46 Jenseits des Wegetors

Perrin hörte kaum zu, als Rand einer Tochter des Speers Anweisungen erteilte. »Sagt Sulin, sie soll Räume für Perrin und Faile vorbereiten und ihnen gehorchen, wie sie mir gehorchen würde.« Die beiden Aielfrauen faßten dies wohl als einen großartigen Scherz auf, denn sie lachten und schlugen sich auf die Oberschenkel. Perrin betrachtete einen schlanken Mann, der ein Stück den mit Wandteppichen versehenen Gang hinab stand. Er bezweifelte keinen Moment, daß dieser Mann Davram Bashere war. Nicht nur, daß er Saldaeaner war und Faile mit seinem von Grau durchsetzten und fast bis über den Mund reichenden Schnurrbart sicherlich überhaupt nicht ähnlich sah. Er war auch nicht größer als Faile, vielleicht sogar ein wenig kleiner, aber die Art, wie er dastand, mit gekreuzten Armen, das Gesicht einem Falken ähnlich, der in einen Hühnerhof hinabspäht, machte Perrin sicher. Der Mann wußte. Das war ebenfalls gewiß.

Perrin verabschiedete sich noch einmal von Rand, atmete tief durch und ging den Gang entlang. Er merkte, daß er sich seine Streitaxt herbeiwünschte. Bashere trug sein Schwert. »Lord Bashere?« Perrin verbeugte sich, was nicht erwidert wurde. Der Mann roch nach kalter Wut. »Ich bin Perrin Aybara.«

»Wir werden reden«, sagte Bashere knapp und wandte sich auf dem Absatz um. Perrin hatte keine andere Wahl, als ihm zu folgen und trotz seiner längeren Beine schneller auszuschreiten.

Nach zwei Biegungen betrat Bashere einen kleinen Wohnraum und schloß die Tür hinter ihnen. Hohe Fenster ließen viel Licht herein. Zwei gepolsterte Stühle mit Schneckenornamenten verzierten Lehnen standen einander gegenüber. Ein Silberkrug mit hohem Hals und zwei Silberbecher standen auf einem Tablett mit Einlegearbeiten. Es war diesmal kein gewürzter Wein. Es war, dem Geruch nach, starker Wein.

Bashere füllte die Becher und reichte Perrin einen davon. Er lächelte hinter seinem Schnurrbart, aber die kalten Augen und das Lächeln hätten zwei verschiedenen Männern gehören können. »Zarine hat dir vermutlich von meinen Ländereien erzählt, bevor du ... sie geheiratet hast. Alles über die Zerbrochene Krone. Sie war schon immer schwatzhaft wie ein Kind.«

Der Mann blieb stehen. Die Zerbrochene Krone? Faile hatte niemals irgendeine Zerbrochene Krone erwähnt. »Zunächst hat sie mir erzählt, Ihr wärt ein Fellhändler. Oder vielleicht war es zuerst ein Holzkaufmann und dann der Fellhändler. Und Ihr habt auch Pfefferschoten verkauft.« Bashere zuckte zusammen und wiederholte ungläubig: »Ein Fellhändler?« »Ihre Geschichte wandelte sich«, fuhr Perrin fort, »aber sie wiederholte einmal zu oft etwas, was Ihr über das Verhalten eines Feldherrn gesagt habt, so daß ich sie geradeheraus fragte...« Er spähte in seinen Weinbecher und zwang sich dann, den Blick des anderen Mannes zu erwidern. »Als ich herausfand, wer Ihr seid, hätte ich meine Meinung über unsere Heirat fast geändert, nur daß Faile bereits entschlossen war, und wenn Faile sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hat, kann man sie genauso wenig umstimmen wie eine Herde Maultiere, die alle auf einmal beschlossen haben, sich hinzusetzen. Außerdem liebe ich sie.«

»Faile?« bellte Bashere. »Wer, im Krater des Verderbens, ist Faile? Wir sprechen über meine Tochter Zarine und was du ihr angetan hast!«

»Sie hat den Namen Faile angenommen, als sie eine Jägerin des Horns wurde«, erklärte Perrin geduldig. Er mußte einen guten Eindruck auf diesen Mann machen. Mit seinem Schwiegervater im Streit zu liegen, war fast genauso schlimm, wie mit seiner Schwiegermutter im Streit zu liegen. »Das war, bevor sie mir begegnet ist.«

»Eine Jägerin?« Stolz schwang in der Stimme des Mannes mit, und dann grinste er plötzlich. Der Geruch der Wut schwand fast augenblicklich. »Die kleine Range hat mir niemals ein Wort davon erzählt. Ich muß sagen, Faile paßt besser zu ihr als Zarine. Das war die Idee ihrer Mutter, und ich...« Er schüttelte sich plötzlich und warf Perrin einen mißtrauischen Blick zu. Die Wut war erneut zu riechen. »Versuch nicht, das Thema zu wechseln, Junge. Wir reden über dich und meine Tochter und diese geplante Hochzeit.«

»Geplant?« Perrin war stets gut darin gewesen, sein Temperament zu zügeln. Herrin Luhhan hatte sogar behauptet, er hätte niemals eines besessen. Wenn man größer und stärker war als die anderen heranwachsenden Jungen und jedermann versehentlich verletzen konnte, lernte man, sein Temperament zu zügeln. Im Moment fiel es ihm jedoch nicht leicht. »Die Seherin hat die Zeremonie durchgeführt — genauso wie jedermann in den Zwei Flüssen seit Menschengedenken verheiratet wurde.«

»Junge, und wenn du die Worte von einem Ogier-Ältesten und sechs Aes Sedai als Zeugen sprechen lassen würdest — Zarine ist dennoch nicht alt genug, ohne die Erlaubnis ihrer Mutter zu heiraten, um die sie niemals gebeten und die sie noch viel weniger erhalten hat. Sie ist jetzt bei Deira, und wenn sie ihre Mutter nicht davon überzeugt, daß sie alt genug ist, verheiratet zu werden, kehrt sie zum Lager zurück und wird wahrscheinlich Pflichten für ihre Mutter erfüllen müssen. Und dich...« Bashere strich mit dem Finger über sein Schwertheft, obwohl er sich dessen nicht bewußt zu sein schien. »Dich«, sagte er in fast vergnügtem Tonfall, »werde ich töten lassen.«

»Faile gehört mir«, grollte Perrin. Wein schwappte über sein Handgelenk, und er betrachtete überrascht den Becher, den er in seiner Faust zerdrückt hatte. Er legte das verbogene Silber vorsichtig neben den Krug auf den Tisch, aber seine Stimme war ungezügelt. »Niemand kann sie mir nehmen. Niemand! Bringt Sie in Euer Lager zurück — oder sonstwohin! —, und ich werde sie zurückholen.«

»Ich habe neuntausend Männer bei mir«, sagte der andere Mann in überraschend sanftem Tonfall.

»Sind sie schwerer zu töten als Trollocs? Versucht sie mir zu nehmen — versucht es! —, und wir werden es herausfinden!« Perrin erkannte, daß er zitterte, die Hände so fest zu Fäusten geballt, daß sie schmerzten. Das erschreckte ihn. Er war schon so lange nicht mehr zornig, wirklich zornig, gewesen, daß er sich nicht mehr daran erinnern konnte, wie es war.

Bashere betrachtete ihn von oben bis unten und schüttelte dann den Kopf. »Vielleicht wäre es schade, dich zu töten. Wir brauchen frisches Blut. Es wird in diesem Hause allmählich dünn. Mein Großvater pflegte zu sagen, wir verweichlichten alle, und er hatte recht. Ich bin nur halbwegs von seinem Schlag, und auch wenn ich mich schämen muß, das zu sagen — Zarine ist schrecklich weich. Nicht schwach, keinesfalls...« Er runzelte die Stirn und nickte, als er erkannte, daß Perrin nicht behaupten wollte, Faile sei schwach, »...aber sie ist weich, was fast dasselbe ist.«

Perrin war derart erschüttert, daß er sich hinsetzte, bevor er merkte, daß er zu einem Stuhl getreten war. Er vergaß beinahe seinen Zorn. War dieser Mann verrückt, daß er so jäh das Thema wechselte? Und war Faile? Sie konnte manchmal entzückend weich sein, das stimmte, aber jeder Mann, der sie für weich hielt, würde wahrscheinlich geköpft werden. Er selbst eingeschlossen.

Bashere ergriff den zerdrückten Weinbecher, betrachtete ihn, legte ihn dann zurück und setzte sich auf den anderen Stuhl. »Zarine hat mir einiges über dich erzählt, bevor sie mit ihrer Mutter ging, alles über Lord Perrin von den Zwei Flüssen, Töter von Trollocs. Das ist eine gute Sache. Ich mag Männer, die einem Trolloc gegenübertreten können, ohne zurückzuweichen. Jetzt möchte ich wissen, was für ein Mann du bist.« Er wartete angespannt, während er seinen Wein trank.

Perrin wünschte, daß sein Becher unbeschädigt wäre. Seine Kehle war ausgetrocknet. Er wollte einen guten Eindruck erwecken, aber er mußte mit der Wahrheit beginnen. »Tatsache ist, daß ich kein vornehmer Herr bin. Ich bin ein Schmied. Seht Ihr, als die Trollocs kamen...« Er brach ab, weil Bashere so heftig lachte, daß ihm Tränen in den Augen standen.

»Junge, der Schöpfer hat die Häuser niemals erschaffen. Einige vergessen es gern, aber geh in der Geschichte jedes einzelnen Hauses ausreichend weit zurück, und du wirst einen einfachen Mann finden, der ungewohnten Mut gezeigt oder kühlen Kopf bewahrt und angegriffen hat, wenn alle anderen wie gerupfte Gänse kopflos umherliefen. Und eine andere Tatsache, die viele gern vergessen, ist, daß der Abstieg genauso schnell erfolgen kann wie der Aufstieg. In Tyr gibt es zwei unverheiratete Frauen, die Ladies wären, wenn ihre Vorfahren vor zweihundert Jahren nicht Toren gewesen wären, denen nicht einmal ein Narr gefolgt wäre. Und es gibt in Sidona einen Holzfäller, der behauptet, seine Vorfahren seien vor Artur Falkenflügel Könige und Königinnen gewesen. Vielleicht sagt er die Wahrheit. Er ist ein guter Holzfäller. Es führen genauso viele Wege nach unten wie nach oben, und die hinabführenden Wege sind genauso glatt wie die anderen.« Bashere schnaubte so heftig, daß sein Schnurrbart zitterte. »Ein Narr stöhnt, wenn das Schicksal ihn niederwirft, und nur ein wahrer Narr stöhnt, wenn das Schicksal ihn erhebt. Ich will von dir wissen, was du warst, aber auch, wie du innerlich bist. Wenn meine Frau Zarine unversehrt läßt und ich dich nicht töten lasse... Weißt du, wie man eine Frau behandelt? Wie man sie gut behandelt?«

Da Perrin sich der Tatsache bewußt war, einen guten Eindruck erwecken zu müssen, beschloß er, nicht zu erwähnen, daß er viel lieber wieder ein Schmied wäre. »Ich behandle Faile so gut ich es vermag«, sagte er vorsichtig.

Bashere schnaubte erneut. »So gut du es vermagst!« Seine Stimme wurde zu einem Grollen. »Du solltest es lieber ausreichend gut können, Junge, oder ich werde... Du hast meine Worte gehört. Eine Frau ist kein Soldat, der läuft, wenn du brüllst. Eine Frau ist in gewisser Weise wie eine Taube. Du hältst sie halb so fest, wie du es für nötig hältst, um sie nicht zu verletzen. Du willst Zarine nicht verletzen. Hast du mich verstanden?« Er grinste plötzlich beunruhigt, und seine Stimme wurde fast freundlich. »Du bist vielleicht ein sehr guter Schwiegersohn, Aybara, aber wenn du sie unglücklich machst...«

»Ich werde alles tun, um sie glücklich zu machen«, sagte Perrin ernst. »Ich will sie keinesfalls unterdrücken.«

»Gut. Denn es wäre das letzte, was du tun würdest, Junge.« Auch das wurde mit einem Grinsen geäußert, aber Perrin bezweifelte nicht, daß Bashere jedes Wort ernst meinte. »Ich denke, es ist an der Zeit, dich zu Deira zu bringen. Wenn sie und Zarine ihre Unterhaltung inzwischen noch nicht beendet haben, schreiten wir besser ein, bevor eine von ihnen die andere tötet. Sie haben sich bei Streitigkeiten schon immer ein wenig vergessen, und Zarine ist inzwischen zu groß, als daß Deira die Auseinandersetzung noch mit einer Ohrfeige beenden könnte.« Bashere stellte seinen Becher auf den Tisch und sprach weiter, während sie zur Tür gingen.

»Einer Sache mußt du dir bewußt sein: Nur weil eine Frau sagt, daß sie etwas glaubt muß es noch nicht stimmen. Oh, sie wird es glauben, aber etwas muß nicht unbedingt stimmen, nur weil eine Frau es für wahr hält. Erinnere dich daran.«

»Das werde ich.« Perrin glaubte zu verstehen, was der Mann meinte. Manchmal war sich Faile der Wahrheit nur vorübergehend bewußt. Es ging niemals um etwas Wichtiges, aber wenn sie etwas zu tun versprach, was sie nicht tun wollte, schaffte sie es stets, sich ein Hintertürchen offenzulassen, um ihr Versprechen umgehen zu können, ließ das Versprechen sozusagen bestehen, während sie genau das tat, was sie wollte. Aber er verstand nicht, was das mit Failes Mutter zu tun haben sollte.

Es war ein langer Weg durch den Palast, Säulengänge entlang und Treppen hinauf und hinunter. Es waren nicht viele Saldaeaner zu sehen, aber viele Aielmänner und Töchter des Speers, ganz zu schweigen von rotweiß livrierten Dienern, die sich verbeugten oder Knickse vollführten, und weißgewandeten Männern und Frauen wie jene, welche die Pferde übernommen hatten. Sie eilten mit Tabletts oder Armen voller Handtücher umher, die Augen gesenkt, und schienen niemanden zu bemerken, Perrin erkannte bestürzt, daß einige von ihnen dasselbe scharlachrote Stoffband um die Stirn gebunden hatten, das viele Aielmänner trugen. Sie mußten also auch Aiel sein. Und er bemerkte noch eine Kleinigkeit. Genauso viele Frauen wie Männer in weißen Gewändern trugen das Stirnband, und auch Männer in den graubraunen Umhängen und Hosen, aber keine Töchter des Speers. Gaul hatte ihm ein wenig über die Aiel erzählt, aber die Stirnbänder hatte er nie erwähnt.

Als er und Bashere einen Vorraum mit reichverzierten Stühlen und kleinen Tischen auf einem rot und gold und grün gemusterten Teppich betraten, fingen Perrins Ohren den gedämpften Klang von Frauenstimmen auf. Er konnte die Worte durch die dicke Tür nicht verstehen, aber zweifellos war eine der Frauen Faile. Plötzlich dröhnte ein Schlag, gefolgt von einem weiteren, und er zuckte zusammen. Nur ein vollkommener Wollkopf stellte sich zwischen seine Frau und deren Mutter, wenn sie miteinander stritten — nach seinen bisherigen Erfahrungen gingen sie beide auf den armen Tor los, der zu vermitteln versuchte, und er wußte sehr wohl, daß Faile sich unter normalen Umständen behaupten konnte. Aber andererseits hatte er auch schon starke Frauen erlebt, selbst Mütter und sogar Großmütter, die sich von ihren eigenen Müttern wie Kinder behandeln ließen.

Er straffte die Schultern und schritt auf die innere Tür zu, aber Bashere war vor ihm da und klopfte seelenruhig an die Tür, als hätten sie alle Zeit der Welt. Bashere konnte natürlich nicht hören, was für Perrin wie zwei Katzen in einem Sack klang. Nasse Katzen.

Basheres Klopfen unterbrach den Streit jäh. »Herein«, rief eine gelassene Stimme.

Perrin mußte sich beherrschen, um sich nicht an Bashere vorbeizudrängen, und als er den Raum betrat, suchte sein Blick hastig Faile, die in einem breiten Sessel saß, den das Licht von den Fenstern weniger erhellte. Der Teppich war überwiegend von einem dunklen Rot, das Perrin an Blut denken ließ, und einer der kleinen Wandbehänge zeigte eine Frau auf einem Pferd, die mit dem Speer einen Leoparden tötete. Ein zweiter Wandbehang zeigte einen heftigen Kampf, der um ein Weißes Löwenbanner herum tobte. Faile roch nach einer Mischung aus Empfindungen, die er nicht entwirren konnte, und ihre linke Wange zeigte einen roten Handabdruck, aber sie lächelte ihm zu, wenn auch schwach.

Beim Anblick von Failes Mutter mußte Perrin blinzeln. Nach Basheres Bemerkung über die Tauben hatte er eine zarte Frau erwartet, aber Lady Deira war deutlich größer als ihr Mann und wirkte ... statuenhaft. Sie wirkte nicht so wuchtig wie Herrin Luhhan, die rundlich war, oder wie Daise Congar, von der man glauben könnte, sie würde einem. Schmied den Hammer aus der Hand nehmen. Sie war kräftig gebaut, was ein Mann bei seiner Schwiegermutter sicher nicht erwartete, und er konnte erkennen, von wem Faile ihre Schönheit geerbt hatte. Failes Gesicht war das Abbild des Gesichts ihrer Mutter, aber ohne den Streifen Weiß im dunklen Schläfenhaar. Wenn Faile so aussah, wenn sie älter würde, durfte er sich sehr glücklich schätzen. Andererseits verlieh die kühne Nase Lady Deira das Aussehen eines Adlers, als sich jene dunklen, schrägstehenden Augen auf Perrin hefteten — ein glutäugiger Adler, der seine Krallen tief in einen besonders unverschämten Hasen versenken wollte. Sie roch nach Zorn und Verachtung. Die wahre Überraschung war jedoch der dunkelrote Handabdruck auf ihrer Wange.

»Vater, wir haben gerade von dir gesprochen«, sagte Faile mit liebevollem Lächeln, während sie zu ihm trat und seine Hände nahm. Sie küßte seine Wangen, und Perrin ärgerte sich plötzlich. Ein Vater verdiente das nicht, wenn der Ehemann dabei war und nur mit einem kurzen Lächeln abgespeist wurde.

»Sollte ich davonreiten und mich verstecken, Zarine?« fragte Bashere leise lachend. Oh, es war ein sehr herzliches Lachen. Der Mann schien nicht einmal zu sehen, daß seine Frau und seine Tochter einander geschlagen hatten!

»Sie wird lieber Faile genannt, Davram«, sagte Lady Deira verächtlich. Die Arme unter ihrem stattlichen Busen verschränkt, begutachtete sie Perrin von Kopf bis Fuß, ohne sich die Mühe zu machen, es zu verbergen.

Er hörte Faile ihrem Vater zuflüstern: »Es hängt jetzt von ihm ab.«

Das hatte Perrin bereits vermutet, da sie und ihre Mutter sich geschlagen hatten. Er straffte die Schultern und bereitete sich darauf vor, Lady Deira zu erklären, er werde Faile so liebevoll wie ein Kätzchen behandeln und selbst so sanft wie ein Lamm sein. Letzteres wäre natürlich eine Lüge — Faile würde einen sanften Mann anspeien und zum Abendessen rösten —, aber der Frieden mußte gewahrt werden. Außerdem wollte er wirklich versuchen, liebevoll mit ihr umzugehen. Vielleicht war Lady Deira der Grund, weshalb Bashere über Sanftheit gesprochen hatte. Niemand hätte den Mut, diese Frau anders zu behandeln.

Bevor er jedoch den Mund öffnen konnte, ergriff Failes Mutter das Wort: »Gelbe Augen machen noch keinen Wolf aus. Bist du stark genug für meine Tochter, junger Mann? Nach dem, was sie mir erzählt, bist du ein Weichling, der ihr jede Laune nachsieht und sich von ihr um den Finger wickeln läßt, wann immer sie das Fingerfadenspiel spielen will.«

Perrin sah sie an. Bashere hatte den Platz eingenommen, auf dem Faile gesessen hatte, und betrachtete selbstzufrieden seine Stiefel, deren einer auf die Spitze des anderen aufgesetzt war. Faile, die auf der breiten Armlehne des Sessels ihres Vaters saß, sah ihre Mutter ungehalten die Stirn runzelnd an und blickte dann mit all der Zuversicht zu Perrin, die sie auch gezeigt hatte, als sie ihm gesagt hatte, er solle zu Rand stehen.

»Ich glaube nicht, daß sie mich um den Finger wickelt«, bemerkte er vorsichtig. Sie versuchte es zwar, aber er glaubte nicht, daß er es jemals zugelassen hatte. Außer hin und wieder, um ihr eine Freude zu machen.

Lady Deiras Schnauben sprach Bände. »Schwächlinge glauben das nie. Eine Frau will einen Mann, der stärker ist als sie.« Sie stieß ihm mit dem Finger so fest vor die Brust, daß er stöhnte. »Ich werde niemals vergessen, wie Davram mich das erste Mal am Genick packte und mir zeigte, daß er der Stärkere von uns beiden war. Es war großartig!« Perrin blinzelte. Das war für ihn ein unvorstellbares Bild. »Wenn eine Frau stärker ist als ihr Mann, wird sie ihn irgendwann verachten. Sie hat die Wahl, ihm entweder auf der Nase herumzutanzen oder sich selbst zu erniedrigen, um ihn nicht zu erniedrigen. Ist der Mann jedoch stark genug...« Sie stieß ihn erneut mit dem Finger an, diesmal sogar noch fester. »...darf sie so stark sein, wie sie ist, so stark, wie sie werden kann. Du wirst Faile beweisen müssen, daß du stark bist.« Ein weiterer Stoß, noch ein wenig fester. »Die Frauen in meiner Familie sind Leoparden. Wenn du ihnen nicht beibringen kannst, auf deinen Befehl zu jagen, wird Faile dich so biegen, wie du es verdienst. Bist du ausreichend stark?« Dieses Mal drängte ihr Finger Perrin einen Schritt zurück.

»Wollt Ihr wohl damit aufhören?« grollte er. Er versagte es sich, über seine Brust zu reiben. Faile half ihm nicht, sondern lächelte ihm nur ermutigend zu. Bashere beobachtete ihn mit geschürzten Lippen und einer hochgezogenen Augenbraue. »Wenn ich ihr manchmal etwas nachsehe, dann nur, weil ich es will. Ich sehe sie gerne lächeln. Wenn Ihr von mir erwartet, daß ich sie mit Füßen trete, könnt Ihr es vergessen.« Vielleicht hatte er mit diesen Worten verloren. Failes Mutter sah ihn auf höchst eigenartige Weise an, und sie roch nach einer Mischung, die er nicht bestimmen konnte, obwohl noch immer Zorn dabei war und auch eiskalte Verachtung. Aber ob er nun einen guten Eindruck machte oder nicht — er würde nicht mehr versuchen, das zu sagen, was Bashere und seine Frau hören wollten. »Ich liebe sie, und sie liebt mich, und das ist, soweit es mich betrifft, alles.«

»Er sagte«, berichtete Bashere langsam, »daß er unsere Tochter zurückholen wird, wenn du sie fortbringst. Er scheint zu glauben, daß neuntausend saldaeanische Reiter wenigen hundert Bogenschützen von den Zwei Flüssen nicht standhalten können.«

Seine Frau sah Perrin nachdenklich an, riß sich dann sichtbar zusammen und reckte den Kopf empor. »Das ist alles schön und gut, aber jeder Mann kann ein Schwert führen. Ich will wissen, ob er sie zähmen kann, diese eigenwillige, sture, ungehorsame... «

»Genug, Deira«, unterbrach Bashere sie sanft. »Da du offensichtlich beschlossen hast, daß unsere Tochter kein Kind mehr ist, denke ich, daß Perrin für sie genügen wird.«

Zu Perrins Überraschung beugte Basheres Frau sanftmütig den Kopf. »Wie du willst, mein Herz.« Dann sah sie Perrin wenig sanftmütig an, als wollte sie sagen, daß ein Mann seine Frau genau so behandeln sollte.

Bashere murmelte leise etwas über Enkelkinder und die neuerliche Stärkung des Blutes. Und Faile? Sie lächelte Perrin mit einem Ausdruck zu, den er niemals zuvor auf ihrem Gesicht gesehen hatte, ein Ausdruck, bei dem er sich entschieden unbehaglich fühlte. Mit den gefalteten Händen, den verschränkten Fußknöcheln und dem zu einer Seite geneigten Kopf gelang es ihr irgendwie ... unterwürfig auszusehen, Faile! Vielleicht hatte er in eine Familie eingeheiratet, in der alle verrückt waren.

Rand schloß die Tür hinter Perrin, trank seinen Becher gewürzten Wein leer und ließ sich dann nachdenklich in einen Sessel sinken. Er hoffte, daß Perrin mit Bashere gut zurechtkam. Aber andererseits wäre Perrin Tear vielleicht zugeneigter, wenn sie sich stritten. Er brauchte entweder Perrin oder Mat in Tear, um Sammael davon zu überzeugen, daß dies der wahre Angriff war. Der Gedanke ließ ihn leise und verbittert lachen. Licht, welch eine Art, über einen Freund zu denken. Lews Therin kicherte und murmelte etwas Undeutliches über Freunde und Verrat. Rand wünschte sich, er könnte ein Jahr lang schlafen.

Min trat ein, natürlich ohne anzuklopfen. Die Töchter des Speers beobachteten sie manchmal auf eigentümliche Art, aber was auch immer Sulin oder vielleicht auch Melaine gesagt hatten — Min war eine derjenigen, die ungeachtet dessen, was auch immer er gerade tat, am häufigsten hereingeschickt wurden. Aber sie zog auch ihren Vorteil daraus. Sie hatte sogar schon einmal darauf bestanden, sich einen Stuhl neben seine Badewanne zu stellen und dort mit ihm zu reden, als sei daran überhaupt nichts Ungewöhnliches. Jetzt hielt sie nur kurz inne, um sich einen Becher gewürzten Wein einzugießen, und setzte sich dann schwungvoll auf seinen Schoß. Ein leichter Schweißfilm glänzte auf ihrem Gesicht. Es war ihr gleichgültig, wie man die Hitze unbeachtet ließ, sie lachte nur und sagte, sie sei keine Aes Sedai und habe auch nicht vor, eine zu werden. Er war bei diesen Besuchen anscheinend zu ihrem Lieblingssessel geworden, aber er war sich sicher, daß sie ihr Spiel früher oder später aufgeben würde, wenn er einfach vorgab, es nicht zu bemerken. Darum hatte er sich auch so gut wie möglich in seinem Badewasser verborgen, anstatt sie mit Luft zu verblenden. Wenn sie erst wußte, daß sie ihn berührte, würde sie niemals mit diesem Schabernack aufhören. Außerdem fühlte es sich gut an, ein Mädchen auf den Knien zu haben, so sehr er sich auch schämte, das Min gegenüber zuzugeben. Er war nicht aus Holz gemacht.

»Hattest du ein erfreuliches Gespräch mit Faile?« erkundigte sich Rand.

»Es hat nicht lange gedauert. Ihr Vater kam sie holen, und sie war zu stark damit beschäftigt, ihm die Arme um den Hals zu werfen, um mich noch zu bemerken. Anschließend bin ich ein wenig spazierengegangen.«

»Du magst sie nicht?« fragte Rand, und Mins Augen weiteten sich, wobei die langen Wimpern sie noch größer scheinen ließen. Frauen erwarteten nie, daß ein Mann etwas erkannte oder verstand, daß er nicht erkennen oder verstehen sollte.

»Es ist nicht so, daß ich sie nicht mag«, sagte sie zögernd. »Es ist nur so... Nun, sie will, was sie will, wenn sie es will, und sie akzeptiert kein Nein. Der arme Perrin tut mir leid, weil er mit ihr verheiratet ist. Weißt du, was sie von mir wollte? Sie wollte sich versichern, daß ich kein Auge auf ihren kostbaren Mann geworfen habe. Du hast es vielleicht nicht bemerkt... Männer sehen solche Dinge nie...« Sie brach ab und schaute durch lange Wimpern mißtrauisch zu ihm hoch. Er hatte bewiesen, daß er immerhin doch einiges bemerkte. Als sie zufrieden feststellte, daß er nicht lachen würde, fuhr sie fort. »Ich konnte auf den ersten Blick erkennen, daß er in sie vernarrt ist, der arme Tor. Und sie in ihn, was auch immer ihm das nützen wird. Ich glaube nicht, daß er eine andere Frau auch nur ein zweites Mal ansehen würde, aber sie glaubt es, zumal wenn die andere Frau den ersten Blick riskiert. Er hat seinen Falken gefunden, und ich wäre nicht überrascht, wenn sie ihn töten würde, wenn der Jagdfalke durchbricht.« Sie hielt inne, schaute erneut zu ihm hoch und trank dann von ihrem gewürzten Wein.

Sie würde ihm sagen, was sie meinte, wenn er sie danach fragte. Er erinnerte sich, daß sie nichts von ihren Visionen erzählte, wenn sie ihn nicht betrafen, aber wenn es so war, hatte sie sich aus irgendeinem Grund geändert. Sie würde jedermann prüfen, wenn er sie jetzt darum bäte, und ihm alles sagen, was sie sah. Aber sie fühlte sich unbehaglich dabei.

Halt den Mund! schrie er Lews Therin an. Geh weg! Du bist tot! Es wirkte nicht. Das war jetzt häufig der Fall. Diese Stimme murmelte weiter, vielleicht darüber, von Freunden verraten zu werden, vielleicht darüber, sie selbst zu verraten.

»Hast du irgend etwas gesehen, was mich betrifft?« fragte er.

Min lehnte sich mit einem dankbaren Lächeln bequem an seine Brust — nun, wahrscheinlich wollte sie es sich bequem machen, aber andererseits auch wieder nicht — und begann zwischen Schlucken gewürztem Wein zu sprechen. »Als ihr beide zusammen wart, sah ich jene Glühwürmchen und eine dichtere Dunkelheit denn je. Hm, ich mag gewürzten Melonenwein. Aber als ihr beide im gleichen Raum wart, hielten sich die Glühwürmchen für sich, anstatt schneller gefressen zu werden, als sie ausschwärmen konnten, so wie sie es auch tun, wenn du allein bist. Und ich sah noch etwas, als ihr zusammen wart. Er wird zweimal dort sein müssen, oder du...« Sie schaute in ihren Becher, so daß er ihr Gesicht nicht sehen konnte. »Wenn nicht, wird dir etwas Schlimmes zustoßen.« Ihre Stimme klang verzagt und verängstigt. »Etwas sehr Schlimmes.«

So gern er auch mehr erfahren hätte — zum Beispiel über das Wann und Wo und Wie —, sie hätte es ihm bereits gesagt, wenn sie es gewußt hätte. »Dann werde ich ihn einfach in der Nähe behalten müssen«, sagte er so heiter wie möglich. Er mochte es nicht, wenn Min verängstigt war.

»Ich glaube nicht, daß das genügen wird«, murmelte sie in ihren Becher. »Es wird geschehen, wenn er nicht da ist, aber nichts, was ich gesehen habe, besagt, daß es nicht geschehen wird, weil er da ist. Es wird sehr schlimm werden, Rand. Allein an diese Vision zu denken, macht mich...«

Er hob ihr Gesicht an und war überrascht, Tränen in ihren Augen zu sehen. »Min, ich wußte nicht, daß diese Visionen dich verletzen können«, sagte er sanft. »Es tut mir leid.«

»Du weißt gar nichts, Schafhirte.« Murrend zog sie ein spitzenbesetztes Taschentuch aus dem Ärmel und tupfte sich die Augen ab. »Es war nur Staub. Du läßt Sulin hier drinnen nicht oft genug staubwischen.« Das Taschentuch wurde schwungvoll wieder eingesteckt. »Ich sollte zur Rosenkrone zurückgehen. Ich mußte dir einfach sagen, was ich über Perrin gesehen habe.«

»Min, sei vorsichtig. Vielleicht solltest du nicht so oft kommen. Ich glaube nicht, daß Merana gut auf dich zu sprechen wäre, wenn sie entdeckt, was du tust.«

Sie lächelte wieder wie früher, und ihr Blick wirkte belustigt, auch wenn die Augen noch immer vor Tränen glänzten. »Überlaß sie mir, Schafhirte. Sie denken, daß mich der Anblick Caemlyns wie jeden anderen Dummkopf vom Lande überwältigt. Wenn ich nicht jeden Tag käme — wüßtest du dann, daß sie sich mit den Adligen treffen?« Sie hatte das gestern auf ihrem Weg zum Palast zufällig beobachtet. Merana war einen Moment an einem Fenster eines Palastes erschienen, der Lord Pelivar gehörte. Es bestand ebenso die Möglichkeit, daß Pelivar und seine Gäste die einzigen waren, wie auch die Möglichkeit, daß Merana dorthin gegangen war, um Pelivar zu helfen.

»Sei vorsichtig«, beharrte er. »Ich will nicht, daß du verletzt wirst, Min.«

Sie betrachtete ihn einen Moment schweigend und richtete sich dann ausreichend weit auf, um ihn leicht auf die Lippen zu küssen. Zumindest... Nun, es war wirklich nur ein leichter Kuß, aber dies war ein tägliches Ritual, wenn sie ging, und er hatte das Gefühl, daß diese Küsse jeden Tag etwas weniger leicht wurden.

»Ich wünschte, du würdest das nicht tun.« Sie auf seinen Knien sitzen zu lassen, war eine Sache, aber Küsse trieben den Scherz zu weit.

»Keine Tränen mehr, Bauernjunge«, sagte sie lächelnd. »Kein Gestammel.« Sie zauste ihm das Haar, als wäre er ein zehnjähriger Junge, und ging dann zur Tür, aber sie bewegte sich auf anmutig schwingende Art, die vielleicht keine Tränen und Gestammel bewirken würde, ihn aber sicherlich dazu brachte, sie anzusehen, wie sehr er sich auch dagegen wehrte. Sein Blick zuckte zu ihrem Gesicht, als sie sich umwandte. »Deine Wangen sind gerötet, Schafhirte. Ich dachte, die Hitze könnte dir nichts mehr anhaben. Aber mach dir nichts draus. Ich wollte dir nur noch sagen, daß ich vorsichtig sein werde. Ich sehe dich morgen. Denk daran, frische Socken anzuziehen.«

Rand atmete tief aus, nachdem sich die Tür fest hinter ihr geschlossen hatte. Frische Socken? Er zog jeden Tag welche an! Es gab nur zwei Möglichkeiten. Er konnte weiterhin so tun, als hätte sie keinerlei Wirkung auf ihn, bis sie aufgab, oder er konnte sich dem Gestammel hingeben. Oder vielleicht dem Bitten. Sie würde vielleicht aufhören, wenn er sie darum bat, aber dann konnte sie ihn damit necken, und Min neckte gerne. Die einzige andere Möglichkeit — ihre gemeinsame Zeit zu beschränken und sich kalt und abweisend zu verhalten — stand außer Frage. Sie war eine Freundin. Er könnte sich genauso gut kalt verhalten gegenüber... Aviendha und Elayne kamen ihm in den Sinn, aber das paßte nicht. Gegenüber Mat oder Perrin. Das einzige, was er nicht verstand, war, warum er sich in ihrer Nähe immer noch so behaglich fühlte. Es hätte nicht so sein sollen, da sie ihn auf diese Art verspottete, aber er tat es.

Lews Therins Gefasel war von dem Moment an, in dem die Aes Sedai erwähnt wurden, lauter geworden, und jetzt sagte er ganz deutlich: Wenn sie mit den Adligen zusammen Pläne schmieden, muß ich etwas

gegen sie unternehmen.

Geh weg, befahl Rand ihm.

Neun sind zu gefährlich, selbst wenn sie nicht ausgebildet sind. Zu gefährlich. Kann sie nicht gewähren lassen. Nein. O nein.

Geh weg, Lews Therin!

Ich bin nicht tot! heulte die Stimme. Ich verdiene den Tod, aber ich lebe! Ich lebe! Ich lebe!

Du bist tot! schrie Rand in seinem Kopf zurück. Du bist tot, Lews Therin!

Die Stimme verklang, und das heulend ausgestoßene Ich lebe! verblaßte.

Rand stand zitternd auf, füllte seinen leeren Becher und trank den gewürzten Wein in einem Zug aus. Schweiß tropfte von seinem Gesicht, und sein Hemd klebte an ihm. Es kostete ihn Mühe, sich wieder zu konzentrieren. Lews Therin wurde beharrlicher. Eines war sicher: Wenn Merana mit den Adligen Ränke schmiedete, besonders mit den Adligen, die zum Aufstand bereit waren, und wenn er Elayne nicht bald heranschaffte, um sie zufriedenzustellen, dann mußte er etwas unternehmen. Leider hatte er keine Ahnung, was dies sein könnte.

Ich töte sie, flüsterte Lews Therin. Neun sind zu gefährlich, aber wenn ich einige töte, wenn ich sie verjage ... sie töte ... sie dazu bringe, mich zu fürchten... Ich will nicht wieder sterben... Ich verdiene den Tod, aber ich will leben... Er begann zu weinen, aber das leise Flüstern erklang weiterhin.

Rand füllte seinen Becher erneut und versuchte, nicht zuzuhören.

Als das Origan-Tor in die Innere Stadt in Sicht kam, verlangsamte Demira Eriff ihr Tempo. Einige Männer auf der bevölkerten Straße betrachteten sie bewundernd, während sie sich an ihr vorbeidrängten, und sie merkte sich ungefähr zum tausendsten Mal im Geiste vor, daß sie aufhören sollte, die freizügigen Gewänder ihrer Heimat Arad Doman zu tragen, vergaß es aber auch zum tausendsten Mal sofort wieder. Kleidung war wohl kaum wichtig — sie ließ sich seit Jahren dieselben sechs Gewänder nachfertigen —, und wenn ein Mann, der sie nicht als Aes Sedai erkannte, unverschämt wurde, war es nicht schwer, ihm deutlich zu machen, wem gegenüber er sich unverschämt verhielt. Das schaffte ihr die Männer zumeist schnell vom Hals, normalerweise so schnell sie laufen konnten.

Im Moment interessierte sie nur das Origan-Tor, ein großer weißer Marmorbogen in der schimmernden weißen Mauer, und der Strom der Menschen, Karren und Wagen, die unter den Augen von einem Dutzend Aielmännern hindurchgelangten und die Demira für nicht so abgelenkt hielt, wie sie auf den ersten Blick schienen. Sie erkannten eine Aes Sedai vielleicht, wenn sie eine sahen. Erstaunliche Menschen taten dies zuweilen. Außerdem war sie seit der Rosenkrone verfolgt worden. Jene Umhänge und Hosen, die mit Felsen und Büschen verschmelzen konnten, fielen auf einer belebten Straße auf. Selbst dann hätte sie nicht die Innere Stadt betreten und Meranas Zorn riskiert, indem sie die Stadt betreten hätte, ohne zuerst um al'Thors Erlaubnis zu bitten, wenn sie es gewollt hätte. Wie sehr es sie verbitterte, daß eine Aes Sedai die Erlaubnis eines Mannes erbitten mußte. Sie wollte nur kurz einen gewissen Milam Harnder sehen, den Zweiten Bibliothekar der Bibliothek im Königlichen Palast und seit fast dreißig Jahren ihr Vermittler.

Die Bibliothek im hiesigen Palast konnte sich sicher nicht mit derjenigen in der Weißen Burg oder mit der Königlichen Bibliothek in Cairhien oder der Terhana-Bibliothek in Bandar Eban messen, aber der Wunsch, fliegen zu können, war genauso unsinnig wie der Wunsch, zu einer von diesen Einlaß zu bekommen. Dennoch — wenn ihre Nachricht Milam erreicht hatte, würde er nach den Büchern suchen, die sie haben wollte. Die Palast-Bibliothek konnte sehr wohl Hinweise über die Siegel am Gefängnis des Dunklen Königs enthalten und vielleicht sogar Quellen auflisten, obwohl das vielleicht eine zu große Hoffnung war. In den meisten Bibliotheken fanden sich in den Ecken herumliegende Bände, die schon vor langer Zeit hätten katalogisiert werden sollen, aber irgendwie hundert oder fünfhundert oder noch mehr Jahre lang unbeachtet geblieben waren. Die meisten Bibliotheken enthielten Schätze, die sogar die Bibliothekare selbst nicht dort vermuteten.

Sie wartete geduldig, ließ die Menge an sich vorüberfließen und achtete nur auf die Menschen, die aus dem Tor herauskamen, aber sie sah Milams kahlen Kopf und rundes Gesicht nicht Schließlich seufzte sie. Er hatte ihre Nachricht offensichtlich nicht erhalten. Andernfalls hätte er jede nur mögliche Ausrede benutzt, die notwendig gewesen wäre, um zur angegebenen Zeit hier zu sein. Sie würde jetzt warten müssen, bis sie Merana zum Palast begleiten konnte, und hoffen müssen, daß der junge al'Thor ihr die Erlaubnis gewährte — wieder die Erlaubnis! —, selbst in der Bibliothek zu suchen.

Als sie sich vom Tor abwandte, begegnete ihr Blick zufällig dem eines großen Burschen mit hagerem Gesicht, der die Weste eines Fuhrmannes trug und sie viel zu bewundernd ansah. Er blinzelte sogar, als sich ihre Blicke begegneten!

Sie würde sich das nicht den ganzen Weg zum Gasthaus zurück gefallen lassen. Ich muß wirklich daran denken, mir einige einfache Gewänder anfertigen zu lassen, grübelte sie und fragte sich, warum sie es nicht längst getan hatte. Glücklicherweise war sie vor einigen Jahren schon einmal in Caemlyn gewesen. Stevan würde in der Rosenkrone warten, ein Führer, dessen Dienste sie in Anspruch nehmen konnte, wenn es soweit war. Sie glitt in die schmale, schartige Gasse zwischen dem Geschäft eines Scherenschleifers und einer Schenke.

Die engen Straßen von Caemlyn waren bei ihrem letzten Besuch schlammig gewesen, aber selbst jetzt, da sie trocken waren, wurde der Geruch immer unerträglicher, je tiefer sie in das Gewirr eindrang. Die fensterlosen Mauern wirkten abweisend, und nur selten gab es eine schmale Tür, die schon lange nicht mehr geöffnet worden zu sein schien. Magere Katzen beobachteten sie von Fässern und Hinterhofmauern, und streunende Hunde mit hervorstehenden Rippen legten die Ohren an und knurrten manchmal, bevor sie einen Querlauf hinabschlichen, wie Gassen hier genannt wurden. Sie hatte keine Angst gekratzt oder gebissen zu werden. Katzen schienen die Aura der Aes Sedai zu spüren. Sie hatte noch nie gehört, daß eine Aes Sedai auch von der wildesten Katze nur gekratzt worden wäre. Hunde waren ihnen feindlich gesinnt, das stimmte, fast als glaubten sie, sie seien Katzen, aber Hunde schlichen fast immer davon, nachdem sie sich ein wenig aufgespielt hatten.

Es waren weitaus mehr Hunde und Katzen in den Querläufen, als sie in Erinnerung hatte, und sie waren magerer als früher, aber es waren weitaus weniger Menschen zu sehen. Sie hatte überhaupt niemanden gesehen, bis sie eine Ecke umrundete und fünf oder sechs Aielmänner auf sich zukommen sah, die lachten und miteinander sprachen. Sie schienen erschreckt, sie zu sehen.

»Verzeihung, Aes Sedai«, murmelte einer von ihnen, und sie drängten sich an die Seite des Querlaufs, obwohl genügend Platz war.

Während sie sich fragte, ob dies dieselben Männer waren, die ihr gefolgt waren — eines der Gesichter schien ihr bekannt, ein untersetzter Bursche mit boshaften Augen —, nickte sie und murmelte im Vorübergehen ihren Dank.

Der Speer, der sie in die Seite traf, war solch ein Schock, daß sie nicht einmal aufschrie. Sie griff panisch nach Saidar, aber noch etwas bohrte sich in ihre Seite, und sie sank zu Boden. Das ihr bekannt erschienene Gesicht näherte sich dem ihren, die schwarzen Augen spöttisch, und der Mann stieß grollend etwas hervor, worauf sie nicht achtete, während sie Saidar anzurühren versuchte, während sie versuchte... Dunkelheit umhüllte sie.

Als die endlose Unterhaltung Perrins und Failes mit deren Eltern vorüber war, wartete diese seltsame Dienerin, Sulin, im Gang auf sie. Perrin war schweißgebadet, was sich an dunklen Flecken auf seinem Umhang zeigte, und er fühlte sich, als wäre er zehn Meilen weit gelaufen, während er bei jedem Schritt geschlagen wurde. Faile lächelte und hüpfte. Sie wirkte überglücklich, wunderschön und so stolz auf sich, als hätte sie die Wachhügel-Männer gerade in dem Moment herangebracht, als die Trollocs Emondsfeld überrennen wollten. Sulin vollführte jedesmal einen Hofknicks, wenn einer von ihnen sie ansah, und fiel fast immer dabei um. Das ledrige Gesicht mit der Narbe über der Wange trug ein unterwürfiges Lächeln, das in einem Atemzug vergehen zu können schien. Vorbeigehende Töchter unterhielten sich in der Zeichensprache, und Sulin vollführte auch vor ihnen einen Hofknicks, obwohl sie laut genug mit den Zähnen knirschte, daß Perrin es deutlich hören konnte. Sogar Faile beobachtete sie jetzt wachsam.

Als die Frau sie zu ihren Räumen geführt hatte — ein Wohnzimmer und ein Schlafzimmer mit einem Himmelbett, das zehn Menschen hätte beherbergen können, sowie ein langer Marmorbalkon auf einen Hof mit Springbrunnen —, beharrte sie darauf, ihnen alles zu erklären oder zu zeigen, selbst das, was sie selbst sehen konnten. Ihre Pferde waren in den Stall geführt und abgerieben worden. Ihre Satteltaschen waren ausgepackt und hingen zusammen mit Perrins Streitaxtgürtel im Schrank, und der spärliche Inhalt lag in den Schubladen einer Doppelkommode. Perrins Streitaxt stand neben dem grauen Marmorkamin, als sollte Feuerholz damit gehackt werden. Einer der beiden Silberkrüge, die durch feine Wassertropfen glitzerten, enthielt kühlen, mit Minze gewürzten Tee und der andere gewürzten Pflaumenwein. Zwei goldgerahmte Spiegel hingen an der Wand, einer über einem Tisch, auf dem Failes Elfenbeinkamm und ihre Bürste lagen, der andere war ein großer Standspiegel mit geschnitzten Stützen, den nicht einmal ein Blinder hätte übersehen können.

Während Sulin noch immer Erklärungen über das zu bringende Badewasser und Kupferwannen abgab, drückte Perrin ihr eine Goldmünze in die Hand. »Danke«, sagte er, »aber wenn Ihr uns jetzt allein lassen würdet...« Er dachte einen Moment, sie würde ihm das Goldstück ins Gesicht werfen, aber statt dessen wurde ihm ein weiterer schwankender Hofknicks gewährt, woraufhin sie den Raum geräuschvoll verließ.

»Vermutlich beherrscht derjenige, der die Diener ausbildet seine Aufgabe nicht besonders gut«, sagte Faile. »Das war übrigens hervorragend. Höflich, aber bestimmt. Wenn du so nur auch mit unseren Dienern umgehen würdest.« Als sie ihm ihren schlanken Rücken zuwandte, verklang ihre Stimme zu einem Murmeln. »Würdest du mir die Knöpfe öffnen?«

Er fühlte sich stets unbeholfen, wenn er die kleinen Knöpfe öffnen sollte, weil er halbwegs befürchtete, sie abzureißen oder ihr Gewand zu beschädigen. Andererseits gefiel es ihm, seine Frau auszuziehen. Für gewöhnlich half ihr eine Dienerin dabei, seiner Meinung nach sicherlich wegen der verlorengegangenen Knöpfe. »Hast du irgend etwas von dem Unsinn ernst gemeint, den du deiner Mutter erzählt hast?«

»Hast du mich nicht gezähmt, mein Ehemann«, fragte sie, ohne ihn anzusehen, »und mich gelehrt, dir zur Verfügung zu stehen, wenn du mich rufst? Bemühe ich mich nicht, dich zu erfreuen? Gehorche ich nicht deiner kleinsten Geste?« Sie roch belustigt. Und sicherlich klang sie belustigt. Nur klang es auch, als wollte sie es so, genauso wie es auch geklungen hatte, als sie ihrer Mutter mit hocherhobenem Kopf und so stolz sie nur konnte fast dasselbe gesagt hatte. Frauen waren schlichtweg seltsam, das war alles. Und ihre Mutter...! Und ihr Vater!

Vielleicht sollte er das Thema wechseln. Was hatte Bashere noch erwähnt? »Faile, was ist eine Zerbrochene Krone?« Er war sicher, daß es das gewesen war.

Sie verzog das Gesicht und roch plötzlich aufgebracht.

»Rand hat den Palast verlassen, Perrin.«

»Und wenn schon?« Er beugte sich herab, um einen winzigen Perlmuttknopf besser sehen zu können, und runzelte hinter ihrem Rücken die Stirn. »Woher weißt du das?«

»Von den Töchtern des Speers. Bain und Chiad haben mir ein wenig von der Zeichensprache beigebracht. Du darfst mich nicht verraten, Perrin. So wie sie sich aufführten, als sie hörten, daß Aiel hier sind, glaube ich, daß sie es lieber nicht getan hätten. Aber es könnte nützlich sein zu verstehen, was die Töchter des Speers sagen, ohne daß sie etwas davon wissen. Sie scheinen sich mit Rand gut zu vertragen.« Sie drehte sich um, sah ihn schelmisch an und streichelte seinen Bart. »Diesen Töchtern, die wir trafen, gefielen deine Schultern, aber sie machen sich nicht viel daraus. Aielfrauen erkennen keinen schönen Bart, wenn sie einen sehen.«

Er schüttelte den Kopf, wartete, daß sie sich wieder umdrehen würde, und steckte dann hastig den Knopf in die Tasche, der bei ihrer Drehung abgerissen war. Vielleicht würde sie es nicht merken. Er war eine Woche lang mit einem an seinem Umhang fehlenden Knopf herumgelaufen und hatte es nicht gemerkt, bis sie ihn darauf hinwies. Und was Barte betraf, so waren Aiel, nach dem, was Gaul erzählte, stets glattrasiert. Bain und Chiad hatten sich über seinen Bart mehr als einmal lustig gemacht. Er hatte bei dieser Hitze schon oft daran gedacht, ihn abzurasieren. Aber Faile mochte ihn. »Was ist mit Rand? Warum sollte es von Bedeutung sein, daß er den Palast verlassen hat?«

»Nur insofern, als du wissen solltest, was er hinter deinem Rücken tut. Du hast offensichtlich nicht gewußt, daß er fortgegangen ist. Denk daran, daß er der Wiedergeborene Drache ist. Damit steht er fast einem König gleich, einem König der Könige, und Könige verletzen manchmal sogar Freunde, aus Versehen und absichtlich.«

»Das würde Rand niemals tun. Worauf willst du überhaupt hinaus? Daß ich ihn ausspionieren soll?«

Er hatte dies als Scherz gemeint, aber sie erwiderte: »Nicht du, mein Lieber. Das ist die Aufgabe einer Frau.«

»Falle!« Er richtete sich so jäh auf, daß er fast einen weiteren Knopf abgerissen hätte, ergriff ihre Schultern und wandte sie zu sich um. »Du wirst Rand nicht ausspionieren, hast du mich verstanden?« Sie nahm einen widerspenstigen Gesichtsausdruck an, die Mundwinkel herabgezogen, die Augen verengt — sie strahlte geradezu Hartnäckigkeit aus —, aber er konnte auch hartnäckig sein. »Faile, ich möchte etwas von dem Gehorsam sehen, dessen du dich gerühmt hast.« Soweit er bisher erkennen konnte, tat sie, was er sagte, wenn sie ihm gut gesonnen und zufrieden war, und sonst nicht, gleichgültig, ob er im Recht war oder nicht. »Ich meine es ernst, Faile. Ich will dein Versprechen. Ich werde nicht teilhaben an jemandes...«

»Ich verspreche es dir, mein Herz«, sagte sie und legte ihre Finger über seinen Mund. »Ich verspreche, daß ich Rand nicht ausspionieren werde. Du siehst, ich gehorche meinem Herrn Gemahl. Erinnerst du dich, wie viele Enkelkinder meine Mutter erwartet?«

Der plötzliche Richtungswechsel überraschte ihn. Aber sie hatte es versprochen. Das war das wichtigste. »Sechs, glaube ich. Ich habe aufgehört mitzuzählen, als sie erklärte, welches Jungen und welches Mädchen werden sollten.« Lady Deira hatte einige bestürzend unverblümte Ratschläge parat gehabt, wie dies zu erreichen sei. Dankenswerterweise hatte er das meiste davon verpaßt, weil er sich ständig gefragt hatte, ob er den Raum verlassen sollte, bis sie fertig wäre. Faile hatte zu den Worten ihrer Mutter nur genickt, als sei es das Natürlichste von der Welt, daß ihr Vater und ihr Ehemann dabei waren.

»Mindestens sechs«, sagte sie mit wahrhaft verruchtem Lächeln. »Perrin, sie wird uns über die Schulter sehen, bis ich ihr sagen kann, daß sie bald das erste Enkelkind erwarten darf, und ich dachte, wenn es dir jemals gelänge, meine restlichen Knöpfe zu öffnen...« Sie errötete nach Monaten der Ehe noch immer, aber dieses Lächeln schwand nicht. »Ein richtiges Bett nach so vielen Wochen erfüllt mich mit einer Vorfreude wie ein Bauernmädchen zur Ernte.«

Manchmal wunderte er sich über ihre ständige Erwähnung dieser saldaeanischen Bauernmädchen. Ob mit oder ohne Erröten — wenn sie nur halb so direkt wie Faile waren, wenn er mit ihr allein war, würde in Saldaea niemals eine Ernte eingebracht. Er riß beim Versuch, sie auszukleiden, zwei weitere Knöpfe ab, und es kümmerte sie nicht im geringsten. Tatsächlich zerriß sie ihm sogar das Hemd.

Demira war überrascht, daß sie die Augen öffnen konnte, überrascht, daß sie auf dem Bett in ihrem Zimmer in der Rosenkrone lag. Sie hatte erwartet, tot zu sein und nicht entkleidet unter einem Leinenlaken zu liegen. Stevan saß auf einem Stuhl am Fußende des Bettes, und es gelang ihm, gleichzeitig erleichtert, besorgt und streng dreinzublicken. Ihr schlanker cairhienischer Behüter war einen Kopf kleiner als sie und fast zwanzig Jahre jünger, auch wenn Grau sein Schläfenhaar durchzog, aber manchmal führte er sich wie ein Vater auf, der behauptete, sie könne nicht selbst auf sich aufpassen, wenn er nicht ihre Hand hielte. Sie fürchtete sehr, daß dieser Zwischenfall ihm in diesem Kampf auf Monate hinaus Oberwasser verschaffen würde. Merana stand mit ernstem Gesicht auf der einen und Berenicia auf der anderen Seite des Bettes. Die rundliche Gelbe Schwester war ohnehin stets ernst, aber jetzt wirkte sie vollkommen finster.

»Wie?« gelang es Demira zu fragen. Licht, sie fühlte sich schwach. Das kam vom Heilen, aber es war schon eine Anstrengung, die Arme unter dem Laken hervorzunehmen. Sie mußte dem Tode sehr nahe gewesen sein. Das Heilen hinterließ keine Narben, aber die Erinnerungen und die Schwäche genügten vollkommen.

»Ein Mann kam in den Schankraum«, erzählte Stevan, »und verlangte ein Bier. Er sagte, er hätte gesehen, wie Aiel einer Aes Sedai gefolgt seien — er beschrieb Euch genau — und meinte, sie wollten sie töten. Sobald er das erzählt hatte, spürte ich...« Er verzog vielsagend das Gesicht.

»Stevan bat mich mitzukommen«, sagte Berenicia. »Er hat mich sozusagen mitgezerrt — und wir rannten den ganzen Weg. Ich war ehrlich gesagt nicht sicher, daß wir rechtzeitig gekommen waren, bis Ihr gerade eben die Augen öffnetet.«

»Natürlich«, sagte Merana mit tonloser Stimme, »hatten beide Anteil an der Falle — und an der Warnung. Die Aiel und der Mann. Es ist eine Schande, daß wir ihn entkommen ließen, aber wir waren so um Euch besorgt, daß er entwischen konnte, bevor jemand daran dachte, ihn aufzuhalten.«

Demira hatte an Milam gedacht und daran, wie dies die Suche in der Bibliothek beeinflussen würde, daran, wie lange es dauern würde, Stevan zu beruhigen, und Meranas Worte drangen nur langsam zu ihr vor. »Ihn festhalten? Eine Warnung? Wovon sprecht Ihr, Merana?« Berenicia murmelte etwas darüber, daß sie es vielleicht verstehen würde, wenn sie es ihr schwarz auf weiß zeigten. Berenicia konnte manchmal sehr bissig sein.

»Habt Ihr jemanden den Schankraum betreten sehen, um etwas zu trinken, seit wir eingetroffen sind, Demira?« fragte Merana geduldig.

Es stimmte — sie hatte niemanden gesehen. Eine oder auch zwei Aes Sedai fielen unter den Gästen einer Schenke in Caemlyn kaum auf, aber bei neun Aes Sedai war es schon etwas anderes. Herrin Cinchonine hatte kürzlich offen darüber gesprochen. »Dann wollte man Euch absichtlich wissen lassen, daß Aiel mich getötet hätten. Vielleicht, damit ich gefunden würde, bevor ich tot wäre.« Sie hatte sich gerade an das gräßliche Gesicht des Burschen erinnert, der sie drohend angesprochen hatte. »Ich sollte Euch alle auffordern, Euch von al'Thor fernzuhalten. Jemand sagte wörtlich: ›Richtet den anderen Hexen aus, sie sollen sich vorn Wiedergeborenen Drachen fernhalten.‹ Diese Nachricht hätte ich wohl kaum tot überbringen können... Wo war ich verletzt?«

Stevan regte sich auf seinem Stuhl und warf ihr einen gequälten Blick zu. »Es wurde in beiden Fällen keines der Organe getroffen, deren Verletzung tödlich gewesen wäre, aber Euer immenser Blutverlust...«

»Was sollen wir jetzt tun?« unterbrach Demira ihn, die Frage an Merana gerichtet, bevor Stevan damit fortfahren konnte, ihr vorzuwerfen, wie töricht sie gewesen war, sich auf diese Art erwischen zu lassen.

»Ich denke, wir sollten die verantwortlichen Aiel suchen«, sagte Berenicia bestimmt, »und an ihnen ein Exempel statuieren.« Sie kam aus den Grenzgebieten Shienars, und Überfälle der Aiel waren in ihrer Kindheit üblich gewesen. »Seonid ist meiner Meinung.«

»O nein!« widersprach Demira. »Ich werde mir die erste Gelegenheit, Aiel zu beobachten, nicht entgehen lassen. Es war immerhin mein Blut. Außerdem scheint mir offensichtlich, daß sie auf Befehl gehandelt haben, wenn der Mann, der Euch gewarnt hat, nicht auch ein Aiel war. Und ich glaube, es gibt nur einen Mann in Caemlyn, der Aiel befehligt.«

»Wir anderen«, sagte Merana, während sie Berenicia fest ansah, »stimmen mit Euch überein, Demira. Ich möchte nichts mehr davon hören, Zeit und Kräfte zu verschwenden, um unter Hunderten ein Rudel Jagdhunde ausfindig zu machen, während sich der Mann, der sie zur Jagd aufgefordert hat, ins Fäustchen lacht.« Berenicia murrte ein wenig, bevor sie den Kopf beugte, aber das tat sie stets.

»Wir müssen al'Thor zumindest zeigen, daß er Aes Sedai nicht auf diese Art behandeln kann«, bemerkte Berenicia scharf. Ein Blick von Merana mäßigte sie, obwohl sie nicht glücklich darüber klang. »Aber natürlich auch nicht so deutlich, daß es alle unsere Pläne gefährden würde.«

Demira tippte sich mit den Fingern an die Lippen und seufzte. Sie fühlte sich schwach. »Mir fällt gerade etwas ein. Wenn wir ihm offen vorhalten, was er getan hat, wird er alles abstreiten, und wir können ihm nichts beweisen. Nicht nur das — er wäre vielleicht sogar so klug zu verkünden, daß er sich berechtigt fühlt, Aes Sedai wie Hasen zu jagen.« Merana und Berenicia wechselten Blicke und nickten verständig. Der arme Stevan runzelte zornig die Stirn. Er hatte niemals jemanden ungestraft gelassen, der sie verletzt hatte. »Wäre es nicht besser stillzuhalten? Das würde ihn sicherlich zum Nachdenken bringen. Warum haben wir nichts gesagt? Was werden wir unternehmen? Ich weiß nicht, wieviel wir tun können, aber wir können ihm zumindest Angst einjagen.«

»Ein stichhaltiges Argument«, sagte Verin vom Eingang her. »Al'Thor muß die Aes Sedai respektieren, sonst wird es keine Zusammenarbeit geben.« Sie bedeutete Stevan zu gehen — er wartete natürlich, bis Demira ihr Einverständnis gab — und nahm dann seinen Platz ein. »Ich dachte, daß Ihr das Ziel wart...« Sie sah Merana und Berenicia stirnrunzelnd an. »Wollt Ihr Euch nicht setzen? Ich möchte keine Genickstarre bekommen, weil ich ständig zu Euch aufschauen muß.« Verin fuhr bereits fort, während sie noch Stühle neben das Bett stellten. »Da Ihr das Ziel wart, Demira, solltet Ihr bei der Entscheidung mitreden, wie Meister al'Thor seine Lektion lernen soll. Und anscheinend habt Ihr bereits damit begonnen.«

»Ich denke...«, setzte Merana an, aber Verin unterbrach sie.

»Gleich, Merana. Demira hat das Recht, zuerst Vorschläge zu machen.«

Demira hielt den Atem an, während sie auf den Ausbruch wartete. Merana schien ihre Entscheidungen stets von Verin billigen lassen zu wollen, was unter den gegebenen Umständen nur allzu verständlich, wenn auch ungeschickt war, aber dies war das erste Mal, daß Verin die Sache in die Hand nahm. Zumindest das erste Mal vor anderen. Und doch sah Merana Verin einen Moment nur mit zusammengepreßten Lippen an und beugte dann den Kopf. Demira fragte sich, ob das bedeutete, daß Merana die Abordnung Verin überlassen würde. Sie schien jetzt keine andere Wahl mehr zu haben. Aller Augen wandten sich abwartend Demira zu. Verins Blick war besonders eindringlich.

»Wenn wir wollen, daß er sich wegen unserer nächsten Unternehmungen sorgt, schlage ich vor, daß heute niemand zum Palast geht. Vielleicht ohne jegliche Erklärung, und wenn das zu hart ist, dann mit einer Erklärung, die er durchschaut.« Merana nickte. Und was nach der neuesten Entwicklung noch wichtiger war — Verin nickte ebenfalls. Demira beschloß, ein wenig mehr zu wagen. »Vielleicht sollten wir sogar mehrere Tage lang niemanden hinschicken, um ihn schmoren zu lassen. Ich bin sicher, daß wir es erfahren werden, sollte er hübsch aufgebracht sein, wenn wir Min beobachten...« Was auch immer sie zu unternehmen beschlossen — sie wollte Anteil daran haben. Es war immerhin ihr Blut gewesen, und nur das Licht wußte, wie lange sie jetzt ihre Nachforschungen in der Bibliothek unterbrechen mußte. Letzteres war fast ein genauso triftiger Grund, al'Thor eine Lektion zu erteilen, wie sein Vergessen, wer die Aes Sedai waren.

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