55 Die Brunnen Dumais

Gawyn ließ seinen Blick über die Landschaft schweifen, während er der Truppe vorausritt. Das leicht gewellte Gelände mit den vereinzelten Bäumen war gerade ausreichend flach, um den Eindruck zu erwecken, daß man weit sehen konnte, auch wenn diese gelegentlichen langen Bodenwellen und niedrigen Hügel nicht ganz so niedrig waren, wie sie schienen. Der Wind fegte dichte Staubwolken auf, und auch Staub konnte eine Menge verhüllen. Dumais Brunnen lagen unmittelbar rechts neben der Straße, drei Steinbrunnen in einem kleinen Gehölz. Es dauerte mindestens vier Tage bis zur nächsten sicheren Wasserversorgung, wenn die Alianelle-Quelle nicht ausgetrocknet war, aber Galina hatte befohlen, nicht anzuhalten. Gawyn versuchte, seine Aufmerksamkeit dorthin zu richten, wo sie sein sollte, aber es gelang ihm nicht.

Er wandte sich hin und wieder im Sattel um und betrachtete die lange Wagenkolonne auf der Straße, neben der die Aes Sedai und Behüter einherritten und Diener, die sich nicht in den Wagen aufhielten, einhergingen. Die meisten der Jünglinge befanden sich am Ende der Schlange, wohin Galina sie befohlen hatte.

Er konnte den einen Wagen in der Mitte neben dem ständig sechs Aes Sedai ritten und der keine Plane aufwies, nicht sehen. Er hätte al'Thor getötet, wenn er gekonnt hätte, aber dieser Gedanke verursachte ihm Übelkeit. Sogar Erian hatte sich nach dem zweiten Tag geweigert, noch weiter mitzumachen, und das Licht wußte, daß sie Grund dazu hatte. Aber Galina blieb hart.

Den Blick fest nach vorn gerichtet, berührte er Egwenes Brief in seiner Jackentasche, wo er sorgfältig in Seide eingehüllt ruhte. Es waren nur wenige Worte, um ihm zu sagen, daß sie ihn liebte und daß sie gehen müsse. Nicht mehr. Er hatte ihn fünf oder sechs Mal am Tag gelesen. Sie erwähnte sein Versprechen nicht. Nun, er hatte keine Hand gegen al'Thor erhoben. Er war erstaunt gewesen zu erfahren, daß der Mann schon seit Tagen ein Gefangener war, als er davon erfuhr. Das mußte er ihr irgendwie begreiflich machen. Er hatte ihr versprochen, seine Hand nicht gegen den Mann zu erheben, und er würde es auch nicht tun, wenn er dafür sterben müßte, aber er würde auch keine Hand erheben, um ihm zu helfen. Das mußte Egwene verstehen. Licht, sie mußte es verstehen.

Schweiß rann sein Gesicht hinab, und er wischte sich mit dem Ärmel über die Wangen. Was Egwene betraf, konnte er nichts anderes tun als beten. Aber für Min konnte er etwas tun. Es mußte ihm irgendwie gelingen. Sie verdiente es nicht, als Gefangene zur Burg gebracht zu werden. Er wollte es nicht glauben. Wenn die Behüter ihre Bewachung nur lockern würden, könnte er...

Plötzlich bemerkte Gawyn ein Pferd, anscheinend reiterlos, das durch Staubwolken hindurch zu den Wagen zurückgaloppierte. »Jisao«, befahl er, »sagt dem Wagenlenker, daß er anhalten soll. Hai, gebt Rajar Bescheid, daß er die Jünglinge bereithalten soll.« Sie rissen ihre Pferde wortlos herum und preschten davon. Gawyn wartete.

Es war Benji Dalfors stahlstaubfarbener Wallach, und als er näher kam, konnte Gawyn Benji gebeugt sitzen und sich an die Mähne des Wallachs klammern sehen. Das Pferd war schon fast vorüber, als Gawyn die Zügel zu fassen bekam.

Benji wandte den Kopf, ohne sich aufzurichten, und sah Gawyn aus glasigen Augen an. Um seinen Mund war Blut zu sehen, und er hatte einen Arm fest auf den Bauch gedrückt, als wollte er sich zusammenhalten. »Aiel«, murmelte er. »Tausende. Ich glaube, von allen Seiten.« Plötzlich lächelte er. »Es ist kalt heute, nicht...« Blut schoß aus seinem Mund, und er fiel auf die Straße und starrte ausdruckslos in die Sonne.

Gawyn riß seinen Hengst herum und galoppierte auf die Wagen zu. Um Benji konnte er sich später kümmern, wenn dann noch irgend jemand von ihnen lebte.

Galina ritt ihm mit flatterndem Staubmantel entgegen, die dunklen Augen zornerfüllt. Sie war ständig zornig, seit al'Thor zu entkommen versucht hatte. »Was glaubt Ihr, wer Ihr seid, daß Ihr die Wagen anhalten laßt?« herrschte sie ihn an.

»Tausende von Aiel schließen zu uns auf, Aes Sedai.« Er schaffte es, einen höflichen Tonfall beizubehalten. Die Wagen hatten schließlich angehalten, und die Jünglinge formierten sich, aber die Wagenlenker spielten ungeduldig mit den Zügeln, die Diener sahen sich um, während sie sich Luft zufächelten, und die Aes Sedai berieten sich mit den Behütern.

Galina schürzte verächtlich die Lippen. »Ihr Narr. Das sind zweifellos die Shaido. Sevanna sagte, sie würden uns begleiten. Aber wenn Ihr es nicht glaubt, dann nehmt Eure Jünglinge und seht selbst nach. Diese Wagen werden weiter auf Tar Valon zuhalten. Es wird Zeit, daß Ihr lernt, daß ich hier die Befehle gebe, nicht... «

»Und wenn es nicht Eure friedlichen Aiel sind?« Es war nicht das erste Mal während der letzten paar Tage, daß sie vorgeschlagen hatte, er solle selbst einen Spähtrupp übernehmen. Er vermutete, daß er, wenn er es täte, Aiel auffinden würde — und zwar keine friedlichen Aiel. »Wer auch immer sie sind — sie haben einen meiner Männer getötet.« Mindestens einen, denn sechs Kundschafter waren noch draußen. »Vielleicht solltet Ihr die Möglichkeit erwägen, daß dies al'Thors Aiel sein könnten, die gekommen sind, um ihn zu retten. Wenn sie uns angreifen, wird es zu spät sein.«

Erst da erkannte er, daß er schrie, aber Galinas Zorn wich tatsächlich. Sie blickte die Straße zu der Stelle hinauf, wo Benji lag, und nickte dann zögernd. »Vielleicht wäre es nicht unklug, dieses eine Mal vorsichtig zu sein.«

Rand rang nach Atem. Die Luft in seiner Brust fühlte sich dicht und heiß an. Glücklicherweise konnte er es nicht mehr riechen. Sie übergössen ihn jede Nacht mit einem Eimer Wasser, aber das war wohl kaum einem Bad gleichzusetzen, und nachdem sie jeden Morgen den Deckel über ihm geschlossen und ihn verriegelt hatten, griff der durch einen weiteren der prallen Sonne ausgesetzten Tag hinzugefügte Gestank seine Nase erneut an. Es kostete ihn Mühe, das Nichts zu halten. Er bestand nur noch aus Striemen. Es gab von den Schultern bis zu den Knien keinen Fingerbreit Haut, der nicht brannte, noch bevor Schweiß daran geriet, und jene zehntausend Flammen flackerten an den Grenzen des Nichts und versuchten es zu vereinnahmen. Die erst halbwegs verheilte Wunde an seiner Seite pochte dumpf, aber die Leere um ihn herum erzitterte bei jedem Pochen. Alanna. Er konnte Alanna spüren. Nahe... Nein... Er durfte keine Zeit damit verschwenden, an sie zu denken. Selbst wenn sie ihnen gefolgt war, könnten sechs Aes Sedai ihn doch nicht befreien. Wenn sie nicht entschieden, sich Galina anzuschließen. Kein Vertrauen. Er würde niemals wieder irgendeiner Aes Sedai vertrauen. Vielleicht bildete er es sich ohnehin nur ein. Manchmal bildete er sich hier drinnen Dinge ein wie kühle Brisen und daß er umhergehen könnte. Manchmal verlor er den Bezug zu allem anderen und stellte sich vor, vollkommen frei herumzulaufen. Einfach zu gehen.

Er rang nach Atem und ertastete sich dann erneut seinen Weg über die eisglatte Barriere, die ihn von der Quelle abschnitt. Wieder und wieder tastete er sich zu jenen sechs nachgiebigen Stellen.

Nachgiebig. Er konnte nicht aufhören. Das Tasten war wichtig.

Dunkel, stöhnte Lews Therin tief in seinem Kopf. Nicht mehr dunkel. Nicht mehr. Wieder und immer wieder. Aber nicht allzu schlimm. Rand ignorierte ihn.

Plötzlich keuchte er. Die Kiste bewegte sich, knirschte laut über den Boden des Wagens. War es bereits Nacht? Die geschundene Haut zuckte unwillkürlich. Es würden weitere Schläge erfolgen, bevor er gefüttert und mit Wasser begossen und zum Schlafen wie eine Gans verschnürt würde. Aber er würde aus der Kiste hinausgelangen. Die Dunkelheit um ihn herum war unvollständig, eher ein tiefdunkles Grau. Der winzige Riß im Deckel ließ einen schwachen Lichtschimmer ein, obwohl er mit dem Kopf zwischen den Knien nichts sehen konnte, und seine Augen brauchten jeden Tag so lange, um etwas anderes als Schwärze zu erkennen, wie seine Nase brauchte, um unempfindlich zu werden. Dennoch mußte es Nacht sein.

Er konnte ein Stöhnen nicht unterdrücken, als sich die Kiste neigte. Es war nicht genug Platz, daß er hätte wegrutschen können, aber er wurde bewegt, wodurch die mehr als wunden Muskeln erneut schmerzten. Sein winziges Gefängnis schlug hart auf dem Boden auf. Bald würde sich der Deckel öffnen. Wie viele Tage in der brütenden Sonne? Wie viele Nächte? Er hatte den Anschluß verloren. Wer würde es diesmal sein? Gesichter wirbelten durch seinen Kopf. Er hatte sich jede Frau gemerkt, die seine Züchtigung übernahm. Jetzt gerieten sie durcheinander. Sich zu erinnern, welche wo oder wann zu ihm gekommen war, schien unmöglich. Aber er wußte, daß Galina und Erian und Katerine ihn am häufigsten geschlagen hatten, die einzigen, die es mehr als einmal getan hatten. Ihre Gesichter loderten in seinem Geist in einem barbarischen Licht auf. Wie oft wollten sie ihn noch schreien hören?

Plötzlich fiel ihm auf, daß die Kiste schon hätte geöffnet werden sollen. Sie beabsichtigten, ihn die ganze Nacht hier drinnen zu belassen, und morgen würde wieder die Sonne scheinen und... Muskeln, die zu zerschlagen und wund waren, um sich zu regen, zuckten panisch. »Laßt mich raus!« schrie Rand heiser. Die Finger scharrten hinter seinem Rücken schmerzhaft und nutzlos. »Laßt mich raus!« schrie er. Er glaubte, eine Frau lachen zu hören.

Er weinte einige Zeit, aber dann trockneten die Tränen in glühendem Zorn. Hilf mir, knurrte er Lews Therin an.

Hilf mir, stöhnte der Mann. Das Licht helfe mir.

Düster vor sich hinmurmelnd, tastete sich Rand wieder blind über jene glatte Fläche zu den sechs nachgiebigen Stellen. Früher oder später würden sie ihn herauslassen. Früher oder später würden sie in ihrer Wachsamkeit nachlassen. Und wenn das geschah... Er merkte es nicht einmal, als er rauh zu lachen begann.

Perrin kroch auf dem Bauch den sanften Hügel hinauf und betrachtete vom Kamm aus eine Szene aus den Träumen des Dunklen Königs. Die Wölfe hatten ihm eine ungefähre Vorstellung davon vermittelt was ihn erwarten würde, aber diese Vorstellung verblaßte neben der Realität. Vielleicht eine Meile von der Stelle entfernt, wo er in der Mittagssonne lag, umschloß eine ungeheure, erdrückende Anzahl Shaido vollkommen, was ein Kreis Wagen und Menschen zu sein schien, die sich nicht weit von der Straße in einem kleinen Gehölz zusammendrängten. Mehrere Wagen waren Scheiterhaufen aus tanzenden Flammen. Feuerkugeln, klein wie eine Faust und groß wie Felsbrocken, prallten in die Aiel, Feuerklumpen loderten und verwandelten ein Dutzend von ihnen gleichzeitig in Fackeln. Blitze fielen aus einem wolkenlosen Himmel und schleuderten Erde und in den Cadin'sor gekleidete Gestalten in die Luft. Aber silberne Lichtblitze trafen auch die Wagen, und Feuer sprang von den Aiel auf. Ein großer Teil der Feuer erstarb plötzlich oder explodierte kurz vor einem Ziel, und viele der Lichtblitze wurden jäh gestoppt, aber auch wenn die Aes Sedai sich noch mit allen Mitteln zu erwehren schienen, mußte sich die reine Übermacht der Shaido letztendlich als überwältigend erweisen.

»Dort unten müssen zwei- oder dreihundert Frauen sein, die die Macht lenken können, wenn nicht mehr.« Kiruna, die neben ihm lag, wirkte beeindruckt. Sorilea, auf der anderen Seite der Grünen Schwester, war sicherlich beeindruckt. Die Weise Frau roch besorgt; nicht ängstlich, aber beunruhigt. »Ich habe noch niemals so viele Gewebe auf einmal gesehen«, fuhr die Aes Sedai fort. »Ich glaube, es befinden sich mindestens dreißig Schwestern in dem Lager. Ihr habt uns zu einem brodelnden Hexenkessel geführt, junger Aybara.«

»Vierzigtausend Shaido«, murmelte Rhuarc grimmig auf Perrins anderer Seite. Er roch sogar grimmig. »Mindestens vierzigtausend, und es ist kaum befriedigend zu wissen, warum sie nicht mehr nach Süden gesandt haben.«

»Der Lord Drache ist dort unten?« fragte Dobraine und schaute zu Rhuarc hinüber. Perrin nickte. »Und Ihr wollt ihn aus diesem Hexenkessel herausbringen?« Perrin nickte erneut, und Dobraine seufzte. Er roch ergeben, nicht ängstlich. »Wir werden hineinmarschieren, Lord Aybara, aber ich glaube nicht, daß wir wieder herauskommen werden.« Jetzt nickte Rhuarc.

Kiruna betrachtete die Männer. »Ihr erkennt sicher, daß wir zu wenig sind. Neun. Selbst wenn Eure Weisen Frauen die Macht tatsächlich mit irgendeiner Wirkung zu lenken vermögen, so können wir uns dem doch nicht entgegenstellen.« Sorilea schnaubte laut, aber Kiruna behielt die Szene im Blick.

»Dann dreht um und reitet südwärts«, befahl Perrin. »Ich werde dieser Elaida Rand nicht überlassen.«

»Gut«, erwiderte Kiruna lächelnd. »Denn ich werde es auch nicht tun.« Er wünschte, ihr Lächeln würde ihm keine Gänsehaut verursachen. Aber sicherlich hätte sie ebenfalls eine Gänsehaut bekommen, wenn sie Sorileas feindseligen Blick auf ihren Hinterkopf gesehen hätte.

Perrin gab denen, die am Fuß des Hügels zurückgeblieben waren, ein Zeichen, und Sorilea und die Grüne krochen wieder hinab, bis sie sich aufrichten konnten, und eilten dann in entgegengesetzte Richtungen davon.

Sie hatten keinen richtigen Plan. Es lief darauf hinaus, irgendwie an Rand heranzukommen, ihn zu befreien und dann zu hoffen, daß er nicht zu schwer verletzt war, um ein Wegetor für all die Menschen zu gestalten, die mit ihm entkommen wollten, bevor es den Shaido oder den Aes Sedai in dem Lager gelang, sie zu töten. Zweifellos geringere Probleme für den Helden einer Geschichte oder einen fahrenden Sänger, aber Perrin wünschte, es wäre Zeit für einen regelrechten Plan gewesen und nicht nur für das, was er und Dobraine und Rhuarc mit dem Stammeshäuptling, der so schnell er konnte zwischen ihren Pferden einherlief, grob zusammengezimmert hatten. Aber Zeit war eines der vielen Dinge, die sie nicht hatten. Und man konnte nicht wissen, ob die Aes Sedai der Burg die Shaido noch eine weitere Stunde abwehren konnten.

Zuerst gingen die Leute von den Zwei Flüssen und die Beflügelten Wachen voran, in zwei Gruppen aufgeteilt, von denen die eine die zu Fuß gehenden Weisen Frauen und die andere die berittenen Aes Sedai und Behüter umschloß. Sie überquerten den Hügelkamm zu beiden Seiten. Dannil hatte sie den Roten Adler wieder hissen lassen, zusätzlich zum Roten Wolfskopf. Rhuarc schaute nicht einmal in die Richtung, wo Amys nicht weit von Kirunas dunklem Wallach einherschritt, aber Perrin hörte ihn murmeln: »Mögen wir die Sonne zusammen aufgehen sehen, Schatten meines Herzens.«

Letztendlich sollten die Mayener und die Leute von den Zwei Flüssen den Rückzug der Weisen Frauen und der Aes Sedai decken, oder vielleicht würde es auch anders herum geschehen. Der Plan schien Bera und Kiruna jedoch nicht zu behagen. Sie wollten am liebsten dort sein, wo Rand war.

»Seid Ihr sicher, daß Ihr nicht reiten wollt, Lord Aybara?« fragte Dobraine vorn Sattel herab. Ihm war die Vorstellung, zu Fuß zu kämpfen, verhaßt.

Perrin klopfte gegen die an seiner Hüfte hängende Streitaxt. »Sie ist vom Pferderücken aus nicht sehr nützlich.« Das entsprach der Wahrheit, aber er wollte auch Stepper oder Steher nicht in den bevorstehenden Kampf mit einbeziehen. Menschen konnten sich entscheiden, ob sie sich inmitten von Stahl und Tod begeben wollten. Heute hatte er für seine Pferde entschieden. »Vielleicht leiht Ihr mir einen Steigbügel, wenn es soweit kommt.« Dobraine blinzelte — Cairhiener setzten nur selten Fußsoldaten ein —, aber er verstand offenbar und nickte.

»Es wäre an der Zeit, daß die Flötenspieler zum Tanz aufspielen«, sagte Rhuarc und hob seinen schwarzen Schleier, aber heute würden keine Flötenspieler zu hören sein, was einigen Aiel nicht gefiel. Viele der Töchter des Speers mochten die erforderlichen roten Stoffstreifen um ihre Arme nicht, die sie für die Feuchtländer von den Shaido-Töchtern des Speers unterscheidbar machen sollten. Sie schienen zu glauben, jeder sollte es auf den ersten Blick sehen.

Schwarz verschleierte Töchter des Speers und Siswai'aman stiegen den Hang in einer dichten Reihe hinauf, und Perrin ging mit Dobraine dorthin, wo Loial bereits an der Spitze der Cairhiener stand, seine Streitaxt mit beiden Händen umfassend und die Ohren zurückgelegt. Aram war auch dort, zu Fuß und das Schwert blankgezogen. Der ehemalige Kesselflicker lächelte düster und vorahnungsvoll. Dobraine befahl mit einem Winken seines Arms den Vormarsch, hinter Rands Zwillingsbannern her, und Sättel knirschten, als ein kleiner Wald aus fünfhundert Speeren neben den Aiel aufstieg.

Nichts hatte sich in dem Kampf geändert, was Perrin überraschte, bis er erkannte, daß eigentlich nur Momente vergangen waren, seit er zuletzt hingesehen hatte. Die Zeit war ihm viel länger erschienen. Die große Anzahl von Shaido drängte noch immer nach innen. Wagen brannten nieder, vielleicht noch mehr als zuvor. Blitze zuckten noch immer aus dem Himmel, und Feuer sprang in Kugeln und Wellen auf.

Die Leute von den Zwei Flüssen hatten ihre Stellung mit den Mayenern, den Aes Sedai und den Weisen Frauen fast erreicht und bewegten sich beinahe gemächlich über die wogende Ebene. Perrin hätte sie weiter zurückgehalten, um ihnen eine bessere Möglichkeit zur Flucht zu verschaffen, wenn es soweit wäre, aber Dannil beharrte darauf, daß sie auf mindestens dreihundert Schritt herangehen müßten, damit ihre Bogen wirkungsvoll eingesetzt werden könnten, und Nurelle war genauso bestrebt gewesen, nicht zurückzubleiben. Sogar die Aes Sedai, bei denen Perrin vermutete, daß sie nur nahe genug herangelangen wollten, um besser sehen zu können, hatten darauf beharrt. Keiner der Shaido hatte sich bisher umgesehen. Zumindest deutete niemand auf die langsam in ihrem Rücken auf sie zukommende Bedrohung. Niemand wirbelte herum, um sich ihr zu stellen. Alle schienen darauf konzentriert, den Wagenkreis anzugreifen, vor Feuer und Blitzen zurückzuweichen und dann erneut anzugreifen. Nur ein Blick zurück wäre notwendig gewesen, aber das Inferno vor ihnen hielt sie davon ab.

Achthundert Schritte. Siebenhundert. Die Leute von den Zwei Flüssen stiegen ab und nahmen ihre Bogen in die Hand. Sechshundert. Fünfhundert. Vierhundert.

Dobraine zog sein Schwert und hielt es hoch in die Luft. »Der Lord Drache, Taborwin und Sieg!« rief er, und der Ruf wurde von fünfhundert Kehlen aufgenommen, während die Speere bereitgehalten wurden.

Perrin hatte gerade noch genug Zeit, Dobraines Steigbügel zu packen, bevor der Cairhiener vorwärts preschte. Loials lange Beine paßten sich bei jedem Schritt an. Während Perrin sich von dem Pferd in großen Sprüngen voranziehen ließ, sandte er seinen Geist aus. Kommt.

Der mit braunem Gras bedeckte Boden, der unbelebt schien, brachte plötzlich eintausend Wölfe hervor, schlanke braune einfache Wölfe und einige dunklere, schwerere Waldbrüder, die geduckt voranliefen und sich dann mit zuschnappendem Kiefer auf die Rücken der Shaido warfen, unmittelbar bevor die ersten langen Speere vom Himmel regneten. Ein zweiter Schwarm Speere beschrieb bereits einen hohen Bogen. Neuerliche Blitze zuckten mit den Speeren zusammen aus dem Himmel, und neue Feuer sprangen auf. Verschleierte Shaido, die sich umwandten, um die Wölfe zu bekämpfen, hatten nur Augenblicke Zeit zu erkennen, daß sie nicht die einzige Bedrohung bedeuteten, bevor sie ein wuchtiger Speer eines Aiel oder eines cairhienischen Speerträgers traf.

Perrin riß seine Streitaxt frei, streckte einen ihm im Weg stehenden Shaido nieder und sprang über den Mann, als er zu Boden sank. Sie mußten Rand erreichen, alles hing davon ab. Neben ihm hob Loial seine Streitaxt an, ließ sie niedersausen, schwenkte sie erneut und kämpfte so einen Weg frei. Aram schien mit seinem Schwert zu tanzen und lachte, während er alle, die ihm im Weg standen, niedermähte. Es war keine Zeit, an jemand anderen zu denken. Perrin schwang seine Streitaxt mechanisch. Er zerhackte Holz, nicht Leiber. Er versuchte, das umherspritzende Blut zu ignorieren, selbst als ihm Karmesinrot ins Gesicht sprühte. Er mußte Rand erreichen. Er schlug sich einen Weg durch Dornengestrüpp.

Er konzentrierte sich nur jeweils auf den Mann vor ihm — er betrachtete sie als Männer, auch wenn ihre Größe zuweilen darauf schließen ließ, daß es manchmal auch eine Tochter des Speers sein könnte; er war sich nicht sicher, daß er diese rottropfende halbmondförmige Klinge noch schwingen könnte, wenn er den Gedanken zuließ, es könnte eine Frau sein, gegen die er sie hob —, er konzentrierte sich, aber andere Dinge schwebten in sein Sichtfeld, während er sich den Weg frei hieb. Ein silbriger Lichtblitz schleuderte mit dem Cadin'sor bekleidete Gestalten in die Luft, von denen einige das scharlachrote Stirnband trugen und andere nicht. Ein weiterer Blitz riß Dobraine vom Pferd. Der Cairhiener mühte sich wieder hoch und ließ das Schwert einen Moment ruhen. Feuer umschloß ein Gewirr von Cairhienem und Aiel, verwandelte Menschen und Pferde in schreiende Fackeln, zumindest jene, die noch schreien konnten.

All dies geschah vor seinen Augen, aber er erlaubte sich nicht, es zu sehen. Nur die Dornengestrüppe vor ihm mußten mit seiner und Loials Streitaxt und Arams Schwert aus dem Weg geräumt werden. Dann sah er etwas, das seine Konzentration durchdrang. Ein sich aufbäumendes Pferd, ein taumelnder Reiter, der aus dem Sattel gerissen wurde, als Aiel-Speere ihn durchbohrten. Ein Reiter mit einem roten Brustharnisch. Und noch ein Beflügelter Wächter und weitere von ihnen, die ihre Speere reckten, während Nurelles Feder über seinem Helm schwankte. Kurz darauf sah er Kiruna, das Gesicht heiter und unbesorgt, die wie eine Königin der Schlachten den von drei Behütern für sie freigehauenen Weg entlangschritt, und die Feuer, die ihren Händen entsprangen. Und da war Bera und weiter seitlich Faeldrin und Masuri und... Was, unter dem Licht, taten sie alle hier? Was taten sie überhaupt alle? Sie sollten bei den Weisen Frauen sein!

Von irgendwo über ihm erklang ein hohles Dröhnen, wie ein Donnerschlag, der durch den Lärm der Schreie und Rufe hindurchschnitt. Kurz darauf erschien keine zwanzig Schritte vor ihm ein Lichtblitz und schnitt wie eine riesige Klinge durch mehrere Menschen und ein Pferd hindurch, während er sich zu einem Wegetor erweiterte. Ein Mann in schwarzem Umhang mit einem Schwert in Händen sprang daraus hervor und ging mit einem Shaido-Speer im Leib zu Boden, aber kurz darauf sprangen acht oder neun weitere Männer durch das Wegetor, während es verschwand, und bildeten mit ihren Schwertern einen Kreis um den gefallenen Mann. Mit mehr als Schwertern. Einige der Shaido, die sie angriffen, fielen nicht durch eine Klinge, sondern gingen einfach in Flammen auf. Die Köpfe, die wie Melonen zerbarsten, fielen aus der Höhe auf das Gestein. Vielleicht hundert Schritte hinter ihnen glaubte Perrin einen weiteren Kreis von Männern in schwarzen Umhängen zu erkennen, die von Feuer und Tod umgeben waren, aber er hatte keine Zeit, sich darüber zu wundern. Shaido schlossen sich auch um ihn.

Er stellte sich mit dem Rücken zu Loial und Aram und schlug und hackte verzweifelt um sich. Jetzt gab es kein Vorankommen mehr. Er konnte nur noch die Stellung halten. Das Blut pochte in seinen Ohren, und er hörte, wie er nach Atem rang. Er konnte auch Loial hören, der wie ein großer Blasebalg keuchte. Perrin wehrte einen zustoßenden Speer mit seiner Streitaxt ab, traf im Rückschwung mit der Spitze einen weiteren Aiel, ergriff eine Speerspitze mit der Hand, ungeachtet der klaffenden Wunde, die sie verursachte, und zerteilte ein schwarz verschleiertes Gesicht. Er glaubte nicht, daß sie noch viel länger standhalten könnten. Sein ganzes Sein konzentrierte sich darauf, noch einen Herzschlag länger am Leben zu bleiben. Fast sein ganzes Sein. Ein Winkel seines Geistes hielt ein Bild von Faile aufrecht und den traurigen Gedanken, daß er sich nicht dafür entschuldigen könnte, daß er nicht zu ihr zurückkam.

Rand rang mit verdoppeltem Schmerz in der Brust um Luft und betastete hastig den Schild zwischen ihm und der Quelle. Stöhnen schwebte über das Nichts, und wilder Zorn und sengende Angst kroch an ihr entlang. Er konnte nicht mehr unterscheiden, was von ihm und was von Lews Therin kam. Plötzlich gefror sein Atem. Sechs Stellen, aber eine war jetzt unnachgiebig. Nicht mehr nachgiebig, sondern unnachgiebig. Und dann eine zweite. Eine dritte. Rauhes Lachen erfüllte seine Ohren. Es war sein Lachen, wie er kurz darauf erkannte. Eine vierte Stelle wurde unnachgiebig. Er wartete, versuchte in sich zu ersticken, was wie irres Kichern klang. Die letzten beiden Stellen blieben nachgiebig. Das erstickte Kichern erstarb.

Sie werden es spüren, stöhnte Lews Therin verzweifelt. Sie werden es spüren und die anderen zurückrufen.

Rand leckte sich mit seiner trockenen Zunge über die aufgesprungenen Lippen. Alle Feuchtigkeit in ihm schien mit dem Schweiß entschwunden zu sein, der seine Haut überzog und in seinen Wunden brannte. Wenn er es versuchte und es mißlang, würde es niemals eine zweite Chance geben. Er konnte nicht mehr warten. Es gäbe ohnehin vielleicht niemals eine zweite Chance.

Vorsichtig, blind, ertastete er die vier unnachgiebigen Stellen. Dort war nichts, nicht mehr, als der Schild selbst für ihn erspürbar oder sichtbar war, aber irgendwie konnte er um dieses Nichts herumspüren, eine Form spüren. Wie Knoten. In einem Knoten war stets Platz zwischen den Fäden, wie fest er auch gezogen war, Spalte, feiner als ein Haar, wo nur Luft hindurchgelangte. Langsam, so sehr langsam, tastete er sich in einen dieser Spalte vor, drückte durch äußerst winzige Risse zwischen etwas, das anscheinend überhaupt nicht vorhanden war. Langsam. Wie lange würde es dauern, bis die anderen zurückkehrten? Wenn sie wieder anfingen, bevor er einen Weg durch dieses gewundene Labyrinth gefunden hatte... Langsam. Und plötzlich konnte er die Quelle spüren, als hätte er sie mit einem Fingernagel gestreift. Nur mit dem äußeren Rand eines Fingernagels. Saidin war noch jenseits von ihm — der Schild war noch immer da —, aber er konnte in Lews Therin Hoffnung aufwallen spüren. Hoffnung und Verzagtheit. Zwei Aes Sedai hielten noch immer an der Barriere fest, waren sich immer noch bewußt, was sie festhielten.

Rand hätte nicht erklären können, was er als nächstes tat, obwohl Lews Therin erklärt hatte, wie er es tun mußte, zwischen einzelnen Ausflügen in seine eigenen verrückten Vorstellungen, zwischen hoch aufbrausendem Zorn und Wehklagen über seine verlorene Ilyena, zwischen Geplapper, daß er zu sterben verdiene, und Schreien, daß er nicht zulassen würde, daß sie ihn zerbrachen. Es war, als beuge er, was er durch den Knoten ausgestreckt hatte, als beuge er es, so sehr er konnte. Der Knoten widerstand. Er erzitterte. Und dann brach er auf. Da waren nur noch fünf. Die Barriere wurde dünner. Er konnte spüren, wie sie schwächer wurde. Eine unsichtbare Wand, die jetzt nur noch fünf anstatt sechs Ziegelsteine dick war. Die beiden Aes Sedai würden es auch gespürt haben, obwohl sie vielleicht nicht genau verstanden, was geschehen war. Bitte, Licht, nicht jetzt. Noch nicht.

Schnell, fast hektisch, griff er die verbliebenen Knoten nacheinander an. Ein zweiter öffnete sich — der Schild wurde dünner. Es ging jetzt schneller, mit jedem ein wenig mehr, als lerne er den Weg hindurch, wenn es auch jedesmal anders war. Der dritte Knoten war gelöst. Und eine dritte unnachgiebige Stelle erschien. Vielleicht wußten die Aes Sedai nicht, was er tat, aber sie würden nicht einfach dasitzen, während der Schild immer schwächer wurde. Hektisch warf sich Rand auf den vierten Knoten. Er mußte ihn lösen, bevor sich eine vierte Schwester in den Schild einbrachte. Vier könnten in der Lage sein, ihn zu halten, was immer er tat. Den Tränen nahe, kämpfte er sich durch die verästelten Windungen, glitt zwischen Nichts. Er beugte es in Panik, und der Knoten platzte. Der Schild blieb, wurde aber jetzt nur noch von dreien gehalten. Wenn er sich nur schnell genug bewegen konnte.

Als er nach Saidin griff, war die unsichtbare Barriere noch immer da, aber sie schien nicht mehr aus Stein oder Ziegeln zu bestehen. Sie gab nach, als er dagegenpreßte, neigte sich unter seinem Druck, neigte sich, neigte sich. Plötzlich riß sie vor ihm entzwei wie zerschlissener Stoff. Die Macht erfüllte ihn, und er ergriff jene drei nachgiebigen Stellen und zerschmetterte sie unbarmherzig mit Fäusten aus Geist. Abgesehen davon vermochte er noch immer nur dort die Macht zu lenken, wo er etwas sah, und alles, was er jetzt schwach erkennen konnte, war das Innere der Kiste, soweit er sie mit dem Kopf zwischen den Knien sehen konnte. Bevor er seine Arbeit mit den Fäusten aus Geist auch nur beendet hatte, lenkte er die Macht Luft. Die Kiste platzte mit lautem Knall von ihm ab.

Frei, keuchte Lews Therin, und es war ein Echo Rands eigener Gedanken. Frei. Oder vielleicht anders herum.

Sie werden bezahlen, grollte Lews Therin. Ich bin der Herr des Morgens.

Rand wußte, daß er sich jetzt noch schneller bewegen mußte, schnell und heftig bewegen mußte, aber zunächst kämpfte er darum, sich überhaupt bewegen zu können. Da die Muskeln jeden Tag seit wer weiß wie langer Zeit mißhandelt worden waren, als er jeden Tag in die Kiste gepfercht worden war, schrien sie auf, als er sich mit zusammengebissenen Zähnen behutsam auf Hände und Knie aufrichtete. Es war ein ferner Schrei, der Schmerz eines anderen, aber er konnte diesen Körper nicht dazu bringen, sich schneller zu bewegen, wie stark er sich auch durch Saidin fühlte. Leere dämpfte die Empfindungen, aber etwas der Panik Ähnliches versuchte, Ranken in das Nichts zu winden.

Er befand sich in einem großen Dickicht, in dem breite Strahlen Sonnenlicht durch die fast laublosen Bäume drangen. Es erschreckte ihn, daß es noch Tag war, vielleicht sogar erst Mittag. Er mußte sich regen. Weitere Aes Sedai würden kommen. Zwei lagen in seiner Nähe auf dem Boden, offensichtlich bewußtlos, und eine hatte eine häßliche, klaffende Wunde an der Stirn. Eine dritte, eine Frau mit kantigem Gesicht, kauerte auf den Knien, starrte ins Leere, umklammerte ihren Kopf mit beiden Händen und schrie. Sie schien von all den Splittern und Kistenstücken unberührt. Er erkannte keine von ihnen. Er empfand sofort Bedauern, daß es nicht Galina oder Erian waren, die er gedämpft hatte — er konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, daß er das beabsichtigt hatte; Lews Therin hatte lang und breit erklärt, wie er jede einzelne jener zerbrechen wollte, die ihn eingesperrt hatten; Rand hoffte, es wäre seine eigene Idee gewesen, wie übereilt auch immer sie war. Dann sah er unter Kistenteilen eine weitere Gestalt auf dem Boden ausgestreckt. Eine Gestalt in rötlichem Umhang und rötlicher Hose.

Die Frau mit dem kantigen Gesicht sah ihn nicht an und hörte auch nicht auf zu schreien, als er sie gegen die niedrige Steinkrönung eines Brunnens stieß, während er vorüberkroch. Er fragte sich verzweifelt, warum auf ihre Schreie hin niemand kam. Auf halbem Weg zu Min bemerkte er aus dem Himmel schießende Lichtblitze und über ihm explodierende Feuerkugeln. Er roch brennendes Holz, hörte Männer schreien und rufen, das Aufeinanderschlagen von Metall und den Mißklang der Schlacht. Es kümmerte ihn nicht, ob es Tarmon Gai'don war. Wenn er Min getötet hatte... Er wandte sie sanft um.

Dunkle Augen sahen zu ihm auf. »Rand«, hauchte sie. »Du lebst. Ich hatte Angst nachzusehen. Es gab einen furchtbaren Knall, und überall flogen Holzstücke herum, und ich erkannte einen Teil der Kiste und...« Tränen rannen ihre Wangen hinab. »Ich dachte, sie hätten... Ich hatte Angst, du wärst...« Sie rieb sich mit zusammengebundenen Händen übers Gesicht und atmete tief durch. Auch ihre Fußknöchel waren gefesselt. »Wirst du meine Fesseln lösen, Schafhirte, und ein Wegetor von hier fort eröffnen? Oder erspare dir die Mühe, die Fesseln zu lösen. Wirf mich einfach über deine Schulter und geh.«

Er führte geschickt Feuer und trennte damit ihre Fesseln. »Es ist nicht so einfach, Min.« Er kannte diesen Ort nicht. Ein Wegetor, das von hier aus eröffnet wurde, mochte überall hinführen, wenn es überhaupt eröffnet werden konnte. Wenn er überhaupt eines eröffnen konnte. Schmerz und Erschöpfung streifte die Ränder des Nichts. Er wußte nicht, wieviel Macht er beanspruchen konnte. Plötzlich spürte er, wie Saidin in alle Richtungen gelenkt wurde. Durch die Bäume, jenseits brennender Wagen, sah er Aiel gegen Behüter kämpfen und die mit grünen Umhängen bekleideten Soldaten Gawyns, die vom Feuer und den Blitzen der Aes Sedai zurückgedrängt wurden, aber erneut angriffen. Irgendwie hatte Taim ihn gefunden und Asha'man-Soldaten und Aiel mitgebracht. »Ich kann noch nicht gehen. Ich glaube, einige Freunde sind gekommen, um mich zu retten. Mach dir keine Sorgen. Ich werde dich beschützen.«

Ein gezackter Silberblitz zerteilte einen Baum am Rande des Dickichts, nahe genug, daß Rands Haare verwehten. Min schrak zusammen. »Freunde«, murrte sie und rieb sich die Handgelenke.

Er bedeutete ihr zu bleiben, wo sie war — abgesehen von diesem einen fehlgeleiteten Blitz schien das Dickicht unberührt —, aber als er aufstehen wollte, war sie sofort da und stützte ihn auf einer Seite. Während er zu der spärlichen Baumreihe stolperte, war er für ihre Hilfe dankbar, aber dann zwang er sich dazu, sich aufzurichten und sich nicht mehr auf sie zu stützen. Wie konnte sie glauben, daß er sie beschützen würde, wenn er sie brauchte, um nicht hinzufallen? Eine Hand am zerschmetterten Stamm des vom Blitz getroffenen Baumes half. Rauchfäden stiegen von dem Baum auf, aber er hatte kein Feuer gefangen.

Die Wagen bildeten einen großen Kreis um die Bäume. Einige der Diener versuchten, die Pferde zusammenzuhalten — die Gespanne befanden sich noch immer im Geschirr —, aber die meisten hatten sich irgendwo in der Hoffnung hingekauert, dem von oben kommenden Zorn zu entgehen. Tatsächlich schienen alle Blitze außer jenem einen auf die Wagen und die kämpfenden Männer gerichtet gewesen zu sein. Vielleicht auch auf die Aes Sedai. Jede hielt ihr Pferd ein Stück von dem Gewirr der Speere und Schwerter und Flammen zurück, aber nicht allzu weit, und stellte sich manchmal in den Steigbügeln auf, um besser sehen zu können.

Rand entdeckte Erian schnell, schlank und dunkelhaarig, auf einer hellgrauen Stute. Lews Therin grollte, und Rand schlug fast ohne nachzudenken zu. Er spürte unterdessen die Enttäuschung des anderen Mannes. Geist, um sie abzuschirmen, mit einem leisen Widerstand, der anzeigte, daß er durch ihre Verbindung mit Saidar hindurchschnitt, und sobald dies geschehen war, schleuderte sie eine Keule aus Luft bewußtlos aus dem Sattel. Wenn er beschloß, sie zu dämpfen, wollte er sie wissen lassen, wer es tat und warum. Eine der Aes Sedai rief, daß sich jemand um Erian kümmern sollte, aber niemand schaute in Richtung der Bäume. Niemand dort draußen konnte Saidin spüren. Sie dachten, sie sei von den Angreifern gefällt worden.

Sein Blick suchte die anderen berittenen Frauen ab, hielt bei Katerine inne, die ihren langbeinigen, kastanienbraunen Wallach hin und her riß, während Feuer aufflammte, wohin auch immer sie unter den Aiel schaute. Geist und Luft, und sie fiel schlaff zu Boden, ein Fuß noch im Steigbügel verfangen.

Ja, rief Lews Therin lachend aus. Und jetzt Galina. Sie will ich besonders am Boden sehen.

Rand preßte die Augen zusammen. Lews Therin wollte diese drei so sehr stürzen sehen, daß er an nichts anderes denken konnte. Rand wollte ihnen das heimzahlen, was sie ihm angetan hatten, aber der Kampf wurde noch fortgeführt, und Menschen starben, während er bestimmte Aes Sedai jagte. Zweifellos starben auch Töchter des Speers.

Er griff die nächste Aes Sedai, zwanzig Schritte links von Katerine, mit Geist und Luft an, trat dann zu einem anderen Baum und brachte Sarene Nemdahl, bewußtlos und abgeschirmt, zu Fall. Er stolperte mühsam am Rand des Dickichts entlang und schlug immer wieder wie ein Taschendieb zu. Min stützte ihn nicht mehr, obwohl sie ihre Hände noch erhoben hatte, bereit, ihn aufzufangen.

»Sie werden uns sehen«, murrte sie. »Eine von ihnen wird sich umsehen und uns entdecken.«

Galina, grollte Lews Therin. Wo ist sie?

Rand ignorierte ihn, und Min. Coiren fiel zu Boden, sowie zwei weitere, deren Namen er nicht kannte. Er mußte tun, was ihm möglich war.

Die Aes Sedai vermochten nicht zu ergründen, was vor sich ging. Schwestern fielen entlang der Kreismauer aus Wagen eine nach der anderen von ihren Pferden. Jene, die noch bei Bewußtsein waren, streckten sich weiter aus und versuchten, den ganzen Umkreis zu bedecken, während plötzlich Angst ihre Handhabung der Pferde bestimmte. Es mußte etwas von außerhalb sein, aber Aes Sedai fielen, und sie wußten nicht wie oder warum.

Ihre Anzahl schrumpfte, und das begann Wirkung zu zeigen. Weniger Lichtblitze erloschen mitten in der Luft und trafen jetzt häufiger Behüter und Soldaten. Weniger Feuerbälle verschwanden plötzlich oder explodierten, bevor sie die Wagen erreichten. Aiel begannen sich durch die Lücken zwischen den Wagen zu drängen. Wagen wurden umgeworfen. Innerhalb weniger Momente waren überall schwarz verschleierte Aiel, und Chaos herrschte. Rand sah erstaunt zu.

Behüter und Soldaten in grünen Umhängen kämpften in Gruppen gegen Aiel, und Aes Sedai umgaben sich mit Feuerregen. Aber es kämpften auch Aiel gegen Aiel. Männer mit dem scharlachroten Siswai'aman-Stirnband und Töchter des Speers mit den um ihre Arme gebundenen roten Tuchstreifen bekämpften andere Aiel. Cairhienische Speerkämpfer mit glockenförmigen Helmen und Mayener mit roten Brustharnischen befanden sich plötzlich zwischen den Wagen und kämpften sowohl gegen Aiel als auch gegen Behüter. War er doch noch wahnsinnig geworden? Er war sich Mins bewußt, die sich an seinen Rücken drängte und zitterte. Sie war real. Also mußte das, was er sah, auch real sein.

Ungefähr ein Dutzend Aielmänner, jeder so groß wie er oder größer, kamen auf ihn zu. Sie trugen kein Rot. Er beobachtete sie neugierig, bis einer von ihnen einen Schritt vor Rand einen Speer wie eine Keule umgedreht anhob. Rand lenkte die Macht, und Feuer schien überall aus dem Dutzend zu schießen. Verkohlte und verdrehte Körper stürzten zu seinen Füßen.

Plötzlich verhielt Gawyn seinen kastanienbraunen Wallach keine Zehn Schritte vor ihm, ein Schwert in der Hand und zwanzig oder mehr Männer in grünen Umhängen auf Pferden hinter ihm. Sie sahen einander einen Moment an, und Rand betete, daß er Elaynes Bruder nicht verletzen müßte.

»Min«, sagte Gawyn zähneknirschend, »ich kann dich hier herausbringen.«

Sie spähte über Rands Schulter hinweg und schüttelte den Kopf. Sie hielt sich so sehr an ihm fest, daß er glaubte, er könnte sie nicht einmal losbrechen, wenn er es gewollt hätte. »Ich bleibe bei ihm, Gawyn. Elayne liebt ihn.«

Von der Macht erfüllt, konnte Rand die Knöchel des Mannes um das Schwertheft weiß werden sehen. »Jisao«, sagte er tonlos. »Versammelt die Jünglinge. Wir kämpfen uns hier heraus.« Wenn seine Stimme schon vorher tonlos geklungen hatte, wirkte sie jetzt vollkommen abgestorben. »Al'Thor, eines Tages werde ich Euch sterben sehen.« Er bohrte seinem Pferd die Fersen in die Flanken und galoppierte davon, wobei er und die anderen lauthals »Jünglinge!« schrien und sich weitere Männer in grünen Umhängen einen Weg bahnten, um sich ihnen anzuschließen.

Ein Mann in einem schwarzen Umhang trat blitzschnell vor Rand und sah hinter Gawyn her. Der Boden brach in Klumpen aus Feuer und Erde auf, die ein halbes Dutzend Pferde zum Stürzen brachten, als sie die Wagen erreichten. Gawyn schwankte einen Augenblick im Sattel, bevor er den Mann im schwarzen Umhang mit einer Keule aus Luft niederschlug. Rand kannte den hartgesichtigen jungen Mann nicht, der ihn anknurrte, aber der Bursche trug Schwert und Drachen an seinem hohen Kragen und war von Saidin erfüllt.

Taim war im Handumdrehen da und blickte auf den Burschen herab. An seinem Kragen war keine Nadel zu sehen. »Ihr würdet doch den Wiedergeborenen Drachen nicht angreifen, Gedwyn«, sagte Taim gleichzeitig sanft und stahlhart, und der hartgesichtige Mann rappelte sich hoch und salutierte mit der Faust über dem Herzen.

Rand schaute zu der Stelle, wo Gawyn gewesen war, aber er konnte nur eine große Gruppe Männer mit einem Weißen Keiler-Banner sehen, die sich ihren Weg weiter durch die Aiel bahnten, während weitere grün gewandete Männer darum kämpften, sich ihnen anzuschließen.

Taim wandte sich mit diesem unmerklichen Lächeln auf den Lippen an Rand. »Unter den gegebenen Umständen vertraue ich darauf, daß Ihr es mir nicht vorhalten werdet, indem Ihr Euer Kommando über sich bekämpfende Aes Sedai entweiht. Ich hatte Grund, Euch in Cairhien aufzusuchen...« Er zuckte die Achseln. »Ihr seht mitgenommen aus. Ihr werdet mir erlauben...« Das leichte Verziehen seiner Lippen glättete sich wieder, als Rand vor seiner ausgestreckten Hand zurücktrat und Min mit sich zog. Sie klammerte sich fester an ihn denn je.

Lews Therin hatte begonnen, über das Töten zu schwadronieren, wie er es stets tat, wenn Taim auftauchte, redete weitschweifig auf wahnsinnige Art über die Verlorenen und darüber, jedermann zu töten, aber Rand hörte nicht mehr zu, sondern schirmte ihn soweit ab, daß seine Worte nur noch wie das Summen einer Fliege klangen. Es war ein Trick, den er in der Kiste erlernt hatte, als nichts anderes zu tun war, als den Schild zu ertasten und einer Stimme in seinem Kopf zu lauschen, die immer häufiger von Wahnsinn zeugte. Gleichwohl wollte er auch ohne Lews Therin nicht von dem Mann geheilt werden. Er glaubte, daß er ihn töten würde, wenn Taim ihn jemals — wie unschuldig auch immer — mit der Macht berührte.

»Wie Ihr wollt«, sagte der Mann mit der Hakennase verzerrt. »Ich glaube, daß ich das Lager zur Genüge gesichert habe.«

Das schien nur zu wahr. Körper bedeckten den Boden, und nur an wenigen Stellen kämpften innerhalb des Wagenkreises noch einige Männer. Plötzlich bedeckte eine Luftkuppel das ganze Lager, und der Rauch von den Feuern stieg zu einer Öffnung links oben in der Kuppel auf. Es war kein solides Gewebe aus Saidin. Rand konnte sehen, wo einzelne Gewebe aneinandergestoßen waren, um es zu bilden. Er glaubte, daß sich vielleicht zweihundert schwarzgewandete Menschen unter der Kuppel befanden. Ein Blitzhagel und Feuer trafen auf diese Barriere auf und explodierten, ohne Schaden anzurichten. Der Himmel schien zu knistern und zu brennen. Ein beständiges Brüllen erfüllte die Luft. Töchter des Speers mit roten Stoffstreifen um die Arme und Siswai'aman standen entlang der für sie nicht sichtbaren Mauer, zusammen mit Mayenern und Cairhienern, von denen viele ebenfalls zu Fuß waren. Auf der anderen Seite starrte eine gewaltige Menge Shaido die unsichtbare Barriere an, die sie von ihren Feinden fernhielt, hieben hin und wieder mit ihren Speeren darauf ein oder warfen sich leibhaftig dagegen. Die Speere zerbrachen, und die Körper prallten zurück.

Innerhalb der Kuppel erstarben die letzten Kämpfe, noch während Rand hinsah. Unter den Augen weniger rot gekennzeichneter Männer und Töchter des Speers legten die entwaffneten Shaido mit steinernen Gesichtern ihre Gewänder ab. Im Kampf gefangengenommen, würden sie das Gai'shain-Weiß ein Jahr und einen Tag lang tragen, selbst wenn es den Shaido irgendwie gelänge, das Lager zu überrennen. Cairhiener und Mayener stellten Wachen für eine große Ansammlung von zornigen Behütern und Jünglingen sowie ängstlichen Dienern auf. Es waren letztendlich fast genauso viele Bewacher wie Gefangene. Fast ein Dutzend Aes Sedai wurden von einer gleichen Anzahl Asha'man mit Schwertern und dem Drachen abgeschirmt. Die Aes Sedai sahen elend und verängstigt aus. Rand erkannte drei, obwohl Nesune die einzige war, die er mit Namen benennen konnte. Er erkannte keine ihrer Asha'man-Gefangenenwärter. Mehrere der Frauen, die Rand abgeschirmt und bewußtlos gemacht hatten, wurden zu jenen Gefangenen gebracht. Einige von ihnen begannen sich zu regen, während schwarzgewandete Soldaten und Geweihte mit dem Silberschwert am Kragen Saidin benutzten, um andere über den Boden zu ziehen und jenen ersten hinzuzugesellen. Einige von ihnen brachten die beiden bewußtlosen Aes Sedai und die Frau mit dem kantigen Gesicht aus dem Dickicht heraus. Sie schrie noch immer. Als sie der Menschenansammlung zugeführt worden waren, wandten sich einige der Aes Sedai jäh ab und übergaben sich.

Es waren auch noch andere Aes Sedai anwesend, von Behütern umgeben und von schwarzgewandeten Männern bewacht, wenn auch nicht abgeschirmt, die die Asha'man genauso unbehaglich betrachteten wie die bewachten Frauen. Sie sahen auch Rand an und wären mit Sicherheit zu ihm gekommen, wenn die Asha'man nicht gewesen wären. Rand erwiderte ihre Blicke. Alanna war dort. Er hatte nicht halluziniert. Er erkannte nicht alle ihre Begleiter, aber ausreichend viele. Sie waren insgesamt neun. Neun. Jäher Zorn stürmte aus dem Nichts heran, und Lews Therins Fliegengesumm wurde lauter.

Zu diesem Zeitpunkt überraschte es Rand überhaupt nicht mehr, Perrin heranstolpern zu sehen, Gesicht und Bart blutverschmiert, gefolgt von einem humpelnden Loial mit einer riesigen Streitaxt und einem helläugigen Burschen, der in seinem rot gestreiften Umhang wie ein Kesselflicker wirkte, nur daß er ein Schwert trug, dessen Klinge von einem Ende zum anderen dunkelrot verfärbt war. Rand hätte sich fast umgeschaut, um nachzusehen, ob Mat auch irgendwo dort war. Er sah auch Dobraine, zu Fuß und mit einem Schwert in der einen und Rands Banner in der anderen Hand.

Nandera schloß sich Perrin an und ließ ihren Schleier sinken, sowie eine weitere Tochter des Speers, die Rand zunächst fast nicht erkannt hätte. Es war gut, Sulin wieder im Cadin'sor zu sehen.

»Rand«, keuchte Perrin, »dem Licht sei Dank, daß du noch lebst. Wir hatten gehofft, daß du uns ein Wegetor zur Flucht erschaffst, aber alles geriet durcheinander. Rhuarc und die meisten der Aiel sind noch immer draußen unter den Shaido und die Mehrzahl der Mayener und Cairhiener ebenso, und ich weiß nicht, was mit den Leuten von den Zwei Flüssen geschehen ist oder mit den Weisen Frauen. Die Aes Sedai sollten bei ihnen bleiben, aber...« Er stellte seine Streitaxt auf den Boden und lehnte sich keuchend auf den Stiel. Er wirkte, als würde er ohne diese Stütze umfallen.

Berittene Männer erschienen entlang der Barriere sowie Aielmänner mit roten Stirnbändern und Töchter des Speers mit roten Stoffbändern um die Arme. Die Barriere hielt auch sie außerhalb. Wo auch immer sie auftauchten, schwärmten Shaido auf sie ein und umzingelten sie.

»Laß die Kuppel fahren«, befahl Rand. Perrin seufzte vor Erleichterung. Hatte er geglaubt, Rand würde sein eigenes Volk niedermetzeln lassen? Aber auch Loial seufzte. Licht, was dachten sie von ihm? Min begann ihm den Rücken zu reiben und murmelte leise, um ihn zu beruhigen. Aus irgendeinem Grund sah Perrin sie überrascht an.

Taim war vielleicht auch überrascht, aber er war sicherlich nicht erleichtert. »Mein Lord Drache«, sagte er mit angespannter Stimme, »dort draußen sind noch immer mehrere hundert Shaido-Frauen, von denen einige nicht unwichtig sind. Ganz zu schweigen von einigen Tausend Shaido mit Speeren. Falls Ihr nicht herausfinden wollt, ob Ihr unsterblich seid, schlage ich vor, einige Stunden abzuwarten, bis wir diesen Ort gut genug kennen, um Wegetore zu erschaffen, von denen wir mit einiger Sicherheit wissen, wo sie hinführen werden. Es gab im Kampf Verluste. Ich habe heute mehrere Soldaten verloren, neun Männer, die schwerer zu ersetzen sein werden als jegliche Anzahl abtrünniger Aiel. Wer auch immer dort draußen stirbt, stirbt für den Wiedergeborenen Drachen.« Hätte er auch nur ein wenig auf Nandera und Sulin geachtet, hätte er seinen Ton vielleicht gemäßigt und seine Worte sorgfältiger gewählt. Sie verständigten sich in der Zeichensprache. Sie schienen bereit, ihn auf der Stelle anzugreifen.

Perrin richtete sich auf, die gelben Augen gleichzeitig entschlossen und ängstlich auf Rand gerichtet. »Rand, selbst wenn Dannil und die Weisen Frauen dort zurückgeblieben sind, wo sie bleiben sollten, werden sie nicht gehen, solange sie dies sehen.« Er deutete auf die Kuppel über ihnen, auf die Feuer und Blitze einen beständigen Lichtteppich legten. »Wenn wir stundenlang hier bleiben, werden sich die Shaido früher oder später gegen sie wenden, wenn sie es nicht bereits getan haben. Licht, Rand! Dannil und Ban und Wil und Teil... Auch Amys ist dort draußen und Sorilea und... Verdammt seist du, Rand, es sind bereits mehr gestorben, als du weißt!« Perrin atmete tief durch. »Laß zumindest mich hinaus. Wenn ich zu ihnen durchkomme, kann ich sie wissen lassen, daß du lebst, und sie werden sich zurückziehen, bevor sie getötet werden.«

»Zwei von uns werden hinausgehen«, bemerkte Loial ruhig und hob die riesige Streitaxt. »Zwei haben eine bessere Chance.« Der Kesselflicker lächelte nur, aber fast eifrig.

»Ich werde eine Stelle in der Barriere öffnen lassen«, begann Taim, aber Rand unterbrach ihn scharf.

»Nein!« Nicht für die Leute von den Zwei Flüssen. Er durfte nicht den Eindruck erwecken, er würde sich um sie mehr sorgen als um die Weisen Frauen. Vielmehr mußte er den Eindruck erwecken, als würde er sich um sie weniger sorgen. Amys war dort draußen? Die Weisen Frauen nahmen niemals am Kampf teil. Sie schritten unberührt durch Kämpfe und Blutfehden. Sie hatten den Brauch, wenn nicht ein Gesetz gebrochen, um ihn zu retten. Er würde Perrin genauso wenig in diesen Mahlstrom zurückkehren lassen, wie er sie im Stich lassen würde. Aber es durfte nicht für die Weisen Frauen oder die Leute von den Zwei Flüssen sein. »Sevanna will meinen Kopf, Taim. Sie dachte offensichtlich, ihn mir heute nehmen zu können.« Das Nichts verlieh seiner Stimme einen ausdruckslosen Tonfall. Aber er schien Min besorgt zu machen. Sie streichelte seinen Rücken, als wollte sie ihn beruhigen. »Ich beabsichtige, sie ihren Irrtum erkennen zu lassen. Ich befahl Euch, Waffen zu gestalten, Taim. Zeigt mir jetzt, wie tödlich sie sind. Zerstreut die Shaido. Vernichtet sie.«

»Wie Ihr befehlt.« Hatte Taim schon zuvor steif gewirkt, so schien er jetzt versteinert.

»Hißt Eure Standarte, wo sie sie sehen können«, befahl Rand. Das würde zumindest jedermann dort draußen zeigen, wer das Lager hielt. Vielleicht würden sich die Weisen Frauen und die Leute von den Zwei Flüssen zurückziehen, wenn sie es sahen.

Loials Ohren drehten sich unbehaglich, und Perrin ergriff Rands Arm, als Taim davonging. »Ich habe gesehen, was sie tun, Rand. Es ist...« Er klang trotz seines blutverschmierten Gesichts und seiner blutigen Streitaxt angewidert.

»Was willst du von mir?« fragte Rand. »Was kann ich denn anderes tun?«

Perrin senkte seine Hand und seufzte. »Ich weiß es nicht. Aber es muß mir trotzdem nicht gefallen.«

»Grady, hißt das Banner des Lichts!« rief Taim, und die Macht ließ seine Stimme dröhnen. Jur Grady hob das karmesinrote Banner auf Strängen aus Luft aus den Händen eines überraschten Dobraine an und ließ es durch die Öffnung in der Kuppel aufsteigen. Feuer loderte um es herum auf, und Blitze zuckten, während sich strahlendes Rot mitten in dem Rauch erhob, der von den brennenden Wagen aufstieg. Rand erkannte einige der schwarzgewandeten Männer, aber er wußte außer Jurs nur wenige Namen. Damer und Fedwin und Eben, Jahar und Torvil. Von jenen trug nur Torvil den Drachen am Kragen.

»Asha'man, bildet eine Kampflinie!« dröhnte Taim.

Schwarzgewandete Männer eilten herbei, um sich zwischen die Barriere und alle anderen zu stellen, alle außer Jur und jenen, welche die Aes Sedai bewachten. Außer Nesune, die alles aufmerksam verfolgte, waren die Aes Sedai der Burg teilnahmslos auf die Knie gesunken und sahen die Männer nicht einmal an, die sie abschirmten, und sogar Nesune wankte, als würde sie jeden Moment aufgeben. Die meisten der Gruppe aus Salidar sahen die sie bewachenden Asha'man kalt an, obwohl sie ihre eisigen Blicke auch hin und wieder Rand zuwandten. Alanna fixierte Rand, der merkte, daß seine Haut leicht kribbelte. Da er es auf diese Entfernung spüren konnte, mußten alle neun Saidar umarmen. Er hoffte, sie besäßen genug Verstand, die Macht nicht zu lenken. Die versteinerten Männer, die ihnen gegenüberstanden, waren bis zum Bersten von Saidin erfüllt, und sie wirkten genauso angespannt wie die ihre Schwerter umklammernden Behüter.

»Asha'man, hebt die Barriere zwei Spann an!« Auf Taims Befehl hin hoben sich die Ränder der Kuppel ringsum an. Überraschte Shaido, die gegen das Unsichtbare angegangen waren, stolperten vorwärts. Sie erholten sich sofort wieder von ihrer Verblüffung, eine schwarz verschleierte, vorwärtsstürmende Masse, aber sie konnten vor Taims nächstem Ruf nur noch einen Schritt tun. »Asha'man, tötet!«

Die vordere Reihe der Shaido explodierte. Anders konnte man es nicht nennen. In den Cadin'sor gekleidete Gestalten zerplatzten auf und versprühten Blut und Hautfetzen. Stränge Saidins erstreckten sich durch diesen dichten Nebel, schossen im Handumdrehen von Gestalt zu Gestalt, und die nächste Reihe Shaido starb, und dann die nächste und die nächste, als liefen sie in einen gewaltigen Fleischwolf. Rand beobachtete das Gemetzel und schluckte. Perrin beugte sich zur Seite, um sich zu übergeben, und Rand konnte ihn vollkommen verstehen. Eine weitere Reihe Shaido starb. Nandera legte eine Hand über die Augen, und Sulin wandte der Szene den Rücken zu. Die blutigen Überreste menschlicher Wesen türmten sich allmählich zu einem Wall.

Niemand konnte dem standhalten. Zwischen einem Todessturm und dem nächsten kämpften sich die Shaido in der ersten Reihe plötzlich in die andere Richtung, zwängten sich rückwärts in die kämpfende Masse, um zu entkommen. Dann begann auch das mahlende Gewirr in sich zu explodieren, und alle fielen zurück. Nein, liefen zurück. Der Regen aus Feuer und Blitzen gegen die Kuppel versiegte.

»Asha'man«, dröhnte Taims Stimme, »der zermalmende Ring aus Erde und Feuer!«

Unter den Füßen der den Wagen am nächsten stehenden Shaido brach die Erde plötzlich in Flammen- und Erdfontänen auf und schleuderte die Menschen in alle Richtungen. Während die Körper noch in der Luft hingen, brüllten weitere Feuerklumpen aus dem Boden in einem sich ausbreitenden Ring rund um die Wagen herum und verfolgten die Shaido fünfzig, einhundert, zweihundert Schritte weit. Nur Panik und Tod waren jetzt noch dort draußen. Speere und Schilde wurden beiseite geworfen, und Rauch stieg von den brennenden Wagen in die deutlich erkennbare Kuppel.

»Halt!« Das Dröhnen der Explosionen verschluckte Rands Ruf ebenso leicht wie die Schreie der Menschen. Er wob die Stränge, die auch Taim benutzt hatte. »Macht dem ein Ende, Taim!« Seine Stimme krachte wie Donner.

Ein weiterer Ring von Eruptionen, und dann rief Taim: »Asha'man, haltet ein!«

Einen Moment schien betäubende Stille die Luft zu erfüllen. Rands Ohren klangen. Dann hörte er Schreie und Stöhnen. Verwundete erhoben sich aus den Haufen Toten. Shaido liefen davon und ließen verstreute Ansammlungen von Siswai'aman und Töchtern des Speers mit roten Stoffstreifen, Cairhiener und Mayener, einige noch zu Pferde, hinter sich. Fast zögernd begannen sich jene auf die Wagen zuzubewegen, und einige Aiel senkten ihre Schleier. Mit Hilfe der Macht, die sein Sehvermögen steigerte, konnte Rand Rhuarc ausmachen, der hinkte und dessen einer Arm herabhing, der aber aufrecht ging. Ein gutes Stück hinter ihm befand sich eine große Gruppe Frauen in dunklen, weiten Röcken und hellen Blusen, mit einer Eskorte von Männern in der Kleidung seiner Heimat, die lange Bogen trugen. Sie waren zu weit entfernt, als daß er Gesichter hätte erkennen können, aber der Art nach zu urteilen, wie zumindest die Leute von den Zwei Flüssen den fliehenden Shaido hinterhersahen, waren sie genauso betäubt wie alle anderen.

Unendliche Erleichterung durchströmte Rand, obwohl sie nicht genügte, das Rumoren in seinem Magen zu besänftigen. Min preßte ihr Gesicht an sein Hemd. Sie weinte. Er streichelte ihr Haar. »Asha'man« —er war noch niemals froher darüber gewesen als jetzt, daß das Nichts seine Stimme aller Empfindungen beraubte —, »Ihr habt Eure Sache gut gemacht. Ich gratuliere Euch, Taim.« Er wandte sich ab, damit er das Blutbad nicht mehr ansehen mußte, und hörte die Hochrufe »Lord Drache!« und »Asha'man!« kaum, die von den schwarzgewandeten Männern erschollen.

Als er sich umwandte, sah er Aes Sedai. Merana war noch recht weit zurück, aber Alanna stand fast von Angesicht zu Angesicht vor ihm, neben zwei Aes Sedai, die er nicht erkannte.

»Ihr habt Eure Sache gut gemacht«, sagte diejenige mit dem kantigen Gesicht. Eine Bäuerin mit alterslosem Gesicht und nur mühsam gelassenem Blick, die die Asha'man um sich herum offensichtlich ignorierte. »Ich bin Bera Harkin, und dies ist Kiruna Nachiman. Wir sind gekommen, um Euch zu retten — mit Alannas Hilfe...« Letzteres war zweifellos auf Alannas plötzliches Stirnrunzeln hinzugefügt worden. »...Obwohl es scheint, als hättet Ihr uns kaum gebraucht. Dennoch, die Absicht zählt, und...«

»Euer Platz ist bei ihnen«, sagte Rand und deutete auf die abgeschirmten Aes Sedai unter Bewachung. Er zählte dreiundzwanzig, und Galina war nicht bei ihnen. Das Gesumm Lews Therins schwoll an, aber Rand weigerte sich zuzuhören. Jetzt war nicht die Zeit für wahnsinniges Wüten.

Kiruna richtete sich stolz auf. Was auch immer sie war, sie war gewiß keine Bäuerin. »Ihr vergeßt, wer wir sind. Sie haben Euch vielleicht mißhandelt, aber...«

»Ich vergesse nichts, Aes Sedai«, erwiderte Rand kalt. »Ich sagte, sechs sollten kommen, aber ich zähle neun. Ich sagte, Ihr stündet auf gleicher Ebene mit den Aes Sedai der Burg, und weil ihr neun mitgebracht habt, wird es auch so sein. Sie knien, Aes Sedai. Also kniet Euch ebenfalls hin!«

Kalte Augen sahen ihn an. Er spürte, wie die Asha'man Schilde aus Geist vorbereiteten. Auf Kirunas und Beras Gesicht und auf den Gesichtern anderer wurde Trotz sichtbar. Zwei Dutzend schwarzgekleidete Männer bildeten einen Kreis um Rand und die Aes Sedai.

Taims Miene kam einem Lächeln näher, als Rand es jemals zuvor bei ihm gesehen hatte. »Kniet nieder und verschwört Euch dem Lord Drache«, sagte er sanft, »sonst wird man Euch auf die Knie zwingen.«

Wie es bei Geschichten üblich ist, verbreitete sich auch diese Geschichte in Windeseile über Cairhien und nördlich und südlich davon, durch die Züge der Kaufleute und durch Händler und einfaches Gerede der Reisenden in den Gasthäusern. Wie es bei Geschichten üblich ist, änderte sich auch diese Geschichte bei jedem neuerlichen Erzählen. Die Aiel hatten den Wiedergeborenen Drachen angegriffen und ihn getötet, bei den Quellen Dumais oder anderswo. Aes Sedai hatten ihn getötet — nein, ihn gedämpft —nein, ihn nach Tar Valon gebracht, wo er in einem Verlies unter der Weißen Burg dahinsiecht. Oder auch, wo der Amyrlinsitz vor ihm niederkniet. Für Geschichten unüblich war allerdings, daß am häufigsten geglaubt wurde, was der Wahrheit am nächsten kam.

An einem Tag voller Feuer und Blut wehte ein zerrissenes Banner über den Quellen von Dumai, mit dem uralten Symbol der Aes Sedai.

An einem Tag voller Feuer und Blut und der Einen Macht beugte die makellose, gespaltene Burg, wie es die Prophezeiung vorausgesagt hatte, das Knie vor dem vergessenen Zeichen.

Die ersten neun Aes Sedai schworen dem Wiedergeborenen Drachen Treue, und die Welt war für immer verändert.

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