10 Wie man in den Grenzlanden sagt

Einen Augenblick lang wünschte sich Rand die Tage zurück, an denen er allein durch die Gänge des Palastes schlendern durfte. Heute morgen begleiteten ihn Sulin und zwanzig Töchter des Speers, dazu Bael, der Clanhäuptling der Goshien Aiel, mit einem halben Dutzend Sovin Nai, Messerhände, von den Jhirad Goshien, die zu Ehren Baels mitgekommen waren, und Bashere mit ebenso vielen Soldaten aus Saldaea, an den kühnen Raubvogelnasen erkennbar. Sie alle drängten sich in dem breiten Gang mit den bunten Wandbehängen. In den Cadin'sor gekleidete Far Dareis Mai und Sovin Nai blickten durch die Diener hindurch. Diese verbeugten sich hastig oder knicksten und eilten weg, um den Weg freizumachen. Die jüngeren der Soldaten aus Saldaea stolzierten recht aufgeblasen einher in ihren Kurzmänteln und den Pumphosen, die sie in die Stiefel gesteckt hatten. Selbst hier in diesem schattigen Gang war es heiß, und Staubteilchen tanzten in der Luft. Einige der Diener trugen die rotweiße Livree wie zu Morgases Zeiten, aber die meisten waren ohnehin neu und hatten nur das an, was sie bei ihrem Vorstellungsgespräch getragen hatten, eine ziemlich bunte Mischung aus der typischen Wollkleidung der Bauern und Arbeiter, zumeist dunkel und schlicht, aber es waren auch alle möglichen Farben zu sehen und hier und da sogar ein wenig Stickerei oder etwas Spitzenbesatz.

Rand machte sich eine gedankliche Notiz, Frau Harfor, die Erste Zofe, zu bitten, genügend Livrees aufzutreiben, um alle damit zu versorgen, damit die Neuen nicht gezwungen waren, in ihren besten Kleidern zu arbeiten. Die Livrees der Palastdiener waren ganz ohne Zweifel bessere Kleidung, als die Landbewohner jemals trugen, außer vielleicht an besonderen Festtagen. Es waren weniger Diener als zu Morgases Zeiten am Werk, und ein großer Teil der in die rotweiße Livree gekleideten Männer und Frauen waren grauhaarig und gebeugt und kamen aus den Quartieren der Ruheständler. Anstatt wie so viele andere zu fliehen, hatten sie ihren Müßiggang aufgegeben, damit der gute Zustand des Palastes nicht leiden würde. Noch eine gedankliche Notiz. Frau Harfor — Erste Zofe war ein unbedeutend klingender Titel, aber Renee Harfor leitete alle Alltagsarbeiten im Königlichen Palast — also, Frau Harfor sollte schnell genügend weitere Diener auftreiben, damit diese Alten ihren wohlverdienten Ruhestand genießen konnten. Bekamen sie eigentlich noch immer ihre Pension ausbezahlt, nachdem Morgase tot war? Daran hätte er auch früher denken können. Halwin Norry, der Chefbuchhalter, sollte das wissen. Es war, als werde er mit Federn totgeschlagen. Einfach alles erinnerte ihn an wieder etwas anderes, was er zu tun hatte. Die Kurzen Wege: das war keine Feder. Er ließ das Wegetor in Caemlyn bewachen, genau wie die in der Nähe Tears und Cairhiens, aber er war nicht einmal sicher, wie viele es noch gab.

Ja, er hätte nur zu gern all diese Verbeugungen und Knickse, all die Fragen und Belastungen, all die Menschen, deren Bedürfnisse er zu befriedigen hatte, gegen jene Tage eingetauscht, als er noch Schwierigkeiten hatte, sich überhaupt einen Mantel zu beschaffen. Natürlich hätte man ihm damals gar nicht erlaubt, in diesen Gängen herumzulaufen, jedenfalls nicht ohne eine andere Art der Bewachung, nämlich eine, die dafür sorgen sollte, daß er keine silberne Schale aus einer der Wandnischen stehlen würde, oder eine der Elfenbeinskulpturen von einem mit Lapislazuli eingelegten Tischchen.

Zum Glück meldete sich Lews Therins Stimme heute morgen wenigstens nicht. Und mittlerweile schien er sich wirklich diesen Trick angeeignet zu haben, den ihm Taim gezeigt hatte; von Basheres Stirn rann der Schweiß, aber die Hitze berührte Rand kaum. Er hatte seinen silberbestickten, grauseidenen Kurzmantel bis zum Hals zugeknöpft, und obwohl ihm ein wenig warm war, vergoß er keinen Tropfen Schweiß. Taim hatte ihm versichert, mit der Zeit werde er nicht einmal mehr Hitze oder Kälte empfinden, die so gewaltig wären, daß jeder andere Mann davon völlig hilflos würde. Er mußte nur auf Abstand von sich selbst gehen, seine Konzentration ganz nach innen lenken. Das war ein wenig dem ähnlich, was er tat, wenn er nach Saidin griff. Seltsam, daß es der Wirkung der Macht so nahe kam, und dennoch nichts damit zu tun hatte. Machten es die Aes Sedai genauso? Er hatte noch niemals eine von ihnen schwitzen sehen. Oder?

Mit einem Mal mußte er laut lachen. Da stand er und fragte sich, ob die Aes Sedai jemals schwitzten! Vielleicht war er noch nicht dem Wahnsinn verfallen, aber zum wollköpfigen Tor reichte es allemal.

»Habe ich etwas Komisches gesagt?« fragte Bashere trocken und fuhr sich mit dem Handrücken über den Schnurrbart. Einige der Töchter blickten ihn erwartungsvoll an. Sie bemühten sich ehrlich, den Humor der Feuchtländer zu verstehen.

Wie Bashere seinen Gleichmut in diesem Maße wahren konnte, wußte Rand nicht. An diesem Morgen hatte ein Gerücht den Palast erreicht, es gebe bewaffnete Auseinandersetzungen in den Grenzlanden, und zwar zwischen den Grenzländern selbst. Natürlich blühte der Klatsch unter den Reisenden wie das Unkraut nach einem Regenguß, aber die Neuigkeiten waren aus dem Norden gekommen, und zwar offensichtlich von Kaufleuten, die zumindest bis Tar Valon gereist waren. Nichts war darüber bekannt, wo diese Kämpfe stattfanden und wer eigentlich gegen wen vorging. Das konnte genauso in Saldaea sein wie anderswo, und Bashere hatte seit ihrem Aufbruch vor Monaten nichts mehr von zu Hause gehört. Doch seinem Verhalten nach zu schließen, hätte das Gerücht genauso ein Ansteigen der Zwiebelpreise betreffen können, so wenig schien es ihn zu berühren.

Natürlich wußte Rand genausowenig, was in den Zwei Flüssen geschah. Allenfalls unbestimmte Gerüchte von einem Aufstand irgendwo im Westen mochten seine Heimat betreffen. Aber das konnte in dieser Zeit alles oder nichts bedeuten. Für ihn war das trotzdem nicht dasselbe. Er hatte die Zwei Flüsse verlassen. Die Aes Sedai hatten überall ihre Spione, und er hätte nicht einmal einen Kupferpfennig darauf verwettet, daß die Verlorenen dort keine hatten. Der Wiedergeborene Drache hatte kein Interesse an diesem winzigen Fleckchen Erde, auf dem Rand al'Thor aufgewachsen war. Er war dem völlig entwachsen. Wenn nicht, könnte man Emondsfeld wie eine Geisel gegen ihn einsetzen. Na ja, diese Haarspaltereien waren sinnlos. Verlassen war verlassen.

Falls ich eine Möglichkeit hätte, meinem Schicksal zu entrinnen, hätte ich das auch verdient? Das war sein Gedanke und nicht der Lews Therins.

Er rollte die Schultern, in denen sich plötzlich ein dumpfer Schmerz breitmachte, und bemühte sich um einen heiteren Ton: »Vergebt mir, Bashere. Mir ist gerade etwas Seltsames eingefallen, aber ich habe trotzdem zugehört. Ihr habt gesagt, daß Caemlyn allmählich überfüllt sei. Für jeden Mann, der aus Angst vor dem falschen Drachen weggelaufen ist, sind zwei andere gekommen, weil ich eben keiner bin. Klar?«

Bashere knurrte, was alles bedeuten konnte.

»Wie viele sind aus anderen Gründen gekommen.

Rand al'Thor?« Bael war der größte Mann, den Rand je gesehen hatte, noch eine gute Handbreit größer als er selbst. Das ergab einen eigenartigen Kontrast zu Bashere, der kleiner als selbst alle anwesenden Töchter des Speers bis auf Enaila war. Starke graue Strähnen waren in Baels dunkelroten Haaren zu sehen, doch sein Gesicht war hager und hart, und die blauen Augen blickten scharf drein. »Ihr habt genug Feinde für hundert Männer. Merkt Euch, was ich sage: Sie werden erneut versuchen. Euch zu töten. Es könnten sogar Schattenläufer darunter sein.«

»Selbst wenn es nicht die Schattenfreunde sind«, warf Bashere ein, »kocht die Stadt doch vor Unruhe über wie ein auf dem Feuer vergessener Teekessel. Eine Menge Leute wurden brutal zusammengeschlagen, offensichtlich, weil sie daran zweifelten, daß Ihr der Wiedergeborene Drache seid; einen armen Burschen zerrten sie aus einer Taverne in eine Scheune und hängten ihn an einem Balken auf, weil er über Eure Wunder lachte.«

»Meine Wunder?« staunte Rand ungläubig.

Ein runzliger, weißhaariger Diener in einer viel zu großen Livree und mit einer großen Vase in den Händen versuchte gleichzeitig, sich zu verbeugen und aus dem Weg zu treten. Prompt stolperte er über seine eigenen Füße und fiel nach hinten. Die blaßgrüne Vase aus papierdünnem Meervolk-Porzellan flog über seinen Kopf und überschlug sich auf den dunkelroten Fußbodenfliesen ein paarmal, bis sie wieder stand, und zwar aufrecht, dreißig Schritt weiter den Gang hinunter. Der alte Mann sprang überraschend behende auf die Beine und rannte hin, um die Vase aufzuheben. Er streichelte mit beiden Händen darüber und untersuchte sie sowohl ungläubig wie auch erleichtert, als er keine angeschlagene Stelle und keinen Sprung finden konnte.

Andere Diener starrten genauso entgeistert hinüber, besannen sich aber und eilten weg, um ihre Aufträge zu erfüllen. Sie bemühten sich derart verkrampft, jeden Blick auf Rand zu vermeiden, daß ein paar sogar vergaßen, sich zu verbeugen oder zu knicksen.

Bashere und Bael tauschten einen Blick, und dann pustete Bashere seine strammen Schnurrbartenden weg.

»Bezeichnen wir sie eben als eigenartige Vorkommnisse«, sagte er. »Jeden Tag gibt es neue Geschichten, beispielsweise über ein weiteres Kind, das kopfüber aus dem Fenster in vierzig Fuß Höhe auf die Pflastersteine stürzt und ohne jede Schramme wieder aufsteht. Oder wie eine Großmutter zwei Dutzend durchgehender Pferde in den Weg läuft, ohne von ihnen auch nur gestreift zu werden, und natürlich wird sie erst recht nicht niedergetrampelt. Irgendein Bursche hat neulich beim Würfeln zweiundzwanzig Mal hintereinander einen Fünfer gehabt, und auch das schreiben sie Euch zu. Glück muß man haben.«

»Man sagt auch«, fügte Bael hinzu, »daß gestern ein Korb mit Dachziegeln heruntergefallen und völlig unbeschädigt auf der Straße gelandet sei, wobei die herausgefallenen Ziegel genau die Form des alten Abzeichens der Aes Sedai gebildet haben sollen.« Er sah den weißhaarigen Diener an, der mit staunend geöffnetem Mund und der an die Brust gepreßten Vase dastand, während sie an ihm vorbeigingen. »Ich bezweifle die Geschichte keineswegs.«

Rand atmete langsam aus. Natürlich erwähnten sie nicht die Vorkommnisse der anderen Art. Den Mann, der auf einer Stufe ins Stolpern kam und sich selbst erhängte, als sein Halstuch sich am Türriegel verfing. Der lose Dachziegel, der vom Wind endgültig abgerissen und durch ein offenes Fenster und eine Tür gewirbelt wurde und im dahinterliegenden Zimmer eine Frau erschlug, die mit ihrer Familie bei Tisch saß. Auch solche Dinge geschahen, wenn auch selten. Nur in seiner Umgebung war das keine Seltenheit. Ob zum Guten oder zum Bösen — und beides geschah ungefähr gleich oft — veränderte er die Wahrscheinlichkeit einfach nur durch seine Anwesenheit innerhalb einiger Meilen. Nein, und sollten auch die Drachen von seinen Unterarmen und die in seine Handflächen eingebrannten Reiher verschwinden, wäre er dennoch gebrandmarkt. Es gab eine Redensart in den Grenzlanden: Die Pflicht wiegt schwerer als ein Berg, der Tod leichter als eine Feder. Wenn man einmal diesen Berg fest auf den Schultern trug, hatte man keine Möglichkeit mehr, ihn loszuwerden. Es gab sowieso niemand anderen, der ihm die Last abnehmen würde, jammern half da gar nichts.

Er bemühte sich um einen knappen Tonfall: »Habt Ihr die Männer aufgespürt, die den armen Kerl in der Scheune aufhängten?« Bashere schüttelte den Kopf. »Dann sucht sie und verhaftet sie wegen Mordes. Ich will diesen Dingen Einhalt gebieten. Jetzt an mir zu zweifeln ist kein Verbrechen.« Den Gerüchten nach hatte der Prophet es zu einem Verbrechen erklärt, aber noch konnte er deshalb nichts unternehmen. Er wußte nicht einmal, wo sich Masema aufhielt, nur, daß er irgendwo in Ghealdan oder Amadicia sein mußte. Wenn er nicht bereits woanders war. Doch er machte sich eine weitere gedankliche Notiz: Er mußte den Mann finden und ihm irgendwie Zügel anlegen.

»Gleich, wie weit es geht?« fragte Bashere, »Man flüstert sich hinter vorgehaltener Hand zu, Ihr wärt ein falscher Drache, der mit der Hilfe von Aes Sedai Morgase getötet habe. Man erwartet, daß sich die Menschen gegen Euch erheben und ihre Königin rächen. Es könnte mehr als einen geben, der dumme Sachen anstellt. Man kann es nicht vorhersagen.«

Rands Gesichtszüge verhärteten sich. Mit dem ersten konnte er leben — er hatte keine andere Wahl, denn es gab einfach zu viele Gerüchte, um sie alle zu widerlegen, und wenn er selbst noch so oft widersprach —aber er würde die Aufforderung zur Rebellion nicht dulden. Andor würde er nicht auch noch durch einen Bürgerkrieg zerreißen. Nicht Andor. Er wollte Elayne ein Land übergeben, das genauso unbefleckt war, wie er es übernommen hatte. Falls er sie jemals fand. »Findet heraus, wer das in die Welt gesetzt hat«, sagte er grob, »und werft die Schuldigen ins Gefängnis.« Licht, wie konnte man feststellen, wer ein Gerücht in Umlauf gebracht hatte? »Wenn sie um Gnade betteln, können sie Elayne darum bitten.« Eine junge Dienerin in einem grob gewebten braunen Kleid, die gerade eine blaue, gerillte Glasschüssel abstaubte, bemerkte seine Miene; ihr fiel die Schüssel aus den mit einem Mal zitternden Händen und zerbrach. Nicht immer veränderte er die Gesetze der Wahrscheinlichkeit.

»Gibt es auch gute Neuigkeiten? Ich könnte ein paar gebrauchen.«

Die junge Frau bückte sich unsicher, um die Scherben der Schüssel aufzulesen, aber Sulin warf ihr einen Blick zu, nur einen flüchtigen Blick, und sie sprang zurück und drückte sich mit weit aufgerissenen Augen an einen Wandbehang, auf dem eine Leopardenjagd abgebildet war. Rand verstand das nicht, aber manche Frauen schienen sich vor den Töchtern des Speers viel mehr zu fürchten als vor den Aielmännern. Die junge Frau blickte zu Bael auf, als suche sie Schutz bei ihm. Er aber schien sie gar nicht zu bemerken.

»Das kommt darauf an, was man unter guten Nachrichten versteht.« Bashere zuckte die Achseln. »Ich habe erfahren, daß Ellorien aus dem Hause Traemane und Pelivar aus dem Hause Caelan die Stadt vor drei Tagen betraten. Sich hineinschlichen, könnte man sagen, und keiner von beiden hat sich der Innenstadt genähert, soweit ich weiß. Dem Klatsch zufolge soll sich Dyelin aus dem Hause Taravin in der Umgebung auf dem Land aufhalten. Keines der Häuser hat auf Eure Einladungen geantwortet. Ich habe aber nichts vernommen, was eines von ihnen mit dem Gerede in Verbindung brächte.« Er sah zu Bael hinüber, der mit einem leichten Kopfschütteln auf die unausgesprochene Frage antwortete.

»Wir erfahren weniger als Ihr, Davram Bashere. Diese Leute äußern sich in der Umgebung anderer Feuchtländer einfach freier.«

Es waren aber in jedem Fall gute Nachrichten. Es handelte sich schließlich um Menschen, die Rand brauchte. Wenn sie ihn für einen falschen Drachen hielten, würde er schon einen Ausweg finden. Falls sie glaubten, er habe Morgase getötet... Gut, warum eigentlich nicht? So würden sie wenigstens ihrem Andenken und ihrer Familie gegenüber loyal bleiben. »Schickt ihnen noch einmal Einladungen, mich zu besuchen. Setzt auch Dyelins Namen darauf; vielleicht wissen sie, wo sie sich aufhält.«

»Wenn ich ihnen eine solche Einladung sende«, sagte Bashere zweifelnd, »wird es sie vielleicht nur daran erinnern, daß sich ein Heer aus Saldaea in Andor befindet.«

Rand zögerte und nickte dann. Plötzlich grinste er. »Bittet Lady Arymilla, die Einladung zu überbringen. Ich zweifle nicht daran, daß sie die Gelegenheit beim Schöpf ergreifen wird, ihnen zu zeigen, wie nahe sie mir steht. Aber Ihr schreibt den Text.« Moiraines Lektionen im Spiel der Häuser waren wieder einmal nützlich für ihn.

»Ich weiß nicht, ob es eine gute oder eine schlechte Nachricht ist«, sagte Bael, »aber die Roten Schilde haben mir berichtet, daß zwei Aes Sedai Quartier in einer Schenke der Neustadt genommen haben.« Die Roten Schilde hatten Basheres Männern dabei geholfen, Ruhe und Ordnung in der Stadt wiederherzustellen, und nun übernahmen sie die Polizeiarbeit allein. Bael grinste leicht, als er das Mißvergnügen auf Basheres Miene entdeckte. »Wir hören weniger, Davram Bashere, aber vielleicht sehen wir manchmal mehr.«

»Ist eine von ihnen diejenige, die Katzen mag?« fragte Rand. Die Gerüchte über Aes Sedai in der Stadt hielten sich hartnäckig. Manchmal sollten es zwei sein oder drei, oder gleich eine ganze Gruppe. Soweit aber Bashere oder Bael überhaupt etwas erfahren hatten, waren es ein paar Geschichten über eine Aes Sedai, die Katzen und Hunde heilte, doch immer wohnte sie angeblich eine Straße weiter, und derjenige, der die Geschichte erzählte, hatte sie von jemand anders gehört, der sie wiederum in einer Taverne oder auf dem Markt aufgeschnappt hatte.

Bael schüttelte den Kopf. »Glaube ich nicht. Die Roten Schilde sagen, die beiden seien während der Nacht eingetroffen.« Bashere lauschte interessiert. Er ließ nur selten eine Gelegenheit aus, Rand gegenüber festzustellen, er benötige die Aes Sedai. Bael jedoch hatte leicht die Stirn gerunzelt, so leicht, daß wohl nur ein Aiel es bemerken würde. Die Aiel waren äußerst vorsichtig, ja zögernd, wenn es um ihre Beziehung zu den Aes Sedai ging.

Diese wenigen Worte enthielten reichlich Stoff zum Nachdenken für Rand, und alle gedanklichen Pfade führten schließlich zu ihm selbst zurück. Es mußte einen Grund dafür geben, wenn zwei Aes Sedai nach Caemlyn kamen, obwohl ihre Schwestern die Stadt mieden, seit er dort aufgetaucht war. Am wahrscheinlichsten war es, daß sie sich seinetwegen hier befanden. Selbst in guten Zeiten reisten nur wenige Menschen bei Nacht, und dies waren nun nicht gerade gute Zeiten. Es mochte sein, daß diese Aes Sedai durch ihre nächtliche Ankunft Aufsehen vermeiden wollten, und zwar höchstwahrscheinlich, weil sie seiner Aufmerksamkeit zu entgehen hofften. Andererseits mochte es auch sein, daß sie einfach dringend ein bestimmtes Ziel erreichen mußten und auf die Tageszeit keine Rücksicht nehmen konnten. Was nach einem Auftrag der Burg roch. In Wahrheit konnte er sich einfach nichts vorstellen, was für die Burg im Augenblick wichtiger sein konnte als er selbst. Gut, sie mochten auch unterwegs sein, um sich den anderen Aes Sedai anzuschließen, von denen Egwene behauptete, sie wollten ihn unterstützen.

Was auch der Grund sein mochte, er wollte ihn wissen. Das Licht allein wußte, was die Aes Sedai vorhatten — die Burg, genau wie Elaynes verborgene Bande — aber es war für ihn äußerst wichtig, es ebenfalls zu erfahren. Es war zu gefährlich, blind weiterzumarschieren, denn es gab einfach zu viele von ihnen. Wie würde die Burg reagieren, wenn Elaida von seiner Amnestie erfuhr? Wie die anderen Aes Sedai? Hatten sie es bereits erfahren?

Als sie auf die Tür am Ende des Korridors zuschritten, öffnete er den Mund, um Bael die Anweisung zu erteilen, eine der Aes Sedai in den Palast zu bitten. Natürlich würde er auch mit zwei Aes Sedai fertig, wenn es zu einer Auseinandersetzung kam und sie ihn nicht überrumpelten, aber es war überflüssig, ein Risiko einzugehen, bevor er überhaupt wußte, wer sie waren und was sie planten.

Ich bin von Stolz erfüllt. Der Stolz, der mich zerstört hat, kotzt mich an!

Rand kam ins Stolpern. Das war das erste Mal heute, daß Lews Therins Stimme sich in seinem Kopf bemerkbar gemacht hatte, und es klang zu sehr nach seinen eigenen Gedanken in bezug auf die Aes Sedai, um sich dabei wohl zu fühlen, doch das war es nicht, was ihn seine geplanten Worte herunterschlucken und stocksteif stehenbleiben ließ.

Der Hitze wegen standen die Türflügel offen und gaben den Blick in einen der Palastgärten frei. Von den Blumen war nichts mehr zu sehen, und einige der Rosensträucher und Weißdornhecken wirkten verwelkt, aber die schattenspendenden Bäume standen noch immer, wenn auch nur wenige Blätter an den Zweigen hingen, rund um den weißen Marmorbrunnen verteilt, aus dem im Herz des Gartens das Wasser sprudelte. Eine Frau im bauschigen braunen Wollrock und einer lose hängenden weißen Algodebluse stand neben dem Brunnen, einen grauen Schal um die Arme geschlungen, und blickte mit staunenden Augen, wie so oft schon, das Wasser an, das keinem anderen Zweck diente als eben dem, angeschaut zu werden. Rands Augen saugten den Anblick der weichen Linien von Aviendhas Gesicht in sich auf, der dichte Locken rötlich schimmernden Haares, die ihr von dem um die Stirn geschlungenen, zusammengefalteten grauen Schal bis auf die Schultern hingen. Licht, war sie schön! Sie betrachtete den Wasserstrahl des Springbrunnens so gebannt, daß sie ihn noch nicht bemerkt hatte.

Liebte er sie? Er wußte es nicht. In seinem Kopf und seinen Träumen war sie untrennbar mit Elayne und sogar Min verwickelt. Was er jedoch wußte, war, daß er gefährlich war und einer Frau nichts anderes als Schmerz schenken konnte.

Ilyena. Lews Therin weinte. Ich habe sie getötet! Das Licht soll mich für alle Ewigkeit bestrafen!

»Die Aes Sedai, die auf diese Art auftauchen, könnten immerhin wichtig sein«, sagte Rand leise. »Ich glaube, wir sollten diese Schenke aufsuchen und feststellen, warum sie hier sind.« Fast alle blieben gemeinsam mit ihm stehen, nur Enaila und Jalani tauschten einen kurzen Blick und gingen weiter an ihm vorbei in den Garten. Er erhob die Stimme ein wenig, und sein Tonfall wurde um einiges härter: »Die Töchter hier werden mich begleiten. Jede, die allerdings ein Kleid anziehen und die Kupplerin spielen möchte, bleibt zurück.«

Enaila und Jaiani wurden plötzlich steif und wirbelten dann zu ihm herum. Empörung blitzte aus ihren Augen. Nur gut, daß Somara heute keinen Dienst hatte; sie wäre möglicherweise trotzdem weitermarschiert. Sulins Finger zuckten und gaben den anderen Zeichen in der Fingersprache der Töchter. Was sie ihnen mitteilte, beruhigte wohl ihre Empörung und ließ statt dessen die Schamröte auf die Wangen der beiden Töchter treten. Die Aiel hatten alle Arten von Handsignalen entwickelt, weil es gelegentlich besser war zu schweigen. Jeder Clan hatte eine eigene Fingersprache, genau wie jede Kriegergemeinschaft, und daneben gab es noch Zeichen, die alle Aiel kannten. Doch nur die Töchter hatten daraus eine regelrechte Sprache entwickelt.

Rand wartete nicht, bis Sulin fertig war, sondern wandte sich vom Garten ab. Diese Aes Sedai würden möglicherweise Caemlyn genauso schnell verlassen, wie sie angekommen waren. Er blickte sich um. Aviendha betrachtete noch immer das Wasser und hatte ihn wohl offensichtlich nicht bemerkt. Er beschleunigte seine Schritte. »Bashere, würdet Ihr bitte einen Eurer Männer schicken, um Pferde zu satteln? Am Südtor bei den Stallungen.« Das Haupttor des Palastes führte auf den Platz der Königin, der gewiß wieder voll von Menschen war, die hofften, einen Blick auf ihn zu erhäschen. Er hätte eine halbe Stunde gebraucht, um ihnen zu entkommen — mit etwas Glück jedenfalls. Bashere gestikulierte kurz, und einer der jüngeren Soldaten aus Saldaea eilte mit dem leicht rollenden Gang eines Mannes voran, der daran gewöhnt ist, im Sattel zu sitzen. »Ein Mann muß wissen, wann er sich vor einer Frau zurückziehen sollte«, sagte Bashere ins Leere hinein, »aber einem weisen Mann ist bewußt, daß er sich ihr manchmal eben doch stellen muß.«

»Junge Männer«, bemerkte Bael ungnädig. »Ein junger Mann jagt nach Schatten und rennt vor dem Mondschein davon, und am Ende sticht er sich mit dem eigenen Speer in den Fuß.« Ein paar der anderen Aiel schmunzelten, sowohl Töchter als auch Mitglieder der Messerhände. Jedenfalls die älteren.

Gereizt blickte sich Rand noch einmal um. »Keiner von Euch würde ein Kleid gut stehen.« Überraschenderweise lachten nun die Töchter und die Messerhände wieder, und diesmal lauter. Vielleicht bekam er den Humor der Aiel doch langsam in den Griff.

Alles war wie erwartet, als er aus dem Südtor bei den Stallungen in die gewundenen Straßen der Innenstadt ritt. Jeade'ens Hufe klapperten laut auf den Pflastersteinen, als der Hengst tänzelte; in letzter Zeit war der Apfelschimmel ziemlich selten aus dem Stall geholt worden. Es waren recht viele Menschen zu sehen, aber lange nicht so viele, wie er auf der anderen Seite des Palastes erwartet hätte, und sie gingen alle ihren eigenen Beschäftigungen nach. Trotzdem wurde natürlich mit Fingern auf ihn gezeigt, und die Leute steckten die Köpfe zusammen. Einige mochten Bashere erkannt haben, der sich im Gegensatz zu Rand oft in der Stadt aufgehalten hatte, aber jeder, der vom Palast her kam und noch dazu eine Eskorte Aiel bei sich hatte, mußte wichtig sein. Das Tuscheln und die ausgestreckten Finger folgten ihm durch die Stadt.

Obwohl er angestarrt wurde, hatte Rand noch einen Blick für die Schönheiten der von Ogiern erbauten Innenstadt. Die wenigen Gelegenheiten, die er noch fand, um etwas zu genießen, waren für ihn ungeheuer wertvoll. Die Straßen verliefen in weiten Bögen von dem im Sonnenschein weiß schimmernden Königlichen Palast und paßten sich den Konturen der Hügel an, als seien sie ein Teil des Landes. Überall ragten schlanke Türmchen auf, die mit bunten Kacheln geschmückt waren, oder goldene, purpurfarbene oder weiße Kuppeln, die unter der Sonne gleißten. Hier war eine Lücke in der Bebauung gelassen worden, um den Blick auf einen baumbestandenen Park freizugeben, und dort lenkte eine Anhöhe den Blick nach oben über die Stadt zu der welligen Ebene und den Wäldern jenseits der hohen, silber gefleckten, weißen Mauer, die ganz Caemlyn umschloß. Die Plätze und Parks waren angelegt worden, um das Auge zu erfreuen und zu beruhigen. Der Aussage der Ogier nach hatten nur Tar Valon und das legendäre Manetheren diese Stadt jemals übertroffen, und viele Menschen, besonders die Andoraner, glaubten, Caemlyn käme beiden sogar gleich.

Die reinweiße Mauer um die Innenstadt zeigte an, wo die sie umgebende Neustadt begann, die ihre eigenen Kuppeln und Türmchen aufwies, von denen einige sich bemühten, an Höhe jene der Innenstadt auf den höheren Hügeln zu erreichen. Hier waren die engeren Straßen vollgepackt mit Menschen, und selbst die breiten Alleen, die in der Mitte mit Bäumen bepflanzte Grünstreifen aufwiesen, waren voll von Menschen und Ochsenkarren und pferdegezogenen Planwagen, Reitern, Kutschen und Sänften. Ein Summen lag in der Luft wie von einem riesigen Bienenstock.

Hier kamen sie langsamer vorwärts, obwohl ihnen die Menge bereitwillig Platz machte. Die Leute wußten genausowenig wie die in der Innenstadt, wer er war, aber niemand wollte den trabenden Aiel in den Weg treten. Bei so vielen Menschen dauerte das eine Weile. Und hier gab es so viele verschiedene Arten von Menschen: Bauern in grober Wollkleidung und Kaufleute in Mänteln und Kleidern feineren Zuschnitts, Handwerker eilten mit ihren Produkten einher, und Händler priesen ihre Waren lauthals an, die sie aus Bauchläden und Schubkarren feilboten, nahezu alles, von Nadeln und Bändern bis zu Obst und Feuerwerkskörpern. Die beiden letzteren Artikel waren mittlerweile sehr teuer geworden. Ein Gaukler in seinem Flickenumhang stand Schulter an Schulter mit drei Aiel, die Klingen auf einem der Tische vor dem Laden eines Messerschmieds in Augenschein nahmen. Zwei hagere Kerle, die ihr dunkles Haar zu Zöpfen geflochten hatten und die Schwerter auf dem Rücken trugen — Jäger des Horns, wie Rand annahm —, waren ins Gespräch vertieft mit einigen Männern aus Saldaea, während in der Nähe eine Frau Flöte spielte und ein Mann dazu an einer Ecke das Tamburin schlug. Menschen aus Cairhien, kleiner und von blasserer Hautfarbe, hoben sich von den Andoranern ab, genau wie die dunkelhäutigeren Tairener, aber Rand erblickte auch Leute aus Murandy in langen Mänteln und solche aus Altara mit kunstvoll bestickten Westen, Kandori mit gespaltenen Barten, und sogar zwei Männer aus Arad Doman mit langen, dünnen Schnurrbärten und Ohrringen.

Auch eine andere Art von Menschen hob sich von den übrigen ab: jene, die in zerknitterten Jacken und Kleidern herumirrten, oftmals staubbedeckt und immer blinzelnd oder mit weit aufgerissenen Augen, offensichtlich ziellos und ohne zu wissen, was sie als nächstes unternehmen sollten. Diese Menschen waren ihrem Ziel so nahe gekommen wie nur möglich. Ihm. Dem Wiedergeborenen Drachen. Er hatte keine Ahnung, was er mit ihnen anfangen sollte, aber er trug die Verantwortung für sie. Es spielte keine Rolle, daß er sie nicht darum gebeten hatte, ihr Leben wegzuwerfen, nicht gewollt hatte, daß sie alles aufgaben. Sie hatten es trotzdem getan. Seinetwegen. Und sollten sie erfahren, wer er war, würden sie vielleicht sogar die Aiel überrennen und ihn in Stücke reißen, nur, weil sie ihn unbedingt einmal berühren wollten.

Er berührte den Angreal in Form eines fetten, kleinen Mannes in seiner Rocktasche. Es wäre schon schlimm, käme es dazu, daß er die Eine Macht anwenden mußte, um sich gegen Menschen zu schützen, die seinetwegen alles im Stich gelassen hatten. Deshalb begab er sich so selten in die Stadt. Zumindest war das einer der Gründe. Es gab einfach zuviel zu tun, um lediglich zum Vergnügen auszureiten.

Die Schenke nahe der westlichen Stadtgrenze, zu der ihn Bael nun führte, nannte sich Culains Jagdhund — drei Stockwerke unter einem roten Ziegeldach. Auf der gewundenen Seitenstraße drängte sich die Menge um Rands Gruppe, als sie vor der Schenke anhielten. Wieder berührte Rand den Angreal. Zwei Aes Sedai; er sollte eigentlich in der Lage sein, mit ihnen ohne Hilfe des Angreal fertig zu werden. Dann stieg er ab und ging hinein. Voraus gingen natürlich drei Töchter des Speers und zwei Messerhände. Alle schlichen sprungbereit auf den Fußballen und schienen nur um Haaresbreite davon entfernt, den Schleier hochzuziehen. Es ging wohl nicht anders. Eher hätte er einer Katze das Singen beibringen können. Bashere ließ zwei seiner Soldaten aus Saldaea bei den Pferden zurück und schritt mit Bael und den anderen zusammen gleich hinter Rand hinein. Der Rest der Aiel folgte ihnen, bis auf jene, die draußen Wache standen. Was sie vorfanden, war aber keineswegs, was Rand erwartete.

Der Schankraum unterschied sich nicht von hundert anderen Schenken Caemlyns. Große Bier- und Weinfässer standen an einer rauh verputzten Wand aufgereiht, und obenauf kleinere Brandyfässer. Ganz oben lag eine graugestreifte Katze ausgestreckt. An zwei Enden befanden sich gemauerte sauber ausgefegte Kamine. Drei oder vier Kellnerinnen mit weißen Schürzen eilten zwischen den Tischen und Bänken einher, die auf den blanken Holzbohlen des Fußbodens standen. Die Decke war aus schweren Balken gezimmert. Der Wirt, ein Mann mit rundem Gesicht und Dreifachkinn und einer weißen Schürze, die sich mächtig um seinen dicken Bauch spannte, trabte händeringend heran und musterte die Aiel nur ein ganz klein wenig besorgt. In Caemlyn hatte man begriffen, daß sie keineswegs alles in Reichweite plündern und brandschatzen wollten. Dabei war es ihm ziemlich schwergefallen, die Aiel davon zu überzeugen, daß Caemlyn kein erobertes Gebiet sei und sie nicht ihr übliches Fünftel mitnehmen durften. Das hieß natürlich nicht, daß die Wirte daran gewöhnt waren, gleich zwei Dutzend Aiel auf einmal in ihrem Schankraum begrüßen zu dürfen.

Der Wirt richtete seine Aufmerksamkeit auf Rand und Bashere. Hauptsächlich auf Bashere. Beide waren ihrer Kleidung nach gewiß Männer von Bedeutung, aber Bashere war um vieles älter und deshalb vermutlich der wichtigere. »Willkommen, die Lords, meine Lords. Was kann ich Euch anbieten? Ich habe Weine aus Murandy und Andor, Brandy aus...«

Rand beachtete den Mann gar nicht. Was nicht das gleiche war wie in hundert anderen Schankräumen, waren die Gäste. Zu dieser Stunde hätte er vielleicht ein oder zwei Männer erwartet, aber es waren keine da. Statt dessen saßen an den Tischen einfach gekleidete junge Frauen, überwiegend noch Mädchen, die sich auf ihren Plätzen umdrehten, die Teetassen in den Händen, um die Neuankömmlinge anzugaffen. Mehr als eine schnappte Baels Größe wegen nach Luft. Allerdings musterten nicht alle von ihnen die Aiel, und es war gerade dieses knappe Dutzend Mädchen, das ihn angaffte, was Rand die Augen aufreißen ließ. Er kannte sie. Nicht alle kannte er gut, doch immerhin kannte er sie. Besonders eine von ihnen erregte seine Aufmerksamkeit.

»Bode?« fragte er ungläubig. Das Mädchen mit den großen Augen, das ihn anstarrte — seit wann war sie eigentlich alt genug, um das Haar zum Zopf zu flechten? — war Bodewhin Cauthon, Mats Schwester. Und dort saß die mollige Hilde Barran neben der mageren Jerilin al'Caar und der hübschen Marisa Ahan, die, wie immer, wenn sie überrascht war, die Hände auf die Wangen gelegt hatte, und daneben Emry Lewin mit dem großen Busen und Elise Marwin und Darea Candwin und... Sie waren alle aus Emondsfeld oder der Umgebung. Sein Blick huschte über die übrigen Tische, und ihm wurde klar, daß auch die anderen Mädchen von den Zwei Flüssen stammen mußten. Jedenfalls die meisten. Er sah auch ein typisches Domanigesicht und ein oder zwei mehr, die von weiter her kommen mochten. Doch alle diese Kleider hätte man auch an jedem beliebigen Tag auf dem Anger von Emondsfeld sehen können. »Was beim Licht, macht ihr denn hier?«

»Wir sind auf dem Weg nach Tar Valon«, brachte Bode trotz ihrer Verblüffung heraus. Das einzige an ihr, das an Mat erinnerte, war ein spitzbübischer Ausdruck um die Augen. Ihr Erstaunen über sein Erscheinen verschwand dann aber schnell und wurde durch ein erfreutes, breites Lächeln ersetzt. »Um Aes Sedai zu werden, wie Egwene und Nynaeve.«

»Dasselbe könnten wir dich fragen«, warf die gertenschlanke Larine Ayellin ein und legte sich den dicken Zopf mit geübter Ungezwungenheit über die Schulter. Sie war die älteste unter den Mädchen aus Emondsfeld — gut drei Jahre jünger als er, aber außer Bode die einzige, die ihr Haar bereits zum Zopf geflochten trug —, aber sie war schon immer recht eingebildet gewesen. Und sie war dazu noch hübsch genug, um von den Jungen ständig darin bestärkt zu werden. »Lord Perrin hat kaum zwei Worte von dir erzählt, außer, du seist auf Abenteuer ausgezogen. Und du trügst jetzt ganz feine Kleidung, was offensichtlich keine Übertreibung war.«

»Geht es Mat gut?« fragte Bode mit einem Mal besorgt. »Ist er bei dir? Mutter macht sich solche Sorgen um ihn. Er hat gewöhnlich nicht einmal daran gedacht, frische Strümpfe anzuziehen, wenn ihn niemand daran erinnerte.«

»Nein«, sagte Rand bedächtig, »er ist nicht hier, aber es geht ihm gut.«

»Wir hätten nicht erwartet, dich hier zu treffen«, piepste Janacy Torfinn mit ihrer hellen Stimme. Sie konnte kaum älter als vierzehn sein, und so war sie die jüngste, zumindest unter denen aus Emondsfeld. »Das wird Verin Sedai und Alanna Sedai sehr freuen, wette ich. Sie fragen uns immer aus, was wir über dich wissen.«

Also das waren die beiden Aes Sedai. Er kannte Verin, eine Braune Schwester, mehr als nur flüchtig. Er wußte allerdings nicht, was er von ihrer Anwesenheit in Caemlin halten sollte. Das war aber auch kaum wesentlich. Diese Mädchen kamen von zu Hause! »Ist alles in Ordnung in den Zwei Flüssen? In Emondsfeld? Perrin ist gut angekommen, wie es scheint. Wartet mal! Lord Perrin?«

Das ließ alle Dämme brechen. Der Rest der Mädchen von den Zwei Flüssen war mehr daran interessiert, von der Seite her heimlich die Aiel zu mustern, vor allem Bael, und auch die Soldaten aus Saldaea bekamen ein paar Blicke ab, doch die Mädchen aus Emondsfeld drängten sich sämtlich um Rand, versuchten alle gleichzeitig, auf ihn einzureden, erzählten alles durcheinander, warfen dazwischen noch Fragen über ihn und Mat, über Egwene und Nynaeve ein, wobei Rand die meisten davon nicht unter einer Stunde hätte beantworten können, hätten sie ihm überhaupt eine Gelegenheit dazu gelassen.

Trollocs seien in das Gebiet der Zwei Flüsse eingedrungen, doch Lord Perrin habe sie vertrieben. Sie schnatterten derart verwirrend, alle zur gleichen Zeit, von der großen Schlacht, daß fast keine Einzelheiten zu verstehen waren, außer eben, daß eine solche stattgefunden hatte. Jeder hatte natürlich gekämpft, aber Lord Perrin hatte alle gerettet. Immer Lord Perrin. Jedesmal, wenn er von ihm einfach als Perrin sprach, verbesserten sie ihn so mechanisch, wie man jemanden verbessert, der statt Pferd Schaukelpferd gesagt hat.

Trotz der Gewißheit, daß die Trollocs geschlagen worden waren, zog sich Rands Brust bang zusammen. Er hatte sie all dem ausgesetzt. Wenn er hingegangen wäre, hätten sie bestimmt nicht so viele Tote gehabt, wären nicht so viele Namen unter den Gefallenen gewesen, die er kannte. Doch hätte er sich dorthin begeben, wären die Aiel jetzt nicht auf seiner Seite. Cairhien wäre nicht sein, soweit das überhaupt der Fall war, und vermutlich würde Rahvin ein vereinigtes Andor gegen ihn und die Zwei Flüsse zu Felde schicken. Für jede Entscheidung, die er traf, mußte er einen Preis bezahlen. Es gab einen Preis dafür, wer er war. Andere Menschen mußten ihn bezahlen. Er mußte sich immer wieder selbst daran erinnern, daß dieser Preis viel geringer war als der, den sie ohne ihn zahlen mußten. Das Erinnern half aber auch nicht viel.

Die Mädchen nahmen seine Miene als Ausdruck der Trauer ob der Aufzählung der Toten von den Zwei Flüssen, und so beeilten sie sich, ihm Schöneres zu berichten. Wie es schien, hatte Perrin unterdessen Faile geheiratet. Rand wünschte ihm wirklich alles Glück, fragte sich aber, wie lange jedes Glück wohl andauern mochte, das man jetzt fand. Die Mädchen hielten es jedenfalls für romantisch und wundervoll und schienen lediglich zu bedauern, daß keine Zeit für die üblichen Hochzeitsfeiern geblieben war. Sie hielten große Stücke auf Faile, bewunderten sie und beneideten sie auch ein wenig; sogar Larine.

Es waren auch Weißmäntel im Spiel gewesen, und mit ihnen war Padan Fain gekommen, der alte Händler, der jeden Frühling nach Emondsfeld gekommen war, um seine Waren feilzubieten. Die Mädchen schienen im unklaren darüber, ob die Weißmäntel als Freunde oder Feinde gekommen waren, aber für Rand war durch Fains Anwesenheit alles offenkundig, sofern überhaupt ein Zweifel bestanden hatte. Fain war ein Schattenfreund, vielleicht sogar schlimmeres als ein Schattenfreund, der alles tun würde, um Rand und Mat und Perrin Schaden zuzufügen. Besonders Rand. Möglicherweise war die noch schlimmere Neuigkeit, die sie ihm mitzuteilen hatten, daß niemand wußte, ob Fain tot sei oder nicht. Auf jeden Fall waren die Weißmäntel weg, die Trollocs waren weg, und Flüchtlinge kamen über die Verschleierten Berge und brachten alle Arten von Neuem mit, von Sitten bis zu Handwerksberufen, von Pflanzen und Samen zu Kleidern und Mode. Eines der anderen Mädchen war eine Domani, zwei weitere stammten aus Tarabon und drei von der Ebene von Almoth.

»Larine hat ein Domanikleid gekauft«, erzählte die kleine Janacy lachend und verdrehte die Augen, »aber ihre Mutter hat sie gezwungen, es zu der Schneiderin zurückzubringen.« Larine hob eine Hand, überlegte es sich dann aber anders und rückte lediglich unter leichtem Schnauben ihren Zopf zurecht. Janacy kicherte.

»Wen interessieren denn schon Kleider?« rief Susa atSeen. »Rand sind Kleider ganz gleichgültig.« Susa war ein schmächtiges, unruhiges Mädchen, immer schon leicht erregbar, und jetzt hüpfte sie beinahe auf Zehenspitzen auf und ab. »Alanna Sedai und Verin Sedai haben jede überprüft. Na ja, fast jede...«

»Cilia Coie wollte auch überprüft werden«, warf Marce Eidin, ein stämmiges Mädchen, ein. Rand konnte sich nicht sehr gut an sie erinnern, außer, daß sie ihre Nase immer in ein Buch gesteckt hatte, selbst wenn sie über die Straße ging. »Sie hat darauf bestanden! Und sie hat tatsächlich bestanden, doch dann haben sie ihr gesagt, sie sei zu alt für eine Novizin.«

Susa überging Marce einfach und fuhr fort: »...und wir haben alle bestanden...«

»Wir sind den ganzen Tag und fast die ganze Nacht von Weißbrücke hergefahren«, warf Bode ein. »Es tut so gut, eine Weile am gleichen Ort bleiben zu können.«

»Hast du Weißbrücke gesehen, Rand?« fragte Janacy, ohne darauf zu warten, ob Bode fertig war. »Die Weiße Brücke selbst?«

»...und wir gehen nach Tar Valon, um Aes Sedai zu werden!« beendete Susa ihren Satz mit einem wütenden Blick, der sowohl Bode wie auch Marce und Janacy einschloß. »In Tar Valon!«

»Wir werden nicht sofort nach Tar Valon reisen.«

Die Stimme von der Eingangstür entriß Rand die Aufmerksamkeit der Mädchen, aber die beiden Aes Sedai, die gerade eintraten, winkten nur ab, als ihre Schützlinge sie mit Fragen bestürmten. Die Aufmerksamkeit der Aes Sedai galt in diesem Moment ausschließlich Rand. Sie waren ganz unterschiedliche Frauen, trotz der verbindenden Alterslosigkeit ihrer Gesichter. So konnte man ihr Alter nicht schätzen, aber Verin war klein und mollig, hatte ein breites Gesicht und eine Spur von Grau im Haar, während die andere, und das mußte dann wohl Alanna sein, dunkel und schlank war, eine Frau mit schönem, ein wenig fuchsartigem Gesicht, ganzen Wogen schwarzen Haares und einem Funkeln in den Augen, das von einigem Temperament zeugte. Rote Ränder waren um ihre Augen zu sehen, als habe sie geweint. Rand konnte sich allerdings bei einer Aes Sedai kaum vorstellen, daß sie einmal weinte. Ihr Reitkleid war aus grauer Seide mit grünen Schrägstreifen und wirkte, als habe sie es gerade frisch angelegt, während Verins hellbraunes Kleid leicht verknittert war. Wenn Verin auch nicht soviel Wert auf ihre Kleidung legte, blickten ihre dunklen Augen doch äußerst scharf in die Welt. Ihr Blick haftete so fest an Rand wie Muscheln an einem Stein.

Zwei Männer in mattgrünen Jacken folgten ihnen in den Schankraum, der eine untersetzt und grauhaarig, der andere hochgewachsen, dunkelhaarig und gertenschlank; jeder trug ein Schwert an der Hüfte, und ihre geschmeidigen Bewegungen hätten sie auch ohne die Aes Sedai als Behüter kenntlich gemacht. Sie ignorierten Rand vollständig und beobachteten statt dessen die Aiel und die Männer aus Saldaea mit einer Reglosigkeit, die von großer Beherrschung zeugte. Was die Aiel betraf, rührten sich auch sie nicht, und doch wirkte es, als hätten sie die Schleier erhoben, sowohl die Töchter wie auch die Messerhände, und die Finger der jungen Männer Saldaeas bebten mit einem Mal in der Nähe ihrer Schwertgriffe. Nur Bael und Bashere schienen vollständig entspannt. Die Mädchen bemerkten außer den Aes Sedai überhaupt nichts, aber der fette Wirt spürte die angespannte Stimmung und rang die Hände. Zweifellos sah er vor sich einen zerstörten Schankraum, wenn nicht gar eine zerlegte Schenke.

»Es wird keine Schwierigkeiten geben«, sagte Rand laut und beherrscht zum Wirt und zu den Aiel. Zu allen, wie er hoffte. »Keine Schwierigkeiten, außer Ihr bereitet uns welche, Verin.« Mehrere der Mädchen starrten ihn mit offenem Mund an, weil er so mit einer Aes Sedai sprach, und Larine schnaubte vernehmlich.

Verin musterte ihn mit ihren vogelähnlichen Augen. »Wer sind wir denn, daß wir in Eurer Nähe Schwierigkeiten machen würden? Ihr seid weit gekommen, seit ich Euch das letzte Mal sah.«

Aus irgendeinem Grund wollte er nicht darüber sprechen. »Wenn Ihr euch entschlossen habt, nicht nach Tar Valon zu reisen, habt Ihr bestimmt davon gehört, daß die Burg in sich zerbrochen ist.« Das rief ein überraschtes Gemurmel unter den Mädchen hervor. Sie hatten ohne Zweifel noch nichts davon vernommen. Die Aes Sedai zeigten allerdings überhaupt keine Regung. »Wißt Ihr, wo sich jene aufhalten, die Elaida widerstreben?«

»Das sind Dinge, über die wir unter vier Augen sprechen sollten«, sagte Alanna gelassen. »Meister Dilham, wir benötigen Euer privates Speisezimmer.« Der Wirt überschlug sich fast, als er ihr versicherte, es stünde zu ihrer Verfügung.

Verin schritt auf eine Seitentür zu. »Hier entlang, Rand.« Alanna sah ihn an und zog fragend eine Augenbraue hoch.

Rand unterdrückte ein trockenes Grinsen. Sie waren einfach hereinmarschiert und hatten das Kommando übernommen. Wie es schien, brachten die Aes Sedai so etwas so selbstverständlich zuwege wie das Atmen. Die Mädchen von den Zwei Flüssen blickten Rand mit unterschiedlich ausgeprägtem Mitleid an. Zweifellos erwarteten sie, die Aes Sedai würden ihm die Haut abziehen, wenn er sie nicht respektvoll ansprach und dabei gerade saß. Vielleicht erwarteten auch Verin und Alanna das von ihm. Mit einer geschmeidigen Verbeugung bedeutete er Alanna voranzugehen. Also war er weit gekommen, ja? Sie hatten keine Ahnung, wie weit.

Alanna beantwortete seine Verbeugung mit einem Nicken, raffte ihren Rock hoch und glitt Verin hinterher. Doch die Probleme folgten ihnen auf dem Fuß. Die beiden Behüter wollten den Aes Sedai hinterhergehen, doch bevor sie auch nur einen Schritt getan hatten, traten ihnen zwei Sovin Nai mit kalten Augen in den Weg, während Sulins Finger sich flink in der Zeichensprache der Töchter bewegten und Enaila sowie eine kräftige Tochter des Speers namens Dagendra zu der Tür hinschickte, auf die beide Aes Sedai zugingen. Die Männer aus Saldaea blickten zu Bashere hinüber, der ihnen bedeutete, stehenzubleiben, aber dann sah er Rand fragend an.

Alanna gab einen mürrischen Laut von sich. »Wir werden allein mit ihm sprechen, Ihvon.« Der schlanke Behüter runzelte die Stirn und nickte dann bedächtig.

Verin blickte zurück, wobei sie etwas überrascht wirkte, als sei sie aus riefen Gedanken gerissen worden. »Was? Ach ja, selbstverständlich. Tomas, bleibe bitte hier.« Der grauhaarige Behüter blickte zweifelnd drein und warf Rand einen harten Blick zu, bevor er sich an die Wand neben der Eingangstür lehnte. Zumindest entspannte er sich dabei etwa so, wie sich eine geöffnete Falle entspannt. Erst dann ließ auch die Anspannung unter den Messerhänden nach, soweit Aiel sich überhaupt jemals entspannen konnten.

»Ich will alleine mit ihnen sprechen«, sagte Rand und sah dabei Sulin geradewegs an. Einen Augenblick lang glaubte er, sie werde sich widersetzen. Ihr Kinn ruckte hoch und sprach Bände, was ihre Halsstarrigkeit betraf; sie verständigte sich in der Handsprache mit Enaila und Dagendra, und dann traten die beiden zurück, wobei sie ihn anblickten und mißbilligend die Köpfe schüttelten. Wieder huschten Sulins Finger, und alle Töchter lachten plötzlich los. Er wünschte sich eine schnelle Methode, um diese Handsprache zu erlernen. Doch als er Sulin danach gefragt hatte, war sie ganz empört gewesen.

Die Mädchen von den Zwei Flüssen tauschten verwirrte Blicke, als Rand den Aes Sedai hinterherschritt, und als er die Tür hinter sich schloß, vernahm er ein lauter werdendes Gemurmel. Es war ein kleines Zimmer, aber statt der Bänke wies es immerhin auf Hochglanz polierte Stühle auf, und auf dem glänzenden Tisch und dem rankenverzierten Kaminsims standen Kerzenhalter aus Zinn. Die beiden Fenster waren geschlossen, und niemand hielt es für notwendig, eines zu öffnen. Er fragte sich, ob es einer der Aes Sedai aufgefallen sei, daß ihn die Hitze genausowenig berührte wie sie.

»Werdet Ihr sie zu den Rebellen bringen?« fragte er geradeheraus. Mit gerunzelter Stirn glättete Verin ihren Rock. »Ihr wißt darüber entschieden mehr als wir.«

»Wir haben von den Ereignissen in der Burg erst in Weißbrücke gehört.« Alannas Tonfall war kühl, aber in ihren Augen schwelte ein Feuer, als sie ihn anblickte. »Was wißt Ihr denn von ... Rebellen?« In diesem Wort lag eine ganze Welt an Abscheu.

Also hatten sie die Gerüchte in Weißbrücke vernommen und waren augenblicklich nach Caemlyn weitergereist, wobei sie alles von den Mädchen fernhielten. Und den Reaktionen Bodes und der anderen nach zu schließen, war der Entschluß, nicht nach Tar Valon zu gehen, ganz neu. Anscheinend hatten sie heute morgen die Bestätigung für die Gerüchte erhalten. »Ich schätze, Ihr werdet mir nicht verraten, wer Euer Spion in Caemlyn ist.« Sie sahen ihn lediglich an. Verin hielt den Kopf schief, um ihn besser mustern zu können. Seltsam. Einst waren die Blicke der Aes Sedai für ihn so beunruhigend gewesen, hatten so würdevoll gewirkt, gleich, was geschehen war, und so wissend. Doch mittlerweile drehte es ihm nicht mehr den Magen um, wenn ihm eine oder sogar zwei Aes Sedai in die Augen blickten. Stolz, lacht Lews Therin wie irre, und Rand unterdrückte eine Grimasse. »Man hat mir berichtet, daß es Rebellen gebe. Ihr habt nicht abgestritten, zu wissen, wo sie sich befinden. Ich hege keinen Groll gegen sie; ganz im Gegenteil. Ich habe Grund zu der Annahme, daß sie mich unterstützen werden.« Er hielt mit dem eigentlichen Grund noch hinter dem Berg, warum er das von ihnen wissen wollte. Vielleicht hatte Bashere recht, vielleicht benötigte er die Unterstützung der Aes Sedai, aber vor allem wollte er mehr über sie erfahren, weil Elayne sich bei ihnen aufhielt. Er brauchte Elayne, um Andor ohne Gewaltanwendung für sich zu gewinnen. Das war der einzige Grund, warum er sie sehen wollte.

Der einzige. Für sie war er genauso gefährlich wie für Aviendha. »Aus Liebe zum Licht: Wenn Ihr wißt, wo sie sich befinden, sagt es mir.«

»Wenn wir es wüßten«, erwiderte Alanna, »hätten wir kein Recht dazu, es irgend jemandem zu erzählen. Sollten sie sich dazu entschließen, Euch zu unterstützen, könnt Ihr sicher sein, daß sie Euch aufsuchen werden.«

»Wann sie es wünschen«, sagte Verin, »nicht, wann Ihr es wünscht.«

Er lächelte grimmig. Er hätte genau das erwarten sollen, nicht mehr und nicht weniger. Er hatte Moiraines Rat noch sehr deutlich im Kopf. Am Tage ihres Todes hatte sie ihm geraten, keiner Frau mit der Stola zu trauen.

»Ist Mat bei Euch?« fragte Alanna, als sei das nun das Allerwichtigste, was sie im Sinn hatte.

»Wenn ich wüßte, wo er sich aufhält, warum sollte ich das Euch auf die Nase binden? Wie Ihr mir, so...« Sie schienen das nicht für lustig zu halten.

»Es ist töricht, uns als Feinde zu betrachten«, murmelte Alanna und trat zu ihm vor. »Ihr wirkt müde. Bekommt Ihr auch genug Schlaf?« Er trat vor ihrer erhobenen Hand zurück, und sie hielt inne. »Wie Ihr selbst, Rand, meine auch ich es nicht böse. Nichts, was ich hier mache, wird Euch verletzen.«

Da sie es so geradeheraus gesagt hatte, mußte es wohl stimmen. Er nickte, und sie erhob ihre Hand zu seinem Kopf. Seine Haut prickelte leicht, als sie nach Saidar griff, und ein wohlbekanntes Wärmegefühl durchrieselte ihn. Sie untersuchte ihn wie eine Heilerin.

Alanna nickte zufrieden, und mit einem Mal wurde aus der Wärme Hitze, ein mächtiger Hitzestoß, als stehe er einen Herzschlag lang mitten in einem tosenden Schmelzofen. Auch nachdem dieses Gefühl wieder verflogen war, fühlte er sich ganz eigenartig, fühlte viel bewußter seinen eigenen Körper als jemals zuvor, und fühlte auch Alanna. Er wankte. Sein Kopf war ganz leicht, die Muskeln wie Wasser. Ein Echo aus Verwirrung und Besorgnis kam von Lews Therin her.

»Was habt Ihr getan?« wollte er wissen. Wütend griff er nach Saidar. Die Kraft, die ihn daraufhin durchströmte, hielt ihn aufrecht. »Was habt Ihr getan?«

Irgend etwas behinderte den Strom der Macht zwischen ihm und der Wahren Quelle. Sie versuchten, ihn abzuschirmen! So webte er seine eigene Abschirmung und knallte sie zwischen die beiden. Er war wirklich weit gekommen und hatte viel gelernt, seit ihn Verin zum letzten Mal gesehen hatte. Verin taumelte und stützte sich mit einer Hand auf dem Tisch ab, während Alanna aufstöhnte, als habe er sie geschlagen.

»Was habt Ihr getan?« Selbst so tief im Nichts geborgen, wie er es im Augenblick war, schien ihm seine Stimme zu krächzen. »Sagt es mir! Ich habe nicht versprochen, Euch nicht weh zu tun. Wenn Ihr es mir verschweigt...«

»Sie hat Euch gebunden«, sagte Verin schnell, doch ihre Würde wirkte nun angeknackst. Aber einen Augenblick später hüllte ein Mantel aus Würde sie wieder ein. »Sie hat Euch zu einem ihrer Behüter gemacht. Das ist alles.«

Alanna gewann ihre Fassung noch schneller wieder. Abgeschirmt musterte sie ihn gelassen mit verschränkten Armen, eine Andeutung von Zufriedenheit in den Augen. Zufriedenheit! »Ich sagte doch, ich würde Euch nicht verletzen, und nun habe ich Euch das Gegenteil zukommen lassen.«

Rand atmete tief und langsam durch und bemühte sich, die Ruhe zurückzugewinnen. Er war wie ein Welpe in die Falle getapst. Zorn krallte über die Oberfläche des Nichts. Ruhe. Er mußte Ruhe bewahren.

Einer ihrer Behüter. Also war sie eine Grüne. Nicht, daß dies einen Unterschied machte. Er wußte nicht viel von den Behütern, und ganz gewiß nicht, wie man das Band zerbrechen konnte oder ob das überhaupt möglich sei. Alles, was Rand von Lews Therin vernahm, war ein Gefühl der Betäubung. Nicht zum ersten Mal wünschte sich Rand, Lan wäre nicht weggeritten, nachdem Moiraine gestorben war.

»Ihr sagtet, Ihr würdet nicht nach Tar Valon ziehen. In diesem Fall — und da Ihr nicht zu wissen scheint, ob Ihr wißt, wo sich die Rebellen befinden — könnt Ihr hier in Caemlyn bleiben.« Alanna öffnete den Mund, aber er kam ihr zuvor: »Seid dankbar, wenn ich mich nicht entschließe, die Abschirmungen abzubinden und Euch so zu hinterlassen!« Das traf sie wirklich. Verins Mund straffte sich, und Alannas Augen glühten wie dieser Ofen, den er gespürt hatte. »Allerdings werdet Ihr euch von mir fernhalten, Ihr beide. Außer wenn ich nach Euch schicke, ist die Innenstadt für Euch gesperrt. Wenn Ihr versucht, diese Vorschrift zu brechen, werde ich Euch abgeschirmt zurücklassen, und noch dazu in einer Zelle. Verstehen wir uns?«

»Perfekt.« Trotz ihrer glühenden Augen klang Alannas Stimme eisig. Verin nickte lediglich.

Rand stieß die Tür auf und blieb stehen. Er hatte die Mädchen von den Zwei Flüssen vergessen. Einige unterhielten sich mit den Töchtern, während andere sie nur beobachteten und miteinander über ihrem Tee flüsterten. Bode und eine Handvoll der Emondsfelder fragten Bashere aus, der einen Zinnkrug in der Hand hielt und einen Fuß auf eine Bank gestellt hatte. Sie wirkten halb amüsiert und halb verdattert. Als die Tür aufschlug, rissen sie die Köpfe herum.

»Rand«, rief Bode, »dieser Mann behauptet schreckliche Dinge von dir!«

»Er sagt, du wärst der Wiedergeborene Drache«, sprudelte Larine heraus. Die übrigen Mädchen im Schankraum hatten offensichtlich noch nichts vernommen und schnappten bei ihren Worten nach Luft.

»Das stimmt«, sagte Rand müde.

Larine schnaubte und verschränkte die Arme unter dem Busen. »Sobald ich diese Jacke gesehen hatte, wußte ich, daß du dir einen gewaltig geschwollenen Kopf zugelegt hast. Und dann auch noch so mit einer Aes Sedai wegzurennen! Es war mir klar, als du so respektlos mit Alanna Sedai und Verin Sedai gesprochen hast. Aber was ich nicht wußte, war, daß du ein solch blinder Narr geworden bist!«

Bodes Lachen klang eher entsetzt als amüsiert. »Solche Sachen solltest du nicht mal im Scherz sagen, Rand. Tam hat dich doch wohl besser erzogen. Du bist Rand al'Thor. Jetzt hör mit diesem Quatsch auf!«

Rand al'Thor. So hieß er wohl, aber er wußte kaum mehr, wer er war. Tam al'Thor hatte ihn aufgezogen, doch sein wirklicher Vater war ein Aielhäuptling gewesen, der schon lange nicht mehr am Leben war. Seine Mutter war eine Tochter des Speers gewesen, aber keine Aielfrau. Und das war auch schon so ziemlich alles, was er von seiner Herkunft wußte.

Saidin erfüllte ihn nach wie vor Sanft hüllte er Bode und Larine in Stränge aus Luft und hob sie an, bis ihre Schuhe einen Fuß hoch über dem Boden baumelten. »Ich bin der Wiedergeborene Drache. Es zu leugnen, würde nichts ändern. Wunschdenken vermag nichts daran ändern. Ich bin nicht mehr der Mann, den ihr aus Emondsfeld kennt. Versteht ihr jetzt?« Ihm wurde bewußt, daß er sie anschrie, und so klappte er den Mund zu. Sein Magen fühlte sich wie Blei an, und er zitterte. Warum hatte Alanna so etwas getan? Welche neue Aes-Sedai-Intrige schlummerte hinter diesem hübschen Gesicht? Vertraue keiner von ihnen, hatte Moiraine gesagt.

Eine Hand berührte seinen Arm, und sein Kopf fuhr herum.

»Bitte laßt sie herunter«, sagte Alanna. »Bitte. Sie fürchten sich.«

Es war mehr als nur bloße Furcht. Aus Larines Gesicht schien alles Blut gewichen zu sein und ihr Mund stand so weit offen, wie es nur ging, als wolle sie schreien und habe vergessen, wie. Bode schluchzte so sehr, daß sie am ganzen Körper bebte. Sie waren nicht die einzigen. Der Rest der Mädchen von den Zwei Flüssen drückte sich so weit wie möglich von ihm entfernt aneinander, und die meisten von ihnen weinten ebenfalls. Auch die Serviererinnen befanden sich in dieser eng gedrängten Gruppe, und sie weinten genauso heftig wie alle dort. Der Wirt war auf die Knie niedergesunken, brachte nur erstickte Laute hervor, und seine Augen quollen heraus.

Rand ließ die beiden Mädchen heruntersinken, und dann ließ er hastig Saidin fahren. »Es tut mir leid. Ich wollte euch nicht erschrecken.« Sobald sie sich rühren konnten, flohen Bode und Larine zu den anderen Mädchen und in deren tröstende Umarmung. »Bode? Larine? Es tut mir leid. Ich werde euch nichts tun, das verspreche ich.« Sie sahen ihn nicht an. Keine von ihnen. Sulin allerdings blickte ihn an, und auch die anderen Töchter. Ihre Mienen waren nichtssagend, ihre Blicke jedoch mißbilligend.

»Was geschehen ist, ist geschehen«, sagte Bashere und stellte seinen Krug ab. »Wer weiß? Vielleicht war es gut so.«

Rand nickte bedächtig. Gut möglich. Am besten hielten sie sich von ihm fern. Es war besser für sie. Er wünschte sich nur, er hätte noch eine Weile länger über ihre Heimat sprechen können. Noch eine Weile, in der sie ihn nur als Rand al'Thor angesehen hätten. Seine Knie zitterten noch immer von Alannas Prozedur her, aber sobald er sich in Bewegung gesetzt hatte, blieb er nicht stehen, bis er sich schließlich auf Jeade'ens Sattel schwang. Es war am besten, daß sie sich vor ihm fürchteten. Am besten, daß er die Zwei Flüsse vergaß. Er fragte sich, ob dieser Berg auch einmal leichter werde, oder ob sein Gewicht weiter zunahm.

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