Lews Therin war tatsächlich da — Rand war sich dessen sicher —, aber kein Flüstern erklang in seinem Kopf, das nicht von ihm herrührte. Er versuchte, den Rest des Tages an andere Dinge zu denken, so nutzlos sie auch sein mochten. Berelain wurde mit jedem Mal, wenn er zu ihr hereinschaute, um sie etwas zu fragen, was sie sehr gut ohne ihn erledigen konnte, wütender. Er war sich nicht sicher, aber er glaubte, daß sie ihn zu meiden begann. Sogar Rhuarc wirkte ein wenig gehetzt, nachdem Rand ihn zum zehnten Mal wegen der Shaido in die Enge getrieben hatte. Die Shaido hatten sich nicht geregt, und die einzige Möglichkeit, die Rhuarc sah, war, sie in Brudermörders Dolch zu belassen oder sie zu enttarnen. Herid Fei war fortgegangen, was er häufig tat, wie Idrien schnell erklärte, und war nirgendwo zu finden. Wenn sich Fei in Gedanken verlor, verirrte er sich manchmal sogar in der Stadt. Rand schrie Idrien an. Feis Verhalten war nicht ihre Schuld, er unterstand nicht ihrer Verantwortung, aber Rand ließ sie dennoch bleich und zitternd zurück. Seine Stimmung wogte wie eine Folge von Unwettern, die vom Horizont heranrauschten. Er schrie auch Meilan und Maringil an, bis sie in ihren Stiefeln erzitterten, und ließ sie mit bläßlichen Gesichtern zurück, schüchterte Colavaere ein, bis sie verzweifelt weinte, und veranlaßte Anaiyella tatsächlich, mit bis zu den Knien gerafften Röcken davonzulaufen. Außerdem schrie er auch Amys und Sorilea an, als sie mit der Frage zu ihm kamen, was er den Aes Sedai geantwortet habe. Aus dem Ausdruck auf Sorileas Gesicht, als sie davonschritten, schloß er, daß ihr gegenüber vielleicht zum ersten Mal jemand die Stimme erhoben hatte. Es war das Wissen — das Wissen —, daß Lews Therin tatsächlich da war, mehr als nur eine Stimme, sondern ein Mann, der sich in seinem Kopf verborgen hielt.
Er hatte fast Angst einzuschlafen, als die Nacht kam, Angst, daß Lews Therin im Schlaf die Kontrolle übernehmen könnte. Und als er schlief, warfen ihn unruhige Träume hin und her und ließen ihn im Schlaf reden. Er wurde vom ersten schwachen Tageslicht, das durchs Fenster fiel, geweckt und fand sich in zerwühlten, schweißgetränkten Laken, mit brennenden Augen, einem sauren Geschmack im Mund und schmerzenden Beinen wieder. Die Träume, an die er sich erinnerte, hatten davon gehandelt, daß er vor etwas davongelaufen war, was er nicht sehen konnte. Er mühte sich aus dem großen Bett mit den vier Pfosten und wusch sich am goldverzierten Waschtisch. Als der Himmel draußen allmählich grau wurde, war der Gai'shain, der frisches Wasser bringen würde, noch nicht erschienen, aber das vorhandene Wasser genügte.
Er hatte seine Rasur fast beendet, hielt die Rasierklinge an seiner Wange in der Schwebe und betrachtete sich im Spiegel. Laufen. Er war sicher, daß es die Verlorenen waren, vor denen er in jenen Träumen davongelaufen war, oder der Dunkle König oder Tarmon Gai'don oder vielleicht sogar Lews Therin. So von sich eingenommen. Natürlich träumte der Wiedergeborene Drache, vom Dunklen König verfolgt zu werden. Trotz all seiner Einwände, Rand al'Thor zu sein, schien es, als könnte er es genauso leicht vergessen wie jeder andere, Rand al'Thor war vor Elayne davongelaufen, vor seiner Angst davor, Elayne zu lieben, genau wie er aus Angst davor, Aviendha zu lieben, davongelaufen war.
Der Spiegel zersprang, Scherben fielen in die Porzellanwaschschüssel. Die im Rahmen verbliebenen Reste warfen ein bruchstückhaftes Bild seines Gesichts zurück.
Er ließ Saidin fahren, schabte vorsichtig die letzten Reste Seifenschaum von seinen Wangen und klappte die Rasierklinge bedächtig ein. Kein Davonlaufen mehr. Er würde tun, was er tun mußte, aber kein Davonlaufen mehr.
Zwei Töchter des Speers warteten im Gang, als er hinaustrat. Harilin, eine schlanke Rothaarige ungefähr seines Alters, lief los, um die anderen herbeizuholen, sobald er auftauchte. Chiarid, eine Blonde mit lustigen Augen, die alt genug war, um seine Mutter zu sein, begleitete ihn durch Gänge, in denen nur wenige Diener umhergingen, die überrascht waren, ihn so früh zu sehen. Chiarid liebte es üblicherweise, Späße auf seine Kosten zu machen, wenn sie allein waren —auch wenn er nur einige davon verstand. Sie sah ihn als jüngeren Bruder an, der davor bewahrt werden mußte, übermütig zu werden, aber sie erspürte seine Stimmung an diesem Morgen und schwieg. Sie warf nur einmal einen angewiderten Blick auf sein Schwert.
Nandera und die restlichen Töchter des Speers holten sie ein, bevor sie die Hälfte des Weges zur Reisekammer zurückgelegt hatten, und erkannten sein Schweigen ebenso schnell. Wie auch die Mayeners und die Schwarzaugen, welche die quadratisch geschnittene Tür bewachten. Rand dachte, er könnte Cairhien verlassen, ohne daß jemand sprach, bis eine junge Frau in dem Rot und Blau der persönlichen Diener Berelains heraneilte und in einen tiefen Hofknicks verfiel, während er gerade das Wegetor öffnete.
»Die Erste schickt dies«, keuchte sie und hielt ihm einen Brief mit einem großen grünen Siegel entgegen. Sie war offensichtlich den ganzen Weg bis zu ihm gelaufen. »Er kommt vom Meervolk, mein Lord Drache.«
Rand steckte den Brief in seine Manteltasche und trat durch das Tor, wobei er die Frage der Frau unbeachtet ließ, ob er ihr eine Antwort mitgeben wollte. Heute morgen war ihm nach Schweigen zumute. Er ließ einen Daumen über die Gravur auf dem Drachenszepter gleiten. Er würde stark und hart sein und all sein Selbstmitleid hinter sich lassen.
Die dunkle Große Halle in Caemlyn ließ Alanna sich wieder tief in seinen Geist einnisten. Die Nacht hielt sie noch umfangen, aber sie war wach. Er wußte es so sicher, wie er wußte, daß sie weinte, so sicher, wie er wußte, daß ihre Tränen versiegten, kurz nachdem er das Tor hinter der letzten der Töchter des Speers geschlossen hatte. Ein kleiner Rest widerstreitender, undeutbarer Gefühle ballte sich noch immer in seinem Unterbewußtsein, und doch war er sich sicher, daß sie wußte, daß er zurückgekehrt war. Zweifellos hatten sie und ihr Zugeschworensein ihren Beitrag zu seiner Flucht geleistet, aber er erkannte dieses Zugeschworensein jetzt zumindest an, auch wenn er ihm nicht gefiel. Dieser Gedanke ließ ihn beinahe erstickt kichern. Er sollte ihn besser anerkennen, da er es ohnehin nicht ändern konnte. Sie hielt ihn an einem Faden fest — nur ein Faden: Licht, laß es nicht mehr sein —, was keine Gefahr bedeuten sollte, es sei denn, er ließ sie nahe genug an sich heran, daß eine Leine daraus werden könnte. Er wünschte, Thom Merrilin wäre da. Thom wußte wahrscheinlich alles über Behüter und das Zugeschworensein. Er wußte überraschend viele Dinge. Nun, wenn er Elayne fände, würde er auch Thom finden. Ganz einfach.
Saidin formte eine Kugel aus Licht, Feuer und Luft, um den Weg aus dem Thronsaal zu weisen. Die uralten Königinnen, die in der Dunkelheit weit über ihm verborgen waren, störten ihn überhaupt nicht. Sie waren nur Bilder aus buntem Glas.
Was man von Aviendha nicht behaupten konnte. Vor seinen Räumen entließ Nandera alle Töchter des Speers außer Jalani, und die beiden gingen mit ihm hinein, um die Räume zu überprüfen, während er die Macht lenkte, um die Lampen zu entzünden, und das Drachenszepter auf einen kleinen, mit Elfenbeineinlegearbeiten versehenen Tisch legte, der erheblich weniger Gold aufwies als die Tische im Sonnenpalast. Das galt für alle Möbel — weniger Gold, aber mehr Schnitzerei, zumeist Löwen oder Rosen. Ein großer, mit Goldfäden durchwirkter roter Teppich bedeckte den Boden.
Er bezweifelte, daß er die leisen Schritte der Töchter des Speers gehört hätte, wenn er nicht Saidin in sich gehabt hätte, aber bevor sie den Vorraum durchquerten, kam Aviendha aus dem dunklen Schlafzimmer, das Haar in wilder Unordnung und ihr Gürtelmesser in der Hand. Und sie trug nichts auf ihrer Haut. Als sie ihn sah, wurde sie steif wie ein Pfosten und stolzierte dorthin zurück, woher sie gekommen war, wenn sie auch beinahe gelaufen wäre. Schwaches Lampenlicht fiel durch den Eingang. Nandera lachte leise und wechselte amüsierte Blicke mit Jalani.
»Ich werde die Aiel niemals verstehen«, murmelte Rand. Es war weniger die Tatsache, daß die Töchter des Speers die Situation lustig fanden — er hatte es schon lange aufgegeben, den Aielhumor verstehen zu wollen. Es war Aviendha. Sie hielt es vielleicht für sehr lustig, sich vor ihm fürs Bett auszuziehen, aber wenn er auch nur einen Blick auf ihre Knöchel erhaschte, wenn sie sie nicht zeigen wollte, wurde sie zu einer fauchenden Katze. Ganz davon zu schweigen, daß sie ihm dann die Schuld dafür gab.
Nandera frohlockte. »Es sind nicht die Aiel, die du nicht verstehen kannst, sondern die Frauen. Kein Mann hat die Frauen jemals verstanden.«
»Aber andererseits sind Männer sehr leicht zu verstehen«, warf Jalani ein, deren Wangen noch den Babyspeck zeigten, und errötete leicht. Nandera erweckte den Eindruck, als wollte sie gleich laut auflachen.
Tod, flüsterte Lews Therin.
Rand vergaß alles andere. Tod? Was meinst du damit?
Der Tod kommt.
Welche Art von Tod? fragte Rand. Wovon sprichst du?
Wer bist du? Wo bin ich?
Rand fühlte sich, als hätte ihm eine Faust die Kehle zugedrückt. Er war sich sicher gewesen, aber... Dies war das erste Mal, daß Lews Therin etwas zu ihm gesagt hatte, etwas, was eindeutig an ihn gerichtet war. Ich bin Rand al'Thor, und du befindest dich in meinem Kopf.
In...? Nein! Ich bin ich selbst! Ich bin Lews Therin Telamon! Ich bin iiiiich! Der Schrei verklang in der Ferne.
Komm zurück, rief Rand. Welcher Tod? Antworte mir, verdammter Kerl! Schweigen. Er regte sich unbehaglich. Es zu wissen, war eine Sache, aber ein Toter in ihm, der vom Tod sprach, ließ ihn sich unrein fühlen, wie ein leiser Hauch des Makels auf Saidin.
Etwas berührte ihn am Arm, und er hätte beinahe die Quelle ergriffen, bevor er erkannte, daß es Aviendha war. Sie mußte regelrecht in ihre Kleider geströmt sein, und doch wirkte sie, als hätte sie eine Stunde gebraucht, um jedes Haar an seinen Platz zu rücken. Die Leute sagten, Aiel zeigten keine Gefühle, aber sie waren einfach nur zurückhaltender als die meisten anderen. Ihre Gesichter sagten genausoviel aus wie die Gesichter anderer, wenn man wußte, wonach man zu suchen hatte. Aviendha war hin- und hergerissen zwischen Sorge und Wut.
»Geht es dir gut?« fragte sie.
»Ich habe nur nachgedacht«, belehrte er sie. Das war nur zu wahr. Antworte mir, Lews Therin! Komm zurück und antworte mir! Warum hatte er jemals geglaubt, Schweigen wäre diesem Morgen angemessen?
Unglücklicherweise glaubte ihm Aviendha, und wenn es nichts gab, worüber man sich Sorgen machen mußte... Sie stemmte die Fäuste in die Hüften. Das verstand er bei Frauen, egal ob Aiel oder Frauen der Zwei Flüsse oder wem auch immer: Die in die Hüften gestemmten Fäuste bedeuteten Ärger. Er hätte sich nicht die Mühe zu machen brauchen, die Lampen anzuzünden. Ihr Blick war heiß genug, den Raum zu beleuchten. »Du bist wieder ohne mich fortgegangen. Ich habe den Weisen Frauen versprochen, in deiner Nähe zu bleiben, bis ich gehen muß, aber du hast mein Versprechen zunichte gemacht. Du hast mir dafür Toh auferlegt, Rand al'Thor. Nandera, von jetzt an muß ich erfahren, wann er wohin geht. Er darf nicht ohne mich aufbrechen, wenn ich ihn begleiten sollte.«
Nandera zögerte keinen Moment, bevor sie nickte. »Wie du wünschst, Aviendha.«
Rand pflanzte sich vor beiden Frauen auf. »Nein, wartet! Niemand erfährt, wann ich komme und gehe, es sei denn, ich sage es.«
»Ich habe mein Wort gegeben, Rand al'Thor«, sagte Nandera mit tonloser Stimme. Sie sah ihm unnachgiebig in die Augen.
»Und ich ebenfalls«, sagte Jalani fast ebenso tonlos.
Rand Öffnete den Mund und schloß ihn wieder. Verdammtes Ji'e'toh. Es hatte natürlich keinen Zweck zu erwähnen, daß er der Car'a'carn war. Aviendha wirkte leicht überrascht, daß er sich überhaupt wehrte. Für sie war es anscheinend eine Selbstverständlichkeit. Er hob unbehaglich die Schultern, wenn auch nicht wegen Aviendha. Dieses unreine Gefühl war weiterhin spürbar und wurde jetzt noch stärker. Vielleicht war Lews Therin zurückgekommen. Rand rief ihn schweigend, aber er bekam keine Antwort.
Ein Klopfen an der Tür wurde sofort vom Eintreten Frau Harfors gefolgt, die ihren üblichen tiefen Hofknicks vollführte. Der Ersten Tochter des Speers war die frühe Stunde natürlich nicht anzusehen. Reene Harfor wirkte, gleichgültig zu welcher Tageszeit, stets, als hätte sie sich gerade erst zurechtgemacht. »Mehrere Leute sind in der Stadt eingetroffen, mein Lord Drache, und Lord Bashere dachte, Ihr solltet es so bald wie möglich erfahren. Lady Aemlyn und Lord Culhan sind gestern abend eingetroffen und weilen bei Lord Pelivar, Lady Arathelle traf eine Stunde später mit großem Gefolge ein. Lord Barel und Lord Macharan, Lady Sergase und Lady Negara sind in der Nacht getrennt mit jeweils nur wenig Gefolge eingetroffen. Niemand von ihnen hat dem Palast seine Aufwartung gemacht.« Sie äußerte letzteres in einem merkwürdigen Tonfall, aber ohne Hinweis auf ihre eigene Meinung darüber.
»Das sind gute Nachrichten«, belehrte er sie, und das stimmte auch, ob sie nun den Palast aufgesucht hatten oder nicht. Aemlyn und ihr Mann Culhan waren fast genauso mächtig wie Pelivar, und Arathelle war mächtiger als alle anderen außer Dyelin und Luan. Die anderen entstammten geringeren Häusern, und nur Barel war unter ihnen Hochsitz seines Hauses, aber die Adligen, die sich gegen ›Gaebril‹ gestellt hatten, begannen sich zu versammeln. Zumindest waren dies gute Nachrichten, falls er Elayne fand, bevor sie zu versuchen beschlossen, ihm Caemlyn wegzunehmen.
Frau Harfor betrachtete ihn einen Moment und zog dann einen Brief mit blauem Siegel hervor. »Dieser wurde gestern abend spät überbracht, mein Lord Drache. Durch einen Stallburschen. Ein schmutziger Stallbursche. Die Herrin der Wogen des Meervolks war nicht sehr erfreut, daß Ihr fort wart, als sie zur Audienz erschien.« Dieses Mal war die Mißbilligung deutlich aus ihrer Stimme herauszuhören, wenn auch nicht ersichtlich war, ob sie der verpaßten Audienz oder der Art der Überbringung des Briefes galt.
Er seufzte. Er hatte vollkommen vergessen, daß sich Angehörige des Meervolks in Caemlyn aufhielten. Das erinnerte ihn an den Brief, den man ihm in Cairhien übergeben hatte, und er nahm ihn hervor. Beide Siegel, das grüne wie auch das blaue, trugen dasselbe Gepräge, obwohl er nicht erkennen konnte, was es darstellen sollte: Es waren zwei flache, Schalen ähnliche Gegenstände mit einer breiten Reihe Ornamente, die sich von einer Schale durch die andere zogen. Beide Briefe waren an den ›Coramoor‹ gerichtet, wer auch immer das sein mochte. Er selbst vermutlich. Vielleicht nannte das Meervolk den Wiedergeborenen Drachen so. Er brach zunächst das blaue Siegel. Es gab keine Anrede, und der gesamte Brief unterschied sich sicherlich von allen anderen, die jemals an den Wiedergeborenen Drachen gerichtet worden waren.
Wenn das Licht es will werdet Ihr schließlich nach Caemlyn zurückkehren. Da ich weit gereist bin, um Euch zu sehen, werde ich vielleicht die Zeit dafür finden, wenn Ihr zurückkehrt.
Zaida din Parede Schwarzflügel vom Clan Catelar, Herrin der Wogen Frau Harfor hatte anscheinend recht. Die Herrin der Wogen war nicht sehr erfreut. Das grüne Siegel verbarg kaum Besseres.
Wenn es dem Licht gefällt, werde ich Euch an Deck der Gischt empfangen, sobald es Euch beliebt. Harine din Togara Zwei Winde vom Clan Shodein, Herrin der Wogen »Schlechte Nachrichten?« fragte Aviendha.
»Ich weiß es nicht.« Er betrachtete stirnrunzelnd die Briefe und merkte kaum, als Frau Harfor eine Frau in Rot und Weiß hereinließ und leise mit ihr sprach. Keine dieser Meervolk-Frauen klang wie jemand, mit dem er auch nur eine Stunde gemeinsam verbringen wollte. Er hatte jede Übersetzung der Prophezeiungen des Drachen gelesen, die er finden konnte, und obwohl auch die eindeutigste oft noch ungenau war, erinnerte er sich an nichts, was auf die Atha'an Miere hingedeutet hätte. Vielleicht waren sie auf ihren Schiffen auf dem Meer und auf ihren fernen Inseln ein Volk, das von ihm oder Tarmon Gai'don unberührt blieb. Er schuldete dieser Zaida eine Entschuldigung, aber vielleicht konnte er sie Bashere überlassen. Bashere besaß sicherlich ausreichend viele Titel, daß es der Eitelkeit jedes Menschen geschmeichelt hätte. »Ich glaube nicht.«
Die Dienerin sank vor ihm auf die Knie, den weißen Kopf tief gebeugt die Hände hoch erhoben, um noch einen weiteren Brief darzubieten, dieses Mal auf dickem Pergament. Allein schon die Haltung der Dienerin ließ ihn blinzeln. Er hatte selbst in Tear niemals einen Diener sich so krümmen sehen, und noch viel weniger in Andor. Frau Harfor schüttelte stirnrunzelnd den Kopf. Die kniende Frau sprach mit noch immer zu Boden gerichtetem Blick. »Dies wurde für meinen Lord Drachen überbracht.«
»Sulin?« keuchte er. »Was tust du? Was tust du in diesem ... Kleid?«
Sulin hob ihr Gesicht. Es wirkte verheert: ein Wolf, der vorgibt, eine Ziege zu sein. »Es ist das Kleid, das Frauen tragen, die für Geld dienen und gehorchen.« Sie schwenkte den Brief in ihren noch immer erhobenen Händen. »Mir wurde befohlen zu sagen, daß dies gerade für meinen Lord Drachen überbracht worden ist, von einem Reiter, der wieder davonritt, sobald der Brief übergeben war.« Die Erste Tochter des Speers schnalzte verärgert mit der Zunge.
»Ich will sofort eine Antwort«, sagte er und riß das Pergament an sich. Sie erhob sich, sobald der Brief ihren Händen entnommen war. »Komm hierher zurück, Sulin, ich will eine Antwort!« Aber sie lief so flink, wie sie es auch im Cadin'sor stets gewesen war, zu den Türen hinaus.
Aus irgendeinem Grund sah Frau Harfor Nandera an. »Ich habe euch gesagt, daß dies nicht gutgehen würde. Und ich habe euch beiden gesagt, daß ich, solange sie die Palastlivree trägt, von ihr erwarte, daß sie dem Palast Ehre macht, egal ob sie eine Aiel oder die Königin von Saldaea ist.« Sie vollführte einen Hofknicks, gewährte Rand ein schnelles »mein Lord Drache« und stolzierte davon, während sie etwas über verrückte Aiel vor sich hinmurmelte.
Er war ihrer Meinung. Er schaute von Nandera zu Aviendha und dann zu Jalani. Keine von ihnen schien im mindesten überrascht. Keine von ihnen wirkte, als sei sie Zeugin von etwas Ungewöhnlichem geworden. »Wollt ihr mir sagen, was, unter dem Licht, hier vorgeht? Das war Sulin!«
»Zuerst«, sagte Nandera, »gingen Sulin und ich zu den Küchen. Sie hielt es für angemessen, Töpfe zu schrubben. Aber ein Bursche dort sagte, er hätte alle Küchenhilfen, die er brauchte. Er schien zu glauben, daß sich Sulin ständig mit den anderen anlegen würde. Er war nicht sehr groß«, sie deutete eine Rands Kinn entsprechende Höhe an, »aber genauso breit, und ich glaube, er hätte uns zum Speerkampf herausgefordert, wenn wir nicht gegangen wären. Dann eilten wir zu der Frau Reene Harfor, da sie hier die Dachherrin zu sein scheint.« Sie verzog leicht das Gesicht, denn eine Frau sollte entweder Dachherrin sein oder nicht — im Aieldenken war kein Platz für eine Erste Tochter des Speers vorgesehen. »Sie verstand es nicht, aber letztendlich willigte sie ein. Ich dachte fast, Sulin würde ihre Meinung ändern, als sie erkannte, daß Frau Harfor sie in ein Kleid stecken wollte, aber das tat sie natürlich nicht. Sulin ist mutiger als ich. Ich würde lieber von einer neuen Seia Doon zur Gai'shain gemacht werden.«
»Ich würde lieber ein Jahr lang jeden Tag vor meiner Mutter vom Erstbruder meines schlimmsten Feindes geschlagen werden«, sagte Jalani kühn.
Nandera verengte mißbilligend die Augen, und ihre Finger zuckten, aber anstatt die Zeichensprache zu benutzen, sagte sie wohlerwogen: »Du rühmst dich wie eine Shaido, Mädchen.« Wäre Jalani älter gewesen, hätten die drei bewußten Beleidigungen vielleicht Schwierigkeiten heraufbeschworen, aber statt dessen preßte sie die Augen zu, um jene nicht mehr sehen zu müssen, die Zeuge ihrer Beschämung geworden waren.
Rand fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Reene hat nicht verstanden? Was hat das zu bedeuten, Nandera? Warum tut sie das? Hat sie den Speer aufgegeben? Wenn sie einen Andormann heiratete« — es waren schon seltsamere Dinge um ihn herum geschehen —, »würde ich ihr genügend Gold geben, daß sie sich einen Bauernhof, oder was immer sie wollen, kaufen könnten. Sie braucht keine Dienerin zu werden.« Jalani öffnete die Augen ruckartig wieder, und die drei Frauen sahen ihn an, als sei er wahnsinnig geworden.
»Surin tritt ihrem Toh gegenüber, Rand al'Thor«, sagte Aviendha fest. Sie stand sehr gerade und hielt seinem Blick stand, eine gute Nachahmung Amys'. Nur lag mit jedem Tag weniger Nachahmung als vielmehr mehr von ihr selbst darin. »Es hat nichts mit dir zu tun.«
Jalani nickte zustimmend. Nandera stand nur da und betrachtete müßig eine Speerspitze.
»Sulin hat sehr wohl etwas mit mir zu tun«, belehrte er sie. »Wenn ihr etwas geschähe...« Er erinnerte sich plötzlich an das Gespräch, das er belauscht hatte, bevor er nach Shadar Logoth gegangen war. Nandera hatte Sulin beschuldigt, als Far Dareis Mai mit einer Gai'shain gesprochen zu haben, und Sulin hatte es zugegeben und gesagt, sie würden später darüber sprechen. Er hatte Sulin nicht mehr gesehen, seit er von Shadar Logoth zurückgekehrt war, aber er hatte angenommen, sie wäre zornig auf ihn und überließe die Arbeit, ihn zu bewachen, einfach anderen. Er hätte es besser wissen müssen. Wenn man längere Zeit mit einer Aiel zusammen war, lernte man etwas über das Ji'e'toh, und Töchter des Speers waren noch empfindlicher als andere, außer vielleicht Steinsoldaten und Schwarzaugen. Und dann war da noch Aviendha und ihre Versuche, ihn in einen Aiel zu verwandeln.
Die Situation war einfach, oder so einfach wie alles, was jemals im Ji'e'toh enthalten war. Wäre er nicht so sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, hätte er es vom ersten Augenblick an erkannt. Man konnte sogar eine Dachherrin jeden Tag, den sie Gai'shain-Weiß trug, daran erinnern, wer sie war — es war zutiefst beschämend, aber erlaubt, und wurde manchmal sogar ermutigt —, und doch galt für neun der dreizehn Kriegergemeinschaften, daß eine Erinnerung daran zutiefst unehrenhaft war, wenn dem nicht eine Handvoll Umstände zugrunde lagen, deren er sich nicht erinnern konnte. Die Far Dareis Mai war mit Sicherheit eine der neun Kriegergemeinschaften. Dies war eine der wenigen Möglichkeiten, einer Gai'shain Toh aufzuerlegen, aber es wurde als die schwerste Verpflichtung überhaupt angesehen. Anscheinend hatte Sulin beschlossen, dem gegenüberzutreten, indem sie eine, nach Ansicht der Aiel noch größere Scham auf sich nahm, als sie ihrerseits zugefügt hatte. Es war ihr Toh, also war es auch ihre Wahl, wie sie ihm gegenübertreten und wie lange sie weiterführen wollte, was sie verabscheute. Wer wußte besser um den Wert ihrer Ehre oder die Tiefe ihrer Verpflichtung als sie selbst? Dennoch hatte sie nur auf diese Art gehandelt, weil er ihr nicht genug Zeit gelassen hatte. »Es ist mein Fehler«, sagte er.
Das war falsch. Jalani sah ihn bestürzt an, und Aviendha errötete verlegen. Sie behauptete ständig, daß es unter dem Ji'e'toh keine Entschuldigungen gab. Wenn die Tatsache, daß man sein Kind rettete, einem Blutsfeind gegenüber eine Verpflichtung bedeutete, bezahlte man diesen Preis ohne Zögern.
Der Blick, den Nandera Aviendha zuwarf, konnte nur als milde verächtlich bezeichnet werden. »Wenn du aufhören würdest, am hellichten Tag von seinen Augenbrauen zu träumen, würdest du ihn besser unterweisen.«
Aviendhas Gesicht wurde vor Empörung dunkelrot, aber Nandera sprach in der Zeichensprache mit Jalani, woraufhin diese den Kopf zurückwarf und lachte, wodurch das Karmesinrot auf Aviendhas Wangen heller wurde und wieder zu einem Ausdruck reiner Verlegenheit wurde. Rand erwartete halbwegs, eine Herausforderung zum Speerkampf zu hören. Nun, nicht genau das. Aviendha hatte ihn gelehrt, daß weder Weise Frauen noch ihre Lehrlinge so etwas taten. Aber es hätte ihn nicht überrascht, wenn sie Nandera geohrfeigt hätte.
Er sprach schnell, um alledem zuvorzukommen. »Da ich Sulin zu ihrem Handeln veranlaßt habe — habe ich mir dann nicht ihr gegenüber Toh aufgeladen?«
Anscheinend hatte er es geschafft, einen noch größeren Narren aus sich zu machen, als er es vorher bereits getan hatte. Irgendwie rötete sich Aviendhas Gesicht noch stärker, und Jalani betrachtete interessiert den Teppich unter ihren Füßen. Sogar Nandera wirkte ein wenig betroffen über sein Unwissen. Man konnte gesagt bekommen, daß man Toh auf sich geladen hatte, obwohl das beleidigend war, oder man konnte daran erinnert werden, aber danach zu fragen bedeutete, daß man es nicht wußte. Nun, er wußte, daß dem so war. Er könnte damit beginnen, Sulin aus ihrem lächerlichen Dienst als Dienerin zu entlassen, sie wieder den Cadin'sor anziehen lassen und... Und sie daran hindern, ihrem Toh gegenüberzutreten. Alles, was er tun konnte, um ihr die Last zu erleichtern, wäre nicht mit ihrer Ehre vereinbar. Ihr Toh, ihre Wahl. Es war etwas daran, was er aber nicht erkennen konnte. Vielleicht sollte er Aviendha fragen. Später, wenn sie nicht mehr vor Demütigung stürbe. Die Gesichter aller drei Frauen verdeutlichten, daß er sie im Moment mehr als ausreichend in Verlegenheit gebracht hatte. Licht, welch ein Durcheinander.
Er fragte sich, welchen Ausweg es gäbe, und erkannte, daß er noch immer den Brief in Händen hielt, den Sulin gebracht hatte. Er steckte ihn in die Tasche, löste seinen Schwertgürtel, legte ihn auf das Drachenszepter und nahm das Pergament wieder hervor. Wer würde ihm eine Nachricht durch einen Reiter schicken, der nicht einmal zum Frühstück rastete? Ihm fiel niemand ein. Nur der jetzt bereits wieder verschwundene Bote hätte sagen können, auf wen er verwies. Er kannte auch dieses Siegel nicht, eine in purpurfarbenes Wachs gepreßte Blume, aber das Pergament selbst war schwer, von der kostspieligsten Sorte. Der Inhalt, in einer hübschen, zarten Handschrift geschrieben, ließ ihn nachdenklich lächeln.
Cousin,
Es herrschen ungewisse Zeiten, aber ich hatte das Gefühl, Dir schreiben zu müssen, um Dich meines Wohlwollens zu versichern und meiner Hoffnung Ausdruck zu verleihen, daß dies auch im umgekehrten Falle gelten möge. Fürchte nichts: Ich kenne Dich und ich erkenne Dich an, aber es gibt jene, die niemanden belächeln würden, der sich Dir außer durch sie näherte. Ich bitte um nicht mehr, als daß du mein Geheimnis in den Feuern Deines Herzens verschließt.
Alliandre Maritha »Worüber lächelst du?« fragte Aviendha, die neugierig auf den Brief spähte. Um ihren Mund lag noch immer ein leichter Zug der Verärgerung wegen dem, was er ihr zugemutet hatte.
»Es ist einfach ein Vergnügen, von jemand Unkompliziertem zu hören«, belehrte er sie. Das Spiel der Häuser war leicht mit Ji'e'toh zu vergleichen. Der Name sagte ihm genug, um ihn wissen zu lassen, wer den Brief sandte, aber wenn das Pergament in die falschen Hände fiele, schiene es wie eine Nachricht für einen Freund oder vielleicht eine herzliche Antwort für einen Bittsteller. Alliandre Maritha Kigarin, vom Licht Gesegnete, Königin von Ghealdan, würde einen Brief an jemanden, den sie noch niemals gesehen hatte, sicherlich niemals so vertraut unterzeichnen, vor allem nicht einen Brief an den Wiedergeborenen Drachen. Sie sorgte sich offensichtlich wegen der Weißmäntel in Amadicia und wegen des Propheten Masema. Er würde wegen Masema etwas unternehmen müssen. Alliandre wurde vorsichtig, wagte nicht mehr zu schreiben als notwendig. Und sie erinnerte ihn daran, den Brief zu verbrennen. Die Feuer seines Herzens. Es war dennoch das erste Mal, daß ein Herrscher an ihn herantrat, ohne daß er sein Schwert an die Kehle seines Volkes angelegt hatte. Wenn er nur Elayne finden und ihr Andor übergeben könnte, bevor er hier einen weiteren Kampf ausfechten müßte.
Die Tür öffnete sich leise, und er schaute auf, sah aber nichts und wandte sich daher wieder dem Brief zu, wobei er sich fragte, ob er alles erkannt hatte, was der Brief enthielt. Er las ihn erneut und rieb sich dabei über die Nase. Lews Therin und sein Gerede vom Tod. Rand konnte sich dieses unreinen Gefühls nicht erwehren.
»Jalani und ich werden draußen unsere Plätze einnehmen«, sagte Nandera.
Er nickte abwesend, ohne den Blick von dem Brief zu wenden. Thom würde wahrscheinlich auf den ersten Blick noch sechs Dinge finden, die er übersehen hatte.
Aviendha legte ihm eine — Hand auf den Arm und nahm sie dann ruckartig wieder fort. »Rand al'Thor, ich muß ernstlich mit dir sprechen.«
Plötzlich fügte sich in seinem Geist alles zusammen.
Die Tür hatte sich tatsächlich geöffnet. Er roch Unreinheit, spürte sie nicht nur, aber es war kein wirklicher Geruch. Er ließ den Brief sinken und schob Aviendha ausreichend heftig von sich fort, daß sie mit erschrecktem Aufschrei stürzte — jedoch außer seiner Reichweite, außer Gefahr. Alles schien sich verlangsamt zu haben. Er ergriff Saidin, während er herumfuhr.
Nandera und Jalani wandten sich gerade um, um nachzuschauen, warum Aviendha geschrien hatte. Rand mußte genau hinsehen, um den großen Mann im grauen Umhang zu erkennen, den keine der Töchter des Speers nicht einmal sahen, als er an ihnen vorüberglitt, die dunklen, leblosen Augen auf Rand gerichtet. Auch wenn er sich konzentrierte, hatte Rand den Eindruck, daß sein Blick an dem Grauen Mann vorbeischwenken wollte. Dieser war, was er war: einer der Schattenmörder. Als der Brief zu Boden flatterte, erkannte der Graue Mann, daß Rand ihn gesehen hatte. Aviendhas Schrei hing noch immer in der Luft, und sie prallte gerade auf dem Boden auf, als ein tief gehaltenes Messer in der Hand des Grauen Mannes erschien und er vorwärtsstürzte. Rand umgab ihn fast verächtlich mit Luftspiralen. Ein handgelenkdicker Feuerbalken schoß zwischen seine Schulter und brannte ein Loch durch die breite Brust des Grauen Mannes, durch das eine Faust gepaßt hätte. Der Mörder starb, bevor er auch nur zusammenzucken konnte. Sein Kopf fiel vornüber, und diese Augen, die jetzt noch lebloser als zuvor wirkten, starrten Rand an.
Tot, was auch immer man dem Grauen Mann angetan hatte, daß er es nicht mehr ertragen konnte auszuharren. Tot war er plötzlich genauso sichtbar wie alle anderen. Aviendha, die gerade wieder hatte aufstehen wollen, keuchte entsetzt, und Rand spürte die Gänsehaut, die ihm anzeigte, daß er Saidar berührt hatte. Nanderas Hand zuckte zu ihrem Schleier, während sie unterdrückt aufschrie, und Jalani hob den ihren halbwegs an.
Rand ließ den leblosen Körper fallen, hielt aber weiterhin an Saidin fest, während er sich Taim zuwandte, der im Eingang seines Schlafzimmers stand. »Warum habt Ihr ihn getötet?« Nur ein Teil der kalten Härte in seiner Stimme entstammte dem Nichts. »Ich hatte ihn gefangen. Er hätte mir womöglich etwas sagen können, vielleicht sogar, wer ihn geschickt hat. Was tut Ihr überhaupt hier? Warum seid Ihr durch mein Schlafzimmer hereingeschlichen?«
Taim trat vollkommen ruhig ein. Er trug einen schwarzen Umhang mit einem in Blau und Gold um die Ärmel gewundenen Drachen. Aviendha rappelte sich auf, und ihr Blick drückte aus, daß sie, trotz Saidar, genauso bereit war, ihr blankgezogenes Gürtelmesser gegen Taim zu richten, wie es wieder einzustecken. Nandera und Jalani hatten ihre Schleier wieder gesenkt und wippten mit angriffsbereiten Speeren auf Zehenspitzen. Taim beachtete sie nicht. Rand spürte die Macht den Mann verlassen. Taim schien nicht einmal beunruhigt, daß Rand noch immer von Saidin erfüllt war. Dieses eigenartige unmerkliche Lächeln verzog seine Lippen, während er den toten Grauen Mann betrachtete.
»Häßliche Wesen, diese Seelenlosen.« Jeder andere wäre erschaudert, aber nicht Taim. »Ich bin durch das Wegetor auf Euren Balkon gekommen, weil ich dachte, Ihr wolltet die Neuigkeiten sofort erfahren.«
»Jemand, der zu schnell lernt?« warf Rand ein, und Taim zeigte erneut dieses unmerkliche Lächeln.
»Nein, kein verkleideter Verlorener, nicht wenn er es nicht geschafft hat, sich als Junge von kaum über zwanzig Jahren zu verkleiden. Sein Name ist Jahar Narishma, und er hat das Talent, obwohl es sich noch nicht gezeigt hat. Bei Männern zeigt es sich gewöhnlich später als bei Frauen. Ihr solltet zur Schule zurückkehren. Ihr wärt überrascht, wie sie sich verändert hat.«
Das bezweifelte Rand nicht. Jahar Narishma war niemals ein andoranischer Name. Das Schnelle Reisen beinhaltete keine ihm bekannten Grenzen, aber Taim hatte sich bei seiner Suche nach geeigneten Schülern anscheinend noch viel weiter vorangewagt. Er sagte nichts, sondern betrachtete nur den Körper auf dem Teppich.
Taim verzog das Gesicht, aber nicht, weil ihn der Anblick aus der Fassung brachte, sondern nur aus Verärgerung. »Glaubt mir, ich wünschte, er wäre noch genauso lebendig wie Ihr. Ich habe ihn gesehen und gehandelt, ohne nachzudenken. Das letzte, was ich will, ist, Euch tot zu sehen. Ihr habt ihn in dem Moment ergriffen, als ich die Macht lenkte, aber es war zu spät innezuhalten.«
Ich muß ihn töten, murmelte Lews Therin, und die Macht strömte in Rand ein. Er kämpfte erstarrt darum, Saidin fahren zu lassen, und es war wirklich ein Kampf, denn Lews Therin versuchte, es festzuhalten, versuchte, die Macht zu lenken. Schließlich verging die Eine Macht wie Wasser, das aus einem Loch in einem Eimer sickert.
Warum? fragte er. Warum willst du ihn töten? Er erhielt keine Antwort, nur in der Ferne verrücktes Gelächter und Weinen.
Aviendha sah ihn mit äußerst besorgtem Gesichtsausdruck an. Sie hatte ihr Messer erhoben, aber das Kribbeln auf seiner Haut sagte ihm, daß sie Saidar zurückhielt. Die beiden Töchter des Speers hatten ihre Schleier angehoben, da jetzt festzustehen schien, daß Taims Erscheinen keinem Angriff gleichkam. Es gelang ihnen, mit einem Auge Taim und mit dem anderen den restlichen Raum zu beobachten und einander dennoch aus irgendeinem Grund verlegene Blicke zuzuwerfen.
Rand zog einen Stuhl an den Tisch, auf dem sein Schwert auf dem Drachenszepter lag. Der Kampf hatte nur wenige Augenblicke gedauert, aber seine Knie fühlten sich schwach an. Lews Therin hatte fast die Kontrolle übernommen, hatte schließlich beinahe Saidin übernommen. Vorher, in der Schule, hatte er sich belügen können, aber dieses Mal nicht mehr.
Wenn Taim etwas bemerkte, zeigte er es nicht. Er beugte sich herab, um den Brief aufzuheben, und betrachtete ihn, bevor er ihn Rand mit einer kaum wahrnehmbaren Verbeugung übergab.
Rand steckte das Pergament in die Tasche. Nichts konnte Taim erschüttern, nichts konnte sein Gleichgewicht zum Schwanken bringen. Warum wollte Lews Therin ihn töten? »Da Ihr alle dafür wart, den Aes Sedai zu folgen, überrascht es mich, daß Ihr nicht vorschlagt, Sammael anzugreifen — Ihr und ich und vielleicht einige wenige der kräftigeren Schüler —, indem wir ihm durch ein Tor in Illian genau auf den Kopf steigen. Dieser Mann muß von Sammael gekommen sein.«
»Vielleicht«, sagte Taim kurz angebunden und sah den Grauen Mann erneut an. »Ich würde viel darum geben, sicher sein zu können.« Das klang aufrichtig. »Und was Illian betrifft, so bezweifle ich, daß es genauso einfach wäre, wie sich zweier Aes Sedai zu entledigen. Ich denke gerade darüber nach, was ich an Sammaels Stelle tun würde. Ich würde Illian bewachen lassen, so daß ich, wenn ein Mann auch nur daran dächte, die Macht zu lenken, sofort wüßte, wo er wäre, und ich würde die Erde zu Asche verbrennen, bevor er auch nur die Zeit gehabt hätte einzuatmen.«
So sah Rand es auch. Niemand wußte besser als Sammael, wie man einen Ort verteidigte. Vielleicht war Lews Therin schlicht verrückt. Vielleicht auch eifersüchtig. Rand versuchte, sich einzureden, daß er die Schule nicht gemieden hatte, weil er eifersüchtig war, sondern weil er in Taims Nähe stets ein Kribbeln verspürte. »Ihr habt Eure Neuigkeiten überbracht. Also schlage ich vor, daß Ihr Euch darum kümmert, diesen Jahar Narishma ausbilden zu lassen. Trainiert ihn gut. Er wird sein Talent vielleicht nur zu bald nutzen müssen.«
Taims dunkle Augen glitzerten einen Moment, aber dann verbeugte er sich leicht. Er nahm schweigend Zugriff auf Saidin und eröffnete an Ort und Stelle ein Tor. Rand zwang sich sitzen zu bleiben, bis der Mann fort war und das Tor zu einer glühenden Lichtlinie wurde. Er durfte keinen weiteren Streit mit Lews Therin wagen, nicht wenn er vielleicht unterliegen könnte und dann Taim im Kampf gegenübertreten müßte. Warum wollte Lews Therin den Mann tot sehen? Licht, Lews Therin schien alle Menschen, einschließlich ihm selbst, tot sehen zu wollen.
Es war ein äußerst ereignisreicher Vormittag gewesen, besonders wenn man bedachte, daß der Himmel noch immer dämmerig war. Die guten Neuigkeiten hatten die schlechten überwogen. Er betrachtete den auf dem Teppich ausgestreckten Grauen Mann. Die Wunde war vermutlich genauso schnell ausgebrannt, wie sie entstanden war, aber Frau Harfor würde es ihn sicherlich schweigend wissen lassen, wenn auch nur ein Blutfleck vorhanden wäre. Was diese Herrin der Wogen des Meervolks betraf, so konnte sie seinetwegen in ihrer Verdrießlichkeit schmoren. Er hatte schon genug am Hals, ohne daß noch eine gereizte Frau hinzukam.
Nandera und Jalani traten in der Nähe der Tür noch immer von einem Fuß auf den anderen. Sie hätten, sobald Taim gegangen war, draußen ihre Plätze einnehmen sollen.
»Wenn ihr beide wegen des Grauen Mannes durcheinander seid, dann vergeßt es jetzt wieder. Nur ein Narr erwartet, einen der Seelenlosen anders als durch Zufall zu bemerken, und ihr seid beide keine Närrinnen.«
»Das ist es nicht«, sagte Nandera steif. Jalani biß die Zähne fest zusammen und kämpfte offensichtlich darum, den Mund zu halten.
Er verstand sehr schnell. Sie dachten nicht, daß sie den Grauen Mann hätten bemerken müssen, aber sie schämten sich dennoch, daß sie es nicht getan hatten.
Sie schämten sich und fürchteten, daß sich die Nachricht ihres ›Versagens‹ verbreiten würde. »Ich möchte nicht, daß jemand von Taims Hiersein oder von dem, was er gesagt hat, erfährt. Die Menschen sind ängstlich genug, weil sie wissen, daß sich die Schule irgendwo in der Nähe der Stadt befindet, ohne auch noch fürchten zu müssen, daß Taim oder einer der Schüler auftauchen könnte. Ich glaube, es wäre am besten, wenn wir über alles heute morgen Geschehene Stillschweigen bewahrten. Wir können die Leiche nicht geheimhalten, aber ihr müßt mir versprechen, daß ihr nichts anderes erzählt, als daß mich ein Mann töten wollte und darum sterben mußte. Mehr werde ich niemandem sagen, und es wäre mir verhaßt, wenn ihr mich zum Lügner stempeln würdet.«
Die Dankbarkeit auf ihren Gesichtern war bemerkenswert. »Ich habe Toh«, murmelten sie fast gleichzeitig.
Rand räusperte sich heftig. Das hatte er nicht erreichen wollen, aber er hatte zumindest ihr Gewissen erleichtert. Plötzlich kam ihm eine Idee, wie er mit Sulin zurechtkommen könnte. Es würde ihr nicht gefallen, aber es würde bedeuten, daß sie sich ihrem
Toh immer noch stellen könnte — vielleicht sogar noch besser, weil es ihr nicht gefallen würde. Außerdem würde es sein Gewissen erleichtern, und er könnte zumindest einem Teil seines Toh ihr gegenüber entgegentreten.
»Nehmt jetzt wieder eure Wachposten ein, sonst muß ich glauben, daß ihr meine Augenbrauen betrachten wolltet.« Das hatte Nandera gesagt. Aviendha war von seinen Augenbrauen entzückt? »Geht schon. Und sucht jemanden, der diesen Burschen fortbringt.« Sie verließen den Raum lächelnd und eifrig in der Zeichensprache gestikulierend, und er blieb stehen und nahm Aviendha beim Arm. »Du sagtest, wir müßten miteinander reden. Komm mit ins Schlafzimmer, bis dieser Raum gesäubert ist.« Wenn ein Makel bestand, konnte er ihn vielleicht durch das Lenken der Macht vertreiben.
Aviendha riß sich los. »Nein! Nicht dorthin!« Sie atmete tief durch und mäßigte dann ihre Stimme, aber sie wirkte noch immer mißtrauisch und reichlich verärgert. »Warum können wir nicht hier miteinander reden?« Es sprach nichts dagegen, außer dem toten Mann auf dem Boden, aber das zählte bei ihr nicht. Sie drängte Rand fast gewaltsam wieder in seinen Sessel, betrachtete ihn dann und atmete erneut tief durch.
»Ji'e'toh ist das Herz der Aiel. Wir sind Ji'e'toh. Heute morgen hast du mich bis auf die Knochen beschämt.« Sie verschränkte die Arme unter ihren Brüsten, sah ihm offen in die Augen, belehrte ihn über sein Unwissen und das Unvermögen, es zu verbergen, bis sie die Sache richtiggestellt hatte, und fuhr dann damit fort, daß man Toh um jeden Preis gegenübertreten müsse. Das dauerte einige Zeit.
Er war sich sicher, daß sie nicht das gemeint hatte, als sie gesagt hatte, sie wollte mit ihm reden, aber er genoß es verwunderlicherweise, ihr in die Augen zu sehen. Er genoß es. Nach und nach ließ er von dem Genuß ab, den ihre Augen ihm verschafften, und vertrieb ihn, bis nur noch ein dumpfer Schmerz übrigblieb.
Er glaubte, es geheimgehalten zu haben, aber sein Gesichtsausdruck mußte sich verändert haben. Aviendha brach langsam ab, stand da und sah ihn nur noch schwer atmend an. Dann wandte sie ihren Blick sichtbar mühsam ab. »Zumindest verstehst du jetzt«, murmelte sie. »Ich muß ... ich brauche ... solange du verstehst.« Sie raffte ihre Röcke, fegte durch den Raum — die Leiche hätte genausogut ein Strauch sein können, dem sie ausweichen mußte — und lief hinaus.
Sie ließ ihn in einem aus irgendeinem Grund trüberen Raum zurück, allein mit einem Toten. Das paßte nur zu gut. Als Gai'schain kamen, um den Grauen Mann fortzuschaffen, fanden sie Rand leise lachend vor.
Padan Fain saß da, die Füße auf ein Fußpolster gelegt, und betrachtete die Schönheit des neu aufbrechenden Sonnenlichts, das auf der gebogenen Klinge des Dolches, den er in den Händen hin und her wandte, schimmerte. Es genügte ihm nicht, ihn am Gürtel zu tragen. Er mußte ihn hin und wieder einfach in die Hand nehmen. Der große, in den Knauf eingelassene Rubin schimmerte zutiefst feindselig. Der Dolch war ein Teil von ihm oder er ein Teil des Dolches. Der Dolch war ein Teil des Aridhol, das die Menschen Shadar Logoth nannten, aber andererseits war auch er ein Teil des Aridhol. Oder es war ein Teil von ihm. Er war ziemlich verrückt, und er wußte es sehr genau, aber es kümmerte ihn nicht, verrückt zu sein. Sonnenlicht schimmerte auf Stahl, jetzt tödlicherem Stahl als jeder in Thakandar gefertigte.
Er hörte ein Rascheln und schaute zu der Stelle auf der anderen Seite des Raums, an der der Myrddraal auf sein Vergnügen wartete. Er versuchte nicht, seinem Blick zu begegnen. Das hatte er schon vor langer Zeit aufgegeben.
Er versuchte, zu seiner Betrachtung der Klinge zurückzukehren, zu der vollkommenen Schönheit des vollkommenen Todes, der Schönheit dessen, was Aridhol gewesen war und wieder sein würde, aber der Myrddraal hatte seine Konzentration gebrochen, hatte sie verdorben. Beinahe wäre er hinübergegangen und hätte das Wesen getötet. Halbmenschen brauchten lange zum Sterben. Wie lange würde es dauern, wenn er den Dolch benützte? Als spüre das Wesen seine Gedanken, regte es sich erneut. Nein, es konnte noch nützlich sein.
Es war ohnehin schwer für ihn, sich lange auf eine Sache zu besinnen. Außer natürlich bei Rand al'Thor. Er konnte al'Thor spüren, konnte auf ihn deuten, so nahe. Al'Thor zerrte an ihm, zerrte, bis es schmerzte. In letzter Zeit war es anders, eine Andersartigkeit, die plötzlich eingetreten war, fast als hätte jemand anderer plötzlich teilweise Besitz von al'Thor ergriffen und dabei einen Teil von Fains Zugriff verdrängt. Es war unwichtig. Arihor gehörte ihm.
Er wünschte, er könnte al'Thors Schmerz spüren. Sicherlich hatte er ihm bereits Schmerzen verursacht. Bisher nur Nadelstiche, aber ausreichend viele Nadelstiche würden ihn zermürben. Die Weißmäntel gingen hart gegen den Wieder geborenen Drachen vor. Fain grinste höhnisch. Es war zwar unwahrscheinlich, daß Niall al'Thor jemals stärker unterstützt hätte als Elaida, aber es war besser, bei dem verdammten al'Thor nicht zuviel als selbstverständlich zu betrachten. Nun, er hatte sie beide mit seinem Anteil von Aridhol gestreift. Sie vertrauten vielleicht ihrer eigenen Mutter, aber niemals mehr al'Thor.
Die Tür schwang auf, und der junge Perwyn Belman platzte, gefolgt von seiner Mutter, in den Raum. Nan Belman war eine hübsche Frau, obwohl Fain Schönheit jetzt nur noch selten bemerkte, eine Schattenfreundin, die glaubte, ihre Schwüre wären vom Bösen geprägt, bis Padan Fain auf ihrer Türschwelle erschien. Sie hielt auch ihn für einen Schattenfeind, der einen hohen Rang in den Konzilen einnahm. Fain war natürlich weit darüber hinausgelangt. Er würde in dem Moment sterben, wenn eine der Auserwählten Hand an ihn legte. Der Gedanke ließ ihn kichern.
Perwyn und seine Mutter keuchten natürlich beide beim Anblick des Myrddraal, aber der Junge faßte sich zuerst wieder und erreichte Fain, während die Frau noch immer nach Atem rang.
»Meister Mordeth, Meister Mordeth«, piepste der Junge und tanzte in seinem rotweißen Umhang von einem Fuß auf den anderen. »Ich habe die von Euch verlangten Neuigkeiten.«
Mordeth. Hatte er diesen Namen benutzt? Manchmal konnte er sich nicht mehr erinnern, welchen Namen er benutzt hatte, welcher Name sein Name war. Er versenkte den Dolch in den Falten seines Mantels und setzte ein freundliches Lächeln auf. »Und welche Neuigkeiten wären das, Bursche?«
»Jemand hat heute morgen den Wiedergeborenen Drachen zu töten versucht. Ein Mann. Er ist jetzt tot. Er ist ungehindert an den Aiel und allen vorbei und in die Räume des Lord Drache gelangt.«
Fain spürte, wie sein Lächeln zu einem höhnischen Grinsen geriet. Versucht, al'Thor zu töten? Al'Thor gehörte ihm! Al'Thor würde durch seine und durch niemand anderes Hand sterben! Warte. Der Mörder war an den Aiel vorbei in al'Thors Räume gelangt? »Ein Grauer Mann!« Er erkannte seine Stimme in dem krächzenden Klang nicht wieder. Graue Männer bedeuteten die Auserwählten. Würde er niemals von ihrer Einmischung verschont bleiben?
All diese Wut mußte irgendwohin gelenkt werden, bevor er platzte. Fast beiläufig zog er seine Hand über das Gesicht des Jungen. Perwyns Augen traten hervor. Er begann so stark zu zittern, daß seine Zähne klapperten.
Fain verstand die Tricks, die er handhaben konnte, nicht wirklich. Ein wenig stammte vielleicht von den Schattenmenschen und ein wenig von Aridhol. Nachdem er aufgehört hatte, nur Padan Fain zu sein, hatte sich das Talent allmählich zu zeigen begonnen. Er wußte nur, daß er jetzt gewisse Dinge tun konnte, solange er berühren konnte, woran er arbeitete.
Nan warf sich neben seinem Sessel auf die Knie und umklammerte seinen Umhang. »Gnade, Meister Mordeth«, stieß sie hervor. »Bitte, zeigt Gnade. Er ist noch ein Kind. Nur ein Kind!«
Er betrachtete sie einen Moment neugierig mit geneigtem Kopf. Sie war wirklich eine recht hübsche Frau. Er setzte einen Fuß auf ihre Brust und schob sie beiseite, damit er aufstehen konnte. Der Myrddraal, der verstohlen spähte, wandte das augenlose Gesicht ruckartig ab, als er merkte, daß Fain ihn ansah. Er erinnerte sich sehr gut an seine ... Tricks.
Fain schritt auf und ab. Er mußte sich bewegen. Al'Thors Untergang mußte sein Werk sein — seines! —, nicht das der Auserwählten. Wie konnte er den Mann erneut verletzen, bis ins Herz verletzen? Da waren jene schwatzenden Mädchen in Culains Hund, aber wenn al'Thor nicht kam, wenn die Zwei Flüsse zerstört wurden — was würde es ihn dann überhaupt kümmern, wenn Fain das Gasthaus zusammen mit den jungen Mädchen niederbrannte? Womit würde er es zu tun haben? Nur wenige seiner ehemaligen Kinder des Lichts waren verblieben. Es war in Wahrheit nur ein Test gewesen — er würde den Mann, der es tatsächlich geschafft hätte, al'Thor zu töten, darum winseln lassen, bei lebendigem Leibe gehäutet zu werden! —und doch hatte es ihn viele gekostet. Er hatte nur noch den Myrddraal und eine Handvoll Trollocs, die sich außerhalb der Stadt verbargen, und wenige in Caemlyn versammelte, von Tar Valon herbeigeeilte Schattenfreunde. Al'Thor zerrte an ihm. Das war das Bemerkenswerteste an den Schattenfreunden. Man sollte einen Schattenfreund durch nichts von jemand anderem unterscheiden können, aber in letzter Zeit hatte er gemerkt, daß er sie auf den ersten Blick erkennen konnte, selbst jemanden, der nur daran gedacht hatte, sich dem Schatten zu verschwören, als hätten sie ein schwarzes Mal auf der Stirn.
Nein! Er mußte sich konzentrieren. Konzentrieren! Seinen Geist klären. Sein Blick fiel auf die ihren dumm daherredenden Sohn streichelnde Frau, die leise auf ihn einredete, als würde das helfen. Fain wußte nicht, wie er seine Tricks aufhalten sollte, wenn sie erst begonnen hatten. Der Junge sollte überleben, wenn auch ein wenig beschadeter, wenn das Wesen zu einer Entscheidung gekommen war. Fain hatte nicht sein ganzes Herz hineingelegt, es zu erschaffen. Seinen Geist klären. An etwas anderes denken. An eine hübsche Frau. Wie lange hatte er keine Frau mehr gehabt?
Er nahm lächelnd ihren Arm. Er mußte sie von dem törichten Jungen fortziehen. »Kommt mit mir.« Seine Stimme klang jetzt anders, eindrucksvoller, der Lugardakzent war vergangen, aber er bemerkte es nicht. Er bemerkte es niemals. »Sicherlich wißt Ihr zumindest, wie man wahren Respekt erweist. Wenn Ihr mir zu Gefallen seid, wird Euch nichts geschehen.« Warum wehrte sie sich? Er wußte, daß er charmant war. Er würde ihr weh tun müssen. Das war alles al'Thors Schuld.