Nynaeve erwachte am nächsten Morgen bei Sonnenaufgang. Sie hatte schlechte Laune. Sie spürte, daß schlechtes Wetter aufkam, aber ein Blick aus dem Fenster zeigte ihr keine einzige Wolke am immer noch grauen Morgenhimmel. Der Tag versprach, wieder zu einem Backofen zu werden. Ihr Hemd war schweißnaß und zerknittert, weil sie sich unablässig herumgewälzt hatte. Einst hatte sie sich auf ihre Fähigkeit, dem Wind zu lauschen, verlassen können, doch seit sie die Zwei Flüsse verlassen hatte, schien sie völlig durcheinandergeraten zu sein, wenn sie überhaupt noch etwas davon spürte.
Darauf warten zu müssen, daß sie an der Waschschüssel an der Reihe war, trug auch nicht zur Verbesserung ihrer Laune bei, genausowenig wie Elaynes Bericht über das, was sich abgespielt harte, nachdem sie alle in Elaidas Büro zurückgelassen hatte. Ihre eigene Nacht hatte aus einer langen, vergebenen Suche durch die Straßen Tar Valons bestanden, die bis auf sie selbst menschenleer gewesen waren. Nur Tauben, Ratten und Unrathaufen hatte sie angetroffen. Das hatte schockierend auf sie gewirkt. Tar Valon war immer fleckenlos sauber gewesen, Elaida vernachlässigte die Stadt offenbar so sehr, daß selbst in Tel'aran'rhiod Abfallhaufen sichtbar waren. Einmal hatte sie durch das Fenster einer Taverne in der Nähe des Südhafens einen Blick auf Leane erhascht — ausgerechnet an einem solchen Ort —, aber als sie hineineilte, war der Schankraum bis auf die frisch gestrichenen blauen Tische und Bänke leer. Sie hätte danach einfach aufgeben sollen, aber Myrelle hatte sie in letzter Zeit so schikaniert, und so wollte sie ein reines Gewissen haben, wenn sie der Frau berichtete, sie habe sich bemüht. Myrelle würde eine Ausrede so schnell erkennen wie keine andere Frau, die Nynaeve je kennengelernt oder von der sie gehört hatte. Am Ende war sie schließlich letzte Nacht aus Tel'aran'rhiod herausgetreten und hatte Elaynes Ring bereits auf dem Tisch vorgefunden. Elayne selbst lag im Bett und schlief fest. Hatte es einen Preis für vergebene Liebesmüh gegeben, hätte sie sich den bestimmt verdient, als sie wegging. Und nun durfte sie erfahren, daß sich Sheriam und die anderen beinahe hätten umbringen lassen... Selbst der Gesang des kleinen Vogels in seinem Korbkäfig rief bei ihr nur einen weiteren gekränkten Blick hervor.
»Sie glauben, sie wüßten alles«, knurrte Nynaeve verbittert. »Ich habe ihnen von den Alpträumen erzählt. Ich habe sie gewarnt, und gestern nacht war nicht das erste Mal.« Es spielte keine Rolle, daß alle sechs Schwestern geheilt worden waren, bevor sie auch nur aus Tel'aran'rhiod zurück war. Viel zu leicht hätte das Ganze viel schlimmer ausgehen können, eben weil sie sich einbildeten, alles zu wissen. Das gereizte Zupfen an ihrem Zopf machte es ihr schwerer, ihn für den Tag neu zu flechten. Manchmal verfing sich auch das Armband des A'dam in ihren Haaren, aber abnehmen kam nicht in Frage. Heute war wohl Elayne damit an der Reihe, aber sie würde es wahrscheinlich nur wieder an einen Haken hängen und vergessen. Besorgtheit sickerte durch das Armband in sie hinein und auch die unvermeidlichen Angstgefühle, aber überlagert wurde beides von reinem Frust. Zweifellos half ›Marigan‹ bereits beim Herrichten des Frühstücks. Hausarbeiten verrichten zu müssen wurmte sie offensichtlich mehr als die eigentliche Gefangenschaft. »Jedenfalls hast du das sehr gut gelöst, Elayne. Du hast mir aber noch nicht erzählt, wie es dir selber drinnen ergangen ist, als du versucht hast, alle anderen zu warnen.«
Elayne hatte noch immer ihren Waschlappen in der Hand und schauderte offensichtlich bei der Erinnerung. »Insgesamt war es gar nicht so schwer. Aber ein Alptraum von diesem Ausmaß machte es notwendig, daß wir alle gemeinsam dagegen vorgehen mußten. Vielleicht haben sie ein wenig Demut gelernt. Dann wird möglicherweise ihr Treffen mit den Weisen Frauen heute abend doch nicht so schlimm.«
Nynaeve nickte in sich hinein. Wie sie gedacht hatte. Nicht, was Sheriam und die anderen betraf; Aes Sedai würden erst Demut empfinden, wenn Ziegen das Fliegen lernten, und auch dann höchstens einen Tag früher als die Weisen Frauen. Nein, es hatte mit Elayne zu tun. Sie hatte sich wahrscheinlich auch von dem Alptraum einfangen lassen, obwohl dieses Mädchen das nie zugeben würde. Sie war sich ohnehin nicht sicher, ob Elayne es für Prahlerei hielt, ihren Mut ins Spiel zu bringen, oder ob sie ganz einfach nicht merkte, wie tapfer sie wirklich war. Wie auch immer, Nynaeve war jedenfalls hin- und hergerissen zwischen Bewunderung für den Mut der Frau und dem Wunsch, daß Elayne einmal offen darüber sprechen möge. »Ich glaube, ich habe Rand gesehen,« Das brachte den Waschlappen zum Stillstand.
»War er persönlich dort?« Das war den Weisen Frauen zufolge gefährlich, denn man riskierte einen Teil dessen, was einen erst zum ganzen Menschen machte. »Du hast ihn doch wohl gewarnt?«
»Wann hätte er jemals auf eine Warnung gehört? Ich habe nur einen kurzen Blick auf ihn erhascht. Vielleicht hat er auch nur Tel'aran'rhiod in einem Traum berührt.« Das war unwahrscheinlich. Er hütete offensichtlich seine Träume derart intensiv mit Schutzgeweben, daß sie nicht glaubte, er könne die Welt der Träume auf irgendeine andere Art als persönlich und direkt betreten. Bei dieser Abschirmung hätte nicht einmal ein Traumgänger mit einem der Ringe ausgerüstet Tel'aran'rhiod erreicht. »Vielleicht war es jemand, der ihm nur ähnlich sah. Wie schon gesagt, habe ich ihn nur einen Augenblick lang gesehen, und zwar auf dem Platz vor der Weißen Burg.«
»Ich sollte mit ihm zusammen sein«, murmelte Elayne. Sie entleerte die Schüssel in den Nachttopf und ging zur Seite, damit Nynaeve sich waschen konnte. »Er braucht mich,«
»Was er braucht, ist das Gleiche, was er immer schon nötig hatte.« Nynaeve blickte düster drein, als sie die Schüssel aus dem Krug neu auffüllte. Sie haßte es, sich mit abgestandenem Wasser waschen zu müssen. Wenigstens war es nicht kalt. So etwas wie kaltes Wasser gab es nicht mehr. »Jemanden, die ihm einmal in der Woche eins aufs Ohr gibt, und zwar aus Prinzip und um ihn gerade auf Kurs zu halten.«
»Es ist nicht fair.« Ein frisch gewaschenes Hemd, das sich Elayne gerade über den Kopf zog, dämpfte ihre Worte. »Ich mache mir die ganze Zeit seinetwegen Sorgen.« Ihr Gesicht kam oben aus dem Hemd heraus, und trotz des verärgerten Tonfalls wirkte es viel eher besorgt als zornig. Sie nahm ein weißes Kleid mit Farbsaum von einem der Haken. »Ich mache mir neuerdings sogar in meinen Träumen Sorgen um ihn! Glaubst du, daß er die ganze Zeit über an mich denkt? Ich glaube es nicht.«
Nynaeve nickte, obwohl ein Teil ihres Verstands monierte, es sei nicht dasselbe. Man hatte Rand gesagt, Elayne befinde sich in Sicherheit bei Aes Sedai, wenn auch nicht wo. Wie konnte sich Rand aber jemals wirklich in Sicherheit befinden? Sie beugte sich über das Waschbecken und Lans Ring rutschte ihr aus dem Hemd und baumelte an der Lederkordel über dem Wasser. Nein, Elayne hatte doch recht. Was Lan auch gerade tun mochte, wo er sich auch befand: sie bezweifelte, daß er auch nur halb so oft an sie dachte, wie sie an ihn. Licht, hilf, daß er am Leben bleibt, und wenn er überhaupt nicht mehr an mich denkt! Diese Möglichkeit erzürnte sie dermaßen, daß sie wohl ihren Zopf mitsamt der Haarwurzeln herausgerissen hätte, hätte sie nicht einen seifigen Waschlappen in den nassen Händen gehalten. »Du kannst dich nicht bloß die ganze Zeit mit einem Mann beschäftigen«, sagte sie tadelnd, »selbst wenn du zu den Grünen gehen willst. Was haben sie letzte Nacht alles herausgefunden?«
Es war eine lange Geschichte, aber eigentlich recht dünn, und nach einer Weile setzte sich Nynaeve auf Elaynes Bett, hörte weiter zu und stellte Fragen. Nicht, daß die Antworten sehr aufschlußreich gewesen wären. Es war einfach nicht das gleiche, als die Dokumente selbst ansehen zu können. Alles schön und gut, wenn sie erfuhr, daß Elaida nunmehr von Rands Amnestie erfahren hatte, aber was würde sie deshalb unternehmen? Der Beweis, daß die Burg in Kontakt mit einigen Herrschern getreten war, mochte sich als gute Nachricht herausstellen, denn das würde die Aes Sedai in Salidar endlich zu größerer Eile und Entschlußfreudigkeit antreiben. Irgend etwas mußte sie aufwecken. Daß Elaida eine Delegation zu Rand schickte, war sicher Grund zur Sorge, doch konnte er ein solcher Narr sein, auf jemanden zu hören, die von Elaida gesandt wurde? Doch wohl nicht, oder? Aus dem, was Elayne mitbekommen hatte, war einfach nicht mehr herauszulesen. Und was sollte das mit diesem Extra-Podest, auf den Rand den Löwenthron hatte stellen lassen? Was fing er denn überhaupt mit einem Thron an? Er mochte ja der Wiedergeborene Drache sein und dieser Aiel Car-irgendwas, aber sie kam nicht darüber hinweg, daß sie ihn als Kind oft zur Pflege gehabt und ihm den Hintern versohlt hatte, wenn es nötig war.
Elayne fuhr fort, sich anzuziehen, und sie war damit eher fertig als mit ihrer Geschichte. »Ich erzähle dir den Rest später«, sagte sie schnell und war schon aus der Tür.
Nynaeve knurrte und kleidete sich dann ohne Eile fertig an. Elayne unterrichtete heute zum erstenmal Novizinnen, was man Nynaeve bisher noch nicht gestattet hatte. Aber wenn man ihr schon keine Novizinnen anvertraute, war da ja immer noch Moghedien. Sie würde sicher bald mit den Frühstücksvorbereitungen fertig sein.
Das Dumme war nur: Als Nynaeve die Frau aufspürte, steckte Moghedien bis zu den Ellbogen im Waschwasser. Das silberne Halsband des A'dam wirkte in diesem Moment besonders deplaziert. Sie war nicht allein; ein Dutzend weiterer Frauen arbeitete hingebungsvoll an Waschbrettern in einem Hof, der von einem Holzzaun umgeben war, zwischen dampfenden Kesseln mit heißem Wasser. Andere Frauen hängten bereits die erste Tageswäsche an langen Leinen auf, die man über Stangen gezogen hatte, aber trotzdem warteten noch ganze Stapel von Bettwäsche und Unterwäsche und allen möglichen Kleidungsstücken und Tischdecken darauf, auf die Waschbretter zu wandern. Der Blick, den Moghedien Nynaeve zuwarf, hätte ausreichen sollen, ihr die Haare vom Kopf zu sengen. Haß, Scham und blanke Wut kamen durch den A'dam zu ihr herüber, beinahe genug, um die allgegenwärtige Furcht zu verdrängen.
Nildra, die Frau, die hier die Leitung innehatte, grauhaarig und hager wie ein Stock, eilte heran. Sie hielt einen Rührlöffel wie ein Szepter in der Hand und hatte den dunklen Wollrock bis zu den Knien hochgebunden, damit er nicht immer über den vom überlaufenden Waschwasser matschigen Boden schleifte. »Guten Morgen, Aufgenommene. Ich schätze, Ihr wollt Marigan holen, eh?« In ihrem Tonfall schwang durchaus Respekt mit, aber auch das Wissen darum, daß morgen schon vielleicht jede der Aufgenommenen einen Tag oder auch einen Monat lang zum Waschdienst eingeteilt sein konnte und dann genauso hart arbeiten mußte und genauso schikaniert wurde wie die anderen, wenn nicht noch mehr. »Also, ich kann sie noch nicht gehen lassen. Ich habe nicht genug Frauen da, wie die Lage aussieht. Eines meiner Mädchen heiratet heute, eine andere ist weggelaufen, und zwei dürfen nur leicht arbeiten, weil sie schwanger sind. Myrelle Sedai hat mir gesagt ich könne sie haben. Vielleicht kann ich sie in ein paar Stunden entbehren. Wir werden sehen.«
Moghedien richtete sich auf und öffnete den Mund, aber Nynaeve brachte sie mit einem harten Blick zum Schweigen — nebst einem auffälligen Griff zum Armband des A'dam an ihrem Handgelenk —, und sie widmete sich wieder ihrer Arbeit. Alles, was notwendig war, wären ein paar falsche Worte von Moghedien, eine Klage, wie sie keine Bauersfrau äußern würde, und diese Rolle spielte sie ja nun, um sie auf den Weg zur Dämpfung und zum Henker zu bringen. Nynaeve und Elayne würde es dann nicht viel besser ergehen. Nynaeve atmete unwillkürlich erleichtert auf, als sich Moghedien wieder über das Waschbrett beugte. Ihr Mund bewegte sich, aber sie fluchte nur unhörbar vor sich hin. Immense Scham und blanke Wut durchströmten den A'dam.
Nynaeve brachte ein Lächeln in Nildras Richtung zustande und murmelte etwas Unverbindliches — sie wußte selbst nicht genau, was — und marschierte weiter zu einer der öffentlichen Küchen, um sich etwas zum Frühstücken zu holen. Wieder Myrelle. Sie fragte sich, ob die Grüne irgend etwas gegen sie persönlich habe. Sie fragte sich auch, ob sie auf Dauer einen übersäuerten Magen davontragen werde, wenn sie immer auf Moghedien aufpassen mußte. Seit sie der Frau den A'dam angelegt hatte, schluckte sie praktisch ihre Magenmedizin wie andere Bonbons.
Es war nicht schwierig, einen kleinen Tonkrug voll Tee mit Honig zu bekommen, und dazu ein Brötchen, das noch heiß war vom Backofen, aber sobald sie beides hatte, ging sie weiter und aß im Gehen. Schweißperlen standen auf ihrem Gesicht. Selbst zu dieser frühen Stunde wuchs die Hitze ständig an und die Luft war trocken. Die aufgehende Sonne erstrahlte wie eine Kuppel aus geschmolzenem Gold über den Baumwipfeln.
Die Lehmstraßen waren gefüllt, und das war hier meistens so, wenn das Tageslicht ausreichte, um etwas zu sehen. Aes Sedai schritten gravitätisch vorbei, wobei sie Staub und Hitze ignorierten, geheimnisvolle Mienen und geheimnisvolle Aufträge, manchmal mit Behütern auf den Fersen, Wölfen mit kalten Augen, die vergeblich vorgaben, zahm zu sein. Überall waren Soldaten, gewöhnlich in Gruppen marschierend oder reitend. Allerdings verstand Nynaeve nicht, wieso man sie hier auf die Straßen ließ, wenn sie doch draußen in den Wäldern ihre Lager aufgebaut hatten. Kinder rannten umher und äfften häufig die Soldaten nach, indem sie Stöcke statt Schwerter und Piken gebrauchten. Weißgekleidete Novizinnen eilten durch die Menge, um ihren Aufgaben nachzugehen. Diener und Dienerinnen bewegten sich etwas langsamer, Frauen mit ganzen Armladungen von Bettlaken für die Aes Sedai oder mit Körben voll Brot aus den Backstuben. Männer, die hoch mit Feuerholz beladene Ochsenkarren führten, Truhen schleppten oder sich ganze ausgeweidete Schafe für die Küchen auf die Schultern geladen hatten. Salidar war nicht für so viele Menschen angelegt worden, und so platzte das Dorf beinahe aus allen Nähten.
Nynaeve ging weiter. Der Tag einer Aufgenommenen gehörte zumeist ihr selbst — außer, wenn sie Novizinnen unterrichten mußte —, damit sie studieren konnte, was immer sie sollte, allein oder mit einer Aes Sedai als Ausbilderin, aber eine Aufgenommene, die anscheinend nichts zu tun hatte, konnte jederzeit von irgendeiner Aes Sedai aufgegriffen und zum Arbeiten eingesetzt werden. Sie hatte nicht vor, den Tag damit zu verbringen, einer Braunen Schwester beim Katalogisieren von Büchern zu helfen oder die Notizen einer Grauen abzuschreiben. Sie haßte Abschreiben und all dieses Zungenschnalzen, wenn sie einen Klecks machte, und dieses enttäuschte Seufzen, wenn ihre Schrift nicht so sauber wie die einer Schreiberin war. Also spazierte sie geschäftig durch den Staub und die Menschenmenge und hielt nach Siuan und Leane Ausschau. Sie war wütend genug, um selbst die Macht zu gebrauchen, ohne durch Moghedien arbeiten zu müssen.
Jedesmal, wenn sie sich des schweren Goldrings bewußt wurde, der zwischen ihren Brüsten hing, dachte sie: Er muß noch am Leben sein. Und sollte er mich auch vergessen haben, Licht, laß ihn überleben! Natürlich machte der letztere Gedanke sie noch wütender. Falls al'Lan Mandragoran auch nur wagte, daran zu denken, sie zu vergessen, würde sie ihm den Kopf zurechtrücken. Er mußte einfach noch am Leben sein. Behüter starben oftmals, wenn sie ihre Aes Sedai rächen wollten, denn es war so sicher wie der nächste Sonnenaufgang, daß kein Behüter irgend etwas zwischen sich und eine solche Vergeltung kommen lassen würde, aber in diesem Fall gab es keine Möglichkeit für Lan, Moiraine zu rächen. Genauso hätte Moiraine vom Pferd fallen und sich den Hals brechen können. Nein. Sie und Lanfear hatten einander getötet. Er mußte also noch leben. Und warum sollte sie Schuldgefühle in bezug auf Moiraines Tod empfinden? Sicher, dadurch war Lan für sie frei geworden, aber sie hatte ja nun wirklich nichts damit zu tun gehabt. Doch ihr erster Gedanke, als sie von Moiraines Tod erfahren hatte, war Freude gewesen, wenn auch nur ganz kurz, daß Lan nun frei war. Mitleid für Moiraine hatte sie nicht empfunden. Die Scham deswegen konnte sie noch nicht ablegen, und das steigerte ihren Zorn nur noch.
Plötzlich sah sie, wie Myrelle mit dem blonden Croi Makin, einem ihrer drei Behüter, die Straße entlangschlenderte. Der junge Mann an ihrer Seite war wohl fast überschlank, wirkte aber doch hart wie Felsgestein. Die Aes Sedai blickte entschlossen drein und zeigte nicht die geringste Auswirkung der Erlebnisse der letzten Nacht. Nichts hätte darauf hingedeutet, daß Myrelle nach ihr suchte, doch Nynaeve schlüpfte schnell in ein großes Steingebäude hinein, das einst eine der drei Schenken des ursprünglichen Salidar beherbergt hatte.
Den breiten Schankraum hatte man ausgeräumt und wie ein Empfangszimmer möbliert: die getünchten Wände und die hohe Decke ausgebessert, ein paar bunte Wandbehänge angebracht und auf dem Boden, der nicht mehr sehr splittrig wirkte, aber immer noch kein Bohnerwachs annahm, lagen einige farbige Läufer. Das schattige Innere wirkte nach der Hitze der Straße tatsächlich kühl. Oder wenigstens etwas kühler. Der Raum war allerdings nicht leer.
Logain stand überheblich vor einem der breiten, kalten Kamine, den Schwalbenschwanz seines goldbestickten roten Fracks nach hinten geschoben, und beobachtet wurde er aufmerksam von Lelaine Akaschi, deren blaugefranste Stola dem Ganzen einen offiziellen Anstrich verlieh. Sie war eine schlanke Frau, die stets einen Ausdruck von Würde und Eleganz verbreitete und zwischendurch auch einmal warmherzig lächeln konnte. Außerdem war sie eine der drei Sitzenden der Blauen Ajah im Burgsaal von Salidar. Heute allerdings fiel vor allem der durchdringende Blick auf, mit dem sie Logains Besucher musterte.
Es waren zwei Männer und eine Frau, prachtvoll in bestickte Seide gekleidet und mit Goldschmuck behängt. Alle drei ergrauten bereits, und einer der Männer war fast kahlköpfig, was er wohl durch seinen rechteckig geschnittenen Vollbart und den langen, gezwirbelten Schnurrbart wettzumachen versuchte. Sie waren mächtige Adlige aus Altara, die am Vortag mit starken Eskorten eingetroffen waren und sich gegenseitig offenbar mit dem gleichen Mißtrauen beobachteten wie die Aes Sedai, die hier mitten in Altara ein Heer aufstellten. Die Adligen Altaras schworen einem Lord oder einer Lady oder auch einer Stadt Gefolgschaftstreue, aber für eine Nation namens Altara blieb dann wenig übrig. Nur ein paar Adlige zahlten Steuern oder beachteten, was die Königin in Ebou Dar befahl, doch ein Heer in ihrer Mitte erregte durchaus ihre Aufmerksamkeit. Das Licht allein mochte wissen, welche Wirkung die Gerüchte in bezug auf die Drachenverschworenen bei ihnen ausgelöst hatten. Im Augenblick allerdings vergaßen sie vollständig, sich gegenseitig arrogant und Lelaine trotzig anzustarren. Ihre Blicke ruhten so fasziniert auf Logain, wie man möglicherweise eine große, bunte Viper anblickt.
Die Runde vervollständigte Burin Schaeren. Sein Teint war kupfern, und er wirkte wie aus einem Baumstumpf geschnitzt. Er wiederum beobachtete sowohl Logain wie auch die Besucher, wobei er wie eine Sprungfeder gespannt war, bereit, innerhalb eines Wimpernschlags aufzuspringen und zuzuschlagen. Lelaines Behüter war weniger deshalb anwesend, um Logain zu bewachen — schließlich nahm man an, Logain befinde sich freiwillig in Salidar —, sondern vor allem, um den Mann vor seinen Besuchern und einem plötzlich in seinem Herz steckenden Messer zu beschützen.
Was ihn betraf, schien Logain unter all diesen Blicken geradezu aufzublühen. Er war ein hochgewachsener Mann mit lockigem Haar, das ihm fast bis auf die Schultern herabfiel, dunkelhaarig und gut aussehend, wenn sein Gesicht auch einen Ausdruck von Härte trug. Er wirkte so stolz und selbstbewußt wie ein Adler. Es war aber vor allem die Chance, Rache zu nehmen, die seine Augen so glänzen ließ. Wenn er auch nicht jedem alles heimzahlen konnte, an denen er sich rächen wollte, so doch zumindest einigen. »Sechs Rote Schwestern spürten mich in Cosamelle auf, ungefähr ein Jahr, bevor ich mich zum Drachen ausrufen ließ«, sagte er gerade, als Nynaeve eintrat. »Javindhra nannte sich die Anführerin, obwohl auch eine namens Barasine eine Menge zu sagen hatte. Und ich hörte, wie man Elaida erwähnte, als wisse sie Bescheid darüber, was diese vorhatten. Sie haben mich schlafend angetroffen, und ich glaubte, mein letztes Stündlein habe geschlagen, als sie mich abschirmten.«
»Aes Sedai«, unterbrach ihn die lauschende Frau grob. Sie war untersetzt, hatte einen harten Blick und eine dünne Narbe auf der Wange, die Nynaeve nicht zu einer Frau zu passen schien. Aber die Frauen Altaras standen in dem Ruf, ziemlich wild zu sein, wenn das auch natürlich recht aufgebauscht sein mochte. »Aes Sedai, wie kann das wahr sein, was er da behauptet?«
»Ich weiß auch nicht, Lady Sarena«, sagte Lelaine gelassen, »aber es wurde mir von einer bestätigt, die nicht lügen kann. Er sagt die Wahrheit.«
Sarenas Gesichtsausdruck änderte sich nicht, aber ihre Hände verkrampften sich hinter ihrem Rücken zu Fäusten. Einer ihrer Begleiter, der große Mann mit dem hageren Gesicht und mehr Grau im Haar als Schwarz, hatte seine Daumen in den Schwertgürtel eingehakt und bemühte sich, entspannt zu wirken, doch seine Knöchel an den Handgelenken waren weiß vor Anstrengung.
»Wie ich sagte«, fuhr Logain mit einem verbindlichen Lächeln fort, »haben sie mich aufgespürt und mich wählen lassen. Entweder würde ich auf der Stelle sterben, oder ich konnte ihr Angebot annehmen. Ein eigenartiges Angebot, ganz und gar nicht, was ich erwartet hatte, aber ich mußte es mir nicht lange überlegen. Sie haben niemals zugegeben, daß sie das schon früher versucht hätten, aber ich hatte so das Gefühl, sie machten es nicht zum erstenmal. Gründe nannten sie mir auch nicht, aber die scheinen klar zu sein, wenn ich zurückdenke. Einen Mann anzuschleppen, der mit der Macht umgehen konnte, brachte nicht viel Ruhm ein, aber einen falschen Drachen zu Fall zu bringen...«
Nynaeve runzelte die Stirn. Er sprach so gleichmütig darüber wie ein Mann, der über die heutige Jagd berichtet, und doch war es sein eigener Sturz, von dem er da sprach, und jedes Wort war ein weiterer Nagel für Elaidas Sarg. Vielleicht sogar ein Sarg für die ganze Rote Ajah. Wenn die Roten Logain dazu getrieben hatten, sich selbst zum Wiedergeborenen Drachen auszurufen, harten sie dann vielleicht das gleiche Spiel mit Gorin Rogad oder Mazrim Taim getrieben? Vielleicht sogar mit allen falschen Drachen der Geschichte? Sie konnte beinahe die Gedanken wie Mühlräder in den Köpfen der Adligen aus Altara arbeiten sehen, zuerst langsam, und dann drehten sie sich immer schneller...
»Ein ganzes Jahr lang halfen sie mir, den anderen Aes Sedai aus dem Weg zu gehen«, sagte Logain, »schickten mir Botschaften, wenn sich eine näherte, obwohl es sowieso nicht viele waren. Nach dem ich mich zum Drachen proklamiert hatte und Anhänger gewann, sandten sie mir Berichte, wo sich beispielsweise die Heere eines Königs befanden und wie stark sie seien. Was glaubt Ihr, woher ich sonst wußte, wo und wann ich zuschlagen mußte?« Seine Zuhörer traten unruhig von einem Fuß auf den anderen, was wohl zum Teil an seinem raubtierhaften Grinsen lag und zum Teil an seinen Worten.
Er haßte die Aes Sedai. Nynaeve war sich da ganz sicher, auch wenn sie sich nur wenige Male dazu aufgerafft hatte, ihn zu untersuchen. Sie hatte das auch nicht mehr gemacht, seit Min wegging, und erfahren hatte sie ohnehin nichts. Sie hatte zuerst geglaubt, ihn zu untersuchen würde einen neuen Blickwinkel ergeben, unter dem sie das gestellte Problem betrachten konnte, denn nirgends waren die Unterschiede zwischen Mann und Frau deutlicher als im Gebrauch der Macht, aber bei ihm war das schlimmer, als einfach in ein dunkles Loch zu starren, nein, es war nichts da, nicht einmal ein Loch. Alles in allem nahm es sie ziemlich mit, sich in Logains Nähe aufzuhalten. Er hatte jede ihrer Bewegungen mit einer brennenden Eindringlichkeit beobachtet, die sie schaudern ließ, obwohl sie wußte, daß sie ihn mit Hilfe der Macht fesseln konnte, wenn er auch nur einen Finger zum falschen Zeitpunkt hob. Es war nicht die Art von Leidenschaft in seinem Blick, wie sie Männer Frauen entgegenbrachten, sondern eine Art reiner, tiefgreifender Verachtung, die sich auf seiner Miene überhaupt nicht zeigte, und das machte sie nur um so erschreckender. Die Aes Sedai hatten ihn für alle Zeit von der Einen Macht abgeschnitten; Nynaeve konnte sich ihre eigenen Gefühle nur zu gut vorstellen, sollte man ihr das antun. Er konnte sich jedoch dafür nicht an allen Aes Sedai rächen. Was er vollbringen konnte, war, die Rote Ajah zu vernichten, und er stellte sich dabei schon recht geschickt an.
Dies war das erste Mal, daß gleich drei gekommen waren, aber jede Woche kamen ein oder zwei Lords oder Ladies, um seine Geschichte zu hören. Sie kamen aus ganz Altara und sogar aus Murandy, und jeder war bei der Rückreise total erschlagen von dem, was Logain gesagt hatte. Kein Wunder, denn die einzige noch schockierendere Information wäre wohl die gewesen, hätten die Aes Sedai zugegeben, daß es die Schwarzen Ajah wirklich gab. Nun, das würden sie bestimmt nicht tun, jedenfalls nicht in der Öffentlichkeit, und aus mehr oder weniger dem gleichen Grund ließen sie auch Logains Geschichte nur in ganz kleinen Kreisen durchsickern. Es mochten ja die Roten Ajah gewesen sein, die das getan hatten, aber sie waren immer noch Aes Sedai, und zu viele Menschen konnten die eine Ajah nicht von der anderen unterscheiden. So wurden schließlich nur wenige zu Logain gebracht, und jeder einzelne dieser Handvoll Adliger wurde der Macht seines Hauses wegen dafür ausgewählt. Ihre Häuser würden nun den Aes Sedai in Salidar ihre Unterstützung zuteil werden lassen, wenn auch manchmal vielleicht nicht offen, oder zumindest würden sie Elaida nicht stützen.
»Javindhra hat mich gewarnt, wenn weitere Aes Sedai in die Nähe kamen«, sagte Logain, »solche, die mich jagten. Sie hat mir mitteilen lassen, wo sie sich aufhalten würden, damit ich sie angreifen konnte, bevor sie es überhaupt ahnten.« Lelaines würdevollen, alterslosen Gesichtszüge verhärteten sich einen Augenblick lang, und Burins Hand kroch auf das Heft seines Schwertes zu. Einige Schwestern waren gestorben, bis Logain gefangengenommen wurde. Logain schien ihre Reaktionen nicht wahrzunehmen. »Die Roten Ajah haben mich nie im Stich gelassen, bis sie mich am Ende doch verrieten.«
Der bärtige Mann blickte Logain derart intensiv an, daß er sich offensichtlich dazu zwingen mußte. »Aes Sedai, was war mit seinen Anhängern? Vielleicht war er in der Burg sicher gefangen, aber man hatte ihn eine ganze Reihe von Tagesmärschen näher zu unserem derzeitigen Aufenthaltsort hier aufgegriffen.«
»Man hat nicht alle getötet oder gefangengenommen«, warf der Lord mit dem hageren Gesicht gleich im Anschluß an ihn ein. »Die meisten entkamen und sind untergetaucht. Ich kenne die Geschichte, Aes Sedai. Raolin Dunkelbanns Anhänger wagten es, die Weiße Burg selbst anzugreifen, nachdem er in Gefangenschaft geriet und die von Guaire Amalasan machten es nicht anders. Wir erinnern uns nur zu gut daran, wie Logains Heer durch unser Land marschiert ist, als daß wir wünschten, seine Anhänger versuchten das Gleiche, um ihn zu befreien.«
»Das habt Ihr nicht zu befürchten.« Lelaine blickte Logain mit einem kurzen Lächeln an, wie eine Frau einen wilden Hund, den sie zahm an ihre Leine gelegt hat. »Er strebt nicht mehr nach Ruhm und will lediglich ein wenig von dem wiedergutmachen, was er angerichtet hat. Außerdem bezweifle ich, daß viele seiner Anhänger kämen, wenn er sie riefe; nicht, nachdem man ihn in einem Käfig nach Tar Valon gebracht und einer Dämpfung unterzogen hat.« Ihr heiteres Lachen fand bei den Adligen aus Altara ein Echo, doch erst nach einem Moment des Zögerns und dann auch noch recht schwach. Logains Gesicht war eine eherne Maske.
Mit einemmal bemerkte Lelaine, daß Nynaeve an der Tür stand, und sie zog die Augenbrauen hoch. Sie hatte sich mehr als einmal sehr freundlich mit Nynaeve unterhalten und die angeblichen Entdeckungen gelobt, die ihr und Elayne zu verdanken waren, aber sie war genauso schnell dabei wie jede andere Aes Sedai, wenn es darum ging, eine Aufgenommene herunterzuputzen, die sich falsch verhalten hatte.
Nynaeve knickste schnell und deutete mit dem Tonkrug, der mittlerweile leer war. »Entschuldigt bitte, Lelaine Sedai. Ich muß den zur Küche zurückbringen.« Damit schoß sie in die Backofenhitze der Straße hinaus, bevor die Aes Sedai auch nur ein Wort sagen konnte.
Glücklicherweise war Myrelle nun nirgendwo mehr zu sehen. Nynaeve hatte keine Lust, sich eine weitere Gardinenpredigt anzuhören, sie solle mehr Verantwortung zeigen oder sich besser beherrschen oder ein Dutzend anderer idiotischer Vorwürfe. Und was noch besser war, Siuan stand keine dreißig Schritt entfernt Gareth Bryne mitten auf der Straße gegenüber. Der Passantenstrom teilte sich um sie herum. Wie Myrelle zeigte auch Siuan keine Anzeichen von Verletzungen, von denen Elayne berichtet hatte. Vielleicht hätten sie mehr Respekt für Tel'aran'rhiod, wenn sie nicht einfach hinaustreten und ihre Fehler mit Hilfe der Macht heilen lassen konnten. Nynaeve trat näher heran.
»Was ist denn mit Euch los, Frau?« so grollte Bryne Siuan an. Er blickte auf sie herab, ein grauer Kopf über ihrem jugendlich wirkenden Gesicht. Breitbeinig stand er da, hatte die Fäuste in die Hüften gestemmt und machte den Eindruck eines Felsbrockens. Den Schweiß, der ihm über das Gesicht rann, beachtete er so wenig, als habe er gar nichts mit seiner Person zu tun. »Ich lobe Euch, weil meine Hemden so weich sind, und Ihr reißt mir beinahe den Kopf ab. Und ich habe gesagt, daß Ihr fröhlich ausseht. Das ist ja wohl kaum eine Kampfansage. Das war als Kompliment gemeint, Frau, vielleicht sogar in Rosen gebettet.«
»Komplimente?« grollte Siuan zurück. Ihre blauen Augen funkelten ihn an. »Ich brauche Eure Komplimente nicht! Es gefällt Euch einfach, wenn ich Eure Hemden bügeln muß. Ihr seid ein kleinerer Mann, als ich jemals glaubte, Gareth Bryne. Erwartet Ihr von mir, daß ich Euch wie eine Marketenderin hinterherlaufe, wenn das Heer marschiert, und auf weitere Eurer Komplimente hoffe? Und Ihr werdet mich nicht mehr so anreden, als Frau Das klingt wie: Komm her, Hund!«
An Brynes Schläfe begann eine Ader zu pulsieren. »Es gefällt mir, daß Ihr Wort haltet, Siuan. Und falls das Heer jemals marschiert, erwarte ich, daß Ihr es auch weiterhin haltet. Ich habe diesen Eid niemals von Euch verlangt. Ihr habt ihn von selbst angeboten und versucht, Euch damit vor der Verantwortung für das zu drücken, was Ihr angerichtet hattet. Ihr habt nicht geglaubt, daß Ihr gezwungen würdet, Euch an den Eid zu halten, oder? Was den Marsch des Heeres betrifft: Was habt Ihr darüber gehört, während ihr vor den Aes Sedai gekrochen seid und ihnen die Füße geküßt habt?«
Innerhalb eines Herzschlags wandelte sich Siuans heißer Zorn zu eisiger Ruhe. »Das gehört nicht zu meinem Eid.« Man hätte sie für eine junge Aes Sedai halten können, die hoch aufgerichtet und mit diesem kühl arroganten Trotz vor ihm stand, eine, die noch nicht sehr lange mit der Macht gearbeitet hatte und deren Gesicht deshalb bisher nicht diese typische Alterslosigkeit angenommen hatte. »Ich werde nicht für Euch spionieren. Ihr dient dem Burgsaal, Gareth Bryne, und den Treueeid habt Ihr geschworen. Euer Heer wird marschieren, wenn sich der Saal dazu entschließt. Lauscht ihren Worten und gehorcht dem, was ihr vernehmt.«
Brynes Haltung änderte sich blitzschnell. »Ihr wärt ein Gegner, der es wert ist, die Klingen mit ihm zu kreuzen«, lachte er bewundernd. »Ihr wärt eine bessere...« Doch schon wurde aus dem Schmunzeln wieder eine düstere Miene. »Der Saal, ja? Pah! Dann richtet Sheriam aus, sie kann endlich damit aufhören, mir auszuweichen. Was ich hier tun kann, habe ich getan. Sagt Ihr, ein Wolfshund im Zwinger kann genausogut durch ein Schwein ersetzt werden, wenn die Wölfe kommen. Ich habe diese Männer nicht um mich versammelt, damit sie auf dem Markt feilgeboten werden.« Nach einem knappen Nicken schritt er durch die Menge fort. Siuan blickte ihm mit gerunzelter Stirn nach.
»Worum ging es denn nun eigentlich?« fragte Nynaeve, und Siuan fuhr zusammen.
»Um nichts, was Euch etwas anginge!« fauchte sie und strich ihr Kleid glatt. Man hätte denken können, Nynaeve habe sich mit Absicht angeschlichen. Die Frau nahm aber auch alles immer persönlich.
»Laßt es sein«, sagte Nynaeve gefaßt. Sie würde sich nicht durch solche Nebensächlichkeiten ablenken lassen. »Was ich aber nicht sein lasse, ist, Euch zu untersuchen.« Heute würde sie etwas Nützliches tun, und wenn sie sich dafür umbringen mußte. Siuan öffnete den Mund und blickte sich dabei um. »Nein, Marigan ist nicht hier, und im Moment benötige ich sie auch nicht. Ihr habt mich erst zweimal — zweimal! — an Euch herangelassen, seit ich einen Hinweis darauf fand, daß etwas in Euch geheilt werden könnte. Ich werde Euch heute untersuchen, und falls Ihr das verhindert, erzähle ich Sheriam, daß Ihr ihren Befehl mißachtet, Euch mir zur Verfügung zu halten. Ich schwöre Euch, ich werde das sagen!«
Einen Augenblick lang glaubte sie, die andere Frau werde es aufs Äußerste ankommen lassen, aber schließlich sagte Siuan mürrisch: »Heute nachmittag. Heute vormittag habe ich zu tun. Es sei denn Ihr glaubt, Eure Tätigkeit sei wichtiger, als Eurem Freund von den Zwei Flüssen zu helfen?«
Nynaeve trat näher an sie heran. Niemand sonst auf der Straße schenkte ihnen mehr Beachtung als höchstens einen Blick im Vorübergehen, aber trotzdem senkte sie die Stimme: »Was haben sie mit ihm vor? Ihr sagt immer wieder, sie hätten sich noch nicht entschlossen, was sie seinetwegen unternehmen sollen, aber mittlerweile müssen sie doch wohl zu irgendwelchen Schlüssen gekommen sein!« Falls ja, dann wußte Siuan Bescheid, ob das nun beabsichtigt war oder nicht.
Urplötzlich war Leane da, und Nynaeves Worte verpufften wirkungslos. Siuan und Leane starrten sich gegenseitig wütend an wie zwei verfeindete Katzen, die sich ins Gehege gekommen waren.
»Nun?« knurrte Siuan zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
Leane schnaubte und schüttelte den Kopf, daß ihre Locken flogen. Ein hämisches Grinsen verzerrte ihr Gesicht, doch ihre Worte entsprachen keineswegs Ihrer Miene oder dem Tonfall: »Ich habe versucht, ihnen das auszureden«, fauchte sie, allerdings leise. »Aber sie hatten dir noch nicht einmal gut genug zugehört, um sich ihre eigenen Gedanken zu machen. Heute abend wirst du nicht mit den Weisen Frauen zusammentreffen.«
»Möwenscheiße«, fluchte Siuan. Dann drehte sie sich auf dem Fuß um und stolzierte davon, allerdings auch nicht schneller als Leane in entgegengesetzter Richtung.
Nynaeve hätte fast die Hände frustriert gehoben. Sie redeten, als befände sie sich überhaupt nicht hier, und als wisse sie nicht genau, wovon sie sprachen. Ignorierten sie einfach. Siuan sollte besser heute nachmittag bei ihr erscheinen, wie sie es versprochen hatte. Sonst würde sei eine Möglichkeit finden, die Frau auszuwringen und zum Trocknen aufzuhängen! Sie zuckte zusammen, als hinter ihr eine Frau zu sprechen begann: »Diese beiden sollte man wirklich zu Tiana schicken, damit sie eine kräftige Tracht Prügel beziehen.« Lelaine trat neben Nynaeve und blickte erst Siuan und dann Leane hinterher. So herumzulaufen und sich an Leute anzuschleichen! Logain, Burin oder die Adligen aus Altara waren nirgends zu sehen. Die Blaue Schwester rückte ihre Stola zurecht. »Natürlich sind sie nicht mehr die, die sie einst waren, aber man sollte doch denken, daß sie wenigstens den Schein wahren. Es wird nicht besonders gut wirken, wenn sie sich wirklich noch einmal auf der Straße gegenseitig die Haare ausreißen.«
»Manchmal passen Leute einfach nicht zusammen, und es kommt ständig zu Reibereien«, sagte Nynaeve. Siuan und Leane arbeiteten so hart daran, dieses Täuschungsmanöver aufrechtzuerhalten, und dann war wohl das Wenigste, was sie dazu beitragen konnte, ein bißchen Unterstützung zum rechten Zeitpunkt. Wie sie es haßte, wenn sich Menschen an sie heranschlichen.
Lelaine blickte auf Nynaeves Hand, die schon wieder ihren Zopf ergriffen hatte, und sie riß die Hand schnell weg. Zu viele kannten mittlerweile ihre Angewohnheit. Dabei strengte sie sich so an, das zu unterdrücken. Aber die Aes Sedai sagte lediglich: »Nicht, wenn es die Würde der Aes Sedai untergräbt, Kind. Frauen, die den Aes Sedai dienen, sollten sich in der Öffentlichkeit zurückhalten, gleich wie töricht sie sich privat auch verhalten mögen.« Daran gab es gewiß nichts zu deuteln, oder jedenfalls nichts, was sie hätte sagen können, ohne Anstoß zu erregen. »Warum seid Ihr hereingekommen, als ich vorhin Logain vorführte?«
»Ich hatte geglaubt, der Raum sei leer, Aes Sedai«, sagte Nynaeve schnell. »Es tut mir leid. Ich hoffe, ich habe nicht zu sehr gestört.« Das war keine Antwort, denn sie konnte ihr kaum sagen, sie habe sich vor Myrelle versteckt, aber die schlanke Blaue sah ihr nur einen Moment lang in die Augen.
»Was glaubt Ihr, wird Rand al'Thor unternehmen, Kind?«
Nynaeve riß verwirrt die Augen auf. »Aes Sedai, ich habe ihn ein halbes Jahr nicht mehr gesehen. Alles, was ich weiß, ist das, was ich hier vernahm. Hat der Saal...? Aes Sedai, was hat der Saal in bezug auf ihn beschlossen?«
Lelaine musterte aufmerksam Nynaeves Gesicht und schürzte die Lippen. Diese dunklen Augen schienen auf beunruhigende Weise direkt in Nynaeves Kopf zu blicken. »Ein bemerkenswerter Zufall. Ihr kommt aus dem gleichen Dorf wie der Wiedergeborene Drache, genau wie dieses andere Mädchen, Egwene al'Vere. Man hielt große Stücke auf sie, als sie Novizin wurde. Habt Ihr eine Ahnung, wo sie sich befindet?« Sie wartete nicht auf eine Antwort. »Und diese beiden anderen jungen Männer, Perrin Aybara und Mat Cauthon. Beide ebenfalls Ta'veren, wie ich hörte. Wirklich bemerkenswert. Und dann Ihr mit Euren außergewöhnlichen Entdeckungen, trotz Eurer Beschränkungen. Wo sich Egwene auch befinden mag, wird sie sich auch auf Gebiete vorwagen, die keine von uns je betreten hat? Ihr alle habt eine ganze Menge Gesprächsstoff für die Schwestern geliefert, wie Ihr euch denken könnt.«
»Ich hoffe, sie sagen nur das Beste«, stellte Nynaeve bedächtig fest. Man hatte ihnen viele Fragen über Rand gestellt, seit sie nach Salidar gekommen waren und besonders, seit die Delegation nach Caemlyn aufgebrochen war. Manche Aes Sedai schienen kaum ein anderes Thema ihr gegenüber zu kennen. Aber dieses Gespräch war doch etwas anderes. Das war halt auch das Problematische daran, wenn man mit Aes Sedai sprach. Einen großen Teil der Zeit über war man nicht sicher, was sie meinten oder worauf sie hinauswollten.
»Habt Ihr immer noch nicht die Hoffnung aufgegeben, Siuan und Leane heilen zu können, Kind?« Lelaine nickte, als habe Nynaeve ihr geantwortet, und seufzte. »Manchmal glaube ich, Myrelle hat recht. Wir haben zuviel Geduld mit Euch. Trotz Eurer Entdeckungen sollten wir Euch vielleicht doch in Theodrins Obhut geben, bis Euer Block gegen den wunschgemäßen Gebrauch der Macht gebrochen ist. Wenn man bedenkt, was Ihr in den letzten beiden Monaten fertiggebracht habt, was könntet Ihr dann erst fertigbringen?« Nynaeve griff unbewußt wieder nach ihrem Zopf und bemühte sich, etwas einzuwerfen, einen sorgfältig formulierten Protest beispielsweise, doch Lelaine beachtete ihren Versuch überhaupt nicht. Was möglicherweise auch gut war. »Ihr tut Siuan und Leane keinen Gefallen, Kind. Laßt sie vergessen, wer und was sie waren, und gebt Euch mit dem zufrieden, wer und was sie nun sind. So, wie sie sich benehmen, seid ihr wahrscheinlich das einzige, was sie davon abhält, ihre Vergangenheit zu vergessen, Ihr und diese törichten Versuche, zu heilen, was nicht zu heilen ist. Sie sind keine Aes Sedai mehr. Warum an falschen Hoffnungen festhalten?«
In ihrer Stimme lag eine Andeutung von Leidenschaft und auch ein wenig Verachtung. Diejenigen, die nicht zu den Aes Sedai gehörten, waren eben minderwertig, und das Ablenkungsmanöver Siuans und Leanes hatte ganz bestimmt eine solche Geringschätzung geradezu eingeladen. Und dann gaben nicht wenige hier Anwesende Siuan die Schuld an den Schwierigkeiten der Burg, weil sie als Amyrlin so ungeschickt taktiert hatte. Höchstwahrscheinlich glaubten sie, die beiden hätten alles verdient, was ihnen geschehen war, und vielleicht noch mehr.
Was ihnen angetan worden war, hatte aber die ganze Lage noch sehr kompliziert. Jemand einer Dämpfung zu unterziehen war selten. Vor Siuan und Leane hatte man einhundertvierzig Jahre lang keine Frau mehr verurteilt und ihrer Fähigkeiten beraubt und seit mindestens einem Dutzend Jahren war keine mehr ausgebrannt. Nach der Dämpfung versuchte eine Frau für gewöhnlich, sich den Aes Sedai so fern zu halten wie möglich. Hätte man Lelaine einer Dämpfung überzogen, dann hätte sie zweifellos zu vergessen versucht, daß sie jemals eine Aes Sedai gewesen war. Zweifelsohne würde sie auch gern vergessen, daß Siuan und Leane jemals Aes Sedai gewesen waren, daß man ihnen all dies genommen hatte. Wenn man sie einfach als zwei Frauen betrachten konnte, die niemals mit der Macht umgehen konnten, niemals Aes Sedai waren, würden sich eine Menge Aes Sedai wohler in ihrer Haut fühlen.
»Sheriam Sedai hat mir die Erlaubnis erteilt, es zu versuchen«, sagte Nynaeve so energisch sie es einer vollwertigen Schwester gegenüber wagte. Lelaine sah ihr in die Augen, bis sie den Blick senkte. Der Knöchel ihrer Hand, die den Zopf erfaßt hielt, färbte sich weiß, bevor sie es fertigbrachte, loszulassen, aber sie bewahrte eine ruhige Miene. Zu versuchen, dem Blick einer Aes Sedai zu widerstehen, war ziemlich idiotisch für eine Aufgenommene.
»Wir benehmen uns alle irgendwann einmal töricht, Kind, doch eine weise Frau lernt, sich auch darin auf wenige Gelegenheiten zu beschränken. Da Ihr offensichtlich mit Frühstücken fertig seid, schlage ich vor, Ihr werdet diesen Krug los und sucht Euch etwas zu arbeiten, bevor Ihr statt dessen die Arme im heißen Wasser habt. Habt Ihr je daran gedacht, Euch das Haar kurz zu schneiden? Spielt keine Rolle. Fort mit Euch,«
Nynaeve knickste, aber die Aes Sedai wandte ihr bereits den Rücken zu, bevor sie den Tiefpunkt erreicht hatte. Vor Lelaines Blick sicher, funkelte sie der Frau hinterher. Ihr Haar schneiden? Sie hob ihren Zopf an und schüttelte ihn der sich entfernenden Aes Sedai hinterher. Daß sie damit gewartet hatte, bis sie sich sicher fühlte, regte sie selbst auf, aber hätte sie nicht gewartet, wäre sie jetzt ganz bestimmt auf dem Weg zu Moghedien in den Wäschereihof, höchstens mit einer Unterbrechung, um auf dem Weg bei Tiana hereinzuschauen. Sie saß nun schon monatelang untätig hier in Salidar — und wenn man es von der praktischen Seite her betrachtete, waren sie trotz allem, was sie und Elayne aus Moghedien herausgeholt hatten, eben untätig gewesen — mitten unter Aes Sedai, die nichts taten außer reden und warten, während die Welt ohne sie dem Ruin entgegensteuerte, und Lelaine hatte nichts Besseres zu tun, als sie zu fragen, ob sie ihr Haar schneiden werde! Sie hatte die Schwarzen Ajah verfolgt, war in Gefangenschaft gekommen und wieder entflohen, hatte ihrerseits eine der Verlorenen gefangen, na ja gut, das wußte natürlich keine von ihnen, hatte der Panarchin von Tarabon wenigstens vorübergehend wieder zu ihrem Thron verholfen, und nun war alles, was sie hier tat, herumzusitzen und gelegentlich ein Lob einzustreichen für Dinge, die sie aus Moghedien herausgeholt hatten. Ihr Haar schneiden? Da konnte sie sich ja gleich eine Glatze schneiden lassen! Damit würde sie auch nicht mehr erreichen.
Sie erblickte Dagdara Finchey, wie sie durch die Menge schritt, so breit gebaut wie die kräftigsten Männer unter den Passanten und höher aufragend als die meisten, und der Anblick der Gelben mit dem runden Gesicht regte sie ebenfalls auf. Ein Grund dafür, daß sie sich entschlossen hatte, in Salidar zu bleiben, war der, sich von den Gelben unterrichten zu lassen, denn sie verstanden mehr von der Heilkunst als jede andere. Das behauptete jedenfalls jeder. Aber falls eine von ihnen mehr wußte als sie jetzt bereits, dann teilte sie dieses Wissen nicht mit einer bloßen Aufgenommenen. Die Gelben sollten an sich ihrem Wunsch, alles und jeden zu heilen, sogar diejenigen, die einer Dämpfung unterzogen worden waren, am verständnisvollsten gegenüberstehen, aber sie waren die letzten, die Bereitschaft zeigten, ihr zu helfen. Dagdara hätte sie den ganzen Tag lang Böden schrubben lassen, um ihr diese »törichten Ideen« aus dem Kopf zu treiben, wenn Sheriam nicht eingegriffen hätte, während Nisao Dachen, eine unauffällige Gelbe mit Augen, die so hart dreinblickten, daß man mit ihnen Nägel einschlagen konnte, sich sogar weigerte, mit Nynaeve zu sprechen, solange diese darauf bestand, »die Webart des bestehenden Musters zu ändern«.
Und um dem allen die Krone aufzusetzen, sagte ihr Wettergefühl ganz einwandfrei aus, daß sich seit einer Weile ein Sturm nähere, obwohl der wolkenlose Himmel und die brennende Sonne sie verspotteten.
So knurrte sie in sich hinein, stellte den Tonkrug einfach hinten auf einen vorbeirumpelnden Karren und machte sich auf den Weg durch die Menge. Sie konnte nichts weiter tun, als in Bewegung zu bleiben und geschäftig zu wirken, bis Moghedien fertig war, und das Licht mochte wissen, wie lange das noch dauern werde. Ein vollkommen vergeudeter Vormittag, passend zu den vielen Tagen, die sie hier schon vergeudet hatte.
Viele der Aes Sedai lächelten sie an oder nickten ihr zu, aber sie lächelte dann entschuldigend zurück und beschleunigte ihren Schritt für kurze Zeit, damit es aussah, als habe sie es eilig, und so vermied sie es, angehalten zu werden und die üblichen Fragen über sich ergehen lassen zu müssen, welche neuen Dinge man in nächster Zeit von ihr erwarten könne. In ihrer augenblicklichen Laune hätte sie ihnen vielleicht ehrlich gesagt, was sie dachte, und das hätte unangenehme Folgen nach sich gezogen. Nichtstun. Sie fragen, was Rand unternehmen werde. Ihr sagen, sie solle sich ihr Haar abschneiden. Pah!
Natürlich lächelten nicht alle. Nicht nur, daß Nisao einfach durch Nynaeve hindurchblickte, nein, Nynaeve mußte schnell aus dem Weg springen, um nicht von der Frau überrannt zu werden. Und eine arrogante Aes Sedai mit hellblondem Haar und einem hervorstehenden Kinn, die auf einem großrahmigen Fuchswallach durch die Menge ritt, warf ihr im Vorbeireiten einen ausgesprochen finsteren Blick aus scharfen blauen Augen zu. Nynaeve erkannte sie nicht. Die Frau wirkte wie aus dem Ei gepellt in einem hellgrauen, seidenen Reitkleid, aber der leichte Leinenumhang vor ihr auf dem Sattel sprach dafür, daß sie gerade von einer Reise neu hier eingetroffen war. Was noch für ihre Neuankunfft in Salidar sprach, war der schlacksige Behüter in grünem Wams, der auf einem großen, grauen Streitroß hinter ihr herritt und recht nervös wirkte. Behüter wirkten niemals nervös, aber Nynaeve dachte sich, es müsse wohl als Ausnahme gelten, wenn man sich soeben einer Rebellion gegen die Weiße Burg anschloß. Licht! Selbst Neuankömmlinge kamen gerade zurecht, um sie noch mehr aufzubringen!
Und dann tauchte noch der narbengesichtige Uno auf, den Kopf bis auf die Skalplocke kahlgeschoren und die leere Augenhöhle von einer Klappe verdeckt, auf die ein scheußliches, knallrotes Auge aufgemalt war. Er hielt in seiner offensichtlichen Strafpredigt für einen verlegenen jungen Mann im Schuppenpanzer inne, der die Zügel eines Pferds mit einer an den Sattel geschnallten Lanze hielt, und grinste warm in Nynaeves Richtung. Nun, wenigstens ohne die Augenklappe wäre es ein warmes Grinsen geworden. Nynaeve verzog bloß das Gesicht, und so weitete sich sein Auge erschrocken, und er wandte sich hastig wieder dem Soldaten zu, um seine Standpauke fortzusetzen.
Es lag nicht an Uno oder seiner Augenklappe, daß es ihr sauer aufstieß. Nicht nur. Er hatte sie und Elayne nach Salidar begleitet und ihnen sogar versprochen, er würde Pferde stehlen — ausleihen nannte er das —, falls sie von hier fliehen wollten. Die Chance war allerdings vorüber. Uno trug eine Goldlitze an den Ärmelaufschlägen seines abgetragenen dunklen Rocks, denn er war Offizier und für die Ausbildung der schweren Reiterei in Gareth Brynes Heer verantwortlich. So war er nun gebunden und konnte sich gewiß nicht mehr mit Nynaeve abgeben. Nein, das stimmte auch wieder nicht. Sollte sie ihm mitteilen, daß sie abreisen wolle, würde er innerhalb weniger Stunden Pferde auftreiben und sie würde von einer Eskorte von Schienarern mit Skalplocke begleitet wegreiten. Diese Soldaten hatten Rand die Treue geschworen und befanden sich nur in Salidar, weil sie und Elayne sie hierher mitgebracht hatten. Allerdings würde sie dann zugeben müssen, sich geirrt zu haben, als sie bleiben wollte, und auch zugeben, daß sie ihn angelogen hatte, denn sie hatte ihm immer wieder versichert, sie fühle sich an Ort und Stelle ausgesprochen wohl. Das alles zuzugeben, brachte sie nicht fertig. Unos Hauptgrund, überhaupt hier auszuharren, war seine Fürsorge für sie und Elayne. Er glaubte, auf sie aufpassen zu müssen! Nein, von ihr würde er keine solchen Geständnisse zu hören bekommen!
Überhaupt war der Gedanke daran, Salidar zu verlassen, jetzt erst, durch Uno angeregt, wieder aufgetaucht, und sie grübelte nun angestrengt darüber nach. Wenn nur Thom und Juilin nicht auf Erkundung nach Amadicia ausgezogen wären. Natürlich unternahmen sie die Reise nicht aus purem Spaß daran. In der ersten Zeit, als sie noch geglaubt hatten, die Aes Sedai hier würden tatsächlich etwas unternehmen, hatten sie sich freiwillig bereit erklärt, als Kundschafter herauszufinden, was auf der anderen Seite des Flusses vor sich ging. Sie hatten geplant, bis nach Amador zu ziehen. Nun waren sie schon gut einen Monat weg und würden frühestens in einigen Tagen wieder eintreffen. Natürlich waren sie nicht die einzigen Kundschafter. Man hatte sogar Aes Sedai und Behüter ausgesandt, aber die meisten in Richtung Tarabon, also noch weiter nach Westen. Die Aes Sedai taten eben so, als würden sie tatsächlich etwas unternehmen, und die Verzögerung, bis sie mit ihren Berichten wieder eintrafen, kam ihnen als Ausrede gerade recht. Nynaeve wünschte, sie hätte die beiden Männer nicht ziehen lassen. Hätte sie nein gesagt, wäre keiner von beiden gegangen.
Thom war ein alter Gaukler, obwohl er früher einmal sehr viel höher gestanden hatte, und Juilin war ein Diebfänger aus Tear, beides kompetente Männer, die wußten, wie sie sich an fremden Orten zu verhalten hatten, und außerdem auch auf viele andere Arten gut zu gebrauchen. Auch sie hatten sie und Elayne nach Salidar geleitet, und keiner hätte es in Frage gestellt, sollte sie den Wunsch äußern, von hier wegzugehen. Zweifellos hätten sie hinter ihrem Rücken einiges zu sagen gehabt, aber ins Gesicht hätten sie ihr nichts gesagt, im Gegensatz zu Uno.
Es ärgerte sie, zugeben zu müssen, daß sie die Männer wirklich brauchte, aber sie wußte sich eben nicht so gut zu helfen, wenn es darum ging, ein Pferd zu stehlen. Außerdem würde man es bemerken, sollte sich eine Aufgenommene an den Pferden zu schaffen machen, sowohl in den Stallungen, wie auch in den Koppeln der Kavalleriepferde, und sollte sie einfach das weiße Kleid mit dem Farbsaum ablegen und etwas anderes anziehen, würde irgend jemand es bestimmt noch bemerken, bevor sie sich überhaupt den Pferden nähern konnte. Und sollte sie auch die Flucht bewerkstelligen, würde man sie verfolgen. Geflohene Aufgenommene brachte man genauso wie Novizinnen fast immer zurück und bestrafte sie so, daß sie kein zweites Mal eine Flucht versuchten. Wenn man die Ausbildung zur Aes Sedai in Angriff nahm, war man erst damit fertig, sobald sie es zuließen.
Natürlich war es nicht die Angst vor einer Bestrafung, die sie noch hier festhielt. Was bedeutete es schon, ein oder zweimal den Hintern versohlt zu bekommen, wenn man es mit dem Schicksal verglich, möglicherweise von den Schwarzen Ajah umgebracht zu werden oder sich einem der Verlorenen gegen-überzufinden? Es lag im Grunde nur daran, ob sie auch wirklich gehen wollte. Wohin könnte sie sich beispielsweise wenden? Nach Caemlyn zu Rand? Zu Egwene nach Cairhien? Würde Elayne mitkommen? Sicher, falls sie nach Caemlyn gingen. Entsprang dieser Wunsch nur dem anderen, endlich etwas zu unternehmen? Oder lag es nur an der Furcht, Moghedien könne entlarvt werden? Dagegen wäre die Strafe für das Weglaufen nur ein Klacks! Sie war nicht zu irgendeiner Entscheidung gekommen, als sie um eine Ecke kam und plötzlich vor Elaynes Klasse von Novizinnen stand, die sich auf einem offenen Platz zwischen zwei strohgedeckten Steinhäusern versammelt hatte, wo man die Ruine eines dritten Hauses weggeräumt hatte.
Mehr als zwanzig weißgekleidete Frauen saßen auf niedrigen Hockern im Halbkreis und sahen zu, wie Elayne mit zweien von ihnen irgendeine Übung vorführte. Das Glühen Saidars umgab alle drei Frauen. Tabiya, ein vielleicht sechzehnjähriges Mädchen mit grünen Augen und vielen Sommersprossen im Gesicht, und Nicola, eine schlanke, schwarzhaarige Frau etwa in Nynaeves Alter, trieben etwas unsicher eine Flamme immer von der einen zur anderen durch die Luft. Sie flackerte und verschwand auch gelegentlich einen Moment lang, wenn die eine zu langsam reagierte und sie nicht rechtzeitig von der anderen übernahm und aufrecht erhielt. In ihrer augenblicklichen Laune war Nynaeve in der Lage, die von ihnen gewobenen Stränge ganz deutlich zu erkennen.
Achtzehn Novizinnen hatten sie mitgenommen, als Sheriam und der Rest geflohen waren — Tabiya war eine davon —, aber die meisten in dieser Gruppe waren wie Nicola seither neu rekrutiert worden, nachdem sich die Aes Sedai in Salidar häuslich niedergelassen hatten. Nicola war nicht die einzige Frau, die älter war als bei Novizinnen üblich — das traf für gut die Hälfte der Anwesenden zu. Als Nynaeve und Elayne zur Burg kamen, überprüften die Aes Sedai nur äußerst selten Mädchen, die älter waren als beispielsweise Tabiya. Nynaeve war sowohl ihres Alters wie auch der Tatsache wegen, daß sie eine Wilde war, eine große Ausnahme geblieben. Aber mehr oder weniger aus purer Verzweiflung hatten die Aes Sedai hier ihre Überprüfungen auch auf junge Frauen ausgedehnt, die noch ein oder zwei Jahre älter als Nynaeve waren. Das Ergebnis war, daß es nunmehr in Salidar mehr Novizinnen gab als in den ganzen letzten Jahren in der Weißen Burg. Dieser Erfolg hatte die Aes Sedai dazu gebracht, mittlerweile ganz Altara Dorf für Dorf von Schwestern absuchen zu lassen.
»Hättet Ihr auch gern diese Klasse unterrichtet?«
Die Stimme an ihrer Schulter ließ Nynaeve erstarren und einen Eisklumpen in ihrem Magen entstehen. Das zweite Mal an einem Vormittag! Sie wünschte, sie habe etwas von ihrer Magenmedizin in der Tasche. Wenn sie sich weiterhin derart überraschen ließ, würde es doch noch damit enden, daß sie für irgendeine Braune die Papiere sortieren mußte.
Selbstverständlich war diese Domanifrau mit den Apfelbäckchen keine Aes Sedai. In der Weißen Burg wäre Theodrin vermutlich bereits zur Schwester erhoben worden, aber hier stand sie nun zum einen über den anderen Aufgenommenen, aber doch noch unter den Aes Sedai. Sie trug den Ring der Großen Schlange an der rechten Hand und nicht an der linken, und ihr grünes Kleid paßte gut zu ihrem Bronzeteint, doch sie durfte sich keine Ajah aussuchen und die Stola nicht tragen.
»Ich habe besseres zu tun, als einem Haufen dickköpfiger Novizinnen Wissen einzutrichtern.«
Theodrin lächelte nur, weil Nynaeves Stimme so schnippisch klang. Sie war in Wirklichkeit an sich recht nett. »Eine dickköpfige Aufgenommene, die dickköpfige Novizinnen unterrichtet?« Normalerweise war sie nett. »Nun, sobald wir Euch einmal soweit haben, daß Ihr die Macht gebrauchen könnt, ohne ihnen ständig Kopfnüsse zu verpassen, werdet Ihr auch Novizinnen unterrichten. Und es würde mich nicht überraschen, wenn Ihr bald danach zur Schwester erhoben würdet, bei all den Dingen, die Ihr schon entdeckt habt. Übrigens habt Ihr mir nie verraten, was Euer Trick war.« Die Wilden hatten fast immer irgendeinen Trick entwickelt, wenn sie ihre Fähigkeit zum Gebrauch der Macht einmal erkannt hatten. Das andere, was die meisten Wilden miteinander gemein hatten, war ein Block, den sie in ihrem Geist aufgebaut hatten, um ihre Fähigkeit vor allen und sogar vor sich selbst zu verbergen.
Nynaeve beherrschte mit Mühe ihre Gesichtszüge. In der Lage sein, jederzeit nach Wunsch die Macht zu gebrauchen. Zur Aes Sedai erhoben zu werden. Keines davon würde das Problem Moghedien lösen, aber dann wäre es ihr möglich, zu gehen, wohin sie wollte und zu untersuchen, was sie wollte, ohne sich dauernd rechtfertigen zu müssen und zu hören, dies oder das sei nicht heilbar. »Menschen erholten sich, obwohl das nicht zu erwarten war. Ich wurde so wütend, weil jemand sterben würde und das all meine Kenntnisse über Kräuter nicht ausreichten...« Sie zuckte die Achseln. »Und sie erholten sich wieder.«
»Viel besser als bei mir.« Die schlanke Frau seufzte. »Ich konnte es fertigbringen, daß ein Junge mich küssen wollte, oder auch nicht. Mein Block betraf Männer und hatte nichts mit Zorn zu tun.« Nynaeve blickte sie ungläubig an und Theodrin lachte. »Nun, es hatte schon auch mit Gefühlen zu tun. Falls ein Mann zugegen war, den ich entweder sehr mochte oder überhaupt nicht leiden konnte, war ich fähig, die Macht zu gebrauchen. Wenn ich weder das eine, noch das andere empfand oder wenn gar kein Mann zugegen war, hätte ich genauso ein Baum sein können, was den Gebrauch Saidars betraf.«
»Wie habt Ihr nur diesen Block durchbrechen können?« fragte Nynaeve neugierig. Elayne ließ die Novizinnen mittlerweile paarweise üben, und sie bemühten sich unbeholfen, kleine Flammen von der einen zur anderen wandern zu lassen.
Theodrins Lächeln wurde breiter, doch eine leichte Röte färbte ihre Wangen. »Ein junger Mann namens Charel, ein Knecht in den Stallungen der Burg, hat mir schöne Augen gemacht. Ich war fünfzehn, und er hatte ein wundervolles Lächeln. Die Aes Sedai ließen ihn bei meinem Unterricht zugegen sein und still in einer Ecke sitzen, damit ich überhaupt in der Lage war, die Macht zu gebrauchen. Was ich nicht wußte: Sheriam hatte es so arrangiert, daß er mich überhaupt kennenlernte.« Ihre Wangen liefen noch dunkler an. »Ich wußte auch nicht, daß er eine Zwillingsschwester hatte und daß nach ein paar Tagen nicht mehr Charel in der Ecke saß, sondern seine Schwester Marel. Als sie dann eines Tages während des Unterrichts Jacke und Hemd auszog, war ich so erschrocken, daß ich in Ohnmacht fiel. Doch von dem Tag an konnte ich die Macht gebrauchen, wann immer ich wollte.«
Nynaeve lachte schallend los — sie konnte sich nicht helfen —, und trotz ihrer Schamröte lachte Theodrin ungehemmt mit. »Ich wünschte, es wäre auch für mich so einfach, Theodrin.«
»Ob einfach oder nicht«, sagte Theodrin, die nun wieder ernst wurde, »wir werden in jedem Fall Euren Block beseitigen. Heute nachmittag...«
»Ich untersuche heute nachmittag Siuan«, warf Nynaeve hastig ein, und Theodrin verzog den Mund.
»Ihr habt mich gemieden, Nynaeve. Im vergangenen Monat habt Ihr es erreicht, Euch bis auf drei Sitzungen vor allen anderen zu drücken. Ich kann ja akzeptieren, wenn Ihr euch bemüht und scheitert aber ich akzeptiere nicht, wenn Ihr euch aus Angst vor Fehlschlägen drückt.«
»Tue ich nicht«, fing Nynaeve beleidigt an, während eine kleine Stimme in ihr selbst fragte, warum sie die Wahrheit vor sich selbst verschleierte. Es war so entmutigend, es immer und immer wieder zu versuchen —und zu versagen.
Theodrin ließ sie nach diesen wenigen Worten nicht mehr zu Wort kommen. »Da Ihr heute ja wohl andere Verpflichtungen habt«, sagte sie ruhig, »werde ich Euch morgen sehen und jeden weiteren Tag danach, sonst sehe ich mich gezwungen, andere Maßnahmen zu ergreifen. Das will ich nicht, und Ihr wollt es bestimmt auch nicht, aber ich habe vor, Euren Block niederzubrechen. Myrelle hat mich darum gebeten, mir besondere Mühe damit zu geben, und ich schwöre, das werde ich.«
Das war ja nun fast ein Echo dessen, was sie Siuan gesagt hatte, und so klappte Nynaeves Kinnlade auch dementsprechend herunter. Es war das erste Mal, daß eine andere Frau ihr gegenüber die verstärkte Autorität ihrer Position geltend gemacht harte. Das sähe ihrem Glück am heutigen Tag ähnlich, falls sie und Siuan Seite an Seite bei Tiana anrücken mußten.
Theodrin wartete nicht auf eine Antwort. Sie nickte einfach, als sei Nynaeve einverstanden gewesen, und dann schritt sie die Straße hinauf. Nynaeve konnte fast eine gefranste Stola um ihre Schultern liegen sehen. Dieser Vormittag verlief aber absolut nicht gut. Und wieder Myrelle! Sie hätte am liebsten geschrien.
Drüben bei den Novizinnen warf ihr Elayne ein stolzes Lächeln zu, doch Nynaeve schüttelte lediglich den Kopf und wandte sich ab. Sie würde jetzt zurück in ihr Zimmer gehen. Es war so typisch für die Art, wie dieser Tag verlief, daß sie noch nicht einmal auf halbem Weg Dagdara Finchley begegnete, genauer gesagt, Dagdara prallte überrascht auf sie, und sie fiel platt auf den Rücken. Sie mußte ausgerechnet jetzt rennen! Eine Aes Sedai! Die grobschlächtige Frau blieb nicht einmal stehen und hatte es auch nicht nötig, wenigstens eine Entschuldigung nach hinten zu rufen, während sie weiter ihren Weg durch die Menge pflügte.
Nynaeve raffte sich hoch, klopfte sich den Staub von der Kleidung, stampfte wütend weiter bis zu ihrem Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Es war heiß hier und eng, die Betten waren nicht gemacht, weil sich Moghedien noch nicht darum kümmern konnte, und das Schlimmste überhaupt war dieses überwältigende Gefühl, daß jeden Moment ein furchtbarer Hagelsturm über Salidar hereinbrechen mochte. Aber hier würde sich wenigstens niemand an sie heranschleichen oder sie niedertrampeln.
So lag sie dann auf den zerknitterten Laken und spielte mit dem silbrigen Armreif. Ihre Gedanken schweiften von der Frage, was sie heute wohl an neuen Informationen aus Moghedien herausbekommen könne, bis Siuan und ob sie wie versprochen am Nachmittag auftauchte, von Lan bis zu ihrem geistigen Block und weiter, ob sie in Salidar bleiben werde. Es wäre ja eigentlich kein richtiges Weglaufen. Sie würde wahrscheinlich nach Caemlyn gehen, zu Rand, denn er brauchte unbedingt jemanden, der ihm den Kopf zurechtrückte, wenn er zu eingebildet wurde, und Elayne würde es außerdem auch gefallen. Irgendwie kam ihr die Abreise — kein Davonlaufen! — jetzt, nachdem sie Theodrins Absichten nun kannte, noch reizvoller vor.
Sie erwartete, in den durch den Adam strömenden Gefühlen etwas darüber erkennen zu können, ob Moghedien ihre Arbeit beendet habe, denn dann würde sie sich auf die Suche nach der Frau machen, die sich oft versteckte, wenn sie am Schmollen war, aber die übliche Scham und Empörung ließen nicht nach. So war sie völlig überrascht, als sich die Tür mit einem Knall öffnete.
»Also hier seid Ihr«, jammerte Moghedien. »Schaut her!« Sie hielt ihre Hände hoch. »Kaputt!« In Nynaeves Augen sahen sie nicht anders aus als alle Hände, nachdem man Wäsche gewaschen hatte: weiß und runzlig, sicher, aber das gab sich wieder. »Es reicht noch nicht, daß ich völlig verwahrlose, daß ich bedienen und schleppen muß wie eine Dienerin, nein, nun erwartet man auch noch von mir, wie eine primitive...!«
Nynaeve unterbrach ihren Redeschwall mit einem einfachen Heilmittel: Sie dachte an einen kurzen Schlag mit einem Lederriemen, was das für ein Gefühl war, und dann verschob sie den Gedanken in den Teil ihres Gehirns, in dem die von Moghedien her empfangenen Gefühle ihren Platz hatten. Die andere Frau riß die dunklen Augen auf, klappte augenblicklich den Mund zu und preßte die Lippen aufeinander. Kein harter Schlag, aber eine Mahnung.
»Schließt die Tür und setzt Euch«, sagte Nynaeve. »Ihr könnt die Betten später machen. Wir haben jetzt Unterricht.«
»Ich bin wirklich an Besseres gewöhnt«, grollte Moghedien, als sie dem Befehl nachkam. »Ein Nachtarbeiter in Tojar führte da ja noch ein besseres Leben!«
»Wenn ich mich nicht völlig verschätze«, sagte Nynaeve in scharfem Tonfall zu ihr, »dann stand bei einem Nachtarbeiter in wo-auch-immer kein Todesurteil im Raum. Wenn Ihr das wünscht, sagen wir gern Sheriam, wer Ihr wirklich seid.« Das war ein reiner Bluff — schon bei dem bloßen Gedanken an so etwas zog sich Nynaeve der Magen zu einem ätzenden Klumpen zusammen —, aber von Moghedien her ergoß sich eine beißende Flut von Angst durch den A'dam. Nynaeve bewunderte fast schon die Art und Weise, wie diese Frau ihre Miene beherrschte. Hätte sie das gleiche empfunden, würde sie sich vermutlich verzweifelt auf dem Boden wälzen und mit den Zähnen knirschen.
»Was wollt Ihr von mir gezeigt bekommen?« fragte Moghedien mit ausdrucksloser Stimme. Sie mußten ihr immer sagen, was sie genau von ihr wollten. Von allein bot sie ihnen praktisch niemals etwas an, außer sie übten einen derartigen Druck auf sie aus, daß Nynaeve es bereits als Vorstufe zur Folter betrachtete.
»Wir werden etwas versuchen, was Ihr uns bisher nur ungenügend beigebracht habt, nämlich festzustellen, wenn ein Mann die Macht benützt.« Das war bis jetzt das einzige gewesen, was sie und Elayne nicht so schnell zu erlernen in der Lage gewesen waren. Es könnte aber nützlich sein, falls sie sich entschloß, wirklich nach Caemlyn zu reisen.
»Nicht gerade einfach, vor allem, wenn kein Mann da ist, mit dem man üben kann. Wie schade, daß ihr nicht in der Lage wart, Logain zu heilen.« Es lag keinerlei Spott in Moghediens Worten, und auch ihre Miene blieb ernst, doch nach einem Blick in Nynaeves Richtung fuhr sie schnell fort: »Aber wir können es ja trotzdem wieder versuchen.«
Es war wirklich alles andere als einfach. Das war es wohl nie, selbst wenn Nynaeve etwas schnell lernte, sobald sie einmal die Stränge des Gewebes deutlich sah. Moghedien konnte die Macht nicht gebrauchen, solange Nynaeve es ihr nicht gestattete und sie auch nicht anleitete, denn das war über den A'dam notwendig. Aber bei einem neuen Unterrichtsstoff mußte sie Moghedien die Führung überlassen, da nur sie das entsprechende Muster kannte. Das war ziemlich verwickelt, und nur deshalb waren sie nicht in der Lage, jeden Tag ein Dutzend neuer Dinge vor ihr zu übernehmen. In diesem Fall hatte Nynaeve bereits eine schwache Ahnung davon, wie die Stränge verwoben werden mußten, aber es war eben doch ein kompliziertes Flechtwerk aus Strängen aller Fünf Mächte, gegen das eine Heilung noch einfach war. Und dann verschob sich das Muster auch noch mit enormer Geschwindigkeit. Moghedien behauptete, dieser Schwierigkeiten wegen sei diese Methode auch nicht gerade oft benützt worden. Wenn man sehr lange daran arbeitete, bekam man außerdem noch quälende Kopfschmerzen.
Nynaeve legte sich auf ihr Bett zurück und arbeitete trotzdem, so hart sie nur konnte. Falls sie zu Rand ging, würde sie das möglicherweise benötigen, und man konnte ja nie wissen, wie schnell das plötzlich ging. Sie lenkte auch alle Stränge diesmal selbst, denn ein gelegentlicher Gedanke an Lan oder Theodrin erneuerte ihren Zorn in ausreichendem Maße. Früher oder später würde man Moghedien für ihre Verbrechen zur Rechenschaft ziehen, und wo stünde Nynaeve dann, wenn sie sich immer nur darauf verließe, die Kraft der anderen zu beanspruchen, wann immer sie es für notwendig hielt? Sie mußte innerhalb ihrer eigenen Beschränkungen leben und arbeiten. Würde Theodrin wirklich eine Möglichkeit finden, ihren Block niederzubrechen? Lan mußte noch am Leben sein, damit sie ihn finden konnte. Aus dem schwachen Ziehen wurden nun bohrende Kopfschmerzen hinter ihren Schläfen. Die Fältchen um Moghediens Augen vertieften sich, und sie rieb sich einige Male die Schläfen, doch unterhalb der Angst übertrug das Armband auch ein Gefühl, das ihr beinahe wie Zufriedenheit vorkam. Nynaeve stellte sich vor, daß es eine gewisse Befriedigung darstellen müsse, wenn man jemandem etwas beibrachte, und sei es auch unwillig. Eigentlich gefiel es ihr überhaupt nicht, wenn Moghedien solche ganz normalen menschlichen Gefühle zeigte.
Sie wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war, in deren Verlauf Moghedien einige Male Worte wie ›fast‹ oder ›nicht ganz‹ gemurmelt hatte, doch als die Tür erneut aufgerissen wurde und gegen die Wand knallte, schoß sie erschrocken in die Höhe. Der plötzliche Schock, der von Moghedien aus durch den A'dam zu ihr herüberdrang, hätte eine andere Frau aufjaulend in eine Ecke fliehen lassen.
»Hast du gehört, Nynaeve?« fragte Elayne und schob die Tür mit dem Fuß zu. »Es ist eine Abgesandte der Burg eingetroffen, direkt von Elaida!«
Nynaeve vergaß vollkommen, was sie hatte schreien wollen. Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Selbst der Kopfschmerz war mit einemmal vergessen. »Eine Abgesandte? Bist du sicher?«
»Natürlich bin ich sicher, Nynaeve. Glaubst du, ich bin hergerannt, um zu tratschen? Das ganze Dorf ist in Aufruhr.«
»Ich weiß gar nicht, warum«, sagte Nynaeve mürrisch. Dieses Bohren in ihrem Kopf war wieder da. Und alle Magenmedizin auf einmal, die sie in ihrem Kräuterköfferchen hatte, hätte dieses Brennen in ihrem Magen nicht unterdrücken können. Würde dieses Mädchen niemals lernen, zuerst anzuklopfen? Moghedien hatte beide Hände auf den Magen gedrückt, als benötige sie ebenfalls Medikamente. »Wir haben ihnen ja gesagt, daß Elaida von Salidar wisse.«
»Vielleicht haben sie es uns geglaubt«, sagte Elayne und ließ sich auf den Fuß von Nynaeves Bett fallen, »und vielleicht auch nicht, aber jetzt wissen sie es genau. Elaida weiß, wo wir uns befinden und wahrscheinlich auch, was wir vorhaben. Jeder der Diener könnte zu ihren Augen und Ohren gehören. Vielleicht sogar ein paar der Schwestern. Ich habe einen Blick auf die Abgesandte erhaschen können, Nynaeve. Hellblondes Haar und blaue Augen, die selbst die Sonne zum Zufrieren bringen können. Eine Rote. Sie heißt Tarna Feir, hat Faolain gesagt. Einer der Behüter, die draußen wachten, hat sie hereingeleitet. Wenn sie dich anschaut, ist es, als betrachte sie einen Stein.«
Nynaeve sah Moghedien an. »Wir sind jetzt mit dem Unterricht fertig. Kommt in einer Stunde wieder, dann könnt Ihr die Betten machen.« Sie wartete, bis Moghedien mit aufeinandergepreßten Lippen und in den Rock verkrampften Händen weggegangen war, und wandte sich dann Elayne zu: »Welche ... Botschaft hat sie gebracht?«
»Das hätten sie mir gewiß nicht erzählt, Nynaeve. Jede Aes Sedai, an der ich vorbeikam, hat sich dasselbe gefragt. Ich hörte, wie Tarna lachte, als man ihr sagte, der Burgsaal werde sie empfangen. Es klang aber gar nicht amüsiert. Du glaubst doch wohl nicht...« Elayne kaute einen Augenblick lang auf ihrer Unterlippe herum. »Du glaubst doch nicht sie könnten sich wirklich dazu entschließen...«
»Zurückzugehen?« sagte Nynaeve ungläubig. »Elaida wird verlangen, daß sie die letzten zehn Meilen auf den Knien ankriechen und die letzte Meile auf den Bäuchen. Aber auch wenn nicht, falls diese Rote sagt: ›Kommt heim. Alles ist vergessen und vergeben und das Abendessen wartet auf Euch.‹ Glaubst du, sie könnten Logain so einfach abschieben?«
»Nynaeve, die Aes Sedai könnten alles abschieben, um die Weiße Burg wieder zusammenzufügen. Alles. Du verstehst sie immer noch nicht so gut wie ich. Es waren eben vom Tag meiner Geburt an immer Aes Sedai im Palast zugegen. Die Frage ist nur: Was teilt Tarna dem Saal mit? Und was antworten sie ihr?«
Nynaeve rieb gereizt über ihre Arme. Sie hatte keine Antworten auf diese Fragen, lediglich Hoffnung, und ihr Wettergefühl sagte ihr, der Hagelsturm, der nicht vorhanden war, trommle gerade jetzt mit großer Gewalt auf die Dächer Salidars hernieder. Und dieses Gefühl sollte auch die nächsten Tage anhalten.