Rand verbrachte den Rest des Tages in seinen Räumen im Sonnenpalast und lag die meiste Zeit auf dem Bett, einem riesigen Bett mit vier eckigen Schwarzholzpfosten, die dicker als sein Bein waren und poliert worden waren, bis sie zwischen den keilförmigen Elfenbein-Einlegearbeiten glänzten. Als sollten sie einen Gegensatz zu all dem Gold im Vorraum und im Wohnraum bilden, bestanden alle Möbel im Schlafraum aus Schwarzholz und Elfenbein, wenn sie auch nicht weniger kantig waren.
Sulin rauschte herein und eilte wieder hinaus, schüttelte seine Federbetten auf und richtete das Leinenlaken über ihm, wobei sie murmelte, Decken auf dem Boden seien gesünder, brachte ihm Minztee, um den er nicht gebeten hatte, und gewürzten Wein, den er nicht wollte, bis er ihr aufzuhören befahl. »Wie mein Lord Drache befiehlt«, grollte sie mit süßem Lächeln. Sie vollführte ihren zweiten perfekten Hofknicks, schritt dann aber hinaus, als wollte sie sich nicht die Mühe machen, die Tür zu öffnen.
Min blieb ebenfalls bei ihm, saß auf der Matratze, hielt seine Hand und runzelte die Stirn, bis er vermutete, daß sie glaubte, er würde sterben. Schließlich jagte er auch sie hinaus und legte ein dunkelgraues Seidengewand an, das er zuvor stets im Schrank belassen hatte. Er fand weit hinten im Schrank auch noch etwas anderes vor. Ein schmales, einfaches Holzkästchen, das eine Flöte enthielt, ein Geschenk von Thom Merrilin in scheinbar einem anderen Leben. Er setzte sich an eines der hohen Fenster und versuchte zu spielen. Nach so langer Zeit brachte er zunächst nur mehr quiekende Töne hervor. Diese seltsamen Geräusche waren es, die Min wieder zu ihm führten.
»Spiel für mich«, sagte sie erfreut und setzte sich lachend auf seine Knie, während er mit geringem Erfolg etwas einer Melodie Ahnliches hervorzubringen versuchte. In diesem Moment spazierten die Weisen Frauen zu ihm herein, Amys und Bair und Sorilea und ungefähr ein Dutzend weitere. Min sprang schnell auf, errötete und zog ihren Umhang energisch zurecht.
Bair und Sorilea standen bereits neben ihm, bevor er ein Wort sagen konnte.
»Schaut nach links«, befahl Sorilea, während sie sein Augenlid anhob und ihr ledriges Gesicht nahe an seines heranbrachte. »Schaut nach rechts.«
»Euer Puls schlägt zu schnell«, murmelte Bair, die ihre knochigen Finger seitlich an seinen Hals hielt.
Anscheinend hatte Nandera eilig eine Tochter des Speers losgeschickt, sobald seine Knie nachgegeben hatten, und Sorilea hatte aus dem kleinen Heer von Weisen Frauen, das den Palast heimsuchen wollte, diese kleinere Horde ausgesondert. Offenbar wollte jede, ob mit oder ohne Sorilea, beim Car'a'carn an die Reihe kommen. Als sie und Bair fertig waren, wurde ihr Platz von Amys und Colirvda eingenommen, eine hagere Frau mit durchdringenden grauen Augen, die mittleren Alters zu sein schien, aber dennoch fast die gleiche starke Präsenz bewies wie Sorilea. Aber das galt natürlich auch für Amys und viele andere von ihnen. Er wurde geknufft, gestoßen, angestarrt und starrköpfig genannt, als er sich weigerte, auf und ab zu springen. Sie schienen wirklich zu erwarten, daß er es tun würde.
Die Weisen Frauen kümmerten sich auch um Min, standen um sie herum und stellten ihr hundert Fragen über ihre Visionen. Mins Augen weiteten sich in äußerstem Maße, und sie starrte die Weisen Frauen und Rand an, als frage sie sich, ob ihre Gedanken gelesen wurden. Amys und Bair erklärten es ihr —Melaine hatte die Neuigkeiten ihrer Töchter nicht für sich behalten können —, und anstatt daß sich Mins Augen noch mehr weiteten, was zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich auch gar nicht mehr möglich gewesen wäre, quollen sie ihr fast aus dem Kopf. Sogar Sorilea schien Melaines Ansicht zu teilen, daß Mins Fähigkeit sie auf gleiche Stufe mit ihnen stellte, aber da Weise Frauen Weise Frauen waren — fast genauso wie Aes Sedai Aes Sedai waren —, mußte sie alles fast genauso oft wiederholen, wie Weise Frauen im Raum waren, weil jene, die um Rand herumwirbelten, sichergehen wollten, daß auch sie nichts verpaßt hatten.
Als Sorilea und die anderen widerwillig beschlossen, daß Rand nur Ruhe brauchte, und mit der Anweisung gingen, er solle dafür sorgen, daß er diese Ruhe auch bekäme, machte es sich Min wieder auf seinem Schoß bequem. »Sie sprechen in Träumen?« fragte sie kopfschüttelnd. »Es scheint unmöglich, wie einem Märchen entnommen.« Sie runzelte die Stirn. »Was glaubst du, wie alt Sorilea ist? Und diese Colinda. Ich habe gesehen... Nein, es hat nichts mit dir zu tun. Vielleicht beeinträchtigt mich die Hitze. Wenn ich es weiß, dann weiß ich es immer. Es muß die Hitze sein.« Ein schelmisches Leuchten trat in ihre Augen, und sie beugte sich langsam näher zu ihm und schürzte die Lippen wie zu einem Kuß. »Wenn du deine Lippen auch so spitzen würdest«, murmelte sie, als ihre Lippen seine fast schon berührten, »wäre das vielleicht hilfreich. In diesem letzten Stück schienen Sätze aus ›Der Pfau im Eukalyptusbaum‹ verwendet worden zu sein.« Es dauerte einen Moment, bis er verstand, während ihre Augen seine Vision widerspiegelten, aber als er verstand, mußte sein Gesicht einen erstaunlichen Anblick geboten haben, weil sie lachend auf seine Brust sank.
Kurz darauf traf eine Nachricht von Coiren ein, die sich nach seinem Wohlbefinden erkundigte, ihm wünschte, daß er nicht krank sei, und anfragte, ob sie ihn mit zweien ihrer Schwestern besuchen dürfe. Sie bot das Heilen an, falls er es wünschte. Während Rand las, regte sich Lews Therin, als erwache er aus tiefern Schlaf, aber dieses vage unzufriedene Murren ähnelte kaum seinem in Caemlyn empfundenen Zorn, und er schien wieder einzuschlafen, als Rand den kurzen Brief niederlegte.
Dieser Brief stand in krassem Gegensatz zum Verhalten Meranas, und er erinnerte ihn daran, daß um die Mittagszeit im Sonnenpalast nichts geschah, über das Coiren nicht noch vor Sonnenuntergang —wenn nicht schon früher — umfassend unterrichtet war. Er antwortete mit einem höflichen Dank für ihre guten Wünsche und einer ebenso höflichen Absage. Er fühlte sich noch immer müde, und er wollte seinen Verstand beisammen haben, wenn er einer Aes Sedai gegenübertrat. Das gehörte dazu.
Mit dem gleichen Antwortschreiben bat er Gawyn um einen Besuch. Rand war Elaynes Bruder erst einmal begegnet, aber er mochte den Mann. Gawyn kam jedoch nicht und reagierte auch nicht auf die Aufforderung. Rand entschied traurig, daß Gawyn die Gerüchte über seine Mutter wohl glaubte. Es war nicht leicht, einen Menschen von dieser Überzeugung abzubringen. Diese Geschichte beeinträchtigte Rands Stimmung dermaßen, wann immer er daran dachte, daß selbst Min an der Aufgabe zu verzweifeln schien, ihn aufmuntern zu wollen. Weder Perrin noch Loial blieben bei ihm, wenn er in dieser Stimmung war.
Drei Tage später kam eine weitere Anfrage von Coiren, genauso höflich gehalten, und eine dritte folgte wiederum Tage später, aber er beschied auch diese mit Ausflüchten.
Alanna. Er spürte sie noch immer fern und nur vage, aber sie kam ständig näher; was nicht überraschend war. Er war überzeugt gewesen, daß Merana sie als eine der sechs auswählen würde. Er hatte nicht die Absicht, Alanna näher als eine Meile und keinesfalls in Sichtweite an sich herankommen zu lassen, aber er hatte gesagt, er würde sie auf gleiche Stufe mit Coiren stellen, und er hatte es auch so gemeint. Also würde Coiren noch eine Weile geduldig ausharren müssen. Außerdem war er in gewisser Weise beschäftigt.
Ein Abstecher in die Schule in Barthanes ehemaligem Palast dauerte letztendlich länger als geplant. Idrien Tarsin wartete erneut an der Tür, um ihm alle Arten von Erfindungen und Entdeckungen zu zeigen, die oft unverständlich waren, sowie die Werkstätten, in denen jetzt verschiedene neue Pflüge und Eggen und Mähmaschinen zum Verkauf gefertigt wurden, aber das Problem war Herid Fei. Oder auch Min. Feis Gedanken wanderten wie üblich, seine Zunge wanderte ihnen hinterher, und er vergaß einfach, daß Min dabei war. Er vergaß sie etliche Male. Aber gerade als Rand den Mann darauf aufmerksam machen wollte, bemerkte Fei sie plötzlich zum ersten Mal wieder und erschrak sichtlich. Er entschuldigte sich bei ihr ständig für die halb angerauchte Pfeife, die er dennoch stets anzuzünden vergaß, klopfte sich beharrlich Asche von seinem dicken Bauch und glättete immer wieder sein dünnes graues Haar. Min schien es zu gefallen, obwohl Rand nicht annähernd verstand, wie Min Gefallen an einem Mann finden konnte, der ihre Anwesenheit vergaß. Sie küßte Fei sogar auf den Kopf, als sie und Rand sich erhoben, um zu gehen, was den Mann wie erschlagen wirken ließ. Es half ihm allerdings nicht sehr dabei, von Fei zu erfahren, was er über die Siegel am Gefängnis des Dunklen Königs oder über die Letzte Schlacht herausgefunden hatte.
Am nächsten Tag erreichte ihn eine auf ein abgerissenes Stück Pergament gezwängte Nachricht.
Glaube und Ordnung verleihen Kraft. Muß den Schutt beseitigen, bevor Ihr bauen könnt. Werde es bei unserer nächsten Begegnung erklären. Bringt Mädchen nicht mit. Zu hübsch!
Die Nachricht war hastig dahingekritzelt, und die Unterschrift in die Ecke gequetscht worden, und sie ergab für Rand keinen Sinn. Als er Fei jedoch erneut zu erreichen versuchte, erfuhr er, daß der Mann zu Idrien gesagt hatte, er fühle sich wieder jung und ginge fischen. Mitten in einer Dürre. Rand fragte sich, ob der alte Mann den Verstand verloren hatte. Min fand die Nachricht natürlich belustigend. Sie fragte, ob sie das Pergament haben könne, und er ertappte sie mehrere Male dabei, wie sie es lächelnd betrachtete.
Ob mit oder ohne Verstand — Rand beschloß, daß er Min beim nächsten Mal zurücklassen würde, aber in Wahrheit war es auch schwierig, sie in seiner Nähe zu behalten, wenn er sie begehrte: Sie schien mehr Zeit mit den Weisen Frauen als mit ihm zu verbringen. Er konnte nicht verstehen, warum ihn das so ärgerte, aber er bemerkte, daß er geneigt war, andere eher zurechtzuweisen, wenn Min sich bei den Zelten aufhielt. Es war besser, daß sie nicht zu oft bei ihm war. Die Leute würden es merken, darüber reden und sich wundern. In Cairhien, wo sogar die Diener ihre Version des Spiels der Häuser spielten, konnte es für Min gefährlich werden, wenn sich die Menschen fragten, ob sie wichtig war. Er versuchte, niemanden mehr zurechtzuweisen.
Natürlich wollte er von Min, daß sie die Adligen mit ihrer Gabe betrachtete, die nacheinander zu ihm kamen und nach seinem Wohlbefinden fragten — jene, die die Knie beugten, mußten die Gerüchte in Umlauf gebracht haben —, lächelten und ihn fragten, wie lange er dieses Mal in Cairhien zu bleiben beabsichtigte, welche Pläne er hätte, wenn sie fragen dürften, noch stärker lächelten, immer lächelten. Der einzige, der ihn nicht bewußt anlächelte, war Dobraine, der seinen Schädel noch immer wie ein Soldat rasiert hatte und noch immer die Streifen auf dem durch den Brustharnisch zerschlissenen Umhang trug. Dobraine stellte so verdrießlich genau dieselben Fragen, daß Rand über seinen Weggang fast glücklicher war als bei den anderen.
Min gelang es, bei jenen Anhörungen dabeizusein, sich diese Zeit zu nehmen zwischen dem, was auch immer sie bei den Weisen Frauen tat. Rand hatte nicht die Absicht, sie danach zu fragen. Es war jedoch nicht so einfach, sie verborgen zu halten.
»Ich könnte doch vorgeben, deine Dirne zu sein«, schlug Min lachend vor. »Ich würde auf deinem Schoß posieren und dich mit Trauben füttern — nun, mit Rosinen; ich habe seit einiger Zeit keine Trauben mehr gesehen —, und du nennst mich deine kleine Honiglippe. Dann würde sich niemand fragen, warum ich hier wäre.«
»Nein«, fauchte er, und sie wurde ernst.
»Glaubst du wirklich, die Verlorenen würden mich nur deswegen verfolgen?«
»Vielleicht«, antwortete er genauso ernst. »Ein Schattenfreund wie Padan Fain würde es tun, wenn er noch lebt. Das will ich nicht riskieren, Min. Und ich will auf keinen Fall, daß diese Cairhiener oder auch die Tairener mit ihren schmutzigen Vorstellungen so von dir denken.« Die Aiel waren anders. Sie hielten ihre Neckereien für sehr spaßig.
Min war sicherlich wankelmütig. Ihr Gesichtsausdruck konnte sich schlagartig von purer Ernsthaftigkeit in ein Strahlen verwandeln, in ein vollkommenes Lächeln, das kaum einen Moment wich. Bis die Anhörungen tatsächlich begannen.
Es mißlang, Min in einer Ecke des Vorraums hinter einem Paneel aus vergoldetem Gitterwerk zu verbergen. Maringils dunkel schimmernde Augen vermieden es so angestrengt hinzusehen, daß Rand erkannte, daß der Mann den Sonnenpalast vollkommen auseinandernehmen würde, um herauszufinden, was sich hinter dem Paneel verbarg. Der Wohnraum erwies sich als bessere Möglichkeit, weil Min durch die rissigen Türen in den Vorraum spähen konnte. Nicht jeder Besucher zeigte ihr während der Anhörung seine Aura, aber was sie sah, war freudlos. Maringil, weißhaarig, messerscharf und kalt wie Eis, würde durch einen Dolch sterben. Colavaere, deren außerordentlich hübsches Gesicht ruhig und gefaßt war, als sie erfuhr, daß Aviendha dieses Mal nicht bei Rand war, würde durch den Strang sterben. Meilan mit dem Spitzbart und der tranigen Stimme würde durch Gift sterben. Die Zukunft forderte einen hohen Tribut von den edlen Herren von Tear. Aracome und Maraconn und Gueyam würden alle einen blutigen Tod in einer Schlacht sterben. Min sagte, sie hätte noch niemals zuvor so häufig den Tod gesehen.
Als sie an ihrem fünften Tag in Cairhien Blut auf Gueyams breitem Gesicht sah, fühlte sie sich bei dem Gedanken so schlecht, daß Rand sie sich hinlegen hieß und Sulin feuchte Tücher brachte, die sie ihr auf die Stirn legte. Dieses Mal saß er auf der Matratze und hielt ihre Hand. Sie klammerte sich daran fest.
Ihre Neckereien gab sie jedoch nicht auf. Die beiden Gelegenheiten, bei denen er sich ihrer Anwesenheit vollkommen sicher sein konnte, waren Schwertübungen mit den besten tairenischen und cairhienischen Soldaten und Raufereien mit Rhuarc oder Gaul. Min ließ dann unausweichlich einen Finger über seine bloße Brust gleiten und machte irgendeinen Scherz über Schafhirten, die nicht schwitzten, weil sie daran gewöhnt seien, genauso dicke Wolle wie ihre Schafe zu tragen. Manchmal berührte sie auch die niemals ganz heilende Narbe an seiner Seite, diesen Kreis hellrötlicher Haut, aber anders, sanfter. Darüber scherzte sie niemals. Sie kniff ihm ins Gesäß — bestürzenderweise mußte man sagen, daß sie es zumindest tat, wenn andere Leute in der Nähe waren; Töchter des Speers und Weise Frauen krümmten sich jedesmal vor Lachen, wenn er hochschrak —, schmiegte sich auf seinen Schoß, küßte ihn bei jeder Gelegenheit und drohte sogar damit, ihm in der Badewanne den Rücken zu schrubben. Als er so tat, als weine und stammele er, lachte sie und sagte, es sei nicht sehr überzeugend.
Min ließ jedoch nur zu schnell von ihm ab, wenn eine Tochter des Speers den Kopf durch die Tür streckte, um jemanden anzukündigen, besonders wenn es Loial war, der niemals lange blieb und unentwegt von der Königlichen Bibliothek sprach, oder Perrin, der meist noch kürzer blieb und aus irgendeinem Grund zunehmend erschöpft wirkte. Aber am schnellsten sprang Min auf, wenn Faile zufällig dabei war. Die beiden Male, als das geschehen war, hatte sich Min hastig eines der Bücher genommen, die Rand in seinem Schlafraum aufbewahrte, hatte sich hingesetzt und vorgegeben zu lesen, wobei sie das Buch irgendwo in der Mitte aufgeschlagen hatte, als lese sie schon einige Zeit. Rand verstand die kühlen Blicke nicht, welche die beiden Frauen wechselten. Es war nicht wirklich Feindseligkeit oder auch nur Unfreundlichkeit, aber Rand vermutete, daß der Name der jeweils anderen ganz oben stünde, wenn beide eine liste derer anlegen sollten, mit denen sie lieber keine Zeit verbringen wollten.
Rand schmunzelte, als sich das Buch, das Min beim zweiten Mal gegriffen hatte, als ledergebundene Erstausgabe von Daria Gahands Abhandlungen über die Vernunft herausstellte, die er schwer verständlich gefunden hatte und zur Bibliothek zurückschicken wollte, sobald Loial das nächste Mal hereinschaute. Tatsächlich las Min noch eine Weile weiter, nachdem Faile gegangen war, und obwohl sie beim Lesen die Stirn runzelte und vor sich hin murmelte, nahm sie das Buch am Abend mit in ihre Räume im Gästetrakt.
Wenn auch zwischen Min und Faile kühle Gleichgültigkeit herrschte, war zwischen Min und Berelain keinerlei Feindseligkeit zu spüren. Als Somara am zweiten Nachmittag Berelain ankündigte, legte Rand seinen Umhang an, ging in den Vorraum und stellte den hohen, vergoldeten Stuhl aufs Podest, bevor er Somara befahl, sie hereinzulassen. Min begab sich jedoch nur widerwillig in den Wohnraum. Berelain rauschte herein, schön wie immer, in einem weichen blauen Gewand, das auch genauso tief ausgeschnitten war wie immer —und ihr Blick fiel auf Min in ihrem hellrötlichen Umhang und der gleichfarbigen Hose. Mehrere lange Augenblicke hätte Rand genausogut nicht vorhanden sein können. Berelain betrachtete Min offen von Kopf bis Fuß. Min vergaß den Wohnraum; sie stemmte die Hände in die Hüften, stand mit einem gebeugten Knie da und betrachtete Berelain genauso offen. Sie lächelten einander an. Rand glaubte, ihm stünden die Haare zu Berge, während sie dies taten. Er wurde an zwei fremde Katzen erinnert, die gerade entdeckt hatten, daß sie in demselben kleinen Raum eingesperrt waren und offensichtlich beschlossen hatten, daß es jetzt keinen Sinn mehr hatte, sich zu verstecken. Min ging — oder besser gesagt: schwebte; es gelang ihr tatsächlich, Berelains Gang wie den eines Jungen wirken zu lassen! — zu einem Sessel und setzte sich mit übereinandergeschlagenen Beinen und noch immer lächelnd hin. Licht, wie diese Frauen lächelten.
Schließlich wandte sich Berelain zu Rand um, breitete ihre Röcke weit aus und vollführte einen tiefen Hofknicks. Er hörte Lews Therin in seinem Kopf brummen, der den Anblick einer außerordentlich schönen Frau, die ihre Reize überaus großzügig darbot, genoß. Rand schätzte ebenfalls, was er sah, obwohl er sich fragte, ob er zumindest solange fortschauen sollte, bis sie sich wieder aufgerichtet hätte, aber er hatte sich bereits aus einem bestimmten Grund auf das Podest gestellt. Er versuchte, seine Stimme sowohl vernünftig als auch fest klingen zu lassen.
»Rhuarc hat angedeutet, daß Ihr Eure Pflichten vernachlässigt, Berelain. Anscheinend hieltet Ihr Euch tagelang in Euren Räumen verborgen, nachdem ich das letzte Mal hier war. Ich hörte, daß ein ernsthaftes Gespräch notwendig war, um Euch wieder hervorzulocken.« Es waren nicht genau Rhuarcs Worte, aber Rand hatte diesen Eindruck gewonnen. Ihre Wangen färbten sich karmesinrot, wodurch Rand sich bestätigt fühlte. »Ihr wißt, warum Ihr hier die Befehlsgewalt habt. Ich kann keine Cairhiener gebrauchen, die sich auflehnen, weil sie glauben, ich hätte ihnen einen Aiel vor die Nase gesetzt.«
»Ich war ... besorgt, mein Lord Drache.« Trotz des Zögerns und der geröteten Wangen klang ihre Stimme gefaßt. »Seit die Aes Sedai gekommen sind, sprießen die Gerüchte. Darf ich fragen, wer hier, Eurer Meinung nach, tatsächlich regieren soll?«
»Elayne Trakand. Die Tochter-Erbin von Andor und jetzt die Königin von Andor.« Zumindest bald. »Ich weiß nicht, welche Gerüchte Ihr meint, aber kümmert Euch besser darum, die Dinge in Cairhien in Ordnung zu bringen, und überlaßt mir die Aes Sedai. Elayne wird Euch dankbar dafür sein, was Ihr hier leistet.« Min schnaubte verächtlich.
»Sie ist eine gute Wahl«, sagte Berelain nachdenklich. »Ich glaube, die Cairhiener werden sie anerkennen und vielleicht sogar auch die Aufständischen in den Bergen.« Das war erfreulich zu hören. Berelain konnte Strömungen im Land gut beurteilen, vielleicht genauso gut wie jede Cairhienerin. Sie atmete tief ein, woraufhin Lews Therin sein Gebrumm unterbrach. »Was die Aes Sedai betrifft — ein Gerücht besagt, sie wären gekommen, um Euch zur Weißen Burg zu geleiten.«
»Und ich sagte, überlaßt die Aes Sedai mir.« Es war nicht so, daß er Berelain mißtraute. Er traute ihr durchaus zu, Cairhien zu regieren, bis Elayne den Sonnenthron einnahm. Er traute ihr sogar zu, selbst keinerlei Ehrgeiz hinsichtlich des Throns zu hegen. Aber er wußte auch: Je weniger Leute sich der Tatsache bewußt waren, daß er Pläne mit den Aes Sedai hatte, desto geringer war die Gefahr, daß Coiren erführe, daß er über ihr Gold und ihre Edelsteine hinausdachte.
Sobald sich die Türen hinter Berelain geschlossen hatten, schnaubte Min erneut. »Ich frage mich, warum sie sich die Mühe macht, überhaupt irgendwelche Kleider zu tragen. Nun, sie wird früher oder später eine Abfuhr erleiden. Ich habe nichts gesehen, was dir irgendwie von Nutzen sein könnte. Nur einen Mann in Weiß, der sie jäh zu Fall bringen wird. Einige Frauen besitzen überhaupt kein Schamgefühl!«
An eben jenem Nachmittag bat sie ihn um Geld, um einen ganzen Raum voller Näherinnen zu bestellen, da sie Caemlyn nur mit dem verlassen hatte, was sie auf dem Leibe trug, und sie begannen, mit Seide und Brokat einen unendlichen Strom von Umhängen und Hosen in allen Farben zu fertigen. Einige der Blusen schienen recht tief ausgeschnitten, selbst unter einem Umhang. Und bei einigen der Hosen war Rand sich nicht sicher, wie sie jemals hineingelangen sollte. Min übte auch jeden Tag das Messerwerfen. Einmal sah er, wie Nandera und Enaila ihr die Kampftechnik mit Händen und Füßen zeigten, die sich erheblich von der unterschied, die Männer ausübten. Die Töchter des Speers mochten es nicht, wenn er zusah, und weigerten sich weiterzumachen, bevor er nicht gegangen wäre. Vielleicht hätte Perrin das alles begriffen, aber Rand entschied zum tausendsten Mal, daß er die Frauen nicht verstand und auch niemals verstehen würde.
Rhuarc kam jeden Tag in Rands Räume oder Rand ging ins Studierzimmer, das Rhuarc sich mit Berelain teilte. Rand war erfreut zu sehen, daß sie fleißig an Berichten über die Verschiffung von Korn, die Wiederansiedlung von Flüchtlingen und die Instandsetzung der im Zweiten Aiel-Krieg entstandenen Schäden arbeiteten. Rhuarc behauptete, beschlossen zu haben, das Ji'e'toh-Spielen der Cairhiener zu ignorieren, obwohl er noch immer jedesmal vor sich hin grollte, wenn er eine cairhienische Frau mit einem Schwert oder ganz in Weiß gekleidete junge Männer und Frauen sah. Die Aufrühr er in den Bergen schienen noch immer abzuwarten, wobei ihre Anzahl im Steigen begriffen war, aber sie kümmerten Rhuarc ebenfalls nicht. Ihn kümmerten die Shaido und die Frage, wie viele Speere sich noch immer jeden Tag auf Tear zubewegten. Kundschafter, die zurückkehrten, berichteten, daß sich die Shaido in Brudermörders Dolch rührten. Es waren keinerlei Anzeichen erkennbar, in welche Richtung oder zu welcher Stunde sie sich fortzubewegen gedachten. Rhuarc berichtete von den Aiel, die noch immer der Trostlosigkeit frönten und ihre Speere niederstießen, von denjenigen, die sich noch immer weigerten, das Gai'shain-Weiß abzulegen, wenn ihre Zeit vorüber war, und selbst von jenen Verstreuten, die weiterhin nach Norden eilten, um sich den Shaido anzuschließen. Es war ein Zeichen seines Unbehagens. Überraschenderweise war Serana bei den Zelten und sogar in der Stadt selbst gewesen, aber am Tag nach Rands Ankunft wieder abgereist. Rhuarc erwähnte es nur nebenbei.
»Wäre es nicht besser gewesen, sie zu ergreifen?« fragte Rand. »Rhuarc, ich weiß, daß sie eine Weise Frau sein soll, aber meiner Meinung nach kann sie keine sein. Ich wäre nicht überrascht, wenn die Shaido ohne sie vernünftig würden.«
»Das bezweifle ich«, erwiderte Rhuarc trocken. Er saß an der Wand des Studierzimmers auf einem seiner Kissen und rauchte eine Pfeife. »Amys und die anderen wechseln zwar hinter Sevannas Rücken Blicke, aber sie empfangen sie wie eine Weise Frau. Wenn die Weisen Frauen sagen, Sevanna sei eine von ihnen, dann ist sie es. Ich habe Häuptlinge erlebt, an die ich nicht einmal einen Wasserschlauch verschwenden würde, wenn ich zwischen zehn Teichen stünde, aber sie waren dennoch Häuptlinge.«
Rand betrachtete seufzend die auf dem Tisch ausgebreitete Landkarte. Rhuarc schien sie in Wahrheit nicht zu brauchen. Ohne daraufzuschauen, konnte er alle auf der Karte verzeichneten Eigenheiten des Gebietes nennen. Berelain saß auf der anderen Seite des Tisches in ihrem hochlehnigen Sessel, die Füße untergeschlagen und ein Bündel Papiere auf dem Schoß. Sie hielt eine Feder in der Hand, und auf dem kleinen Tisch neben ihrem Sessel stand ein Tintenfaß. Sie sah Rand sehr häufig an, aber wann immer sie bemerkte, daß Rhuarc zu ihr schaute, beugte sie den Kopf wieder über die Berichte. Aus irgendeinem Grund runzelte Rhuarc jedesmal die Stirn, wenn er sie ansah, und sie errötete stets und reckte trotzig das Kinn. Rhuarc wirkte manchmal mißbilligend, was keinen Sinn ergab, denn sie kümmerte sich wieder um ihre Pflichten.
»Ihr werdet dem ein Ende machen müssen, daß Speere nach Süden geschickt werden«, sagte Rand schließlich. Es gefiel ihm nicht. Es war lebenswichtig, daß Sammael die größte Bedrohung der Welt auf sich zukommen sah, aber nicht zu dem Preis, daß man die Wurzeln der Shaido wieder aus Cairhien herausreißen müßte. »Ich sehe keine andere Möglichkeit.«
Die Tage vergingen, und jeder Tag wurde irgendwie ausgefüllt. Rand erlebte lächelnde Herren und Damen, die so herzlich miteinander umgingen, daß sie ohne Zweifel insgeheim Ränke gegeneinander schmiedeten. Weise Frauen berieten ihn, wie er mit den Aes Sedai umgehen solle, egal ob sie von der Burg oder aus Salidar kamen. Amys und Bair verhielten sich auf eine Weise, daß Melaine dagegen geradezu freundlich erschien. Sorilea ließ sein Blut zu Eis erstarren. Junge Cairhiener wüteten in den Straßen gegen Rhuarcs Verbot, Duelle auszufechten. Rhuarc antwortete darauf, indem er ihnen einen Vorgeschmack von dem verschaffte, was es wirklich bedeutete, zum Gai'shain gemacht zu werden; den ganzen Tag unter Bewachung nackt in der Sonne zu sitzen, dämpfte ihren Eifer ein wenig, aber Rhuarc würde nicht so weit gegen die Gebräuche verstoßen, daß er Feuchtländer in Weiß steckte, und jene, die die Roten Schilde gefangengenommen hatten, begannen der Angelegenheit zu große Bedeutung zuzumessen. Rand belauschte, wie Selande einer anderen jungen Frau mit einem Schwert und kurzgeschnittenem Haar in eingebildetem Tonfall erzählte, daß die andere Frau Ji'e'toh niemals wirklich verstehen würde, bevor sie nicht eine Gefangene der Aiel gewesen sei. Es war erhebend, was immer das bedeuten mochte.
Aber trotz Shaido und Adligen, Weisen Frauen und Aufständen und trotz der Frage, ob Fei jemals vom Fischen zurückkäme, schienen jene Tage ... erfreulich. Erfrischend. Vielleicht empfand er nur so, weil er bei der Ankunft erschöpft gewesen war. Und vielleicht wirkte es tatsächlich nur durch die letzten Stunden in Caemlyn so, als sei Lews Therin ruhiger geworden. Rand fand sogar Mins Neckereien vergnüglich, daß er sich ein oder zwei Mal in Erinnerung rufen mußte, daß es nur Neckereien waren. Nach zehn Tagen in Cairhien dachte er, es wäre gar nicht so schlecht, den Rest seines Lebens auf diese Weise zu verbringen. Natürlich wußte er, daß es nicht so bleiben konnte.
Für Perrin waren diese zehn Tage überhaupt nicht erfreulich. Es dauerte nicht lange, bis er Loials Gesellschaft suchte, aber Loial hatte in der Königlichen Bibliothek sein Paradies gefunden, wo er den größten Teil des Tages verbrachte. Perrin las gern, und er hätte vielleicht auch Gefallen an diesen endlos großen Räumen voller Bücher bis zur gewölbten Decke gefunden, aber eine Aes Sedai suchte diese Räume heim, eine schlanke, dunkelhaarige Frau, die nur selten blinzelte. Sie schien ihn nicht zu bemerken, aber er hatte Aes Sedai auch schon vor den Ereignissen in Caemlyn nicht besonders getraut. Da ihm Loials Gesellschaft weitgehend verweigert blieb, ging Perrin häufig mit Gaul auf die Jagd, und einige Male auch mit Rhuarc, den er im Stein kennengelernt hatte und den er mochte. Perrins Problem war seine Frau. Oder vielleicht war es Berelain. Oder beide. Wäre Rand nicht so beschäftigt gewesen, hätte Perrin ihn um Rat gebeten. Rand wußte einiges über Frauen, aber es gab Dinge, über die Männer nicht offen sprechen konnten.
Es begann an diesem allerersten Tag, als er gerade erst seine Räume im Sonnenpalast gezeigt bekommen hatte. Faile erkundete mit Bain und Chiad den Palast. Perrin war bis zur Taille entkleidet und wusch sich gerade, als er plötzlich Parfüm roch, kein schweres Parfüm, aber er roch es sehr deutlich, und eine sinnliche Stimme hinter ihm sagte: »Ich habe schon immer gedacht, daß du einen wundervollen Rücken haben mußt, Perrin.«
Er fuhr so hastig herum, daß er fast den Waschtisch umgestoßen hätte. »Ich höre, daß du mit einer ... Frau hergekommen bist?« Berelain stand lächelnd in der Tür zum Wohnraum.
Ja, das stimmte, mit einer Frau, die nicht erfreut wäre, ihn allein und ohne Hemd mit einer anderen Frau in diesem Kleid anzutreffen. Besonders nicht mit der Ersten von Mayene. Er zog sich das Hemd über den Kopf, sagte ihr, daß Faile ausgegangen sei und er nicht wüßte, wann sie zurückkäme und bereit wäre, Besucher zu empfangen, und beförderte sie so schnell er konnte in den Gang hinaus, allerdings ohne sie hochzuheben und hinauszuwerfen. Er glaubte, damit sei die Sache erledigt. Berelain war fort, und es war ihm gelungen, Faile in sechs Sätzen sechs Mal als seine Frau zu bezeichnen und zweimal zu sagen, wie sehr er sie liebte. Berelain wußte jetzt, daß er verheiratet war, wußte, daß er seine Frau liebte, und das hätte genügen sollen.
Als Faile kurz darauf zurückkam, tat sie nur zwei Schritte in den Schlafraum hinein und begann sofort den stechenden, scharfen Geruch nach Eifersucht und Zorn auszustrahlen, eine Mischung, die seine Nase hätte zum Bluten bringen müssen. Perrin verstand nicht. Er konnte Berelains Parfüm zwar noch immer riechen, aber sein Geruchssinn war fast genauso ausgeprägt wie der eines Wolfs. Das galt für Faile mit Sicherheit nicht. Es war sehr seltsam. Faile lächelte. Nicht ein unschickliches Wort kam über ihre Lippen. Sie war genauso liebevoll wie immer und noch leidenschaftlicher als sonst, als sie mit ihren Fingernägeln tiefe Furchen in seine Schultern grub, was sie noch niemals zuvor getan hatte.
Hinterher, als er die blutenden Male bei Lampenlicht betrachtete, knabberte sie — überhaupt nicht zärtlich —an seinem Ohr und lachte. »In Saldaea«, murmelte sie, »kerben wir einem Pferd die Ohren ein, aber ich glaube, dies wird genügen, um dich zu kennzeichnen.« Und die ganze Zeit über roch sie deutlich nach Eifersucht und Zorn.
Wäre das alles gewesen, wäre die Angelegenheit erledigt gewesen. Failes Eifersucht flammte vielleicht auf wie ein Schmiedefeuer im Sturm, aber sie erstarb fast genauso schnell wieder, wenn sie erkannte, daß kein Anlaß dazu bestand. Schon am nächsten Morgen sah er sie jedoch im Gang mit Berelain sprechen, und beide lächelten, um etwas zu überspielen. Seine Ohren fingen Berelains letzte Worte auf, bevor sie sich abwandte. »Ich halte meine Versprechen immer.« Eine seltsame Bemerkung, die erneut diesen beißenden, stechenden Geruch bei Faile auslöste.
Er fragte Faile, welche Versprechen Berelain gemeint hatte, und das war vielleicht ein Fehler. Sie blinzelte — sie vergaß bisweilen sein außergewöhnliches Hörvermögen — und sagte: »Ich kann mich wirklich nicht erinnern. Sie ist eine Frau, die alle möglichen Versprechen gibt, die sie nicht halten kann.« Seine Schultern erhielten noch eine zweite Reihe blutige Furchen, und der Vormittag war noch kaum vorangeschritten!
Berelain machte sich beharrlich an ihn heran. Er erkannte es zunächst nicht. Die Frau hatte einst im Stein von Tear auf sanfte Art mit ihm geschäkert; danach hatte es nichts weiter bedeutet, und sie wußte, daß er jetzt verheiratet war. Es waren anscheinend nur zufällige Begegnungen in den Gängen, wenige harmlose Worte fast im Vorübergehen. Aber nach einer Weile erkannte er, daß entweder sein Ta'veren-Sein die Begegnungen völlig verzerrte oder Berelain sie arrangierte, so unwahrscheinlich das auch schien. Er versuchte sich einzureden, das sei lächerlich, er müsse sich wohl für so gutaussehend wie Wil al'Seen halten. Wil war der einzige Mann, bei dem Perrin jemals erlebt hatte, daß ihm Frauen hinterherjagten. Und Perrin Aybara waren sie sicherlich niemals hinterhergejagt. Jedoch gab es einfach zu viele dieser zufälligen Begegnungen.
Sie berührte ihn stets. Nicht auffällig, nur ihre Hand einen Moment auf seiner Hand, auf seinem Arm, auf seiner Schulter. Kaum der Beachtung wert. Am dritten Tag kam ihm ein Gedanke, der ihm die Haare zu Berge stehen ließ. Wenn man ein wildes Pferd zähmte, begann man mit leichten Berührungen, bis das Tier wußte, daß die Berührung nicht schmerzte, bis es unter der Hand stillhielt. Danach kam die Satteldecke und später der Sattel. Das Zaumzeug kam stets zuletzt.
Er begann den Duft von Berelains Parfüm zu fürchten, wenn er um eine Ecke wehte. Beim ersten Hauch enteilte er in die entgegengesetzte Richtung, aber er konnte nicht ununterbrochen Ausschau nach ihr halten. Es schienen sehr viele großspurige junge Cairhiener im Palast ein- und auszugehen — die meisten von ihnen Frauen. Frauen mit Schwertern! Er mußte um unzählige Männer und Frauen herumgehen, die sich ihm bewußt in den Weg stellten. Zweimal mußte er Burschen niederschlagen, als die Dummköpfe ihn einfach nicht um sich herumgehen lassen wollten, sondern ständig weiter vor ihm zurücktänzelten. Er fühlte sich deswegen schlecht — Cairhiener waren fast alle erheblich kleiner als er —, aber man durfte bei einem Mann, dessen Hand auf dem Schwertheft lag, kein Risiko eingehen. Einmal versuchte eine junge Frau es, und sie machte viel Lärm darum, als er ihr das Schwert abnahm, bis er es ihr wieder zurückgab, was sie anscheinend erschreckte, woraufhin sie hinter ihm herrief, er habe keine Ehre. Schließlich führten einige Töchter des Speers sie davon, während sie heftig auf sie einsprachen.
Aber die Leute wußten, daß er Rands Freund war. Auch wenn er nicht mit Rand hier eingetroffen wäre, erinnerten sich doch einige der Aiel und der Tairener vom Stein her an ihn, und die Nachricht verbreitete sich. Herren und Herrinnen, die er niemals zuvor im Leben gesehen hatte, stellten sich ihm in den Gängen vor, und Hohe Herren von Tairen, die ihm in Tear die kalte Schulter gezeigt hatten, sprachen ihn in Cairhien wie einen alten Freund an. Die meisten rochen nach Angst und etwas, was er nicht benennen konnte. Er erkannte, daß sie alle dasselbe von ihm wollten.
»Ich fürchte, der Lord Drache zieht mich nicht immer in sein Vertrauen, Mylady«, sagte er höflich zu einer kaltäugigen Frau namens Colavaere, »und wenn er es täte, würdet Ihr doch nicht von mir erwarten, sein Vertrauen zu mißbrauchen.« Sie schien aus großer Höhe auf ihn herabzulächeln. Sie fragte sich anscheinend, wie sich seine Haut als Schoßdecke machen würde. Sie roch seltsam, streng und glatt und irgendwie ... erhaben.
»Ich weiß wirklich nicht, was Rand vorhat«, belehrte er auch Meilan. Der Mann wollte ihm fast wieder die kalte Schulter zeigen, auch wenn er beinahe ebenso stark lächelte wie Colavaere. Aber er hatte den Geruch an sich, und auch genauso stark. »Vielleicht solltet Ihr ihn selbst fragen.«
»Wenn ich es wüßte, würde ich es wohl kaum in der ganzen Stadt herumerzählen«, sagte er zu einem weißhaarigen Burschen namens Maringil. Er war der Versuche, ihn auszuhorchen, inzwischen müde. Auch Maringil sonderte diesen Geruch ab, ebenso stark wie Colavaere oder Meilan.
Die drei verströmten diesen Geruch weitaus stärker als irgend jemand sonst, ein gefährlicher Geruch, wie er tief in seinem Innern erkannte.
Wenn er Ausschau nach jungen Dummköpfen hielt und diesen Geruch in der Nase hatte, konnte er Berelains Duft nicht ausmachen, bevor sie nicht nahe genug herangelangt war, um sich auf ihn zu stürzen. Nun, um die Wahrheit zu sagen, glitt sie durch die Gänge wie ein Schwan auf einem Teich, aber sie vermittelte ihm dennoch das Gefühl, als stürze sie sich auf ihn.
Er erwähnte Faile häufiger, als er zählen konnte, aber Berelain schien es nicht zu bemerken. Er bat sie aufzuhören. Berelain fragte ihn, was er damit meinte. Er sagte ihr, sie solle ihn in Ruhe lassen. Berelain lachte und tätschelte seine Wange. Was natürlich genau in dem Moment geschah, als Faile aus dem Quergang trat, genau in dem Augenblick, bevor er zurückwich. Es mußte für Faile so ausgesehen haben, daß er zurückgewichen war, weil er sie gesehen hatte. Faile wandte sich ohne einen Moment des Zögerns geschmeidig um und ging gemessenen Schrittes in die Richtung, aus der sie gekommen war.
Er lief hinter ihr her, holte sie ein und ging dann in quälendem Schweigen neben ihr her. Ein Mann konnte kaum sagen, was er sagen mußte, wenn andere zuhörten. Faile lächelte den ganzen Weg zurück zu ihren Räumen beinahe freundlich, aber oh, dieser stechende, stechende, stechende Geruch in seiner Nase.
»Es war nicht so, wie es aussah«, erklärte er, sobald sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte. Sie schwieg. Sie wölbte nur fragend die Augenbrauen. »Nun, es war... Berelain hat mir die Wange getätschelt... « Sie lächelte noch immer, aber ihre Augenbrauen senkten sich jetzt finster, und Perrin roch zusätzlich scharfen Zorn. »Sie hat es einfach getan. Ich habe sie nicht dazu ermutigt, Faile. Sie hat es einfach getan.« Er wünschte, Faile würde etwas sagen, aber sie sah ihn nur an. Er dachte, daß sie wohl auf etwas wartete, aber worauf? Der Atem stockte ihm in der Kehle. »Faile, es tut mir leid.« Der Zorn wurde messerscharf spürbar.
»Ich verstehe«, sagte sie tonlos und verließ den Raum.
Er hatte sich also vollkommen mißverständlich ausgedrückt, und er konnte nicht verstehen, wieso. Er hatte sich entschuldigt, obwohl er nicht einmal etwas getan hatte, wofür er sich hätte entschuldigen müssen.
An diesem Nachmittag belauschte er Bain und Chiad, die darüber berieten, ob sie Faile helfen sollten, ihn — ausgerechnet! — zu schlagen. Er wußte nicht, ob Faile es vorgeschlagen hatte — sie war zornig, aber war sie so zornig? —, doch er vermutete, daß die beiden wollten, daß er ihr Gespräch hörte, was ihn wiederum zornig machte. Faile besprach Angelegenheiten, die nur sie beide etwas angingen, offensichtlich mit den anderen Frauen, was ihn noch zorniger machte. Über welche anderen Bereiche ihrer Ehe plauderte sie beim Tee noch? An diesem Abend zog Faile unter seinen erstaunten Blicken trotz der Hitze ein dickes, wollenes Nachtgewand an. Als er sie fast schüchtern auf die Wange zu küssen versuchte, murmelte sie, daß sie einen anstrengenden Tag gehabt habe, und drehte ihm den Rücken zu. Sie roch wütend, ausgesprochen wütend.
Er konnte bei diesem Geruch nicht schlafen, und je länger er neben ihr lag und in der Dunkelheit die Decke anstarrte, desto zorniger wurde auch er. Warum tat sie das? Konnte sie nicht erkennen, daß er sie liebte? Hatte er ihr nicht immer wieder gezeigt, daß er sie, mehr als alles andere auf der Welt, für immer behalten wollte? Konnte man ihm einen Vorwurf daraus machen, daß eine törichte junge Frau der Hafer stach und sie schäkern wollte? Er sollte sie auf den Kopf stellen und ihr das Hinterteil verbleuen, bis sie wieder zur Vernunft kam. Nur hatte er das schon einmal getan, als sie glaubte, sie könne ihn mit der Faust schlagen, wann immer sie etwas durchsetzen wollte. Auf lange Sicht hatte es ihn mehr geschmerzt als sie. Ihm gefiel nicht einmal der Gedanke daran, daß Faile Schmerzen zugefügt wurden. Er wollte Frieden mit ihr. Mit ihr und nur mit ihr.
Im ersten in den Fenstern widergespiegelten Dämmerlicht ihres sechsten Tages in Cairhien traf er eine Entscheidung. Berelain hatte im Stein mit einem Dutzend Männern geschäkert, von denen er wußte. Was auch immer sie dazu veranlaßt hatte, ihn als ihre Beute zu erwählen, so würde sie sich doch auf jemand anderen verlegen, wenn er eine Weile unerreichbar wäre. Und wenn Berelain erst ein anderes Opfer erwählt hätte, käme Faile wieder zur Vernunft. Es schien ganz einfach.
Er kleidete sich so bald wie möglich an und machte sich auf die Suche nach Loial, frühstückte mit ihm und begleitete ihn in die Königliche Bibliothek. Als er diese schlanke Aes Sedai sah und Loial ihm sagte, sie käme jeden Tag hierher — Loial war in Gegenwart von Aes Sedai zwar schüchtern, aber es störte ihn auch nicht, wenn fünfzig von ihnen um ihn waren —, spürte Perrin Gaul auf und fragte ihn, ob er mit ihm auf die Jagd gehen wolle. Es gab natürlich nicht allzu viel Wild oder Hasen in den Bergen nahe der Stadt, und die wenigen Tiere litten genauso unter der Dürre wie die Menschen, und doch hätte Perrins Nase die Fährte jedes Tieres aufnehmen können. Er legte nicht ein einziges Mal einen Pfeil ein, aber er beharrte darauf, draußen zu bleiben, bis Gaul ihn fragte, ob er im Licht des Halbmonds Fledermäuse jagen wolle. Perrin vergaß manchmal, daß andere Menschen nachts nicht so gut sehen konnten wie er. Am nächsten Tag jagte er ebenfalls bis in die Dunkelheit, wie auch jeden weiteren Tag.
Sein einfacher Plan schien jedoch fehlzuschlagen. Als er in der ersten Nacht in den Sonnenpalast zurückkehrte, den nicht gespannten Bogen über der Schulter und angenehm müde vom vielen Umherwandern, trug ein nur zufälliger Luftzug Berelains Parfüm gerade noch rechtzeitig an ihn heran, daß er die Haupteingangshalle des Palastes meiden konnte. Er bedeutete den Aiel-Wächtern, sich ruhig zu verhalten, und schlich sich zu einem Dienstboteneingang, wo er klopfen mußte, um von einem Burschen mit trüben Augen eingelassen zu werden. In der nächsten Nacht wartete Berelain im Gang vor seinen Räumen. Er mußte sich die halbe Nacht hinter einer Ecke verbergen, bevor sie aufgab. Sie wartete jede Nacht irgendwo, als könnte sie eine zufällige Begegnung vortäuschen, wenn außer einigen Dienern niemand sonst mehr wach war. Es war verrückt. Warum hatte sie sich nicht jemand anderem zugewandt? Und jede Nacht, wenn er sich schließlich mit den Stiefeln in der Hand in sein Schlafzimmer schlich, schlief Faile in diesem verdammten dicken Nachtgewand. Er war schon lange vor seiner sechsten schlaflosen Nacht hintereinander bereit zuzugeben, daß er sich geirrt hatte, obwohl er noch immer nicht verstand wieso. Es war ihm so verdammt einfach erschienen. Er wollte nur ein Wort von Faile hören, einen Hinweis darauf, was er sagen oder tun sollte. Aber er bekam nur das Geräusch seines eigenen Zähneknirschens in der Dunkelheit zu hören.
Am zehnten Tag erhielt Rand ein weiteres Bittschreiben Coirens um eine Anhörung, das genauso höflich abgefaßt war wie die ersten drei. Er saß eine Zeitlang da, rieb das dicke, elfenbeinfarbene Pergament zwischen Daumen und Zeigefinger und dachte nach. Er konnte mit seinem Gespür für Alanna nicht genau bestimmen, wie weit sie noch entfernt war, aber wenn er verglich, wie stark dieses Gespür am ersten Tag gewesen war und wie stark es jetzt war, glaubte er, daß sie sich vielleicht auf halbem Weg nach Cairhien befand. Wenn dem so war, vergeudete Merana keine Zeit. Das war gut. Er wollte, daß sie beschäftigt war. Auch ein wenig Reue wäre hilfreich, aber genausogut könnte er sich den Mond wünschen. Sie war eine Aes Sedai. Es würden zehn weitere Tage vergehen, bis sie Cairhien erreichten, wenn sie in diesem Tempo weiterzogen, und das sollte ihnen möglich sein. Rand hatte folglich genügend Zeit, sich noch zweimal mit Coiren zu treffen, so daß er jeder Gruppe drei Anhörungen gewährt hätte. Darüber sollte Merana nachdenken, wenn sie eintraf. Es bedeutete für sie keinen Vorteil, und sie brauchte nicht zu wissen, daß er ebensowenig in die Nähe der Weißen Burg gehen würde, wie er eine Hand in eine Schlangengrube stecken würde, besonders wenn Elaida die Amyrlin war. Noch zehn Tage, und er würde seine Stiefel verspeisen, wenn noch zehn weitere Tage vergingen, bevor Merana sich einverstanden erklärte, ihm Salidars Unterstützung anzubieten, ohne diesen Unsinn darüber, ihn begleiten und ihm den Weg zeigen zu wollen. Dann konnte er seine ganze Aufmerksamkeit endlich Sammael zuwenden.
Während Rand dort saß und an Coiren schrieb, daß sie morgen nachmittag zwei ihrer Schwestern mit zum Sonnenpalast bringen sollte, begann Lews Therin hörbar zu murmeln. Ja. Sammael. Dieses Mal töte ich ihn. Demandred und Sammael und sie alle, dieses Mal. Ja, das werde ich tun.
Rand bemerkte es kaum.