«, sagte er. Er vermutete, die Weisen Frauen hätten nur auf eine Gelegenheit gewartet, sie nach Caemlyn zu schicken. Wer wäre besser geeignet, dafür zu sorgen, daß Rand Bael nicht unerwünscht beeinflußte, als Baels Frau? Wie Rhuarc hatte der Mann zwei Frauen, und Mat hatte festgestellt, daß so etwas entweder ein Traum oder ein Alptraum sei, und er könne nicht entscheiden, welches von beiden.

Aviendha sah ihm genau zu, als er ein Tor zurück nach Caemlyn öffnete, geradewegs in den Großen Saal. Das tat sie für gewöhnlich, obwohl sie seine Stränge nicht wahrnehmen konnte. Einmal hatte sie selbst ein solches Tor geöffnet aber in einem äußerst seltenen Moment des Entsetzens, und sie hatte sich nie mehr daran erinnern können, wie sie das angestellt hatte. Heute erinnerte sie der sich drehende Lichtschlitz, aus welchem Grund auch immer an das, was sich damals abgespielt hatte, und dann färbten sich ihre sonnengebräunten Wangen rot und sie blickte plötzlich betont an ihm vorbei. Da die Macht ihn erfüllte, roch er sie ganz deutlich: den Kräuterduft ihrer Seife und die Andeutung eines süßen Parfüms, das er an ihr noch nie wahrgenommen hatte. Ausnahmsweise wollte er Saidin schnell loswerden, und so war er auch der erste, der hindurchschritt in den menschenleeren Thronsaal. Alanna schien mit voller Wucht in seinen Schädel einzubrechen. Ihre Gegenwart war so greifbar, als stehe sie direkt vor ihm. Sie hatte geweint, dachte er. Weil er fort gewesen war? Nun, sollte sie deswegen weinen. Irgendwie mußte er sich von ihr befreien.

Natürlich hatten die Töchter und die Roten Schilde etwas dagegen, daß er zuerst hindurchging. Urien knurrte lediglich und schüttelte mißbilligend den Kopf. Eine bleiche Sulin richtete sich auf die Zehenspitzen auf, um Nase an Nase mit Rand zu sprechen: »Der große und mächtige Car'a'carn erteilte den Far Dareis Mai den Auftrag, seine Ehre zu tragen«, zischte sie, wenn auch in leisem Flüsterton. »Sollte der mächtige Car'a'carn in einem Hinterhalt ums Leben kommen, während ihn die Töchter beschützen, haben die Far Dareis Mai all ihre Ehre verloren. Wenn das dem alles erobernden Car'a'carn gleichgültig ist, hat Enaila vielleicht doch recht. Möglicherweise ist der allmächtige Car'a'carn doch nur ein halsstarriger Junge, den man an die Hand nehmen muß, damit er nicht über den Rand einer Klippe hinausrennt, weil er nicht gucken will.«

Rands Unterkiefer verkrampfte sich. Wenn sie allein waren, knirschte er mit den Zähnen und ließ es sich gefallen, wenn solche Vorträge auch meist weniger deutlich als dieser ausfielen. Er schuldete den Töchtern einiges, aber noch nicht einmal Enaila oder Somara hatten ihn jemals in der Öffentlichkeit derart heruntergeputzt. Melaine war schon beinahe am anderen Ende des Saals. Sie hatte den Rock hochgerafft und lief fast im Laufschritt; offensichtlich konnte sie es nicht erwarten, den Einfluß der Weisen Frauen auf Bael wiederherzustellen. Er konnte nicht sagen, ob Urien zugehört hatte, obwohl ihm der Mann ein wenig zu konzentriert schien, als er seine Aethan Dor zusammen mit den Töchtern auf die Suche nach möglichen Attentätern unter die mächtigen Säulen schickte. Das hätten sie ohnehin getan, auch ohne seine Anweisungen. Aviendha hingegen, die Arme unter den Brüsten verschränkt, verzog das Gesicht in einer solch eigenartigen Mischung von Mißbilligung und Zustimmung, daß er keinerlei Zweifel hegte, ob sie zugehört habe oder nicht.

»Gestern ging das sehr gut«, sagte er energisch zu Sulin. »Von jetzt an werden, glaube ich, zwei Leibwächter mehr als genug sein.« Ihre Augen quollen beinahe heraus, und sie schien so nach Luft schnappen zu müssen, daß sie nichts erwidern konnte. Nun, da er ihr etwas entzogen hatte, wurde es Zeit, auch etwas zurückzugeben, bevor sie explodierte wie ein Feuerwerkskörper. »Natürlich ist es etwas anderes, wenn ich mich aus dem Palast begebe. Dann ist es in Ordnung, wenn Ihr mir dieselbe Leibgarde mitgebt wie bisher, aber hier oder im Sonnenpalast oder dem Stein von Tear genügen zwei.« Er wandte sich ab, während sie noch vergebens die Lippen bewegte. Aviendha ging neben ihm her, als er um das Podest herumschritt, auf dem die Throne standen, um die kleinen Türen dahinter zu erreichen. Er wollte dorthin, anstatt in seine eigenen Gemächer, weil er gehofft hatte, sie dabei loszuwerden. Sogar ohne die Hilfe Saidins konnte er sie riechen. Vielleicht war es auch nur die Erinnerung. Wie auch immer, im Moment wünschte er sich nichts sehnlicher als eine kräftige Erkältung, denn ihm gefiel ihr Duft viel zu sehr.

Sie hatte ihr Tuch fest um sich geschlungen und blickte nachdenklich geradeaus, als sei sie besorgt, und dann merkte sie noch nicht einmal, daß er ihr die Tür zu einer der mit Löwenmustern getäfelten Garderoben aufhielt. Das löste bei ihr jedesmal einen kleineren Wutanfall aus, oder zumindest die schnippische Frage, welcher ihrer Arme gebrochen sei. Als er sie fragte, was los sei, zuckte sie zusammen. »Nichts. Sulin hatte recht. Aber...« Auf einmal grinste sie zögernd. »Hast du ihre Miene gesehen? Niemand hat es ihr so gegeben, seit ... seit überhaupt niemals, glaube ich. Noch nicht einmal Rhuarc.«

»Ich bin ein wenig überrascht darüber, daß du auf meiner Seite stehst.«

Sie sah ihn mit großen Augen an. Er hätte den ganzen Tag damit zubringen können, hineinzublicken, um sich zu entscheiden, ob sie nun blau oder grün seien. Nein. Er hatte kein Recht, sich mit ihren Augen zu beschäftigen. Was geschehen war, nachdem sie dieses Tor geöffnet hatte — um vor ihm wegzurennen —, spielte dabei keine Rolle. Und er hatte kein Recht, jetzt daran zu denken.

»Du machst es mir so schwer, Rand al'Thor«, sagte sie keineswegs hitzig. »Licht, manchmal glaube ich, der Schöpfer hat dich nur erschaffen, um mich zu quälen.«

Er hätte ihr gern gesagt, das sei ihre eigene Schuld, denn mehr als einmal hatte er ihr angeboten, sie zu den Weisen Frauen zurückzuschicken, wenn das auch nur dazu geführt hätte, daß sie ihm jemand anders zur Seite stellten, aber bevor er den Mund aufbekam, hatten Jalani und Liah sie eingeholt, gefolgt von zwei Roten Schilden. Der eine davon war ein leicht ergrauter Kerl mit dreimal so vielen Narben im Gesicht wie Liah. Rand schickte Jalani und den vernarbten Mann zurück in den Thronsaal, was beinahe einen Streit ausgelöst hätte. Nicht von dem Roten Schild aus, denn der sah nur seinen Kameraden an, zuckte die Achseln und ging, aber Jalani plusterte sich auf.

Rand deutete unmißverständlich auf die Tür zum Großen Saal: »Der Car'a'carn erwartet, daß die Far Dareis Mai gehen, wohin er sie schickt.«

»Ihr seid vielleicht bei den Feuchtländern König, Rand al'Thor, aber nicht bei den Aiel.« Trotz ihrer Würde drang ein klein wenig Schmollen bei Jalani durch, was ihn daran erinnerte, wie jung sie noch war. »Die Töchter werden Euch niemals beim Tanz der Speere den Dienst versagen, aber dies ist nicht der Tanz.« Trotzdem ging sie schließlich, nachdem sie sich mit Liah durch flinke Handzeichen verständigt hatte.

Mit Liah und dem hageren Roten Schild, einem blonden Mann namens Cassin, der eine gute Handbreit größer war als er, schritt Rand schnell durch den Palast zu seinen Gemächern — mit Aviendha im Schlepptau. Doch wenn er geglaubt hatte, mit diesem bauschigen Rock werde sie zurückbleiben, dann irrte er sich. Liah und Cassin verblieben im Vorraum vor seinem Wohnzimmer, einem großen Raum mit einem Marmorfries unter der Decke, das nur Löwen zeigte, und mit Wandbehängen, die Jagdszenen und ferne verschleierte Berge darstellten, während Aviendha ihm folgte.

»Solltest du nicht bei Melaine bleiben?« wollte er wissen. »Angelegenheiten der Weisen Frauen?«

»Nein«, sagte sie knapp. »Es würde Melaine nicht gefallen, wenn ich mich jetzt einmischte.«

Licht, aber eigentlich sollte er ungehalten sein, daß sie jetzt nicht ging. Er warf das Drachenszepter auf einen Tisch mit vergoldeten, in Form von Ranken geschnitzten Beinen, löste den Schwertgürtel und legte ihn dazu. »Haben Amys und die anderen dir gesagt, wo sich Elayne aufhält?«

Eine Weile stand Aviendha mitten auf dem blau gefliesten Boden und sah ihn mit undurchschaubarer Miene an. »Sie wissen es nicht«, sagte sie schließlich. »Ich habe sie gefragt.« Er hatte das erwartet. Sie hatte seit Monaten nichts mehr davon erwähnt, aber bevor sie zum ersten Mal mit ihm nach Caemlyn gekommen war, war jedes zweite Wort, das aus ihrem Mund erklungen war, etwas darüber gewesen, daß er zu Elayne gehöre. Ihrer Ansicht nach war dies der Fall, und sie hatte ihm klargemacht, daß auch das, was jenseits des Tores zwischen ihnen geschehen war, nichts an dieser Tatsache änderte — und daß es nicht noch einmal passieren werde, das hatte sie ihm auch eindeutig klargemacht. Genau, was er wünschte; er war schon ein Schuft, weil er dabei Bedauern verspürte. Sie ignorierte all die schönen vergoldeten Sessel und setzte sich mit übergeschlagenen Beinen auf den Boden, wobei sie mit graziösen Bewegungen ihren Rock zurechtzupfte. »Sie haben sich über dich unterhalten.«

»Und warum überrascht mich das nicht?« fragte er trocken, doch zu seiner Überraschung röteten sich ihre Wangen daraufhin. Aviendha gehörte nicht zu den Frauentypen, die schnell rot wurden, und jetzt geschah das schon zum zweiten Mal an diesem Tag!

»Sie haben ihre Träume ausgetauscht, und einige davon betreffen dich.« Es klang leicht erstickt, bis sie sich schnell räusperte und ihn dann mit einem festen, entschlossenen Blick fixierte. »Melaine und Bair haben geträumt, du säßest in einem Boot«, sagte sie, wobei ihr das Wort ›Boot‹ immer noch schwer über die Lippen kam, trotz all dieser Monate in den Feuchtländern, »zusammen mit drei Frauen, deren Gesichter sie nicht erkennen konnten, und sie sahen eine Waagschale, die sich einmal hierhin und einmal dorthin neigte. Melaine und Amys träumten von einem Mann, der neben dir stand und dir ein Messer an die Kehle hielt, aber du hast ihn nicht gesehen. Bair und Amys haben geträumt, daß du die Feuchtländer mit einem Schwert in zwei Teile gespalten hast.« Einen Moment lang huschte ihr Blick verächtlich zu der in der Scheide steckenden Klinge auf dem Drachenszepter. Verächtlich, und ein wenig schuldbewußt. Sie selbst hatte ihm diese Klinge geschenkt, einst Eigentum von König Laman, und damals hatte sie das Schwert sorgfältig in eine Decke gewickelt, damit ihr niemand nachsagen konnte, sie habe es berührt, »Sie können diese Träume nicht deuten, waren aber der Meinung, du solltest davon wissen.«

Der erste Traum war für ihn genauso undurchschaubar wie für die Weisen Frauen, aber der zweite erschien ihm offensichtlich. Ein Mann mit einem Dolch, den er nicht sehen konnte, mußte ein Grauer Mann sein, einer von jenen, die ihre Seele dem Schatten verschrieben hatten, und nicht nur verschrieben, sondern wirklich hingegeben, denn sie entgingen einem Beobachter sogar dann, wenn er sie geradewegs anblickte, und ihre einzige Aufgabe war, Attentate durchzuführen. Wieso hatten die Weisen Frauen etwas so Eindeutiges nicht durchschaut? Und das letzte, nun, da befürchtete er, die Bedeutung ebenfalls bereits zu kennen. Er zerschnitt bereits ganze Länder. Tarabon und Arad Doman lagen in Schutt und Asche, die Aufstände in Tear und Cairhien konnten sich jederzeit zu etwas Schlimmerem entwickeln als nur hitzigen Wortgefechten, und Illian würde auf jeden Fall sein Schwert zu spüren bekommen. Und all das, ohne noch den Propheten und die Drachenverschworenen in Altara und Murandy einzurechnen.

»Bei zweien von denen sehe ich kein Geheimnis, Aviendha.« Aber als er es ihr erklärte, sah sie ihn zweifelnd an. Natürlich. Wenn die Traumgängerinnen unter den Weisen Frauen einen Traum schon nicht auslegen konnten, dann konnte es gewiß auch niemand anders. Er knurrte mürrisch und ließ sich auf einen Sessel ihr gegenüber fallen. »Was haben sie noch geträumt?«

»Es gibt noch einen, von dem ich dir berichten kann, obwohl er dich nicht weiter berührt.« Was bedeutete, daß es noch einige gab, die sie nicht erzählen würde. Das warf allerdings die Frage auf, wieso die Weisen Frauen sie mit ihr besprochen hatten, denn sie war schließlich keine Traumgängerin. »Alle drei hatten diesen Traum, und das macht ihn besonders wichtig. Regen...«, auch dieses Wort kam ihr schwer über die Lippen, »der aus einer Schale kommt Um die Schale herum gibt es Falltüren und andere Fallen. Sollten die richtigen Hände die Schale aufnehmen, werden sie einen Schatz vorfinden, der möglicherweise genauso wichtig ist wie die Schale selbst. In den falschen Händen bedeutet sie das Verhängnis für die ganze Welt. Der Schlüssel für das Auffinden der Schale ist ›derjenige, der nicht länger ist‹.«

»Nicht länger was ist?« Das klang tatsächlich wichtiger als der Rest. »Meinst du damit jemanden, der bereits tot ist?«

Aviendha schüttelte den Kopf. »Sie wissen auch nicht mehr, als ich sagte.« Zu seiner Überraschung erhob sie sich mit einer eleganten Bewegung, wobei sie ihre Kleidung unbewußt in Ordnung brachte, wie das bei Frauen üblich war.

»Mußt du...« Er hustete verlegen. Mußt du denn gehen? hatte er fragen wollen. Licht, er wollte doch, daß sie ging. Jede Minute in ihrer Gegenwart war eine Tortur. Aber andererseits war auch jede Minute ohne sie eine Tortur. Nun, er konnte tun, was gut für ihn war, und dabei auch das Beste für sie vollbringen. »Willst du zu den Weisen Frauen zurückgehen, Aviendha? Deine Studien wiederaufnehmen? Es gibt wirklich keinen Grund, länger hier zu verweilen. Du hast mich soviel gelehrt — ich könnte fast bei den Aiel aufgewachsen sein.«

Ihr Schnauben sprach Bände, aber natürlich beließ sie es nicht dabei. »Du weißt weniger als ein sechsjähriger Junge. Warum hört ein Mann auf seine Zweitmutter noch eher als auf seine eigene Mutter, und eine Frau auf ihren Zweitvater eher als auf den eigenen? Wann kann eine Frau einen Mann heiraten, ohne einen Brautkranz zu flechten? Wann muß eine Dachherrin einem Schmied gehorchen? Wenn du eine Silberschmiedin zur Gai'schain machst, warum mußt du sie dann für jeden Tag, an dem sie für dich arbeitet, auch noch einen Tag für sich selbst arbeiten lassen? Warum trifft auf eine Weberin nicht das gleiche zu?« Er suchte nach Antworten, weil er nicht zugeben wollte, daß er keine Ahnung hatte, doch sie machte mit einem Mal an ihrem Tuch herum, als habe sie ihn vergessen. »Manchmal kommt einem die Auswirkung des Ji'e'toh wie blanker Hohn vor. Ich würde mich halbtot lachen, wenn ich diesmal nicht selbst das Opfer wäre.« Ihre Stimme wurde noch leiser. Sie flüsterte: »Ich werde mich meinem Toh stellen.«

Er glaubte, sie führe Selbstgespräche, antwortete aber dennoch. »Wenn du die Sache mit Lanfear meinst, dann mußt du auch wissen, daß nicht ich dich gerettet habe. Es war Moiraine. Sie ist gestorben, weil sie uns alle rettete.« Durch Lamans Schwert war sie das einzige andere Toh ihm gegenüber losgeworden, obwohl er nie verstanden hatte, worum es eigentlich gegangen war. Die einzige Verpflichtung ihm gegenüber, von der sie wußte. Er hoffte nur, sie werde niemals von der anderen erfahren, denn sie würde es als Verpflichtung ansehen, ganz im Gegensatz zu ihm.

Aviendha blickte ihn mit leicht schräg gestelltem Kopf forschend an, und ein leichtes Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie hatte in einem Maße ihre Beherrschung wiedergewonnen, das Sorilea alle Ehre gemacht hätte. »Dankeschön, Rand al'Thor. Bair sagt, es tut gut, wenn man von Zeit zu Zeit daran erinnert wird, daß ein Mann auch nicht alles weiß. Laß mich wissen, wenn du zu Bett gehst. Ich möchte nicht zu spät kommen und dich aufwecken.«

Rand saß da und starrte die Tür an, nachdem sie gegangen war. Ein Adliger aus Cairhien, der das Spiel der Häuser spielte, war für gewöhnlich leichter zu durchschauen als eine Frau, die sich gar keine Mühe machte, in Rätseln zu sprechen. Er vermutete, das, was er für Aviendha empfand, mache die Dinge noch verwickelter.

Was ich liebe, zerstöre ich, lachte Lews Therin. Was ich zerstöre, liebe ich.

Halt's Maul! dachte Rand wütend, und das dünne Lachen verklang. Er wußte selbst nicht, wen er liebte, aber er wußte immerhin, wen er retten würde. Vor jeder Gefahr, die er erkannte, und vor allem vor ihm selbst.

Im Gang ließ sich Aviendha gegen die Tür sacken und mußte erst ein paarmal tief durchatmen. Das hätte sie beruhigen sollen. Ihr Herz bemühte sich immer noch, aus ihrem Brustkasten auszubrechen. Rand al'Thor nahe zu sein, war genauso, als hielte man sie nackt über glühende Kohlen und strecke sie, bis sie glaubte, ihre Knochen würden auseinandergerissen. Er brachte soviel Scham über sie, wie sie niemals geglaubt hätte. Blanker Hohn, hatte sie zu ihm gesagt, und ein Teil ihrer selbst wollte wirklich lachen. Sie hatte Toh ihm gegenüber, aber noch viel mehr gegenüber Elayne. Alles, was er getan hatte, war, ihr Leben zu retten. Ohne ihn hätte Lanfear sie getötet. Lanfear hatte sie töten wollen, und zwar so schmerzhaft wie möglich. Irgendwie hatte Lanfear Bescheid gewußt. Doch verglichen mit dem was sie Elayne schuldete, war ihr Toh. Rand gegenüber wie ein Termitenhaufen gegenüber dem Rückgrat der Welt.

Cassin warf ihr lediglich einen Blick zu. Der Schnitt seiner Jacke sagte ihr, daß er ein Goshien war und natürlich ein Aethan Dor; seine Septime erkannte sie nicht. Er kauerte mit den Speeren über den Knien in der Nähe der Tür. Natürlich wußte er nichts. Aber Liah lächelte ihr zu, entschieden zu ermutigend für eine Frau, die sie gar nicht kannte, entschieden zu wissend für irgend jemanden. Aviendha war erschrocken, als sie sich dabei ertappte, daß sie bei sich dachte, die Chareen — Liahs Jacke nach war sie eine — seien oftmals hinterhältige Katzen. Sie hatte niemals eine Tochter als etwas anderes betrachtet als eben eine Far Dareis Mai. Rand al'Thor hatte ihr den Verstand verwirrt.

Trotzdem zuckten ihre Finger ärgerlich in der Zeichensprache der Töchter. Warum lächelst du, Mädchen? Kannst du deine Zeit nicht besser ausfüllen?

Liah zog leicht die Augenbrauen hoch, und wenn sich etwas änderte, dann war es ihr Lächeln, das jetzt richtig amüsiert wirkte. Ihr Finger bewegten sich zur Antwort. Wen nennst du Mädchen, Mädchen? Du bist noch nicht weise, aber keine Tochter mehr. Ich denke, du wirst deine Seele in einen Kranz winden und ihn einem Mann zu Füßen legen.

Aviendha trat wütend einen Schritt vor — es gab nur wenige schlimmere Beleidigungen unter den Far Dareis Mai —, blieb aber dann doch stehen. Im Cadin'sor würde ihr Liah wahrscheinlich unterliegen, aber in ihrem Rock wäre sie die Verliererin. Noch schlimmer, denn Liah würde sich vermutlich weigern, sie zur

Gai'schain zu machen. Sie hatte die Wahl, wenn sie von einer Frau angegriffen wurde, die keine Tochter, aber auch noch keine Weise Frau war, und sie konnte das Recht in Anspruch nehmen, Aviendha vor allen Taardad, die man zusammenrufen konnte, öffentlich zu verprügeln. Eine geringere Schande als die Weigerung, aber immer noch sehr schlimm. Und was am schlimmsten war: ob sie nun gewann oder verlor, Melaine würde eine solche Methode auswählen, um sie nachhaltig an ihre abgelegten Speere zu erinnern, daß sie sich bestimmt wünschte, statt dessen zehnmal vor allen Clans von Liah Prügel beziehen zu dürfen. In den Händen einer Weisen Frau war die Scham schärfer als ein Abziehmesser. Liah rührte keinen Muskel; ihr war all das genauso klar wie Aviendha.

»Jetzt starrt Ihr Euch an«, bemerkte Cassin gelangweilt. »Eines Tages muß ich Eure Zeichensprache lernen.«

Liah sah ihn an, und ihr Lachen klang wie Silberglöckchen. »Ihr werdet hübsch aussehen, wenn Ihr einen Rock tragt, Rotes Schild, an dem Tag, an dem Ihr darum bittet, eine Tochter werden zu dürfen.«

Aviendha atmete erleichtert auf, als Liahs Blick sich von ihr abwandte. Unter diesen Umständen hätte sie keine Möglichkeit gehabt, ehrenvoll zuerst den Blick abzuwenden. Wie von selbst bewegten sich ihre Finger zum Zeichen der Zustimmung, die ersten Handzeichen, die man als Tochter erlernte, da eine neue Tochter diesen Satz besonders häufig brauchte: Ich habe Toh.

Liah signalisierte ohne Pause zurück: Sehr klein,

Speerschwester.

Aviendha lächelte dankbar, weil kein gekrümmter kleiner Finger die Worte begleitet hatte, denn das hätte aus diesem Satz Spott gemacht. Das tat man gelegentlich Frauen gegenüber, die den Speer abgelegt hatten, aber immer noch so taten, als gehörten sie dazu.

Ein Feuchtländer-Diener rannte ihr im Gang entgegen. Sie beherrschte sich, damit man nicht an ihrer Miene die Verachtung für jemand ablesen konnte, der sein Leben damit verbrachte, anderen zu dienen, und schritt in entgegengesetzter Richtung davon, um dem Kerl nicht zu begegnen. Rand al'Thor zu töten, würde ein Toh beseitigen, und sich selbst zu töten, das andere, doch jedes Toh verhinderte genau die gleiche Lösung dem anderen gegenüber. Was die Weisen Frauen auch sagen mochten — sie mußte eine Methode finden, um beide zu erfüllen.

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