17 Das Rad eines Lebens

Rand holte seinen Schwertgürtel, der neben dem Thron hing, mit Hilfe eines Strangs aus Luft heran, dann auch das Szepter, und öffnete ein Tor vor dem Podest. Der rotierende Lichtschlitz erschien und weitete sich, bis man ein leeres, dunkel getäfeltes Zimmer erblickte, das sich mehr als sechshundert Meilen von Caemlyn entfernt im Sonnenpalast befand, dem Königlichen Palast in Cairhien. Den Raum hatte er sich eigens für diesen Zweck reserviert. Er enthielt keine Möbel, aber die dunkelblauen Fußbodenfliesen und die holzgetäfelten Wände schimmerten, so gut hatte man sie geputzt und poliert. Obwohl er kein Fenster aufwies, war es hell in dem Raum, denn die Lampen auf acht vergoldeten Ständern brannten Tag und Nacht, und Spiegel verstärkten das Licht der ölgespeisten Flammen, Rand blieb stehen und gürtete sein Schwert, während Sulin und Urien die Tür zum Korridor öffneten und verschleierte Töchter und Rote Schilde vor ihm eintreten ließen.

In diesem Fall allerdings hielt er ihre Vorsicht für übertrieben und lächerlich. Auf dem breiten Korridor, dem einzigen, durch den man dieses Zimmer erreichen konnte, drängten sich bereits etwa dreißig Far Aldazar Din, Brüder des Adlers, und beinahe zwei Dutzend von Berelains Gardisten aus Mayene mit ihren rot bemalten Brustharnischen und den breitrandigen, kochtopfähnlichen Helmen, die sogar noch den Nackenansatz bedeckten. Wenn es irgendwo einen Ort gab, an dem Rand ohne die Töchter auskommen konnte, dann war es Cairhien.

Kaum war Rand erschienen, sprang auch schon ein Bruder des Adlers den Gang hinunter auf ihn zu, und ein Mayener, der ungeschickt seinen Speer und ein Kurzschwert in den Händen hielt, folgte dem größeren Aielmann etwas langsamer. Eine kleine Armee marschierte hinter dem Far Aldazar Din her, Diener in den verschiedensten Livrees; ein tairenischer Verteidiger des Steins mit glänzendem Brustharnisch und im schwarzgoldenen Rock, ein Soldat aus Cairhien, der den Vorderteil seines Schädels kahlgeschoren hatte und dessen Harnisch viel eingedellter und benutzter wirkte als bei dem Tairener, zwei junge Aielfrauen in dunklen, schweren Röcken und lose hängenden weißen Blusen, die Rand als Schülerinnen der Weisen Frauen zu erkennen glaubte. Die Nachricht von seiner Ankunft würde sich schnell verbreiten. Das war immer so.

Wenigstens war Alanna weit entfernt. Auch Verin natürlich, aber vor allem Alanna. Er spürte ihre Gegenwart noch immer, selbst auf diese Entfernung. Es war aber nur der unbestimmte Eindruck, sie befinde sich irgendwo im Westen. Als berühre eine Hand beinahe, aber doch nicht ganz, die Härchen in seinem Nacken. Gab es eine Möglichkeit, sie ganz loszuwerden? Er griff einen Augenblick lang nach Saidin, spürte aber keinen Unterschied.

Du wirst nie den Fallen entgehen, die du selbst aufstellst. Lews Therins Murmeln klang verwirrt. Nur eine größere Macht kann solch einen Bann brechen, und dann sitzt du schon wieder in der Falle. Für alle Ewigkeit gefangen, damit du nicht sterben kannst.

Ihm schauderte. Manchmal erschien es Rand wirklich so, als unterhalte sich die Stimme mit ihm. Wenn das Gequatsche nur von Zeit zu Zeit einen Sinn ergäbe, dann wäre das Gefühl leichter zu ertragen, sie im Kopf mit herumzuschleppen.

»Ich sehe Euch, Car'a'carn«, sagte einer der Brüder des Adlers. Seine grauen Augen befanden sich auf einer Höhe mit Rands Augen, und die Narbe, die sich schräg über seinen Nasenrücken zog, hob sich weiß von dem sonnengebräunten Gesicht ab. »Ich bin Corman von den Mosaada Goshien. Mögt Ihr heute Schatten finden.«

Rand hatte keine Gelegenheit, die passende Antwort zu geben, denn schon schob sich der mayenische Offizier mit dem rosa Gesicht an ihm vorbei. Na ja, er hatte Schwierigkeiten damit, denn er war zu schmächtig, um einen Mann wegzuschieben, der einen Kopf größer war als er selbst und um die Hälfte breiter gebaut, und dann war es ja auch noch ein Aiel, wenn auch jung genug, daß er hätte glauben können, der Mann werde sich das gefallen lassen. Aber er drängte sich neben Corman, so daß er direkt vor Rand stand, wobei er den roten Helm mit einer einzigen schmalen roten Feder unter den Arm klemmte. »Mein Lord Drache, ich bin Havien Nurelle, Lordleutnant der Flügelgarde« — auf die Seiten seines Helms waren tatsächlich Flügel gelötet worden — »im Dienst von Berelain sur Paendrag Paeron, der Ersten von Mayene, und stehe Euch zu Diensten.« Corman warf ihm einen amüsierten Blick zu.

»Ich sehe Euch, Havien Nurelle«, sagte Rand ernst, und der Junge blinzelte überrascht. Der Junge? Wenn er es sich überlegte, war er keineswegs jünger als Rand. Diese Erkenntnis kam wie ein Schock! »Wenn Ihr und Corman mir bitte zeigen würdet...« Mit einem Mal wurde ihm bewußt, daß Aviendha fort war. Er mühte sich nach Kräften, diese Frau zu meiden, und beim ersten Mal, als er sich bereitfand, sie in seiner Nähe zu dulden, schlüpfte sie weg, kaum daß er seinen Blick abgewandt hatte! »Bringt mich zu Berelain und Rhuarc«, befahl er grob. »Sollten sie nicht beisammen sein, bringt Ihr mich zu dem, der sich näher befindet, und dann sucht Ihr den anderen.« Zweifellos war sie gleich zu den Weisen Frauen gerannt, um zu berichten, was er alles getan hatte. Er würde die Frau hier zurücklassen!

Was du willst ist das, was du nicht haben kannst. Was du nicht haben kannst ist das, was du willst. Lews Trierin lachte irr. Es störte Rand nicht in dem Maße wie früher. Nicht ganz so jedenfalls. Was ertragen werden mußte, konnte ertragen werden.

Corman und Havien besprachen, wen sie zuerst aufsuchen sollten, und dann machten sie sich gemeinsam mit Rand auf den Weg, wobei sie ihre Männer zurückließen. Trotzdem gab es noch eine regelrechte Prozession, da alle Töchter und Roten Schilde ihnen in kurzem Abstand folgten und alles sich in dem niedrigen Gang drängte. Der Korridor erweckte einen düsteren, bedrückenden Eindruck, obwohl die Lampen auf den Kandelabern brannten. Es gab überall sehr wenig Farbe, außer bei den Wandbehängen. Die Menschen hier hatten eine Vorliebe für strenge Ordnung. Alles war nach festen Mustern angeordnet: gestickte Blumen und Vögel, Hirsche oder Leoparden auf der Jagd oder Adlige in der Schlacht. Die Diener, die schnell aus dem Weg sprangen, trugen für gewöhnlich farbige Streifen an den Manschetten und das Abzeichen des jeweiligen Adelshauses auf das Wams genäht. Gelegentlich sah man einen Kragen oder Ärmel in den Farben des Hauses, sehr selten allerdings bei einem Rock oder Kleid. Nur höhergestellte Diener zeigten mehr Farbe. Die Einwohner Cairhiens liebten die Ordnung und konnten Extravaganzen nicht leiden. In den wenigen Nischen standen goldene Schalen oder eine Vase des Meervolks, aber selbst diese waren leer und wiesen eine strenge Linienführung auf, die kaum Kurven oder Krümmungen sichtbar werden ließ. Wenn der Gang sich zu einer Arkade mit Pfeilern wandelte und die Aussicht auf einen tiefer gelegenen Garten freigab, sah man, daß die Pfade ein regelmäßiges Gitter ergaben, wobei jedes Blumenbeet genau die gleiche Größe aufwies, mit gleichartigen Sträuchern und Zierbäumen bepflanzt war, die wiederum gleich beschnitten waren und in gleichem Abstand voneinander standen. Hätte die Dürre noch Blumen am Leben gelassen, war Rand sicher, daß auch ihre Blüten kerzengerade Linien gebildet hätten.

Rand wünschte sich, Dyelin könne diese Schalen und Vasen sehen. Die Shaido hatten alles mitgenommen, was sie tragen konnten, oder verbrannt, was sie zurücklassen mußten, aber solches Verhalten widersprach Ji'e'toh. Auch die Aiel, die Rand folgten und die Stadt gerettet hatten, hatten geplündert, doch streng nach ihren Regeln. Wenn sie im Krieg einen Ort einnahmen, war ihnen erlaubt, ein Fünftel dessen mitzunehmen, was der Ort zu bieten hatte, und keinen Löffel darüber hinaus. Bael hatte zögernd zugestimmt, das in Andor zu verbieten, aber Rand war der Meinung, auch hier benötige man eine genaue Liste, um festzustellen, was mitgenommen worden war.

Trotz allem Hin und Her unterwegs schafften Corman und Havien es nicht, Rhuarc oder Berelain aufzuspüren, bis sie schließlich selbst gefunden wurden.

Die beiden kamen von sich aus zu Rand, als er unter einer der Arkaden stand, ganz ohne Hofstaat oder sonstige Begleitung, was ihm nur um so mehr das Gefühl gab, an der Spitze eines Umzugs zu marschieren. Rhuarc in seinem Cadin'sor, graue Strähnen im dunkelroten Haar, hatte die Schufa lose um seinen Hals gelegt. Er trug keine Waffe bis auf ein schweres Aielmesser. Er überragte Berelain, eine blasse, schöne junge Frau in einem blauweißen Kleid, das so tief ausgeschnitten war, daß Rand sich unwillkürlich räuspern mußte, als sie einen tiefen Knicks machte. Sie hatte das Diadem der Ersten, das einen goldenen Habicht im Flug darstellte, in ihr glänzendes schwarzes Haar gesteckt, das ihr in schweren Locken auf die nackten Schultern fiel.

Vielleicht war es ganz gut, daß Aviendha gegangen war. Manchmal zeigte sie sich ziemlich gewalttätig Frauen gegenüber, von denen sie annahm, sie wollten sich an ihn heranmachen.

Plötzlich wurde ihm bewußt, daß Lews Therin in seinem Kopf eine wortlose Melodie summte. Etwas daran erschien ihm beunruhigend, aber was...? Summen. Wie ein Mann, der eine hübsche Frau bewundert, die ihn noch nicht einmal bemerkt.

Hör auf damit! rief Rand im Kopf. Hör auf, durch meine Augen zu blicken! Er wußte nicht, ob ihn Lews Therin gehört hatte — gab es dort überhaupt jemanden, der ihn hören konnte? — aber das Summen hörte auf.

Havien fiel auf ein Knie nieder, doch Berelain bedeutete ihm mit einer geistesabwesenden Geste, sich zu erheben. »Ich hoffe, meinem Lord Drachen geht es gut, und alles steht in Andor zum Besten?« Berelain hatte die Art von Stimme, das Timbre, das einen Mann zum Zuhören zwang. »Und Euren Freunden Mat Cauthon und Perrin Aybara ebenfalls?«

»Es geht allen gut«, erwiderte er. Sie fragte immer nach Mat und Perrin, so oft er ihr auch versicherte, der eine sei auf dem Weg nach Tear und den anderen habe er nicht mehr gesehen, seit er sich in die Wüste begeben hatte. »Und wie steht es mit Euch?«

Berelain sah zu Rhuarc hinüber, als sie sich Rand anschlossen und mit ihm den nächsten Abschnitt des Korridors betraten. »So gut man es erwarten konnte, mein Lord Drache.«

»Es ist gut, Rand al'Thor«, sagte Rhuarc. Sein Gesicht zeigte kaum einen nennenswerten Ausdruck, aber das war nur selten der Fall.

Rand wußte, daß beide verstanden, warum er Berelain hier die Führung anvertraut hatte. Kalte Vernunft. Sie war die erste Herrscherin, die ihm aus freien Stücken ihre Unterstützung angetragen hatte, und er konnte ihr vertrauen, weil sie ihn brauchte; nun, seit ihrem Bündnis, mehr denn je, weil Mayene sich auf diese Art Tear vom Hals hielt. Die Hochlords hatten Mayene stets als eine Provinz ihres Landes behandelt. Außerdem war sie eine Ausländerin aus einem kleinen Reich Hunderte von Wegstunden im Süden und hatte deshalb keinen Grund, in Cairhien irgendeine Partei oder ein Haus zu bevorzugen, keine Möglichkeit, selbst die Macht zu ergreifen, und sie wußte, wie man ein Land regiert. Harte Gründe. Da ihm klar war, wie die Aiel zu Cairhien standen und dessen Einwohner zu den Aiel, konnte er Rhuarc nicht als Statthalter einsetzen, denn das hätte zu einem Blutbad geführt. Davon hatte Cairhien schon zu viele erlebt.

Diese Einrichtung schien sich bewährt zu haben. Genau wie bei Semaradrid und Weiramon in Tear akzeptierten die Einwohner Cairhiens eine Frau aus Mayene als Statthalterin, weil sie kein Aiel war und zudem von Rand eingesetzt worden war. Berelain wußte genau, was sie tat, und sie hörte auch auf Rhuarcs Ratschläge. Er sprach schließlich für die in Cairhien verbliebenen Clanhäuptlinge. Zweifelsohne mußte sie sich auch mit den Weisen Frauen auseinandersetzen, die ihre Einmischung in nahezu alle Angelegenheiten erst aufgeben würden, wenn die Aiel abmarschiert waren, jedoch ganz gewiß niemals vor den Aes Sedai, aber bisher hatte sie dazu nie etwas gesagt.

»Und Egwene?« fragte Rand. »Geht es ihr besser?«

Berelain preßte die Lippen ein wenig aufeinander. Sie mochte Egwene nicht. Aber Egwene konnte sie ebenfalls nicht leiden. Er kannte keinen Grund dafür, aber es war nun einmal so.

Rhuarc spreizte die Hände. »Soweit Amys mir Bescheid gibt.« Außer einer Weisen Frau war Amys auch seine Ehefrau. Eine seiner Ehefrauen, denn er hatte zwei — eine der eigenartigeren Sitten der Aiel, über die Rand immer wieder staunte. »Sie sagt jedenfalls, Egwene brauche noch Ruhe, Spaziergänge an der frischen Luft und viel zu essen. Ich glaube, sie macht in den kühlen Tagesstunden ihre Spaziergänge.« Berelain warf ihm einen amüsierten Blick zu. Der dünne Schweißfilm auf ihrem Gesicht minderte ihre Schönheit keineswegs, aber Rhuarc schwitzte natürlich nicht.

»Ich würde sie gern treffen — wenn die Weisen Frauen es erlauben«, fügte Rand noch hinzu. Die Weisen Frauen hüteten ihre Privilegien genauso eifersüchtig wie alle Aes Sedai, die er je kennengelernt hatte, und zwar jedem gegenüber, ob es Septimenhäuptlinge waren, Clanhäuptlinge, und vor allem der Car'a'carn. »Aber zuerst...«

Ein Geräusch hatten sie zunächst ganz unbewußt wahrgenommen, als sie sich einem Abschnitt näherten, an dem die Außenwand durch eine säulenbewehrte Steinbalustrade ersetzt worden war: das Klappern von Übungsschwertern. Im Vorbeigehen blickte Rand hinunter. Zumindest hatte er die Absicht, doch was er dort unten sah, ließ ihn verstummen und stehenbleiben. Unter den Augen eines hoch aufgerichteten einheimischen Ausbilders in einem einfach geschnittenen grauen Mantel hieben ein Dutzend schweißgetränkte Frauen paarweise aufeinander ein. Manche von ihnen trugen Reitkleidung mit Hosenröcken, andere wiederum Männerhosen und Jacken. Die meisten stellten sich bei ihren Fechtübungen noch recht ungeschickt an, während andere mit flüssigen Bewegungen von einer Figur zur anderen überwechselten, wobei sie allerdings die Klingen aus gebündelten Latten nur zögernd schwangen. Alle schienen in grimmige Entschlossenheit gehüllt wie in einen Umhang, wenn auch diese Haltung durch gelegentliches verlegenes Lachen aufgelockert wurde, sobald eine von ihnen einsah, daß sie einen Fehler gemacht hatte.

Der Bursche mit dem steifen Kreuz klatschte in die Hände, und die keuchenden Frauen stützten sich auf ihre Übungsschwerter. Einige rieben sich die Arme, die offensichtlich nicht an diese Anstrengung gewöhnt waren. Aus Türen, die Rand nicht sehen konnte, eilten Diener und Dienerinnen hervor, verbeugten sich oder knicksten, während sie Tabletts mit Krügen und Bechern herumreichten. Aber falls sie wirklich Diener waren, dann war ihre Livree eigenartig und in Cairhien sonst nicht üblich. Sie trugen nämlich Weiß. Kleider und Mäntel und Hosen, alle waren rein weiß.

»Was hat das zu bedeuten?« fragte er. Rhuarc gab einen angewiderten Laut von sich.

»Einige der Frauen aus Cairhien bewundern die Töchter des Speers«, sagte Berelain lächelnd. »Sie wollen auch Töchter werden. Nur des Schwerts allerdings, wie ich vermute, und nicht des Speers.« Sulins Körper versteifte sich empört, und die anwesenden Töchter verständigten sich durch Handzeichen. Sie alle schienen sich aufzuregen. »Dies sind Töchter aus Adelshäusern«, fuhr Berelain fort. »Ich habe sie hierbleiben lassen, weil ihre Eltern ihnen keine Erlaubnis gegeben hatten. Es gibt in der Stadt mittlerweile ein Dutzend Schulen, in denen man Frauen im Schwertkampf unterrichtet, doch viele Frauen müssen sich heimlich hinschleichen, um teilnehmen zu können. Natürlich beschränkt sich der Einfluß nicht nur auf Frauen. Die jüngeren Einwohner Cairhiens sind von den Aiel sehr beeindruckt. Sie übernehmen sogar Ji'e'toh.«

»Sie verdrehen alles«, grollte Rhuarc. »Viele wollen mehr von unseren Sitten wissen, und wer würde nicht die Gelegenheit nutzen, jemandem beizubringen, wie man sich anständig verhält? Selbst einem Baummörder.« Er wirkte, als wolle er ausspucken. »Aber sie übernehmen, was man ihnen sagt, und dann verdrehen sie es.«

»Nein, es wird nicht verdreht«, protestierte Berelain. »Sie passen es nur den Gegebenheiten an, denke ich.« Rhuarc zog die Augenbrauen ein klein wenig hoch und seufzte. Haviens Miene war ein Musterbeispiel für Entrüstung, als er die Meinung seiner Herrscherin so in Frage gestellt sah. Weder Rhuarc noch Berelain bemerkten das allerdings, denn beide achteten nur auf Rand. Er hatte das Gefühl, diese Auseinandersetzung zwischen den beiden habe sich schon oft abgespielt.

»Sie verändern es«, wiederholte Rhuarc nachdrücklich. »Diese Narren in Weiß dort unten behaupten, sie seien Gai'schain. Gai'schain!« Die anderen Aielmänner murmelten erregt miteinander, während die Töchter sich wieder in ihrer Zeichensprache verständigten. Havien blickte ein wenig nervös drein. »In welchem Kampf oder bei welchem Überfall wurden sie gefangengenommen? Welches Toh haben sie auf sich geladen? Ihr habt mein Verbot gutgeheißen, Berelain Paeron, in der Stadt Kämpfe auszutragen, aber sie duellieren sich, sobald sie glauben, sie würden nicht entdeckt, und der Verlierer legt die weiße Robe an. Wenn einer den anderen schlägt und beide bewaffnet sind, bittet der Geschlagene um ein Duell, und wenn ihm das verweigert wird, legt er das Weiß an. Was hat das mit Ehre und Verpflichtung zu tun? Sie verdrehen alles und tun Dinge, bei denen selbst ein Sharamann erröten würde. Man sollte diesem Treiben Einhalt gebieten, Rand al'Thor.«

Berelain streckte trotzig das Kinn vor, und ihre Hände verkrampften sich in ihren Rock. »Junge Männer kämpfen doch immer.« Ihr Tonfall klang so weise und erfahren, daß man beinahe vergaß, wie jung sie noch war. »Aber seit sie damit begonnen haben, ist kein einziger mehr in einem Duell ums Leben gekommen. Kein einziger! Das allein ist es wert, sie auf diese Art weitermachen zu lassen. Außerdem habe ich mich gegen Väter und Mütter gestellt, und einige von ihnen kamen aus mächtigen Familien, die wollten, daß ich ihre Töchter wieder heimschicke. Ich werde diesen jungen Frauen nicht verweigern, was ich ihnen versprochen habe.«

»Behaltet sie, wenn Ihr wollt«, sagte Rhuarc. »Laßt sie lernen, mit dem Schwert umzugehen, falls sie es wünschen. Aber sie sollen aufhören, zu behaupten, sie folgten Ji'e'toh. Macht dem ein Ende, daß sie das Weiß anlegen und behaupten, sie seien Gai'schain. Was sie tun, beleidigt unsere Sitten.« Der eisige Blick seiner blauen Augen war zwar auf Berelain gerichtet, doch diese wiederum blickte ausschließlich Rand mit ihren großen, dunklen Augen an.

Rand zögerte nur einen Augenblick lang. Er glaubte, zu verstehen, was die jüngeren Menschen in Cairhien zu Ji'e'toh hinzog. Zweimal war ihr Land innerhalb von zwanzig Jahren von den Aiel erobert worden; sie mußten sich fragen, ob das Geheimnis vielleicht in diesen Sitten liege. Oder sie glaubten möglicherweise, ihre Niederlagen bewiesen einfach, daß die Aiel die bessere Lebensauffassung hätten. Eindeutig regten sich die Aiel darüber auf, daß man sich ihrer Ansicht nach über ihre Sitten lustig mache, aber in Wirklichkeit waren ein paar der Gründe, weswegen Aiel zu Gai'schain wurden, nicht weniger eigenartig. Beispielsweise betrachtete man es als feindselig, wenn man mit einem Mann über dessen Schwiegervater oder mit einer Frau über deren Schwiegermutter sprach — Zweitvater und Zweitmutter nannten das die Aiel — und das war Grund genug, um zu den Waffen zu greifen, sofern die Betroffenen nicht zuerst jene Verwandten erwähnt hatten. Falls aber der Betroffene den anderen berührte, nachdem er gesprochen hatte, bedeutete das unter den Regeln von Ji'e'toh das gleiche, als berühre man einen bewaffneten Gegner, ohne ihm etwas anzutun. Das brachte eine Menge Ji ein und rief viel Toh hervor, aber der Berührte konnte nun verlangen, zum Gai'schain gemacht zu werden und damit die Ehre des anderen zu beschneiden und selbst weniger Verpflichtungen zu haben, Ji'e'toh forderte, daß eine ehrenhaft vorgebrachte Bitte, zum Gai'schain gemacht zu werden, auch gewürdigt werden müsse. Also endete alles damit, daß ein Mann oder eine Frau zum Gai'schain gemacht wurden, nur weil sie die Schwiegereltern eines anderen erwähnt hatten. Das war nicht weniger töricht als das, was diese Leute in Cairhien trieben. Alles lief im Grunde auf eines hinaus: Er hatte Berelain die Regentschaft übergeben, also mußte er sie auch unterstützen. So einfach war das. »Die Menschen aus Cairhien beleidigen Euch, weil sie Menschen aus Cairhien sind und sich so verhalten. Laßt sie doch. Wer weiß, vielleicht lernen sie eines Tages soviel, daß Ihr sie gar nicht mehr hassen müßt,«

Rhuarc knurrte beleidigt und Berelain lächelte. Zu Rands Überraschung schien sie dem Aielmann einen Moment lang die Zunge herausstrecken zu wollen, beherrschte sich dann aber. Oder war es nur seine Einbildung? Sie war nur wenige Jahre älter als er selbst, doch sie hatte Mayene bereits regiert, als er noch in den Zwei Flüssen Schafe hütete.

Rand schickte Corman und Havien zurück zu ihrer Wachtruppe und ging weiter. Rhuarc und Berelain schritten zu beiden Seiten nebenher, und die anderen folgten ihm auf den Fersen. Eine Prozession. Jetzt brauchte er nur noch Pauken und Trompeten für einen Festtagsumzug.

Das Klappern der Übungsschwerter begann erneut hinter ihm. Eine weitere Veränderung, wenn auch nicht besorgniserregend. Selbst Moiraine, die lange Zeit die Prophezeiungen des Drachen studierte, hatte nicht gewußt, ob die erneute Zerstörung der Welt ein neues Zeitalter einleiten werde, aber zumindest brachte der Drache Veränderungen mit sich, so oder so. Und zwar genauso oft durch puren Zufall wie mit Absicht.

Als sie die Tür zu dem Arbeitszimmer erreichten, das sich Rhuarc und Berelain teilten — die langen Kassetten aus dunklem, hochglänzendem Holz waren mit Sonnenaufgängen eingelegt und ließen darauf schließen, daß es einst irgendwelchen königlichen Zwecken gedient hatte —, blieb Rand stehen und wandte sich Sulin und Urien zu. Wenn er die vielen Wächter hier nicht los würde, dann überhaupt nicht mehr. »Ich habe vor, morgen eine Stunde nach Sonnenaufgang nach Caemlyn zurückzukehren. Bis dahin besucht Eure Zelte und Eure Freunde und bemüht Euch, keine Blutfehden anzufangen. Falls Ihr darauf besteht, können zwei von Euch bei mir bleiben und mich vor Mäusen beschützen. Ich glaube nicht, daß irgend etwas Größeres mich hier überfallen wird.«

Urien grinste leicht und nickte, deutete aber in Kopfhöhe des anderen auf einen der Männer aus Cairhien und murmelte: »Die Mäuse werden hier sehr groß.«

Einen Augenblick lang glaubte Rand, Sulin werde protestieren. Ihr empörter Blick hielt jedoch nur einen Moment über an, und dann nickte auch sie, wenn auch mit aufeinandergepreßten Lippen. Zweifellos würde er ihre Argumente zu hören bekommen, wenn sich nur noch Töchter in Hörweite befanden.

Das Arbeitszimmer, ein großer Raum, beeindruckte ihn auch jetzt, beim zweiten Mal, daß er es zu sehen bekam, durch sehr harte Kontraste. An der hohen Decke ergaben sich aus geraden Linien und rechten Winkeln kunstvolle Gittermuster, die sich überall wiederholten, auch an den Seitenwänden und an einem breiten, mit dunkelblauem Marmor verkleideten Kamin. In der Mitte stand ein massiver Tisch, der mit Papieren und Landkarten bedeckt war und der eine Art von Grenze darstellte. Vor den beiden hohen, schmalen Fenstern auf der einen Seite des Kamins standen Tontöpfe mit kleinen Pflanzen auf Blumensäulen.

Ein paar winzige rotweiße Blüten waren daran zu sehen. Auf dieser Seite des Tisches hing ein langer Gobelin, der Schiffe auf hoher See darstellte und Männer, die prall mit Ölfisch gefüllte Netze einholten. Ölfische waren die Quelle des Reichtums von Mayene. Ein Stickrahmen mit Nadel und einem roten Faden, der aus einer halbfertigen Arbeit heraushing, lag auf einem Sessel mit hoher Lehne, der breit genug war, damit es sich Berelain darauf mit angezogenen Beinen gemütlich machen konnte, wenn sie wollte. Den Boden bedeckte ein Teppich mit einem goldenen und roten und blauen Blumenmuster. Auf einem kleinen Tisch neben dem Sessel standen ein silberner Weinkrug und ein paar Weingläser auf einem silbernen Tablett, und daneben lag ein dünnes, in Rot gebundenes Buch mit einem goldverzierten Lederbuchzeichen an der Stelle, wo Berelain mit Lesen aufgehört hatte.

Der Fußboden auf der anderen Seite des Tisches war mit Schichten bunter Läufer bedeckt, und darauf lagen rote, blaue und grüne mit Troddeln geschmückte Sitzkissen verstreut. Ein Tabaksbeutel, eine Pfeife mit kurzem Stiel und eine Zange lagen neben einer geschlossenen Messingschale auf einer kleinen, messingbeschlagenen Truhe, während auf einer etwas größeren Kommode mit Eisenbeschlägen eine Elfenbeinschnitzerei lag, die irgendein seltsames Arbeitstier darstellte. Rand bezweifelte, daß ein solches Tier wirklich existierte. Zwei Dutzend Bücher in allen möglichen Formaten standen säuberlich aufgereiht auf dem Boden an der Wand. Ein paar waren klein genug, um in eine Rocktasche zu passen, während andere so großformatig waren, daß selbst Rhuarc beide Hände brauchte, um sie zu halten. Die Aiel stellten in der Wüste alles her, was sie benötigten — bis auf Bücher. Fahrende Händler hatten manchmal schon ein Vermögen gemacht, weil sie den Aiel nichts als Bücher verkauft hatten.

»Nun«, sagte Rand, als die Tür geschlossen war und er sich allein mit Rhuarc und Berelain im Zimmer befand, »wie stehen die Dinge wirklich?«

»Wie ich schon sagte«, erwiderte Berelain. »So gut es eben zu erwarten war. Man spricht auf der Straße von Caraline Damodred und Toram Riatin, aber die meisten Menschen sind zu müde, um in der nächsten Zeit einen weiteren Krieg erleben zu wollen.«

»Es wird behauptet, zehntausend andoranische Soldaten hätten sich ihnen angeschlossen.« Rhuarc stopfte seine Pfeife. »Gerüchte übertreiben immer um das Zehnoder Zwanzigfache, aber falls etwas daran sein sollte, wäre das beunruhigend. Die Kundschafter berichten, es seien nicht sehr viele, aber wenn man ihnen nicht Einhalt gebietet, könnten sie mehr ausrichten als uns nur zu ärgern. Die Gelbfieberfliege ist fast zu klein, um sie zu sehen, aber wenn sie ihr Ei in Eurer Haut ablegt, werdet Ihr einen Arm oder ein Bein verlieren, bevor sie ausgeschlüpft ist — falls Ihr es überlebt.«

Rand brummte nichtssagend. Darlins Rebellion in Tear war nicht die einzige, mit der er sich herumschlagen mußte. Die Häuser Riatin und Damodred, die letzten beiden Adelsfamilien, die auf dem Sonnenthron gesessen hatten, waren vor Rands Erscheinen bittere Rivalen gewesen und würden es auch wieder sein, sollte er verschwinden. Nun hatten sie ihre Feindschaft begraben — zumindest an der Oberfläche; was sich darunter abspielte, konnte in Cairhien etwas ganz anderes bedeuten — und wie Darlin wollten auch Toram und Caraline in Ruhe an einem sicheren Ort Streitkräfte um sich sammeln. In ihrem Fall ging es um das Hügelvorland des Rückgrats der Welt, so weit entfernt von der Stadt wie möglich, ohne deshalb das Land zu verlassen. Sie hatten die gleiche bunte Schar wie Darlin um sich versammelt: Adlige, zumeist von mittleren Rängen, vertriebene Landbewohner, ein paar hartgesottene Söldner und wohl auch einige frühere Straßenräuber. Nialls Hand war möglicherweise wie bei Darlin auch hier zu spüren.

Dieses Hügelgebiet war keineswegs so unzugänglich wie die Haddon-Sümpfe, doch Rand hielt sich zurück. Er hatte zu viele Feinde an zu vielen Orten. Sollte er verweilen, um hier Rhuarcs Gelbfieberfliege niederzuklatschen, würde er danach irgendwo anders vielleicht einen Leoparden in seinem Rücken vorfinden. Er hatte hingegen vor, den Leoparden zuerst zu besiegen. Wenn er nur wüßte, wo all die anderen Leoparden herumschlichen.

»Was gibt es Neues von den Shaido?« fragte er und legte derweil das Drachenszepter auf eine halb aufgerollte Landkarte. Sie zeigte den Norden Cairhiens und die Berge, die man als ›Brudermörders Dolch‹ bezeichnete. Die Shaido stellten vielleicht keinen so großen Leoparden dar wie Sammael, aber sie waren um einiges größer als Hochlord Darlin oder Lady Caraline. Berelain reichte ihm ein Glas Wein, und er bedankte sich höflich. »Haben die Weisen Frauen überhaupt irgend etwas über Sevannas Plane ausgesagt?«

Er hätte erwartet, daß ein oder zwei von ihnen auf ihn hörten und sich wenigstens ein bißchen umsehen würden, als sie mit ihren Leuten zu Brudermörders Dolch marschierte. Er hätte wetten können, daß sich die Weisen Frauen der Shaido dort mit offenen Augen umsahen, sobald sie über den Gaelin waren. Natürlich sprach er das nicht aus. Die Shaido hatten vielleicht Ji'e'toh aufgegeben, aber Rhuarc betrachtete das Ausspionieren eines Gegners auf die traditionelle Weise der Aiel. Die Ansichten der Weisen Frauen waren etwas anderes, aber er konnte auch nicht genau sagen, wie sie sich von denen der übrigen Aiel unterschieden.

»Man behauptet, die Shaido bauten Festungen.« Rhuarc hielt inne, nahm die Zange zur Hand, hob den Deckel von der Messingschale, die mit Sand gefüllt war, wie sich jetzt zeigte, nahm ein Stück glühender Kohle von der Sandunterlage und hielt sie über seine Pfeife. Paffend zündete er sie an und sprach dann weiter: »Sie glauben nicht, daß die Shaido vorhaben, jemals ins Dreifache Land zurückzukehren. Ich glaube es auch nicht.«

Rand fuhr sich mit der freien Hand durch die Haare. Caraline und Toram wie ein Geschwür im Fleisch, und nun siedelten sich die Shaido auf dieser Seite der Drachenmauer an. Das war eine viel gefährlichere Mischung, als Darlin zur Verfügung stand. Und Alannas unsichtbarer Finger schien ihn berühren zu wollen. »Gibt es noch mehr gute Nachrichten?«

»In Shamara kam es zu kriegerischen Auseinandersetzungen«, sagte Rhuarc, ohne die Pfeife aus dem Mund zu nehmen.

»Wo?« fragte Rand.

»Shamara. Oder Shara, wenn Euch das etwas sagt. Sie benützen viele Namen für ihr Land. Co'dansin, Tomaka, Kigali, und mehr. Jeder könnte zutreffen, oder auch keiner. Sie lügen dort ohne nachzudenken, diese Leute. Wickelt einen Seidenballen auf, den ihr dort erworben habt, und womöglich findet Ihr heraus, daß nur die äußeren Bahnen aus Seide bestehen. Und solltet Ihr beim nächsten Mal in diesem Handelsfort den Mann vorfinden, der Euch diesen Ballen verkauft hat, wird er leugnen, Euch schon einmal gesehen oder gar Handel getrieben zu haben. Falls Ihr die Sache weiter verfolgt, töten ihn die anderen, um Euch zu besänftigen, behaupten dann aber, wegen der Seide könnten sie nun nichts mehr unternehmen. Anschließend werden sie versuchen, Euch Wasser als Wein zu verkaufen.«

»Warum betrachtet Ihr Kampfhandlungen in Shara als gute Nachrichten?« fragte Rand leise. Er wollte die Antwort eigentlich gar nicht hören. Berelain jedoch lauschte interessiert. Niemand außer den Aiel und dem Meervolk wußte viel mehr über die verbotenen Länder jenseits der Wüste, als daß Elfenbein und Seide von dort kamen. Das, und die Berichte in den Reisen des Jain Fernstreicher, die aber zu phantastisch waren, um ernst genommen zu werden. Nun, da er sich daran erinnerte, fiel Rand auch ein, daß die Lügerei dort erwähnt wurde und die verschiedenen Namen, wenn auch die von Fernstreicher angeführten nicht mit denen übereinstimmten, die Rhuarc genannt hatte, jedenfalls, soweit Rands Gedächtnis ihn nicht trog.

»Es hat noch nie Kämpfe in Shara gegeben, Rand al'Thor. Man sagt, die Trolloc-Kriege hätten auch dieses Land überzogen...« — die Trollocs hatten einst die Aielwüste durchquert, und seither benützten die Trollocs für diese Wüste die Bezeichnung ›Sterbeplatz‹ —, »...aber sollte es seither dort auch nur eine Schlacht gegeben haben, ist kein Wort darüber bis zu den Handelsforts gedrungen. Natürlich dringt kaum ein Wort jemals von den Forts hindurch. Sie behaupten, ihr Land sei immer eine Einheit gewesen und nicht zersplittert wie bei uns, und es habe immer Friede geherrscht. Als Ihr als der Car'a'carn von Rhuidean aufgebrochen seid, hat sich die Nachricht schnell ausgebreitet und auch, welchen Titel Euch die Feuchtländer verliehen haben: der Wiedergeborene Drache. Die Nachricht verbreitete sich vom Großen Riß und den Klippen des Sonnenaufgangs bis zu den Handelsforts.« Rhuarcs Blick war ruhig und stet; dies alles beunruhigte ihn nicht. »Nun kommen die Nachrichten durch das Dreifache Land bis hierher zurück. Es gibt Kampfhandlungen in Shara, und die Sharamänner in den Handelsforts fragen, wann der Wiedergeborene Drache die Welt zerstören wird.«

Mit einem Mal schmeckte der Wein sauer. Noch ein Land wie Tarabon und Arad Doman, das bereits in sich zerrissen wurde, nur weil die Menschen von ihm vernommen hatten. Wie weit hatten sich die Wellen noch ausgebreitet? Gab es seinetwegen Kriege, von denen er niemals hören würde, in Ländern, von denen er ebenfalls nie etwas vernehmen würde?

Der Tod reitet auf meiner Schulter, murmelte Lews Therin. Der Tod schreitet in meinen Fußstapfen einher. Ich bin der Tod.

Schaudernd stellte Rand sein Glas auf den Tisch. Was verlangten die Prophezeiungen noch alles von ihm in ihren quälend unklaren Andeutungen und altertümlichen Versen, die alles und doch nichts sagten? Sollte er Shara, oder wie man es nun wirklich nannte, Cairhien und dem Rest hinzufügen? Die ganze Welt? Aber wie, wenn er nicht einmal Tear oder Cairhien vollständig beherrschte? Dafür brauchte man mehr als die Lebensdauer eines Mannes. Andor. Und wenn er jedes andere Land zerreißen mußte, die ganze Welt zerreißen: Andor würde er für Elayne erhalten. Irgendwie.

»Shara, oder wie es nun heißen mag, ist weit von hier entfernt. Ein Schritt nach dem anderen, und Sammael ist der erste Schritt.«

»Sammael«, stimmte Rhuarc zu. Berelain schauderte und leerte ihr Glas.

Eine Weile unterhielten sie sich über die Aiel, die immer noch auf dem Weg nach Süden waren. Rand hatte vor, den Hammer, den er in Tear schmiedete, so gewaltig zu machen, daß er alles zerschmettern konnte, was ihm Sammael in den Weg stellen mochte. Rhuarc war es wohl zufrieden, aber Berelain beschwerte sich und wollte, daß eine größere Streitmacht in Cairhien verbleiben sollte. Bis Rhuarc sie zum Schweigen brachte. Sie murrte, er sei sturer, als gut für ihn sei, doch dann fuhr sie fort und beschrieb die Bemühungen, die Bauern wieder auf dem Land ansässig zu machen. Sie glaubte, ab dem nächsten Jahr seien keine Getreideeinfuhren aus Tear mehr notwendig. Falls die Dürre jemals nachließ. Falls nicht, würde Tear nicht einmal in der Lage sein, das eigene Land mit Getreide zu versorgen, und erst recht nicht die anderen Länder. Die ersten zarten Fühler des Handels machten sich gerade wieder bemerkbar. Händler waren aus Andor und Tear und Murandy gekommen, und sogar von den Grenzlanden her. An diesem Morgen hatte sogar ein Schiff des Meervolks im Fluß Anker geworfen, und das fand sie merkwürdig, so weit vom Meer entfernt, doch natürlich höchst willkommen.

Berelains Miene wirkte äußerst eindringlich und ihre Stimme knapp und präzise, als sie um den Tisch hierhin und dorthin herumschritt, um dieses oder jenes Bündel Papiere in die Hand zu nehmen und darüber zu sprechen, was Cairhien erwerben müsse und was es sich leisten könne, was es jetzt zum Verkauf anbieten könne und was in sechs Monaten und in einem Jahr. Natürlich hing das vom Wetter ab. Sie tat das ab, als sei es unwichtig, warf aber Rand einen Blick zu, der besagte, er sei der Wiedergeborene Drache, und sollte es eine Möglichkeit geben, die Hitzewelle zu beenden, sei es seine Aufgabe, sie zu finden. Rand hatte sie schon unglaublich verführerisch erlebt, aber auch verängstigt, trotzig und hochmütig, aber noch niemals so wie jetzt. Sie schien eine völlig andere Frau zu sein. Rhuarc, der auf einem Kissen saß und an seiner Pfeife paffte, schien genauso amüsiert, als er sie beobachtete.

»...Eure Schule könnte einiges erreichen«, sagte sie, wobei sie mit gerunzelter Stirn ein langes Blatt Papier betrachtete, das mit sauberer Schrift bedeckt war. »Wenn sie nur aufhörten, ständig neue Dinge machen zu wollen und statt dessen das täten, was sie bereits beherrschen.« Sie tippte mit einem Finger an ihre Lippen und blickte nachdenklich ins Leere. »Ihr sagtet, ich solle ihnen so viel Gold geben, wie sie verlangen, aber wenn ihr mir gestatten würdet erst zu zahlen, wenn sie tatsächlich...«

Jalani steckte ihr rundes Gesicht zur Tür herein —Aiel schienen nichts vom Anklopfen zu halten — und verkündete: »Mangin ist hier und will mit Rhuarc und Euch sprechen, Rand al'Thor.«

»Sagt ihm, ich werde mich glücklich schätzen, später mit ihm zu sprechen...« Soweit kam Rand, bis ihn Rhuarc mit ruhiger Stimme unterbrach: »Ihr solltet jetzt gleich mit ihm sprechen, Rand al'Thor.« Das Gesicht des Clanhäuptlings war ernst. Berelain hatte das lange Blatt auf den Tisch zurückgelegt und blickte angestrengt zu Boden.

»Also gut«, meinte Rand bedächtig.

Jalanis Kopf zog sich zurück, und Mangin trat ein. Er war größer als Rand und hatte zu denjenigen gehört, die die Drachenmauer auf der Suche nach Ihm, Der Mit Der Morgendämmerung Kommt überquert hatten, einer jener Handvoll, die den Stein von Tear eingenommen hatten, »Vor sechs Tagen habe ich einen Mann getötet«, fing er ohne weiteres an, »einen Baummörder, und ich muß wissen, ob ich jetzt Euch gegenüber Toh habe, Rand al'Thor.«

»Mir gegenüber?« fragte Rand. »Ihr könnt Euch doch selbst verteidigen, Mangin; Licht, Ihr wißt es...« Einen Moment lang schwieg er und suchte den Blick dieser grauen Augen, die nüchtern dreinblickten, aber ohne jede Furcht, vielleicht ein wenig neugierig. Rhuarcs Miene konnte er nichts anmerken, und Berelain wich seinem Blick noch immer aus. »Er hat Euch angegriffen, oder?«

Mangin schüttelte leicht den Kopf. »Ich sah, daß er den Tod verdiente, also habe ich ihn getötet.« Er sagte das in einem leichten Plauderton, als habe er gesehen, daß ein Abflußrohr gereinigt werden müsse und diese Arbeit gleich erledigt. »Doch Ihr habt uns untersagt, die Meineidigen zu töten, außer in der Schlacht oder wenn sie uns angreifen. Habe ich deshalb nun Toh Euch gegenüber?«

Rand erinnerte sich daran, was er gesagt hatte ... ihn werde ich hängen lassen. In seiner Brust zog sich etwas zusammen. »Warum verdiente er zu sterben?«

»Er trug, was zu tragen er kein Recht hatte«, erwiderte Mangin.

»Was? Was hat er getragen, Mangin?«

Rhuarc antwortete, wobei er seinen linken Unterarm berührte. »Dies.« Er meinte damit den Drachen, der sich um seinen Arm schlängelte. Die Clanhäuptlinge zeigten sie nur selten und sprachen fast nie darüber. Beinahe alles an diesen Kennzeichen war in Geheimnisse gehüllt und die Häuptlinge waren es zufrieden. »Natürlich war es nur mit Nadeln und Farben nachgemacht.« Eine Tätowierung also.

»Er hat sich als Clanhäuptling ausgegeben?« Rand war klar, daß er nach einer Entschuldigung suchte ... ihn werde ich hängen lassen. Mangin war einer seiner ersten Anhänger gewesen.

»Nein«, sagte Mangin. »Er hat getrunken und mit dem angegeben, was er nicht haben durfte. Ich sehe Eure Augen, Rand al'Thor.« Er grinste plötzlich. »Es ist ein Rätsel. Ich hatte recht damit, daß ich ihn tötete, aber nun habe ich Toh Euch gegenüber.«

»Ihr wart im Unrecht, als Ihr ihn getötet habt. Ihr kennt die Strafe für Mord.«

»Einen Strick um den Hals, wie ihn diese Feuchtländer benützen.« Mangin nickte nachdenklich. »Sagt mir, wann und wo, und ich werde dort sein. Mögt Ihr heute Wasser und Schatten finden, Rand al'Thor.«

»Mögt Ihr Wasser und Schatten finden, Mangin«, erwiderte Rand traurig.

»Ich schätze«, sagte Berelain, als sich die Tür hinter Mangin geschlossen hatte, »daß er tatsächlich freiwillig zu seiner eigenen Hinrichtung erscheinen wird.

Ach, seht mich nicht so an, Rhuarc. Ich will weder ihn noch die Ehre der Aiel angreifen.«

»Sechs Tage«, grollte Rand, und dann fuhr er sie an: »Ihr wußtet, warum er hier war, Ihr beide! Vor sechs Tagen, aber Ihr habt mir die Entscheidung überlassen! Mord ist Mord, Berelain.«

Sie richtete sich gebieterisch auf, klang aber dann doch, als müsse sie sich rechtfertigen. »Ich bin es nicht gewohnt, daß Männer zu mir kommen und mir gestehen, daß sie gerade einen Mord begangen haben. Verdammtes Ji'e'toh. Verdammte Aielmänner und ihre verdammte Ehre.« Es klang eigenartig, aus ihrem Mund solche Flüche zu hören.

»Ihr habt keinen Grund, böse auf sie zu sein, Rand al'Thor«, warf Rhuarc ein. »Mangins Toh besteht Euch gegenüber und nicht ihr — oder mir.«

»Sein Toh besteht dem Mann gegenüber, den er ermordet hat«, sagte Rand kalt. Rhuarc blickte entsetzt drein. »Wenn jemand beim nächsten Mal einen Mord begeht, wartet nicht auf mich! Befolgt einfach das Gesetz!« Auf diese Weise würde er vielleicht nicht noch einmal gezwungen, einen Mann, den er kannte und mochte, zum Tode zu verurteilen. Er würde es tun, wenn er dazu gezwungen war. Er wußte es, und es machte ihn traurig. Was war aus ihm geworden?

Das Rad des Lebens eines Mannes, murmelte Lews Therin. Keine Gnade. Kein Mitleid.

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