31 Rotes Wachs

Der Klang der Hufe des Wallachs wurde im Lärm Amadors fast verschluckt, als Eamon Valda langsam durch die bevölkerten Straßen ritt. Schweiß drang ihm aus jeder Pore, um so mehr, als er einen Kettenpanzer und eine Brustplatte trug, die trotz einer Staubschicht schimmerten, und einen schneeweißen Umhang, der über die kräftigen Flanken des Wallachs gebreitet war, und doch hätte man bei seinem Anblick an einen schönen Frühlingstag denken können. Er bemühte sich redlich, die schmutzigen Männer und Frauen und sogar die Kinder mit dem verlorenen Gesichtsausdruck und der vom Reisen in Mitleidenschaft gezogenen Kleidung nicht zu beachten. Sogar hier!

Zum ersten Mal in seinem Leben begeisterten ihn die Steinmauern der Festung des Lichts nicht, die hoch aufragten und mit Bannern versehen warten und uneinnehmbar schienen, das Bollwerk der Wahrheit und des Rechts. Er stieg im Haupthof ab, übergab einem Kind die Zügel und erteilte mit heiserer Stimme Anweisungen für die Pflege des Tieres. Der Mann wußte natürlich, was zu tun war, aber Valda war danach zumute, jemanden anzuschreien. Männer mit weißen Umhängen eilten trotz der Hitze übereifrig umher. Er hoffte, daß es nicht nur Zurschaustellung war.

Der junge Dain Bornhald kam über den Hof und preßte die Faust in eifriger Begrüßung auf seine mit einem Kettenpanzer geschützte Brust. »Das Licht erleuchte Euch, mein Lordhauptmann. Hattet Ihr einen guten Ritt von Tar Valon?« Seine Augen waren blutunterlaufen, und Branntweingeruch schwebte von ihm heran. Es war unentschuldbar, am Tage zu trinken.

»Zumindest einen schnellen Ritt«, grollte Valda, riß seine Panzerhandschuhe herunter und stopfte sie hinter seinen Schwertgürtel.

Es war nicht der Branntwein, obwohl er es sich in bezug auf diesen Mann merken würde. Die Reise war für diese Entfernung zügig verlaufen. Er beabsichtigte, der Legion als Belohnung einen freien Abend in der Stadt zu gönnen, wenn sie das Lager draußen fertig errichtet hätte. Eine schnelle Reise, aber er mißbilligte die Befehle, die ihn gerade in dem Moment zurückberiefen, als ein starker Vorstoß die angeschlagene Burg vielleicht gestürzt und die Hexen unter dem Schutt begraben hätte. Ein bemerkenswerter Ritt, auch wenn jeder Tag schlimmere Nachrichten gebracht hatte. Al'Thor in Caemlyn. Es war eigentlich nicht wichtig, ob der Mann ein Betrüger oder der richtige Drache war. Er konnte die Macht lenken, und jedermann, der das konnte, mußte ein Schattenfreund sein. Drachenverschworener Pöbel in Altara. Dieser sogenannte Prophet und sein Abschaum in Ghealdan und selbst in Amadicia.

Es war ihm zumindest gelungen, einen Teil des Pöbels zu töten, obwohl es schwer war, gegen Feinde zu kämpfen, die nur zu oft dahinschwanden als aufrechtzustehen, die mit ihren verdammten Fluchtsträngen verschmelzen konnten und — noch schlimmer —geistlose Wanderer, die anscheinend glaubten, al'Thor hätte alle Ordnung umgekehrt. Er hatte jedoch eine Lösung gefunden, wenn auch keine vollkommen zufriedenstellende Lösung. Die Straßen, die seine Legion passiert hatte, waren jetzt übersät und die Raben bis zum Bersten satt. Wenn man den Pöbel des Propheten schon nicht vom Flüchtlingspöbel unterscheiden konnte, nun, dann mußte man jedermann töten, der im Weg stand. Die Unschuldigen hätten in ihren Häusern bleiben sollen, wo sie hingehörten. Der Schöpfer würde sie ohnehin schützen. Seiner Meinung nach waren die Wanderer überflüssig.

»Ich habe in der Stadt gehört, Morgase sei hier«, sagte er. Er glaubte es nicht — jedes zweite Wort in Andor hatte von Vermutungen darüber gehandelt, wer Morgase getötet hätte —, und daher war er überrascht, als Dain nickte.

Die Überraschung wurde zu Widerwillen, als der junge Mann von Morgases Unterbringung zu schwärmen begann und darüber, wie gut sie behandelt wurde und wie zuversichtlich sie war, jeden Moment einen Vertrag mit den Kindern zu unterzeichnen. Valda runzelte offen die Stirn. Er hätte von Niall nichts Besseres erwarten sollen. Der Mann war zu seiner Zeit einer der besten Soldaten gewesen und galt als großer Hauptmann, aber er wurde bereits alt und verweichlichte. Valda hatte das erkannt, sobald seine Befehle Tar Valon erreicht hatten. Niall hätte beim ersten Word al'Thors Tear kraftvoll angreifen sollen. Er hätte alle Soldaten um sich versammeln sollen, die er auf dem Marsch brauchte. Die Völker hätten sich gegen einen falschen Drachen um die Kinder geschart. Damals hätten sie es getan. Jetzt war al'Thor in Caemlyn, und er war stark genug, die Kleinmütigen zu ängstigen. Aber Morgase war hier. Wenn er Morgase hatte, würde sie jenen Vertrag am ersten Tag unterzeichnen, und wenn jemand ihre Hand mit dem Stift führen müßte. Beim Licht, er würde sie lehren zu springen, wenn er sagte, spring. Wenn sie davor scheute, mit den Kindern nach Andor zurückzukehren, würde er sie mit den Handgelenken an einen Stock binden. Das wäre das richtige Banner für den Vorstoß auf Andor.

Dain schwieg schließlich und wartete. Er hoffte zweifellos auf eine Einladung zum Essen für diesen Abend. Er konnte den ihm vorstehenden Offizier nicht selbst einladen, aber er hoffte zweifellos, mit seinem alten Befehlshaber über Tar Valon und vielleicht sogar über seinen verstorbenen Vater sprechen zu können. Valda hatte nicht sehr viel von Geofram Bornhald gehalten. Der Mann war zu schwächlich gewesen. »Ich sehe Euch um sechs Uhr zum Essen im Lager. Ich möchte Euch nüchtern sehen, Kind Bornhald.«

Bornhald war eindeutig angetrunken. Er sperrte den Mund auf und stotterte etwas, bevor er salutierte und davonging. Valda fragte sich, was geschehen war. Dain war ein ausgezeichneter junger Offizier gewesen. Jemand, der sich zu viele Gedanken über Feinheiten machte, wie beispielsweise den Beweis einer Schuld zu erbringen, wenn es dafür keine Möglichkeit gab, aber er war dennoch ein ausgezeichneter Offizier gewesen. Nicht so schwach wie sein Vater. Es war bedauerlich zu sehen, daß er sich an den Branntwein verschwendete.

Leise vor sich hinmurmelnd — der Umstand, daß Offiziere inmitten der Festung des Lichts tranken, war ein weiteres Zeichen dafür, daß Niall den Kern erschütterte —, suchte Valda sein Quartier auf. Er beabsichtigte, im Lager zu schlafen, aber ein heißes Bad wäre nicht zu verachten.

Ein breitschultriges junges Kind näherte sich ihm in dem einfachen Steingang, den scharlachroten Hirtenstab der Hand des Lichts hinter der flammenden goldenen Sonne auf seiner Brust. Ohne anzuhalten oder Valda auch nur anzusehen, murmelte der Zweifler respektvoll: »Mein Lordhauptmann wünscht vielleicht, die Kuppel der Wahrheit zu sehen.«

Valda sah den Mann stirnrunzelnd an — er mochte Zweifler nicht. Sie leisteten auf ihre Art gute Arbeit, aber er konnte sich niemals des Gefühls erwehren, daß sie den Stab trugen, weil sie auf diese Weise niemals einem bewaffneten Feind gegenübertreten mußten; er wollte gerade die Stimme erheben, um den Burschen auszuschimpfen, hielt dann aber inne. Zweifler nahmen es mit der Disziplin nicht sehr genau, aber ein einfaches Kind würde niemals unangemessen mit einem Lordhauptmann sprechen. Vielleicht konnte das Bad noch warten.

Die Kuppel der Wahrheit war ein Wunder, das letztendlich einen Teil seines innersten Wesens wiederherstellte. Von außen rein weiß, spiegelte im Inneren Blattgold das Licht von tausend Hängelampen wieder. Dicke weiße Säulen umstanden den Raum, schlicht und glänzend poliert, aber die Kuppel selbst erstreckte sich über dem einfachen weißen Marmorpodest mitten auf dem weißen Marmorboden — wo der Lordhauptmann der Kinder des Lichts stand, um in ihren feierlichsten Momenten, bei ihren ernsthaftesten Zeremonien, zu den versammelten Kindern des Lichts zu sprechen —, hundert Schritt im Durchmesser und in fünfzig Schritt Höhe ungestützt bis zur Spitze. Eines Tages würde er dort stehen. Niall würde nicht ewig leben.

Dutzende von Kindern wanderten in dem riesigen Raum umher — es war ein sehenswerter Anblick, obwohl niemand außer den Kindern es natürlich jemals sah —, doch diese Nachricht war nicht gekommen, so daß er die Kuppel bewundern konnte. Er war sich dessen sicher. Hinter den großen Säulen verliefen Reihen kleinerer Säulen, die genauso schlicht und glatt poliert waren, und es gab hohe Nischen, in denen Szenen der Triumphe der Kinder während tausend Jahren festgehalten waren. Valda schlenderte umher und schaute in jede Nische. Schließlich sah er einen großen, bereits ergrauten Mann eines der Gemälde betrachten: Serenia Latar, die am Galgen geendet war, die einzige Amyrlin, die die Kinder jemals hatten hängen können. Sie war natürlich bereits tot gewesen, da lebende Hexen schwer gehängt werden können, aber das war unwichtig. Vor hundertdreiundneunzig Jahren war Gerechtigkeit dem Gesetz entsprechend vollzogen worden.

»Seid Ihr besorgt, mein Sohn?« Die Stimme klang sanft, fast milde.

Valda versteifte sich kaum merklich. Rhadam Asunawa war vielleicht der Hochinquisitor, aber er war auch immer noch ein Zweifler. Und Valda war ein Lordhauptmann, Gesalbter des Lichts, nicht ›mein Sohn‹. »Nicht, daß ich wüßte«, sagte er tonlos.

Asunawa seufzte. Sein hageres Gesicht war ein Bild gequälten Leidens, so daß man seinen Schweiß vielleicht auch für Tränen hätte halten können, aber seine tiefliegenden Augen schienen vor der Hitze zu brennen, die alles überflüssige Fleisch fortgebrannt hatte. Sein Umhang wies nur den Hirtenstab auf, keine flammende goldene Sonne, als stünde er außerhalb der Kinder. Oder vielleicht darüber. »Es herrschen besorgniserregende Zeiten. Die Festung des Lichts beherbergt eine Hexe.«

Valda versagte sich gerade noch einen schiefen Blick. Ob sie nun Feiglinge waren oder nicht — Zweifler konnten auch einem Lordhauptmann gefährlich werden. Der Mann könnte vielleicht niemals eine Amyrlin hängen, aber er träumte wahrscheinlich davon, der erste zu sein, der eine Königin hängte. Valda kümmerte es nicht, ob Morgase starb, vorausgesetzt es geschah nicht, bevor sie ihren Zweck erfüllt hatte. Er schwieg, und Asunawa zog seine dichten grauen Augenbrauen hoch, bis er aus den Augenhöhlen zu spähen schien.

»Es herrschen besorgniserregende Zeiten«, wiederholte er, »und Niall sollte nicht erlaubt werden, die Kinder des Lichts zu vernichten.«

Valda betrachtete einige Minuten lang das Gemälde. Vielleicht war der Künstler ein guter Maler gewesen, vielleicht aber auch nicht. Er wußte nichts von solchen Dingen, und sie kümmerten ihn auch nicht. Der Bursche trug jedoch die Waffen und Rüstung der Wachen, und sie wirkten echt. Von diesen Dingen verstand er etwas. »Ich bin bereit zuzuhören«, sagte er schließlich.

»Dann werden wir miteinander sprechen, mein Sohn. Später, wenn nur noch wenige Augen zusehen und wenige Ohren zuhören werden. Das Licht erleuchte dich, mein Sohn.« Asunawa schritt ohne ein weiteres Wort davon. Sein weißer Umhang bauschte sich leicht, und das Geräusch seiner Stiefel hallte wider, als versuche er, jeden Schritt in den Stein hineinzutreiben. Einige der Kinder verbeugten sich, als er vorüberging.

Niall beobachtete aus einem schmalen Fenster hoch über dem Hof, wie Valda abstieg, mit dem jungen Bornhald sprach und dann zornig davonschritt Valda war stets zornig. Hätte eine Möglichkeit bestanden, die Kinder von Tar Valon nach Hause zu bringen und Valda hierzu lassen, hätte Niall sie sofort ergriffen. Der Mann war ein guter Befehlshaber in der Schlacht, aber er war noch geeigneter, Pöbel zu erheben. Er verstand unter Taktik Angriff, und unter Strategie ebenfalls.

Niall schritt kopfschüttelnd zu seinem Audienzraum. Er hatte Wichtigeres zu bedenken als Valda. Morgase widerstand noch immer wie ein mit Proviant und einer hohen Moral ausgerüstetes Heer auf einer Anhöhe. Sie weigerte sich einzugestehen, daß sie einen Talboden ohne Ausweg hielt, und ihr Feind die Anhöhen besetzte.

Balwer stand vom Tisch auf, als Niall den Vorraum betrat. »Omerna war hier, mein Lord. Er hat dies für Euch zurückgelassen.« Balwer deutete auf ein Bündel Papiere auf dem Tisch mit einem roten Band darum, »Und dies.« Er preßte die dünnen Lippen zusammen, während er eine kleine Knochenröhre aus der Tasche zog.

Niall nahm die Röhre brummend entgegen und stapfte in den inneren Raum. Omerna wurde aus irgendeinem Grund mit jedem Tag nutzloser. Es war schon schlimm genug, daß er seine Berichte bei Balwer hinterließ, unsinnig wie sie waren, aber selbst Omerna wußte es besser, daß er eine dieser Röhren mit den drei roten Streifen niemand anderem als Niall persönlich übergeben sollte. Er hielt die Röhre nahe an eine Lampe und betrachtete das Wachs. Das Siegel war ungebrochen gewesen, bevor er es mit dem Daumennagel durchbohrte. Er würde Omerna einschüchtern, die Angst vor dem Licht in ihn einpflanzen müssen. Der Narr war kein guter Lockvogel, es sei denn, er spielte, soweit es ihm möglich war, den vollendeten Meisterspion.

Die Nachricht kam wiederum von Varadin, in Nialls persönlichem Code — ein wirres, spinnenartiges Gekritzel auf einem dünnen Streifen Papier. Er hätte sie fast ungelesen verbrannt, aber dann erweckte etwas seine Aufmerksamkeit. Er las sie von Anfang an und achtete bewußt auf den Code. Er wollte vollkommen sicher sein. Die Nachricht beinhaltete, genau wie zuvor, Geschwätz über gegängelte Aes Sedai und seltsame Bestien, aber ganz am Schluß... Varadin hatte Asidim Faisar geholfen, in Tanchico ein Versteck zu finden. Er würde versuchen, Faisar hinauszuschmuggeln, aber die Ahnen wachten so gut, daß nicht einmal ein Flüstern ohne Erlaubnis aus den Mauern hinausgelangte.

Niall rieb sich nachdenklich das Kinn. Faisar war einer jener Männer, die er nach Tarabon gesandt hatte, um herauszufinden, ob noch etwas zu retten war. Faisar wußte nichts von Varadin, und Varadin sollte nichts von Faisar wissen. Die Ahnen wachten so gut, daß nicht einmal ein Flüstern nach draußen gelangte. Das Gekritzel eines Verrückten.

Er stopfte das Papier in seine Tasche und kehrte in den Vorraum zurück. »Balwer, welche Nachrichten gibt es aus dem Westen?« So bezeichneten sie stets die Grenze zu Tarabon.

»Keine Neuigkeiten, mein Lord. Spähtrupps, die sehr weit nach Tarabon vordringen, kehren nicht zurück. Das größte Problem nahe der Grenze ist, daß Flüchtlinge hinüberzugelangen versuchen.«

Die Patrouillen waren zu weit vorgedrungen.

Tarabon war eine Grube voller Giftschlangen und tollwütiger Ratten, aber... »Wie schnell könntet Ihr einen Boten nach Tanchico bringen?«

Balwer blinzelte nicht einmal. Der Mann würde auch keine Überraschung zeigen, wenn eines Tages sein Pferd zu ihm spräche. »Es dürfte schwierig sein, frische Pferde zu bekommen, wenn er die Grenze erst überschritten hat, mein Lord. Normalerweise würde ich sagen, zwanzig Tage hin und zurück, vielleicht etwas weniger. Jetzt, mit Glück, doppelt so lange. Vielleicht doppelt so lange, um Tanchico zu erreichen.« Eine Grube, die einen Boten verschlingen könnte, ohne auch nur einen Knochen übrigzulassen.

Eine Rückkehr würde notwendig sein, aber das behielt Niall für sich. »Laßt es vorbereiten, Balwer. Ich werde in einer Stunde einen Brief bereithalten. Ich werde selbst mit dem Boten sprechen.« Balwer neigte zustimmend den Kopf, aber er fühlte sich gleichzeitig beleidigt. Sollte er doch. Es bestand eine kleine Chance, dies durchzuführen, ohne Varadin bloßzustellen. Es war natürlich eine unnötige Vorsichtsmaßnahme, wenn er verrückt war, aber wenn nicht ... Ihn zu verraten, würde nichts beschleunigen.

Als er in den Audienzraum zurückgekehrt war, las Niall Varadins Nachricht erneut, bevor er den Papierstreifen in die Flamme einer Lampe hielt und zusah, wie er Feuer fing. Er zerrieb die Asche zwischen den Fingern.

Er beherzigte bei seinem Vorgehen und bezüglich Informationen vier Regeln: Plane niemals etwas, ohne soviel wie möglich über deinen Feind zu wissen. Scheue dich niemals, deine Pläne zu ändern, wenn du neue Informationen erhältst. Glaube niemals, alles zu wissen. Und warte niemals darauf, alles zu erfahren. Der Mann, der darauf wartete, alles zu erfahren, saß noch immer in seinem Zelt, wenn der Feind es über seinem Kopf niederbrannte. Niall befolgte jene Regeln. Er hatte sie nur einmal in seinem Leben außer acht gelassen, um einer Ahnung zu folgen. In Jhamara hatte er, aus keinem anderen Grund als einem Kribbeln im Hinterkopf, ein Drittel seines Heers Berge begutachten lassen, die alle für unpassierbar hielten. Während er seine restlichen Kräfte gegen die Murandianer und die Altarener geführt hatte, drang ein illianisches Heer, das hundert Meilen entfernt sein sollte, aus jenen angeblich unpassierbaren Pässen hervor. Der einzige Grund, warum es ihm gelang, sich zurückzuziehen, ohne zerschlagen zu werden, war dieses unbestimmte Gefühl. Und jetzt verspürte er dieses Kribbeln erneut.

»Ich traue ihm nicht«, sagte Tallanvor fest. »Er erinnert mich an einen jungen Burschen mit unschuldigem Gesichtsausdruck, den ich einmal auf einem Jahrmarkt gesehen habe und der dir in die Augen sehen und grinsen konnte, während er dir den Stuhl unter dem Hintern wegstahl.«

Morgase hatte zum ersten Mal keine Schwierigkeiten, ihr Temperament im Zaum zu halten. Der junge Paitr hatte berichtet, daß sein Onkel einen Weg gefunden hätte, sie aus der Festung des Lichts herauszuschmuggeln, sie und die anderen. Die anderen waren das Problem gewesen, Torwyn Barshaw hatte schon lange behauptet, er könnte sie allein hinausbringen, aber sie wollte die anderen nicht in der Willkür der Weißmäntel zurücklassen. Nicht einmal Tallanvor.

»Ich werde Eure Gefühle berücksichtigen«, sagte sie nachsichtig. »Aber laßt Euch nicht von ihnen behindern. Wißt Ihr ein passendes Sprichwort, Lini? Etwas für den jungen Tallanvor und seine Gefühle?« Licht, warum hatte sie ein solches Vergnügen daran, ihn zu verspotten? Er beging fast einen Treubruch, aber sie war seine Königin und nicht... Der Gedanke wollte nicht fortgeführt werden.

Lini saß nahe den Fenstern und wickelte ein Knäuel aus blauem Garn von dem Strang auf, den Breane über den Händen hielt. »Paitr erinnert mich an diesen jungen Stallburschen, unmittelbar bevor Ihr zur Weißen Burg gingt. Derjenige, der zwei Mägde geschwängert hat und dann erwischt wurde, als er sich mit einem Sack voller Tafelsilber Eurer Mutter aus dem Palast schleichen wollte.«

Morgase preßte die Kiefer zusammen, aber nichts konnte ihr Vergnügen verderben, nicht einmal der Blick, den Breane ihr zuwarf, als sollte es ihr erlaubt sein, auch ihre Meinung zu sagen. Paitr war bei Morgases unmittelbar bevorstehender Flucht außer sich vor Freude gewesen. Natürlich erwartete er für seinen Anteil daran anscheinend eine Belohnung von seinem Onkel — zumindest ließen einige seiner Bemerkungen über das Wiedergutmachen eines zu Hause begangenen Fehlers darauf schließen —, aber der junge Mann tanzte fast vor Freude, als sie dem Plan zustimmte, der sie alle heute aus der Festung und morgen bei Sonnenaufgang aus Amador herausbringen würde. Fort von Amador und auf den Weg nach Ghealdan, wo keine Soldaten mit Stricken drohten, um sie an Andor zu fesseln. Vor zwei Tagen war Barshaw selbst gekommen, um den Plan zu erläutern —als Krämer verkleidet, der Stricknadeln und Garn lieferte, ein untersetzter Mann mit großer Nase, cholerischem Blick und einem höhnisch verzogenen Mund, der jedoch ausreichend respektvoll sprach. Es war schwer zu glauben, daß er Paitrs Onkel war — sie sahen einander überhaupt nicht ähnlich —, und noch weniger, daß er ein Händler war. Dennoch war sein Plan bewundernswert einfach — wenn er auch kaum gewürdigt wurde —, und setzte nur ausreichend viele Menschen außerhalb der Festung des Lichts voraus. Morgase würde die Festung des Lichts in einem Karren unter einer Wagenladung Küchenabfälle verlassen.

»Nun, Ihr wißt alle, was zu tun ist«, belehrte sie ihr Gefolge. Solange sie selbst sich in ihren Räumen aufhielt, konnten sich die anderen verhältnismäßig frei bewegen. Davon hing alles ab. Nun, nicht alles, aber sicherlich die Flucht aller außer ihrer eigenen. »Lini, Ihr und Breane müßt Euch im Waschhof aufhalten, wenn die Glocke erklingt.« Lini nickte willfährig, aber Breane sah sie mit geschürzten Lippen an. Sie hatten dies schon zwanzig Mal durchgesprochen. Dennoch würde Morgase keinen Fehler zulassen, der bewirken würde, daß jemand zurückgelassen werden müßte. »Tallanvor, Ihr werdet Euer Schwert hierlassen und bei einem Gasthaus namens Eiche und Dom warten.« Er öffnete den Mund, aber sie kam ihm entschlossen zuvor. »Ich habe Eure Argumente gehört. Ihr könnt ein anderes Schwert finden. Sie werden glauben, daß Ihr zurückkehren wollt, wenn Ihr es hierlaßt.« Er verzog das Gesicht, nickte aber schließlich. »Lamgwin wird am Goldenen Haupt warten und Basel am...«

Ein hastiges Klopfen an der Tür, und sie öffnete sich weit genug, um Basels kahl werdenden Kopf freizugeben. »Meine Königin, da ist ein Mann ... ein Kind...« Er schaute über die Schulter in den Gang. »Da ist ein Zweifler, meine Königin.« Tallanvors Hände sanken zu seinem Schwertheft, und er würde sie nicht eher fortnehmen, bis sie es ihm zwei Mal bedeutet und ihn entsprechend angesehen hätte.

»Laßt ihn herein.« Es gelang ihr, die Stimme ruhig zu halten, aber fuchsgroße Schmetterlinge flatterten unruhig in ihrem Bauch. Ein Zweifler? Wurde alles, was plötzlich so gut verlaufen war, genauso plötzlich zu einer Katastrophe?

Ein großer, hakennasiger Mann schob Basel aus dem Weg und schloß die Tür dann vor seiner Nase. Der weiß-goldene Wappenrock mit dem karmesinroten Hirtenstab an der Schulter wies ihn als Inquisitor aus. Sie war Einor Saren noch nicht begegnet, aber er war ihr beschrieben worden. Sein Gesicht zeugte von unerschütterlicher Selbstgewißheit »Der Lordhauptmann will Euch sehen«, sagte er kalt. »Ihr werdet jetzt mitkommen.«

Morgases Gedanken rasten schneller als die Schmetterlinge. Sie war daran gewöhnt, gerufen zu werden — Niall kam nicht mehr zu ihr, seit er sie in der Festung wußte —, vor den Mann gerufen zu werden, um eine weitere Lektion über ihre Pflichten gegenüber Andor zu erhalten oder zu einem sogenannten freundlichen Gespräch, das ihr zeigen sollte, daß Niall in ihrem und Andors bestem Interesse handelte. Daran war sie gewöhnt, aber nicht an diese Art Boten. Wenn sie den Zweiflern übergeben würde, gäbe es keine Ausflüchte. Asunawa würde genügend viele Männer senden, um sie, und alle anderen mit ihr, fortzuzerren. Sie war ihm einmal kurz begegnet. Er ließ ihr Blut gefrieren. Warum war ein Inquisitor gesandt worden? Sie stellte die Frage, und Saren beantwortete sie in demselben eisigen Tonfall wie zuvor.

»Ich war beim Lordhauptmann, und ich kam hier entlang. Ich habe meine Aufgaben beendet und werde Euch jetzt mit zurücknehmen. Ihr seid immerhin eine Königin, der Respekt gebührt.« Das alles klang leicht gelangweilt, leicht ungeduldig, bis zum Schluß, als eine Spur Spott hinzukam. Aber keine Herzlichkeit.

»Sehr gut«, sagte sie.

»Soll ich meine Königin begleiten?« Tallanvor verbeugte sich förmlich. Zumindest zeigte er Ehrerbietung, wenn Fremde dabei waren.

»Nein.« Sie würde statt dessen Lamgwin mitnehmen. Nein, egal wen sie mitnähme — es würde wirken, als glaubte sie, Leibwächter zu benötigen. Saren ängstigte sie fast genauso wie Asunawa, aber sie würde es ihn auf keinen Fall erkennen lassen. Sie setzte ein beiläufiges Lächeln auf. »Ich brauche hier sicherlich keinen Schutz.«

Saren lächelte ebenfalls, oder zumindest lächelte sein Mund. Er schien sie auszulachen.

Draußen sahen Basel und Lamgwin sie unsicher an, und sie hätte fast ihre Meinung über eine Begleitung geändert. Sie hätte es auch getan, wenn sie sich nicht vorher dagegen ausgesprochen hätte. Aber zwei Männer könnten sie ohnehin nicht beschützen, wenn dies wirklich eine raffinierte Falle war, und zudem wäre es ein Zeichen von Schwäche, wenn sie ihre Meinung jetzt noch änderte. Sie schritt neben Saren durch die Korridore und fühlte sich schwach und überhaupt nicht wie eine Königin. Nein. Vielleicht würde sie wie jeder andere Mensch schreien, wenn die Zweifler sie in ihren Kerkern hatten — nun, da gab es kein Vielleicht. Sie war nicht so töricht zu glauben, königliches Fleisch sei in dieser Beziehung anders als das anderer Menschen —, aber bis dahin würde sie sein, was sie war. Sie machte sich wohlerwogen daran, die Schmetterlinge zu vertreiben.

Saren führte sie in einen kleinen, mit Fliesen ausgelegten Hof, wo Männer mit Schwertern auf Holzpfosten einschlugen. »Wohin gehen wir?« fragte sie. »Dies ist nicht der Weg, den ich früher zum Studierzimmer des Lordhauptmanns gegangen bin. Befindet er sich jetzt woanders?«

»Ich nehme den kürzesten Weg«, erwiderte er kurz angebunden. »Ich habe mich um wichtigere Dinge zu kümmern als...« Er beendete seinen Satz nicht und verlangsamte auch seinen Schritt nicht.

Sie hatte keine andere Wahl, als ihm zu folgen, einen von länglichen Räumen voller schmaler Feldbetten und Männern mit nackten Oberkörpern gesäumten Gang. Sie hielt ihren Blick fest auf Sarens Rücken gerichtet und formulierte im Geiste bereits die heftigen Sätze, die sie Niall an den Kopf werfen wollte. Es ging über einen Stallhof, über dem schwer der Geruch von Pferden und Dung hing und in dem ein Hufschmied in einer Ecke Pferde beschlug, einen weiteren Barackengang entlang, dann einen Gang, der auf einer Seite von Küchen gesäumt war und in dem es stark nach Geschmortem roch, in einen weiteren Hof... Sie blieb jäh stehen.

Ein langes, hohes Schafott stand mitten auf dem Hof. Drei Frauen und mehr als ein Dutzend Männer füllten jeden Fleck der Plattform, die Hände und Füße gefesselt und mit um den Hals gelegten Schlingen. Einige weinten jämmerlich, aber die meisten wirkten einfach verängstigt. Die letzten beiden Männer am anderen Ende waren Torwyn Barshaw und Paitr, der Junge in Hemdsärmeln, anstatt in dem rotweißen Umhang, den sie für ihn hatte fertigen lassen. Paitr weinte nicht, aber sein Onkel tat es. Paitr schien zu erschreckt, um an Tränen zu denken.

»Für das Licht!« rief ein Weißmantel-Offizier aus, und ein weiterer Weißmantel verschob einen langen Hebel am Ende des Schafotts.

Falltüren öffneten sich mit lautem Krachen, und die Opfer fielen außer Sicht. Einige der fest gespannten Stricke erbebten, als die an ihrem Ende hängenden Menschen ihr Leben herauswürgten, anstatt an einem gebrochenen Genick schnell zu sterben. Paitr war einer von ihnen. Und ihre sorgfältig geplante Fluchtmöglichkeit starb mit ihm. Vielleicht hätte sie sich genauso sehr um ihn sorgen sollen, aber sie dachte an die Flucht, an ihren Ausweg aus der Falle, in die sie getappt war. Sie war gefangen, und Andor mit ihr.

Saren sah sie an und erwartete eindeutig, daß sie in Ohnmacht fiele oder sich übergäbe.

»So viele auf einmal?« sagte sie und war stolz auf die Festigkeit ihrer Stimme. Paitrs Strick hatte aufgehört zu beben. Es schwang jetzt nur noch langsam von einer Seite zur anderen. Keine Fluchtmöglichkeit.

»Wir hängen jeden Tag Schattenfreunde«, antwortete Saren trocken. »Ihr in Andor entlaßt sie vielleicht mit einer Belehrung. Wir tun das nicht.«

Morgase begegnete seinem Blick. Der kürzeste Weg? Das war also Nialls neue Taktik. Es überraschte sie nicht, daß ihre geplante Flucht nicht erwähnt wurde. Niall war dafür zu geschickt. Sie war ein ehrenwerter Gast, und Paitr und sein Onkel waren zufällig gehängt worden, für irgendein Verbrechen, das nichts mit ihr zu tun hatte. Wer würde als nächster auf das Schafott steigen müssen? Lamgwin oder Basel? Lini oder Tallanvor? Seltsam, aber das Bild Tallanvors mit einem Strick um den Hals schmerzte sie mehr als dasselbe Bild von Lini. Der Verstand spielte ihr merkwürdige Streiche. Über Sarens Schulter hinweg erblickte sie Asunawa, der die Hinrichtung von einem Fenster aus beobachtete. Er schaute zu ihr hinab. Vielleicht war das sein Werk und nicht Nialls. Es machte keinen Unterschied. Sie durfte ihre Leute nicht vergebens sterben lassen. Sie durfte Tallanvor überhaupt nicht sterben lassen. Sehr merkwürdige Streiche.

Sie wölbte spöttisch eine Augenbraue und sagte: »Wenn Euch dies die Knie hat weich werden lassen, sollten wir warten, bis Ihr Eure Kraft wiederfindet« Eine unbekümmerte Stimme, unbeeinträchtigt von dem, was sie gesehen hatte. Licht, sie durfte sich nicht übergeben.

Sarens Gesicht verdüsterte sich, er wandte sich auf dem Absatz um und stolzierte davon. Sie folgte ihm würdigen Schrittes, schaute nicht zu Asunawas Fenster hoch und versuchte, nicht an das Schafott zu denken.

Vielleicht war dies wirklich der kürzeste Weg, denn Saren führte sie im nächsten Gang drei steile Treppen hoch und brachte sie schneller zu Nialls Audienzraum, als sie jemals zuvor dorthin gelangt war. Niall stand, wie üblich, nicht auf, und es war kein Stuhl für sie da, so daß sie gezwungen war, wie eine Bittstellerin vor ihm stehen zu bleiben. Er schien erregt, saß schweigend da und sah sie an, ohne sie aber wirklich zu bemerken.

Er hatte gesiegt und bemerkte sie nicht einmal. Das ärgerte sie. Licht, er hatte gesiegt. Vielleicht sollte sie in ihre Räume zurückkehren. Wenn sie Tallanvor und Lamgwin und Basel anwies, ihr einen Fluchtweg zu graben, würden sie es versuchen. Und sie würden sterben, und sie ebenfalls. Sie hatten noch niemals ein Schwert geführt, aber wenn sie diesen Befehl gäbe, würden sie eines aufnehmen. Sie würde sterben, und Elayne würde den Löwenthron besteigen. Sie würde es tun, sobald al'Thor davon vertrieben wäre. Die Weiße Burg würde dafür sorgen, daß Elayne bekäme, was ihr gehörte. Die Burg. Wenn die Burg den Thron für Elayne sicherte... Es schien verrückt, und doch traute sie der Burg noch weniger als Niall. Nein, sie mußte Andor selbst retten. Aber der Preis. Der Preis mußte bezahlt werden.

Sie zwang sich dazu, es auszusprechen. »Ich bin bereit, deinen Vertrag zu unterzeichnen.«

Niall schien sie zunächst nicht zu hören. Dann blinzelte er, lachte plötzlich verzerrt und schüttelte dann den Kopf. Auch das ärgerte sie. Überraschung vorzutäuschen. Sie hatte nicht versucht zu fliehen. Sie war ein Gast. Sie wünschte, sie könnte ihn am Galgen sehen.

Er bewegte sich so schnell, daß es die Erinnerung an seine vorherige Teilnahmslosigkeit fast vertrieb. Im Handumdrehen hatte er seinen kleinen, eingetrockneten Schreiber mit einem Pergament hereingerufen, auf dem bereits alles ausgeführt war und das sogar bereits eine Nachahmung des Siegels von Andor aufwies, die sie nicht von dem Original unterscheiden konnte.

Ob sie nun eine Wahl hatte oder nicht — sie las die Bedingungen sorgfältig durch. Sie waren nicht anders, als sie erwartet hatte. Niall würde die Weißmäntel in den Kampf zur Wiedererlangung ihres Throns führen, aber er forderte auch einen Preis, wenn er auch nicht als solcher bezeichnet wurde. Eintausend Weißmäntel würden ständig in Caemlyn stationiert, mit einer eigenen Gerichtsbarkeit unabhängig von andoranischem Recht. Die Weißmäntel würden in ganz Andor dauerhaft mit der Garde der Königin gleichgestellt. Es würde vielleicht ihr ganzes Leben lang dauern, diese Unterschrift wieder unwirksam zu machen, und auch Elaynes, aber die Wahl wäre al'Thor, der den Thron als Trophäe einnähme. Wenn ihn überhaupt wieder eine Frau innehätte, wäre es Elenia oder Naean oder ähnliche, und zwar als al'Thors Marionette. Entweder das oder Elayne als Marionette der Burg. Sie konnte sich nicht dazu bringen, der Burg zu trauen.

Sie unterzeichnete deutlich mit ihrem Namen und preßte das nachgemachte Siegel in das rote Wachs, das Nialls Schreiber unten auf das Pergament hatte tropfen lassen: der Löwe von Andor, von der Rosenkrone umgeben. Also war sie die erste Königin, die jemals fremde Soldaten auf andoranischem Boden duldete.

»Wie bald?« Es war schwerer auszusprechen, als sie es sich vorgestellt hatte. »Wie bald werden deine Legionen einreiten?«

Niall zögerte und blickte auf den Tisch. Dort war nichts außer einem Stift, Tinte, einer Schale mit Sand und einem frisch abgebrannten Stück Siegelwachs zu sehen, als habe er erst vor sehr kurzer Zeit einen Brief geschrieben. Er führte seine Unterschrift unter den Vertrag zu Ende, prägte sein eigenes Siegel darauf, eine flammende Sonne in goldenem Wachs, und reichte das Pergament dann seinem Schreiber. »Bringt dies ins Urkundenarchiv, Balwer. Ich furchte, ich kann nicht so schnell vorrücken, wie ich gehofft hatte, Morgase. Es sind Entwicklungen zu bedenken. Nichts, worum du dich sorgen müßtest. Einfach die Frage, wie man sich am besten in Gebieten vorwärts bewegt, die nicht mit Andor verbunden sind. Ich bestehe darauf, daß du dies einfach als zusätzliche Zeit ansiehst, in der ich das Vergnügen deiner Gesellschaft genießen kann.«

Balwer verbeugte sich gekonnt, wenn auch etwas pedantisch, obwohl sie sich fast sicher war, daß sein Blick vor Überraschung fast ruckartig zu Niall gewandert war. Sie hätte selbst beinahe den Mund aufgesperrt. Er bedrängte sie ständig, und jetzt mußte er sich um andere Angelegenheiten kümmern? Balwer eilte hinaus, als fürchte er, sie könnte den Vertrag wieder an sich nehmen und zerreißen, aber daran dachte sie am wenigsten. Zumindest würde es keine weiteren Hinrichtungen geben. Um das übrige würde man sich zu gegebener Zeit kümmern müssen. Eines nach dem anderen. Ihr beharrlicher Widerstand war erlahmt, aber jetzt hatte sie wieder Zeit, ein unerwartetes Geschenk, das nicht vergeudet werden durfte. Das Vergnügen ihrer Gesellschaft?

Sie setzte ein herzliches Lächeln auf. »Es scheint, als sei mir ein Gewicht von den Schultern genommen worden. Sage mir, spielst du Dame?«

»Ich gelte als guter Spieler.« Sein Lächeln wirkte zunächst überrascht und dann belustigt Morgase errötete, aber es gelang ihr, keine Verärgerung zu zeigen. Vielleicht war es das beste, daß er sie jetzt für besiegt hielt. Niemand beobachtete einen besiegten Feind allzu genau oder schätzte ihn zu hoch. Wenn sie vorsichtig war, konnte sie vielleicht mit der Zeit wiedererlangen, was sie aufgegeben hatte, bevor seine Soldaten Amadicia verließen. Sie hatte in bezug auf das Spiel der Häuser einen sehr guten Lehrer gehabt.

»Ich werde versuchen, kein allzu schlechter Gegner zu sein, wenn du gern spielen würdest.« Sie selbst war weit davon entfernt, gut zu sein, aber sie würde natürlich verlieren müssen, jedoch auch wiederum nicht so eindeutig, daß er sich langweilen würde. Sie haßte es zu verlieren.

Asunawa trommelte stirnrunzelnd mit den Fingern auf die goldverzierte Armlehne seines Sessels. Über seinem Kopf befand sich der in glänzender Lackfarbe auf einer rein weißen Scheibe an der Rückenlehne des Sessels eingearbeitete Hirtenstab. »Die Hexe war überrascht«, murmelte er.

Saren reagierte, als sei es eine Beschuldigung gewesen. »Eine Hinrichtung hat auf manche Leute diese Wirkung. Die Schattenfreunde wurden gestern zusammengetrieben. Ich habe gehört, daß sie irgendwelche Katechismen an den Schatten dahergebetet haben, als Trom die Tür einschlug. Ich habe es überprüft, aber niemand hat daran gedacht zu fragen, ob sie irgendwie mit ihr in Verbindung standen.« Zumindest scharrte er nicht mit den Füßen. Er stand so aufrecht, wie jede Hand des Lichts es tun sollte.

Asunawa wehrte jegliche Erklärungen mit einem kurzen Winken ab. Natürlich bestand keine Verbindung, abgesehen von der Tatsache, daß sie eine Hexe war und die anderen Schattenfreunde. Die Hexe befand sich immerhin in der Festung des Lichts, aber er war dennoch besorgt.

»Niall hat mich wie einen Hund losgeschickt, sie zu holen«, sagte Saren zähneknirschend. »Ich hätte mich beinahe übergeben, weil ich einer Hexe so nahe war. Meine Hände wollten ihr die Kehle zudrücken.«

Asunawa machte sich nicht die Mühe zu antworten. Er hörte kaum zu. Natürlich haßte Niall die Hand. Die meisten Menschen haßten, was sie fürchteten. Nein, seine Gedanken waren bei Morgase. Sie war in keinerlei Beziehung schwach. Sie hatte Niall sicherlich hinreichend die Stirn geboten. Die meisten Menschen wären zusammengebrochen, sobald sie die Festung betreten hätten. Sie würde allerdings einige seiner Pläne durchkreuzen, wenn sie sich dennoch als schwach erwiese. Er hatte sich alle Einzelheiten gemerkt, von jedem Tag ihres Verhörs durch die verfügbaren Gesandten jedes Landes, das noch einen Gesandten erübrigen konnte, bis schließlich zu ihrem dramatischen Geständnis, das ihr so gekonnt entrungen wurde, daß niemand jemals dahinterkäme, wie dies geschehen war, und den Zeremonien rund um ihre Hinrichtung.

»Hoffen wir, daß sie Niall weiterhin widersteht«, sagte er mit einem Lächeln, das auf einige Menschen sanft und gottesfürchtig gewirkt hätte. Selbst Nialls Geduld konnte nicht ewig anhalten. Er würde sie schließlich der Gerechtigkeit überantworten müssen.

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