Egwene kniete nur in ihrem Nachtgewand auf dem Boden und betrachtete stirnrunzelnd das dunkelgrüne, seidene Reitgewand, das sie in der Wüste getragen hatte, was jetzt sehr lange zurückzuliegen schien. Es gab so vieles zu tun. Sie hatte sich ein wenig Zeit genommen, um eine eilige Notiz zu schreiben und Cowinde mit der Anweisung aus dem Bett zu scheuchen, sie am Morgen zum Großen Mann zu bringen. Die Notiz besagte kaum mehr als die Tatsache, daß sie fortgehen mußte — sie wußte selbst nicht wesentlich mehr —, aber sie konnte nicht einfach verschwinden, ohne es Gawyn mitzuteilen. Einige Sätze brachten sie in der Erinnerung zum Erröten — ihm zu sagen, daß sie ihn liebte, war eine Sache, aber ihn tatsächlich zu bitten zu warten! —, und dennoch hatte sie soweit wie möglich Rücksicht auf ihn genommen. Jetzt mußte sie sich bereitmachen, und sie wußte kaum wofür.
Der Zelteingang wurde zurückgeschlagen, und Amys, Bair und Sorilea traten ein. Sie stellten sich in eine Reihe und schauten auf sie herab. Drei vor Mißbilligung starre Gesichter. Es fiel ihr sehr schwer, ihr Gewand nicht krampfhaft über der Brust festzuhalten.
Sie fühlte sich in ihrem Nachthemd entschieden im Nachteil. Sie wäre sogar in einer Rüstung im Nachteil gewesen. Es ging nur darum, daß sie im Unrecht war. Es überraschte sie, daß sie so lange gebraucht hatten, um herzukommen.
Sie atmete tief ein. »Wenn Ihr gekommen seid, um mich zu bestrafen — ich habe keine Zeit, um Wasser zu tragen oder Löcher zu graben. Es tut mir leid, aber ich sagte, ich würde sobald wie möglich kommen, und ich denke, sie beabsichtigen die Minuten zu zählen.«
Amys hob überrascht die hellen Augenbrauen, und Bair und Sorilea wechselten verwirrte Blicke. »Wie sollten wir Euch bestrafen?« fragte Amys. »Ihr habt in dem Moment aufgehört, eine Schülerin zu sein, als Eure Schwestern Euch berufen haben. Ihr müßt als Aes Sedai zu ihnen gehen.«
Egwene verbarg ihr Erschrecken, indem sie erneut ihr Reitgewand begutachtete. Es war bemerkenswert wenig zerknittert, obwohl es all diese Monate zusammengelegt in der Kiste gelegen hatte. Sie zwang sich, die Weisen Frauen erneut anzusehen. »Ich weiß, daß Ihr zornig auf mich seid, und Ihr habt Grund...«
»Zornig?« erwiderte Sorilea. »Wir sind nicht zornig. Ich dachte, Ihr würdet uns besser kennen.« Sie klang wirklich nicht zornig, obwohl ihr Gesicht und die der beiden anderen noch immer von Mißbilligung zeugten.
Egwene schaute von einer zur anderen, besonders zu Amys und Bair. »Aber Ihr habt mir gesagt, daß Ihr es für falsch haltet, was ich zu tun beabsichtige. Ihr habt gesagt, ich sollte nicht einmal darüber nachdenken. Ich sagte, das würde ich auch nicht tun, und dann ging ich los und fand heraus, wie ich es doch tun kann.«
Überraschenderweise überzog ein Lächeln Sorileas lederartiges Gesicht. Ihre vielen Armreifen klimperten, als sie ihre Stola richtete. »Seht Ihr? Ich habe Euch gesagt, daß sie verstehen würde. Sie könnte eine Adel sein.«
Ein Teil der Angespanntheit wich von Amys, ein wenig mehr von Bair, und Egwene verstand wirklich. Sie waren nicht zornig darüber, daß sie Tel'aran'rhiod körperlich betreten wollte. Es war in ihren Augen falsch, aber man mußte tun, was man tun zu müssen glaubte, und sie war nur sich selbst gegenüber verpflichtet. Sie war überhaupt nicht zornig, noch nicht.
Ihre Lüge machte ihr zu schaffen. Ihr Magen flatterte. Die Lüge, die sie eingestanden hatte. Vielleicht ihre kleinste Lüge.
Ein weiterer tiefer Atemzug war nötig, um ihre Kehle für die Worte vorzubereiten. »Ich habe auch bei anderen Dingen gelogen. Ich bin allein nach Tel'aran'rhiod gegangen, obwohl ich versprochen hatte, es nicht zu tun.« Amys' Gesicht verdüsterte sich erneut. Sorilea, die keine Traumgängerin war, schüttelte nur traurig den Kopf. »Ich habe als Schülerin versprochen zu gehorchen, aber als Ihr sagtet, die Welt der Träume sei zu gefährlich, nachdem ich verletzt wurde, ging ich dennoch wieder hin.« Bair verschränkte mit ausdruckslosem Gesicht die Arme.
Sorilea murmelte etwas über törichte Mädchen, aber es klang nicht zornig. Ein dritter langer Atemzug. Dies würde am schwersten auszusprechen sein. Ihr Magen flatterte nicht mehr, sondern er tanzte so stark, daß es sie überraschte, nicht zu zittern. »Das schlimmste von allem ist, daß ich keine Aes Sedai bin. Ich bin nur eine Aufgenommene. Ihr könntet mich einen Lehrling nennen. Ich werde noch jahrelang nicht zur Aes Sedai erhoben werden, wenn ich es jetzt überhaupt noch irgendwann werden kann.«
Bei diesen Worten hob Sorilea den Kopf, die dünnen Lippen fest zusammengepreßt, aber noch immer schwiegen sie. Es blieb Egwene überlassen, die Dinge geradezurücken. Sie würden niemals mehr sein wie zuvor, aber...
Du hast alles eingestanden, flüsterte eine leise Stimme. Jetzt solltest du besser herausfinden, wie schnell du Salidar erreichen kannst. Du kannst noch immer eines Tages zur Aes Sedai erhoben werden, aber nicht, wenn du sie noch wütender machst, als sie es bereits sind.
Egwene senkte den Blick und betrachtete die farbenprächtigen Teppiche, während sie verächtlich den Mund verzog. Verachtung für diese leise Stimme. Und Scham, weil sie in ihrem Kopf sprechen konnte, weil sie sie denken konnte. Sie würde fortgehen, aber bevor sie das tat, mußte sie alles geraderücken. Es war unter dem Ji'e'toh möglich. Man tat, was man tun mußte, und bezahlte dann den Preis. Vor vielen Monaten, in der Wüste, hatte Aviendha ihr gezeigt, wie man für eine Lüge bezahlen mußte.
Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen, legte das Seidengewand beiseite und erhob sich. Seltsamerweise schien es einfacher fortzufahren, wenn man erst begonnen hatte. Sie mußte noch immer aufschauen, um ihren Blicken zu begegnen, aber sie tat es stolz, mit hocherhobenem Kopf, und sie mußte sich nicht mehr zu den Worten zwingen. »Ich habe Toh.« Ihr Magen rebellierte nicht mehr. »Ich bitte Euch darum, mir zu helfen, meinem Toh gegenüberzutreten.« Salidar würde warten müssen.
Auf einen Ellbogen gestützt, betrachtete Mat das auf dem Zeltboden ausgelegte Spiel mit den Schlangen und Füchsen. Gelegentlich fiel ein Tropfen Schweiß von seinem Kinn und verfehlte das Spielbrett nur knapp. Es war eigentlich kein richtiges Spielbrett, sondern nur ein Stück roter Stoff mit aufgemalten schwarzen Linien und Pfeilen, die anzeigten, auf welchen Bahnen man nur in einer Richtung und auf welchen man in beiden Richtungen ziehen durfte. Zehn helle Holzscheiben mit einem aufgemalten Dreieck waren die Füchse, und zehn mit einer Wellenlinie die Schlangen. Zwei auf beiden Seiten der Spielfläche aufgestellte Lampen spendeten reichlich Licht.
»Dieses Mal werden wir gewinnen, Mat«, sagte Olver aufgeregt. »Ich weiß, daß wir gewinnen werden.«
»Vielleicht«, erwiderte Mat. Ihre beiden schwarz bemalten Scheiben waren fast wieder zum Kreis in der Mitte des Spielbretts gelangt, aber der nächste Wurf galt den Schlangen und Füchsen. Die meiste Zeit gelangte man nicht weiter als bis zum äußeren Rand. »Würfele.« Er berührte den Würfelbecher seit dem Tag, an dem er ihn dem Jungen gegeben hatte, niemals mehr selbst. Wenn sie das Spiel spielten, konnte es genausogut ohne seine glückliche Hand geschehen.
Olver ließ den Würfelbecher grinsend klappern und schüttelte die Holzwürfel, die sein Vater gemacht hatte, dann heraus. Er stöhnte, als er die Symbole zählte. Dieses Mal zeigten drei Würfel mit einem Dreieck gekennzeichnete Oberflächen, und die anderen drei zeigten Wellenlinien. Wenn sie kamen, mußte man die Schlangen und Füchse auf dem kürzesten Weg auf seine Steine zubewegen, und wenn einer auf der Stelle landete, die man besetzt hielt... Eine Schlange berührte Olver, ein Fuchs Mat, und Mat konnte erkennen, daß er von noch zwei weiteren Schlangen berührt worden wäre, wenn die Symbole ausgespielt worden wären.
Nur ein Kinderspiel, und eines, das man nicht gewinnen würde, solange man den Regeln folgte. Olver wäre bald alt genug, das zu erkennen, und würde wie andere Kinder aufhören zu spielen. Nur ein Kinderspiel, aber Mat mochte es nicht, wenn der Fuchs ihn erwischte, und noch weniger, wenn es den Schlangen gelang. Es weckte schlechte Erinnerungen, selbst wenn das eine mit dem anderen nichts zu tun hatte.
»Nun«, murmelte Olver, »wir hätten fast gewonnen.
Noch ein Spiel, Mat?« Er wartete nicht auf die Antwort, sondern zeigte das Zeichen, das das Spiel eröffnete — ein Dreieck mit einer Wellenlinie darüber —und rezitierte die Worte: »›Mut, um Kraft zu geben, Feuer zum Blenden, Musik zum Verwirren, Eisen zum Fesseln.‹ Mat, warum sagen wir das? Da ist kein Feuer, keine Musik und kein Eisen.«
»Ich weiß es nicht.« Der Vers rührte an etwas in seinem Unterbewußtsein, aber es war nicht greifbar. Die alten Erinnerungen vom Ter'angreal hätten genausogut zufällig ausgewählt werden können —wahrscheinlich war es so —, und da waren all jene Lücken in seiner Erinnerung, all jene verschwommenen Stellen. Der Junge stellte stets Fragen, auf die er keine Antworten wußte, und die üblicherweise mit ›warum‹ begannen.
Daerid trat geduckt aus der Nacht herein und stieß einen Laut der Überraschung aus. Sein Gesicht schimmerte vor Schweiß und er trug noch immer seinen Mantel, wenn er ihn auch bereits geöffnet hatte. Seine neueste Narbe bildete eine rötliche Furche über den weißen Linien, die sein Gesicht kreuz und quer überzogen.
»Ich glaube, du müßtest längst im Bett sein, Olver«, sagte Mat und stieß sich hoch. Seine Wunden zwickten ein wenig, aber wirklich nur ein wenig. Sie heilten eigentlich sehr gut. »Nimm das Spielbrett mit.« Er trat nahe an Daerid heran und senkte seine Stimme zu einem Flüstern. »Wenn Ihr jemals etwas hiervon erzählt, schneide ich Euch die Kehle durch.«
»Warum?« fragte Daerid trocken. »Ihr werdet allmählich ein wunderbarer Vater. Er ähnelt Euch auf bemerkenswerte Weise.« Er schien mühsam ein Grinsen zu unterdrücken, aber kurz darauf wurde er wieder ernst. »Der Lord Drache kommt ins Lager«, sagte er.
Der Drang, Daerid auf die Nase zu boxen, verging. Mat schob den Zelteingang beiseite und trat in Hemdsärmeln geduckt in die Nacht hinaus. Sechs von Daerids Männern, die im Kreis um das Zelt herumstanden, erstarrten, als er erschien. Armbrustschützen. Speere würden Wachen sicherlich nicht viel nützen. Es war Nacht, aber das Lager lag nicht im Dunkeln. Der helle Schein eines zunehmenden Dreiviertelmondes an einem wolkenlosen Himmel verblaßte im Schein der Feuer zwischen den Zeltreihen. Männer schliefen auf dem Boden. Wächter standen alle zwanzig Schritt die ganze Holzpalisade entlang. Mat hätte es anders gemacht, aber wenn ein plötzlicher Angriff aus der Luft möglich war...
Die Landschaft war hier fast vollkommen eben, so daß er den auf ihn zuschreitenden Rand gut sehen konnte. Er war nicht allein. Zwei verschleierte Aiel gingen auf Zehenspitzen neben ihm und verdrehten jedes Mal die Köpfe, wenn einer der Horde sich im Schlaf umwandte oder ein Wächter seine Lage veränderte, um sie zu beobachten. Auch diese Aiel-Frau Aviendha war bei ihm, ein Bündel über den Rücken geschnürt und einherstolzierend, als würde sie jedermann an die Kehle gehen, der ihr in den Weg kam. Mat verstand nicht, warum Rand sie in seiner Nähe duldete. Aiel-
Frauen bedeuten nur Ärger, dachte er trübe, und ich habe noch niemals eine Frau erlebt, die mehr auf Ärger aus wäre als sie.
»Ist das wirklich der Wiedergeborene Drache?« fragte Olver atemlos. Er preßte das zusammengerollte Spiel an seine Brust und wäre vor Aufregung fast auf und ab gehüpft.
»Er ist es«, belehrte Mat ihn. »Aber jetzt ab ins Bett. Dies ist kein Ort für Jungen.«
Olver ging murrend davon, aber nur bis zum nächststehenden Zelt. Mat sah aus den Augenwinkeln, wie der Junge außer Sicht eilte. Dann erschien sein Gesicht erneut, als er um die Ecke spähte.
Mat ließ ihn gewähren, obwohl er sich nach einem prüfenden Blick auf Rands Gesicht fragte, ob dies überhaupt ein Ort für erwachsene Männer war, geschweige denn für einen Jungen. Mit Rands Gesicht hätte man eine Mauer einschlagen können, aber dennoch sollte sich eine Empfindung zeigen, Aufregung oder vielleicht Ungeduld. Rands Augen glänzten aufgeregt. Er hielt ein großes, zusammengerolltes Stück Pergament in einer Hand, während er mit der anderen unbewußt über das Schwertheft strich. Die Gürtelschnalle in Drachenform schimmerte im Feuerschein. Manchmal schimmerte auch der Kopf eines der Drachen auf, die aus seinen Mantelärmeln hervorsahen.
Als er Mat erreichte, verschwendete er keine Zeit mit Begrüßungen. »Ich muß mit dir sprechen. Allein. Du mußt etwas für mich tun.« Die Nacht war rabenschwarz, und Rand trug einen goldbestickten grünen Mantel mit hohem Kragen, aber er schwitzte nicht.
Daerid, Talmanes und Nalesean standen wenige Schritte entfernt und beobachteten sie. Mat bedeutete ihnen zu warten und nickte dann in Richtung seines Zeltes. Er folgte Rand hinein und betastete den silbernen Fuchskopf unter seinem Hemd. Er brauchte sich um nichts Sorgen zu machen. Zumindest hoffte er das.
Rand hatte gesagt, allein, aber Aviendha dachte offensichtlich, daß dies für sie nicht galt. Sie blieb beharrlich zwei Schritte von ihm entfernt stehen, nicht mehr und nicht weniger. Die meiste Zeit beobachtete sie Rand mit undurchdringlichem Blick, aber hin und wieder schaute sie auch stirnrunzelnd und ihn von Kopf bis Fuß messend zu Mat. Rand beachtete sie nicht, und obwohl er vorher sehr in Eile gewesen zu sein schien, galt dies jetzt nicht mehr. Er sah sich in dem Zelt um, obwohl Mat sich unbehaglich fragte, ob er es überhaupt zur Kenntnis nahm. Es gab nicht viel zu sehen. Olver hatte die Lampen wieder auf den kleinen, zusammenlegbaren Tisch gestellt. Auch der Stuhl war zusammenlegbar, wie auch das Waschgestell und das Bett. Alles war schwarz lackiert und goldverziert. Wenn ein Mann Geld besaß, konnte er es genausogut ausgeben. Die Risse, die die Aiel der Zeltwand zugefügt hatten, waren ordentlich geflickt worden, aber immer noch zu sehen.
Das Schweigen zehrte an Mat. »Was ist los, Rand? Du hast doch hoffentlich nicht beschlossen, den Plan jetzt noch zu ändern?« Keine Antwort, nur ein Blick, als hätte Rand sich gerade erst wieder daran erinnert, daß Mat da war. Das machte Mat unruhig. Was auch immer Daerid und die restliche Horde dachten — er bemühte sich sehr, sich aus Kämpfen herauszuhalten. Manchmal jedoch stand Ta'veren seinem Glück entgegen. So sah er es. Er glaubte, daß Rand etwas damit zu tun hatte. Er war stärker Ta'veren, manchmal ausreichend stark, daß Mat fast ein Ziehen verspürte. Wenn Rand die Finger im Spiel hatte, wäre Mat nicht überrascht, sich plötzlich inmitten eines Kampfes wiederzufinden, wenn er in einer Scheune schliefe. »Noch ein paar Tage, dann werde ich in Tear sein. Die Fähren werden die Horde über den Fluß bringen, so daß wir in einigen Tagen bei Weiramon sein werden. Es ist, verdammt noch mal, zu spät, noch etwas zu ändern...«
»Ich möchte, daß du Elayne nach ... Caemlyn bringst«, unterbrach ihn Rand. »Ich möchte, daß du sie sicher in Caemlyn unterbringst, ganz gleich was geschieht. Weiche ihr nicht von der Seite, bis sie den Löwenthron bestiegen hat.« Aviendha räusperte sich. »Ja«, sagte Rand. Aus irgendeinem Grund wurde seine Stimme ebenso kalt und hart wie sein Gesicht. Aber brauchte er andererseits Gründe, wenn er wahnsinnig wurde? »Aviendha begleitet dich. Das halte ich für das beste.«
»Das hältst du für das beste?« fragte sie aufgebracht. »Wenn ich nicht rechtzeitig aufgewacht wäre, hätte ich niemals erfahren, daß du sie gefunden hast. Du schickst mich nirgendwohin, Rand al'Thor. Ich muß aus ... persönlichen Gründen mit Elayne sprechen.«
»Ich bin sehr froh, daß du Elayne gefunden hast«, sagte Mat vorsichtig. Wenn er Rand wäre, würde er die Frau belassen, wo immer sie war. Licht, Aviendha wäre besser! Zumindest gingen Aiel-Frauen nicht mit in die Luft gereckten Nasen umher oder erwarteten, daß man sprang, nur weil sie es sagten. Natürlich spielten sie teilweise rauhe Spiele, und sie hatten die Angewohnheit, einen hin und wieder töten zu wollen. »Ich verstehe einfach nicht, warum du mich brauchst. Spring durch eines deiner Tore, küsse sie, nimm sie auf den Arm und spring zurück.« Aviendha bedachte ihn mit einem zornigen Blick. Man hätte denken können, er hätte vorgeschlagen, sie zu küssen.
Rand entrollte das Pergament auf dem Tisch und benutzte die Lampen, um die Ecken zu beschweren. »Sie befindet sich hier.« Es war eine Landkarte, ein Teil des Flußlaufes des Eldar und ungefähr fünfzig Meilen Land zu jeder Seite. Ein Pfeil war in blauer Tinte eingezeichnet, der in einen Wald zeigte. Salidar stand neben dem Pfeil. Rand tippte auf den östlichen Rand der Karte. Auch hier befand sich überwiegend Wald. »Hier gibt es eine große Lichtung. Du kannst sehen, daß das nächstgelegene Dorf fast zwanzig Meilen nördlich liegt. Ich werde für dich und die Horde ein Tor zu der Lichtung eröffnen.«
Mat gelang es, seinen erschreckten Gesichtsausdruck in ein Grinsen zu verwandeln. »Schau, wenn ich es unbedingt sein muß — warum dann nicht nur ich? Eröffne dein Tor zu diesem Salidar, ich werde sie auf ein Pferd hieven und dann...« Und dann was? Würde Rand auch ein Tor von Salidar nach Caemlyn eröffnen? Es war ein langer Ritt von Eldar nach Caemlyn. Ein sehr langer Ritt, wenn man nur eine hochnäsige Adlige und eine Aiel als Begleitung hatte.
»Die Horde, Mat«, fauchte Rand. »Du und die ganze Horde! « Er atmete tief und zitternd ein, und seine Stimme wurde sanfter. Sein Gesicht blieb jedoch genauso starr wie zuvor, und seine Augen glänzten noch immer fiebrig. Mat mußte fast annehmen, daß er krank sei oder Schmerzen habe. »Es sind Aes Sedai in Salidar, Mat. Ich weiß nicht, wie viele. Hunderte, habe ich gehört, aber ich wäre nicht überrascht, wenn es eher fünfzig wären. So wie sie in der Burg umherwandeln, heil und rein, bezweifle ich, daß man mehr sehen würde. Ich beabsichtige dich in zwei oder drei Tagen Entfernung zu platzieren, so daß sie von deiner Ankunft erfahren können. Wir wollen sie nicht überraschen — sonst könnten sie einen Angriff der Weißmäntel vermuten. Sie lehnen sich gegen Elaida auf und sind wahrscheinlich ausreichend verängstigt, daß du nur ein wenig auftrumpfen und sagen mußt, daß Elayne in Caemlyn gekrönt werden soll, damit sie sie gehen lassen. Wenn du glaubst, daß man ihnen vertrauen kann, biete ihnen deinen Schutz an. Und auch meinen. Sie sollten auf meiner Seite stehen, und sie wären inzwischen vielleicht sogar über meinen Schutz froh. Dann begleitest du Elayne — und so viele Aes Sedai, wie mitkommen möchten — über Altara und Murandy nach Caemlyn. Wenn du meine Banner zeigst und ankündigst, was du tust, dann glaube ich nicht, daß die Altarener oder Murandianer große Schwierigkeiten machen, solange du weiterziehst. Wenn du unterwegs auf Drachenverschworene stößt, schließe sie dir ebenfalls an. Die meisten werden wahrscheinlich zu Banditen werden, wenn ich sie nicht bald an mich binde — ich habe bereits gerüchteweise davon gehört —, aber du wirst sie einziehen, läßt meine Banner flattern.« Er grinste plötzlich, was aber die glänzenden Augen unberührt ließ, »Wie viele Vögel mit einem Stein, Mat? Du reitest mit sechstausend Mann und mit dem Drachenschwert hinter dir durch Altara und Murandy und kannst mir vielleicht beide Länder übergeben.«
Dieser Plan beinhaltete so vieles, was Mat widerstrebte, daß es ihn nicht mehr kümmerte, welche Sorgen Rand hatte. Er sollte die Aes Sedai glauben lassen, er wollte sie angreifen? Bestimmt nicht. Und er sollte fünfzig von ihnen einschüchtern? Aes Sedai ängstigten ihn nicht, vielleicht nicht einmal fünf oder sechs zusammen, aber fünfzig? Er berührte erneut den Fuchskopf unter seinem Hemd. Er könnte vielleicht genausogut herausfinden, wieviel Glück er wirklich hatte. Er konnte sich jetzt vorstellen, durch Altara und Murandy zu reiten. Jeder Adlige, dessen Land er passieren würde, würde sich wie ein eitler Pfau aufplustern und ihn in dem Moment zu hacken versuchen, in dem er ihm den Rücken kehrte. Wenn dieser Ta'veren-Wahnsinn ins Spiel kam, würde er wahrscheinlich einen Lord oder eine Lady entdecken, die unmittelbar vor seiner Nase ein Heer erhöben.
Er unternahm noch einen Versuch. »Rand, glaubst du nicht, dies könnte Sammaels Aufmerksamkeit auf den Norden ziehen? Du willst, daß er sich ostwärts wendet. Darum bin ich hier, erinnerst du dich? Um seine Aufmerksamkeit hierher zu lenken.«
Rand schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Er wird nur eine Ehrengarde sehen, welche die Königin von Andor nach Caemlyn geleitet, und das auch nur, wenn er davon erfährt, bevor du Caemlyn erreichst. Wie schnell kannst du bereit sein?«
Mat öffnete den Mund, gab es aber dann auf. Er würde den Mann nicht überzeugen können. »Zwei Stunden.« Die Horde konnte schneller angezogen sein und gesattelt haben, aber er war nicht in Eile, und das letzte, was er wollte, war, daß die Horde glaubte, sie starteten einen Angriff.
»Gut. Ich brauche selbst auch ungefähr eine Stunde.« Er sagte nicht wofür. »Bleib nahe bei Elayne, Mat. Sorge für ihre Sicherheit. Ich meine ... das Ganze hat keinen Sinn, wenn sie nicht lebend zu ihrer Krönung nach Caemlyn gelangt.« Glaubte Rand, er wüßte nichts davon, daß er und Elayne in jedem Winkel des Steins herumgeknutscht hatten, als sie das letzte Mal zusammen waren?
»Ich werde sie wie meine eigene Schwester behandeln.« Seine Schwestern hatten ihr Möglichstes getan, ihm das Leben schwerzumachen. Nun, er erwartete von Elayne dasselbe, nur auf eine andere Art. Vielleicht wäre Aviendha wirklich ein wenig besser. »Ich werde sie nicht aus den Augen lassen, bis ich sie im Königlichen Palast abgeliefert habe.« Und wenn sie zu oft zu schmollen versucht, werde ich sie, verdammt noch mal, treten!
Rand nickte. »Das erinnert mich an etwas. Bodewhin ist in Caemlyn. Mit Verin und Alanna und einigen weiteren Zwei-Flüsse-Mädchen. Sie wollen sich zu Aes Sedai ausbilden lassen. Ich bin nicht sicher, ob sie es tun werden. So wie die Dinge im Moment stehen, werde ich sie sicherlich nicht zur Burg ziehen lassen. Vielleicht wird sich die Aes Sedai, die du zurückbringst, darum kümmern.«
Mat sperrte den Mund auf. Seine Schwester, eine Aes Sedai? Bode, die gewöhnlich loslief und ihrer Mutter sofort erzählte, wann immer er etwas zum Vergnügen tat?
»Noch etwas«, fuhr Rand fort. »Egwene wird vielleicht vor dir in Salidar sein. Sie haben anscheinend irgendwie herausgefunden, daß sie sich eine Aes Sedai nennt. Tu, was du kannst, um sie dort herauszubekommen. Sage ihr, daß ich sie so bald wie möglich zu den Weisen Frauen zurückbringe. Sie wird wahrscheinlich mehr als bereit sein, mit dir zu gehen. Vielleicht aber auch nicht. Du weißt, wie eigensinnig sie immer gewesen ist. Aber am wichtigsten ist Elayne. Denk daran, weiche nicht von ihrer Seite, bis sie Caemlyn erreicht hat.«
»Ich verspreche es«, murmelte Mat. Wie, unter dem Licht, konnte Egwene irgendwo auf dem Eldar sein? Er war sich sicher, daß sie in Cairhien gewesen war, als er Maerone verließ. Es sei denn, sie hätte Rands Trick mit den Toren herausgefunden. In diesem Fall konnte sie jederzeit zurückkehren. Oder nach Caemlyn gelangen und gleichzeitig ein Tor für ihn und die Horde eröffnen. »Mach dir auch um Egwene keine Sorgen. Ich werde sie aus welchen Schwierigkeiten auch immer befreien, egal, wie starrsinnig sie sich verhält.« Es wäre nicht das erste Mal, daß er für sie die Kastanien aus dem Feuer holte. Sehr wahrscheinlich würde er auch diesesmal keinen Dank dafür bekommen. Bode sollte eine Aes Sedai werden? Blut und verdammte Asche!
»Gut«, sagte Rand. »Gut.« Aber er betrachtete angestrengt die Karte. Dann riß er den Blick los, und Mat dachte einen Moment, er wollte etwas zu Aviendha sagen. Aber statt dessen wandte er sich brüsk von ihr ab. »Thom Merrilin sollte bei Elayne sein.« Rand zog einen gefalteten und versiegelten Brief aus der Tasche. »Sorge dafür, daß er dies bekommt.« Er reichte Mat den Brief und verließ eilig das Zelt.
Aviendha ging ihm einen Schritt nach, eine Hand halbwegs erhoben und die Lippen zum Sprechen geöffnet. Aber sie schloß den Mund ebenso schnell wieder, verschränkte die Hände in ihren Röcken und schloß fest die Augen. Also kam der Wind aus dieser Richtung? Und sie will mit Elayne sprechen. Wie konnte Rand jemals in diese unangenehme Lage geraten? Rand war immer derjenige gewesen, der mit Frauen umzugehen wußte, Rand und Perrin.
Aber es ging ihn nichts an. Er drehte den Brief in den Händen. Thoms Name war mit weiblicher Handschrift darauf geschrieben. Das Siegel kannte er nicht: ein sich weit ausbreitender, eine Krone tragender Baum. Welche Adlige würde einem verwitterten alten Mann wie Thom schreiben? Auch das ging ihn nichts an. Er warf den Brief auf den Tisch und nahm seine Pfeife und den Tabaksbeutel. »Olver«, sagte er, während er sich die Pfeife stopfte, »bitte Talmanes, Nalesean und Daerid zu mir.«
Vor dem Zelteingang erklang ein erschreckter Laut und dann: »Ja, Mat«, und das Geräusch davoneilender Füße.
Aviendha sah ihn an und kreuzte mit entschlossenem Gesichtsausdruck die Arme.
Er kam ihr zuvor. »Solange Ihr mit der Horde reist, untersteht Ihr meinem Befehl. Ich will keinen Ärger und erwarte, daß Ihr dafür sorgt, daß es keinen gibt.«
Sollte sie irgend etwas anzetteln, würde er sie Elayne auf einen Packsattel geschnürt übergeben, und wenn zehn Männer nötig wären, sie dort festzubinden.
»Ich weiß zu gehorchen, Schlachtführer.« Sie unterstrich diese Anrede mit einem scharfen Schnauben. »Aber Ihr solltet wissen, daß nicht alle Frauen so verweichlicht sind wie die Feuchtländer. Wenn Ihr eine Frau auf ein Pferd zu setzen versucht, obwohl sie nicht gehen will, könnte sie Euch vielleicht ein Messer zwischen die Rippen stoßen.«
Mat ließ fast seine Pfeife fallen. Er wußte, daß Aes Sedai nicht Gedanken lesen konnten — wenn sie es könnten, hinge sein Fell schon lange an einer Wand in der Weißen Burg —, aber vielleicht konnten Weise Frauen der Aiel... Natürlich nicht. Es ist nur einer jener Tricks,
Über die Frauen verfügen. Wenn er darüber nachdachte, konnte er sich vorstellen, wie sie es tat. Aber er machte sich einfach nicht die Mühe, darüber nachzudenken.
Er räusperte sich, steckte sich die kalte Pfeife zwischen die Lippen und beugte sich herab, um die Karte eingehend zu betrachten. Die Horde würde die Entfernung von der Lichtung nach Salidar wahrscheinlich in einem Tag bewältigen, wenn er sie vorantrieb, selbst in diesem bewaldeten Gebiet, aber er beabsichtigte, zwei oder sogar drei Tage einzuplanen. Die Aes Sedai sollten ausreichend vorgewarnt sein. Er wollte sie nicht noch mehr beunruhigen, als sie es bereits waren. Eine beunruhigte Aes Sedai war fast ein Widerspruch in sich. Er war, selbst wenn er das Medaillon trug, nicht erpicht darauf zu erfahren, zu was eine beunruhigte Aes Sedai in der Lage wäre.
Er spürte Aviendhas Blick im Nacken und hörte ein schabendes Geräusch. Sie saß mit überkreuzten Beinen an der Zeltwand, zog ihr Gürtelmesser über einen Schleifstein und beobachtete ihn.
Als Nalesean mit Daerid und Talmanes eintrat, begrüßte er sie mit den Worten: »Wir werden einige Aes Sedai unter dem Kinn kitzeln, einen Dickkopf retten und ein eigenwilliges Mädchen auf den Thron bringen. O ja. Das ist Aviendha. Seht sie nicht schief an, sonst wird sie Euch die Kehle durchschneiden und ihre eigene wahrscheinlich aus Versehen ebenfalls.« Die Frau lachte, als hätte er einen der besten Scherze der Welt gemacht. Sie hielt jedoch nicht mit dem Messerschärfen inne.
Einen Moment konnte Egwene nicht verstehen, warum der Schmerz nicht stärker geworden war. Dann erhob sie sich von dem Teppich in ihrem Zelt und schluchzte so stark, daß sie zitterte. Sie hatte das dringende Bedürfnis, sich die Nase zu putzen. Sie wußte nicht, wie lange sie schon so heftig weinte. Sie wußte nur, daß sie von den Hüften bis zu den Kniekehlen entbrannt zu sein schien. Es gelang ihr kaum stillzustehen. Das Hilfsmittel, das sie als geringen Schutz hatte benutzen wollen, war schon vor einiger Zeit unbrauchbar geworden. Tränen liefen ihr Gesicht hinab, und sie stand da und schluchzte.
Sorilea, Amys und Bair beobachteten sie ausdruckslos; sie waren nicht die einzigen, obwohl die meisten anderen auf Kissen saßen oder sich ausgestreckt hatten, plauderten und den von einer schlanken Gai'shain servierten Tee genossen. Eine Frau, dem Licht sei Dank. Alle waren Frauen, Weise Frauen und Lehrlinge, Frauen, denen Egwene erzählt hatte, sie sei eine Aes Sedai. Sie war dankbar, daß es sie nur glauben zu lassen nicht zählte. Sonst hätte sie es nicht überleben können! Das Behaupten, die ausgesprochene Lüge zählte, aber es hatte Überraschungen gegeben, Cosain, eine hagere, gelbhaarige Rückgrat-Miagoma, hatte mürrisch gesagt, Egwene habe ihr gegenüber kein Toh, aber sie würde zum Tee bleiben. Und Estair ebenfalls. Aeron wiederum schien sie vernichten zu wollen, und Surandha ..
Egwene versuchte den Tränenschleier fortzublinzeln und schaute dann zu Surandha. Sie saß mit drei Weisen Frauen zusammen, unterhielt sich und schaute gelegentlich in Egwenes Richtung. Surandha war erbarmungslos gewesen. Nicht daß eine von ihnen gnädig mit ihr umgegangen wäre. Der Gürtel, den Egwene in einer der Kisten gefunden hatte, war dünn und fein gearbeitet, aber zweimal so breit wie ihre Hand, und diese Frauen hatten alle starke Arme. Ungefähr ein halbes Dutzend Schläge von jeder der Frauen summierten sich.
Egwene hatte sich noch niemals in ihrem Leben so geschämt wie jetzt Nicht weil sie nackt war, ein gerötetes Gesicht hatte und wie ein Baby weinte. Nun, das Weinen war ein Grund. Und auch nicht, daß sie alle bei ihrer Züchtigung zusahen, ohne selbst Hand an sie zu legen. Sie schämte sich, weil sie es so schwergenommen hatte. Sogar ein Aiel-Kind wäre gleichmütiger gewesen. Nun, ein Kind wäre dem niemals ausgesetzt worden, aber es ging um das Prinzip einfacher Wahrheit.
»Ist es vorbei?« Gehörte diese belegte, unsichere Stimme wirklich ihr? Wie diese Frauen lachen würden, wenn sie wüßten, wie sorgfältig sie ihren Mut zusammengenommen hatte.
»Nur Ihr kennt den Wert Eurer Ehre«, sagte Amys tonlos. Sie ließ den Gürtel an der Seite baumeln und benutzte die breite Schnalle als Griff. Die leisen Unterhaltungen hatten aufgehört.
Egwene atmete zwischen ihren Schluchzern tief und zitternd ein. Sie brauchte nur zu sagen, daß es vorbei war, und es wäre vorbei. Sie hätte nach einem Schlag von jeder Frau sagen können, es sei vorbei. Sie hätte...
Sie kniete sich hin und streckte sich dann erneut auf den Teppichen aus. Sie bewegte die Hände unter Bairs Röcke, um durch die weichen Stiefel ihre mageren Knöchel zu umklammern. Dieses Mal würde sie allen Mut zusammennehmen. Dieses Mal würde sie nicht aufschreien. Dieses Mal würde sie nicht treten oder um sich schlagen oder... Der Gürtel hatte sie noch nicht getroffen. Sie hob den Kopf und sah die Frauen blinzelnd an. »Worauf wartet Ihr?« Ihre Stimme zitterte noch immer, aber sie klang jetzt auch zornig. Sie zu allem anderen noch warten zu lassen! »Ich muß heute abend eine Reise antreten, falls Ihr es vergessen habt. Macht weiter.«
Amys warf den Gürtel neben Egwenes Kopf. »Diese Frau hat mir gegenüber kein Toh.«
»Diese Frau hat mir gegenüber kein Toh.« Das war Bairs leise Stimme.
»Diese Frau hat mir gegenüber kein Toh«, sagte Sorilea eindringlich. Sie beugte sich herab und strich Egwene das feuchte Haar aus dem Gesicht. »Ich wußte, daß Ihr im Herzen eine Aiel seid. Aber seid jetzt nicht zu stolz, Mädchen. Ihr seid Eurem Toh gegenübergetreten. Steht auf, bevor wir glauben, daß Ihr frohlockt.«
Sie halfen ihr hoch, umarmten sie, wischten ihr die Tränen fort und hielten schließlich auch ein Taschentuch für sie bereit, damit sie sich die Nase putzen konnte.
Die anderen Frauen versammelten sich um sie, und jede verkündete, daß diese Frau ihnen gegenüber kein Toh habe, bevor sie Egwene nacheinander umarmten und anlächelten. Das Lächeln war der größte Schock. Surandha strahlte sie so freundlich an wie immer. Aber natürlich! Toh existierte nicht mehr, wenn man ihm gegenübergetreten war. Was auch immer es bewirkt hatte, hätte genausogut nicht geschehen sein können. Ein kleiner, nicht in das Ji'e'toh eingebundener Teil Egwenes glaubte, daß ihre Worte wie auch die Tatsache, daß sie sich zunächst wieder hingelegt hatte, vielleicht letztendlich gewirkt hatten. Vielleicht war sie am Anfang nicht gleichmütig gewesen, aber zumindest am Ende — darin hatte Sorilea recht. Sie war in ihrem Herzen eine Aiel. Sie glaubte, daß sie in einem Teil ihres Herzens stets eine Aiel sein würde.
Die Weisen Frauen und die Lehrlinge zerstreuten sich allmählich. Anscheinend hätten sie die ganze Nacht bleiben und mit Egwene lachen und reden sollen, aber das war nur ein Brauch, nicht Ji'e'toh, und mit Sorileas Hilfe konnte sie sie davon überzeugen, daß sie nicht die Zeit dafür hatte. Letztendlich blieben nur sie, Sorilea und die beiden Traumgängerinnen im Zelt. Die Umarmungen und das Lächeln hatten ihre Tränen fast versiegen lassen, und auch wenn ihre Lippen noch immer zitterten, konnte sie doch schon wieder lächeln. In Wahrheit hätte sie gern erneut geweint, wenn auch aus einem anderen Grund. Zum Teil aus einem anderen Grund.
»Ich werde Euch alle sehr vermissen.«
»Unsinn.« Sorilea schnaubte nachdrücklich. »Wenn Ihr Glück habt, werden sie Euch sagen, daß Ihr jetzt keine Aes Sedai mehr werden könnt. Dann könnt Ihr zu uns zurückkehren. Ihr werdet mein Lehrling sein. In drei oder vier Jahren werdet Ihr Eure eigene Feste haben. Ich weiß sogar schon, welcher Ehemann für Euch in Frage kommt: der jüngste Enkel meiner Enkelin Amaryn, Taric. Er wird, glaube ich, eines Tages Clanhäuptling sein, also werdet Ihr nach einer Schwester-Frau als seine Dachherrin Ausschau halten müssen.«
»Danke.« Egwene lachte. Anscheinend gab es etwas, worauf sie zurückgreifen konnte, wenn der Saal in Salidar sie fortschickte.
»Und Amys und ich werden Euch in Tel'aran'rhiod treffen«, sagte Bair, »und Euch von den Ereignissen hier und mit Rand al'Thor berichten. Ihr werdet in der Welt der Träume jetzt Euren eigenen Weg gehen, aber wenn Ihr wollt, werde ich Euch noch immer lehren.«
»Das will ich.« Wenn der Saal sie irgendwo in die Nähe von Tel'aran'rhiod ließ. Aber andererseits konnten sie sie nicht davon fernhalten. Was auch immer sie tun würden — das konnten sie nicht tun. »Bitte behaltet ein wachsames Auge auf Rand und die Aes Sedai. Ich weiß nicht, was er vorhat, aber ich bin sicher, daß es gefährlicher ist, als er glaubt.«
Amys erwähnte natürlich nichts mehr über weiteres Lernen. Sie hatte ihr Wort gegeben, sich ihr gegenüber auf bestimmte Weise zu verhalten, und selbst die Begegnung mit dem Toh konnte daran nichts ändern.
Statt dessen sagte sie: »Ich weiß, daß Rhuarc es bedauern wird, heute abend nicht hier zu sein. Er ist in den Norden gegangen, um die Shaido selbst zu sehen. Fürchtet nicht, daß Euer Toh ihm gegenüber ungeklärt bleibt. Er wird Euch die Gelegenheit geben, wenn Ihr Euch das nächste Mal seht.«
Egwene war überrascht und verbarg es, indem sie sich zum anscheinend zehnten Mal die Nase putzte. Sie hatte Rhuarc ganz vergessen. Natürlich besagte nichts, daß sie ihre Verpflichtung ihm gegenüber auf dieselbe Art erfüllen mußte. Vielleicht war sie im Herzen zumindest zum Teil eine Aiel, aber einen Moment suchte ihr Geist verzweifelt nach einer anderen Möglichkeit. Es mußte eine andere Möglichkeit geben. Und sie würde viel Zeit haben, sie zu ersinnen, bevor sie ihm wieder begegnete. »Ich wäre sehr dankbar dafür«, sagte sie leise. Und da war auch noch Melaine. Und Aviendha. Licht! Sie hatte gedacht, es sei erledigt. Ihre Füße bewegten sich weiterhin unruhig, egal wie sehr sie diese auch stillzuhalten versuchte. Es mußte eine andere Möglichkeit geben.
Bair öffnete den Mund, aber Sorilea kam ihr zuvor. »Wir müssen sie sich ankleiden lassen. Sie muß sich auf die Reise begeben.« Bairs dünner Hals erstarrte, und Amys' Mundwinkel sanken herab. Ihnen allen mißfiel offensichtlich, was sie vorhatte, und zwar noch mehr als zuvor.
Vielleicht wollten sie bleiben und es ihr ausreden, aber Sorilea murmelte nur leise etwas über Narren, die eine Frau davon abzuhalten versuchten, das zu tun, was sie tun zu müssen glaubte. Die beiden Jüngeren richteten ihre Stolen — Bair mußte siebzig oder achtzig Jahre alt sein, aber sie war noch immer jünger als Sorilea —, umarmten Egwene ein letztes Mal und verließen das Zelt mit einem gemurmelten: »Möget Ihr stets Wasser und Schatten finden.«
Sorilea verharrte noch einen Moment länger. »Denkt an Taric. Ich hätte ihn zum Dampfzelt bitten sollen, damit Ihr ihn hättet kennenlernen können. Bis dahin erinnert Euch an Folgendes: Wir haben stets mehr Angst, als uns lieb ist, aber wir können stets auch tapferer sein, als wir erwarten. Bleibt Euch selbst treu, dann können die Aes Sedai nicht verletzen, was Euch wirklich ausmacht — Euer Herz. Sie stehen nicht annähernd so weit über uns, wie wir geglaubt haben. Möget Ihr stets Wasser und Schatten finden, Egwene. Und Euch stets Eures Mutes entsinnen.«
Als Egwene schließlich allein war, stand sie eine Weile nur da, starrte ins Leere und dachte nach. Ihr Mut. Vielleicht hatte sie mehr Mut, als sie dachte. Sie hatte getan, was sie hier hatte tun müssen. Sie war eine Aiel gewesen. In Salidar würde sie das brauchen. Die Methoden der Aes Sedai unterschieden sich in mancherlei Beziehung von denen der Weisen Frauen, aber sie würden es ihr nicht leichtmachen, wenn sie wußten, daß sie sich eine Aes Sedai genannt hatte. Wenn sie es wußten. Sie konnte sich nicht vorstellen, warum man sie sonst so streng berufen hätte, aber Aiel ergaben sich nicht vor dem Kampf.
Sie kam ruckartig wieder zu sich. Wenn ich mich
nicht vor dem Kampfergeben will, dachte sie, kann ich mich vielleicht genausogut auf den Kampf einlassen.