36 Zur Amyrlin erhoben

Egwene hob den Kopf von den Kissen, sah sich um und war einen Moment überrascht, sich in einem Himmelbett in einem großen Raum zu befinden. Das frühe Morgenlicht drang durch die Fenster, und eine vollendet hübsche Frau in einem einfachen grauen Wollgewand stellte gerade einen großen weißen Krug mit heißem Wasser auf dem Waschtisch ab. Chesa war ihr letzte Nacht als ihr Dienstmädchen vorgestellt worden. Das Dienstmädchen der Amyrlin. Ein verdecktes Tablett stand bereits neben Kamm und Bürste auf einem kleinen Tisch unter einem Spiegel mit Silberrahmen. Der Duft frischen Brotes und gedünsteter Birnen schwebte in der Luft.

Anaiya hatte den Raum für Egwenes Ankunft vorbereitet. Die Möbel paßten nicht zueinander, aber es waren die besten Möbel, die Salidar zu bieten hatte, von dem bequemen Armsessel der mit grüner Seide aufgepolstert war, bis zu dem Standspiegel in der Ecke mit der makellosen Vergoldung und dem mit Holzschnitzereien verzierten Kleiderschrank, in dem jetzt ihre Habe hing. Leider schien Anaiya Spitze und Rüschen sehr zu mögen. Beides war in übertriebenem Maße am Betthimmel und den zurückgezogenen Bettvorhängen zu finden, und die einen oder anderen Spitzen oder Rüschen zierten auch die Tische und den Stuhl, die Armlehnen des gepolsterten Sessels, die Bettdecke, die Egwene auf den Boden geworfen hatte, und das dünne Seidenlaken, das dieser gefolgt war. Auch die Vorhänge an den Fenstern wiesen Spitze auf.

Egwene ließ den Kopf wieder sinken. Auch das Kissen war von Spitze gesäumt. Der Raum vermittelte ihr das Gefühl, in Spitze zu ertrinken.

Es war viel gesprochen worden, nachdem Sheriam und die anderen sie in die, wie sie es nannten, Kleine Burg gebracht hatten, die fast ganz auf ihrer Seite stand. Sie waren nicht wirklich an ihren Vermutungen interessiert, was Rand vorhatte oder was Coiren und die anderen vielleicht wollten. Eine Abordnung unter Merana, die nach Caemlyn ziehen wollte, hielt sich hier auf, und sie wußten, was zu tun war, obwohl sie sich nicht näher darüber äußerten. Sie übernahmen den größten Teil der Gespräche, während sie zuhörte, und ließen ihre Fragen unbeachtet. Die Antworten auf einige dieser Fragen waren im Moment ohne Belang, wurde ihr gesagt. Nur einige wurden schnell beantwortet, bevor wichtigere Dinge besprochen wurden. Abordnungen waren zu jedem Herrscher entsandt worden, die nacheinander benannt wurden. Dabei wurde erklärt, warum er oder sie für Salidars Zwecke absolut lebenswichtig war, was anscheinend für alle galt. Sie sagten nicht direkt, daß alles fehlschlagen würde, wenn sich auch nur ein Herrscher gegen sie stellte, aber die Art, wie jeder einzelne Herrscher ausdrücklich erwähnt wurde, sprach dafür. Gareth Bryne erhob gerade ein Heer, das ausreichend stark wäre, ihre Ansprüche gegen Elaida einzuklagen, wenn es dazu käme. Sie glaubten es anscheinend nicht, trotz Elaidas Forderung, in die Burg zurückkehren zu wollen. Sie glaubten anscheinend, daß die Aes Sedai zu Egwene al'Vere kommen würden, wenn sich die Nachricht ihrer Ernennung zum Amyrlin-Sitz verbreitet hätte, sogar einige der zur Zeit in der Burg befindlichen Aes Sedai, ausreichend viele, daß Elaida der Forderung zurückzutreten nachgeben müßte. Die Weißmäntel drehten aus irgendeinem Grund den Daumen, so daß es in Salidar gegenwärtig so sicher wie überall war. Daß Logain genauso geheilt worden war wie Siuan — und Leane, die natürlich geheilt worden wäre, wenn sie dagewesen wäre; es war schlicht überraschend, als man herausfand, daß sie tatsächlich da war —, wurde fast beiläufig erwähnt.

»Es gibt dort nichts, worüber Ihr Euch sorgen müßtet«, sagte Sheriam tröstend. Sie stand über Egwene, die in dem gepolsterten Armsessel saß, während die anderen im Kreis um sie herumstanden. »Der Saal wird darüber streiten, ob man ihn wieder besänftigen soll, bis das hohe Alter uns von dieser Sorge befreit.«

Egwene versuchte, ein weiteres Gähnen zu unterdrücken — es war schon spät —, und Anaiya sagte: »Wir müssen sie schlafen lassen. Der morgige Tag ist fast genauso wichtig, wie es der heutige Abend warf Kind.« Plötzlich lachte sie leise in sich hinein. »Mutter. Der morgige Tag ist auch wichtig, Mutter. Wir werden Chesa herschicken, damit sie Euch hilft. Euch fürs Bett fertigzumachen.«

Sie konnte, selbst nachdem sie gegangen waren, noch nicht einfach zu Bett gehen. Während Chesa noch Egwenes Kleid öffnete, erschien Romanda mit einer Reihe von Vorschlägen für die Amyrlin, die mit fester, ernster Stimme vorgetragen wurden, und sie ging nicht eher, als bis Lelaine kam, als hätte die Blaue Sitzende auf den Weggang der Gelben gewartet. Lelaine wußte auch hilfreichen Rat, den sie der aufrecht im Bett sitzenden Egwene mitteilte, nachdem Chesa sanft, aber bestimmt aus dem Raum geschickt worden war. Ihre Ratschläge glichen denen Romandas in keiner Weise — und auch Sheriams nicht sehr — und wurden mit herzlichem, sogar gütigen Lächeln dargebracht, aber auch mit genauso viel Sicherheit, daß Egwene in den ersten Monaten ein wenig Anleitung brauchen würde. Keine der Frauen sprach deutlicher aus als Sheriam, daß sie Egwene zu dem hinführen würde, was das beste für die Burg war, oder daß Sheriam und ihr kleiner Kreis vielleicht in zu viele Richtungen zu gehen versuchten, oder daß sie vielleicht schlechten Rat erteilen würden, aber Andeutungen waren deutlich erkennbar. Romanda und Lelaine deuteten auch beide an, daß die jeweils andere vielleicht ihre eigenen Schwerpunkte hätte, die zweifellos nicht genannte Verwicklungen bewirken würden.

Als Egwene die letzte Lampe durch das Lenken der Macht löschte, erwartete sie einen Schlaf voller Alpträume. Tatsächlich erinnerte sie sich am nächsten Morgen aber nur an zwei. In einem war sie die Amyrlin — eine Aes Sedai, aber ohne die Eide geleistet zu haben —, und alles, was sie tat, führte ins Unglück. Sie erwachte bei diesem Traum ruckartig, um davonzukommen, war sich aber dennoch sicher, daß es ein Traum ohne Bedeutung war. Er hatte einer ihrer Erfahrungen im Ter'angreal geähnelt, wo sie geprüft worden war, um eine Aufgenommene zu werden. Soweit jedermann wußte, hatten sie keinen Bezug zur Realität. Nicht zu dieser Realität. Der andere Traum war so töricht wie erwartet. Sie wußte genug über ihre Träume, um das zu erkennen, selbst wenn sie sich letztendlich aufwecken mußte, um auch diesem zu entrinnen. Sheriam hatte ihr die Stola von den Schultern gerissen, und dann hatten alle sie ausgelacht und auf die Närrin gezeigt, die tatsächlich geglaubt hatte, ein kaum achtzehnjähriges Mädchen könnte die Amyrlin sein. Nicht nur die Aes Sedai hatte gelacht, sondern auch alle Weise Frauen und Rand und Perrin und Mat und Nynaeve und Elayne, fast alle, denen sie jemals begegnet war, während sie nackt dort stand und verzweifelt versuchte, das Gewand einer Aufgenommenen anzuziehen, das vielleicht einem zehnjährigen Kind gepaßt hätte.

»Nun, Ihr könnt nicht den ganzen Tag im Bett liegen bleiben, Mutter.«

Egwene öffnete die Augen.

Chesas Gesicht zeigte einen Ausdruck gespielter Strenge, aber mit einem Zwinkern in den Augen. Sie war mindestens in Egwenes Alter. Bei ihrer ersten Begegnung war sie sofort in eine respektvolle und auch vertraute Haltung verfallen, die man von einer erfahrenen Dienerin erwarten konnte. »Der Amyrlin-Sitz darf keine Langschläferin sein, gerade heute nicht.«

»Daran würde ich zuletzt denken.« Egwene kletterte steif aus dem Bett und streckte sich, bevor sie ihr verschwitztes Nachtgewand auszog. Sie konnte nicht warten, bis sie die Macht lange genug angewandt hätte, um nicht mehr zu schwitzen. »Ich werde das blaue Seidengewand mit den weißen Morgensternen am Halsausschnitt tragen.« Sie bemerkte, daß Chesa bewußt nicht hinsah, während sie ihr ein frisches Hemd reichte. Die Wirkung ihrer Begegnung mit dem Toh hatte ein wenig nachgelassen, aber sie schien noch immer leicht zerschlagen zu sein. »Ich hatte einen Unfall, bevor ich hierherkam«, sagte sie und zog sich das frische Hemd eilig über den Kopf.

Chesa nickte plötzlich verstehend. »Pferde sind bösartige, wenig vertrauenswürdige Ungeheuer. Ihr würdet mich niemals auf ein Pferd bekommen, Mutter. Ein guter, robuster Karren ist weitaus sicherer. Wenn ich von einem Pferd fiele, würde ich es niemals jemandem erzählen. Nildra würde es tun, und Kaylin... Oh, Ihr würdet niemals glauben, was Frauen manchmal sagen, sobald man den Rücken wendet. Beim Amyrlin-Sitz ist es natürlich anders, aber das würde ich tun.« Sie hielt die Schranktür auf und warf Egwene einen Seitenblick zu, um zu sehen, ob sie verstand.

Egwene lächelte ihr zu. »Menschen sind Menschen, ob hoch- oder tiefgestellt«, sagte sie ernst.

Chesa strahlte einen Moment, bevor sie das blaue Gewand zutage förderte. Sheriam hatte sie vielleicht ausgesucht, aber sie war das Dienstmädchen des Amyrlin-Sitzes und hielt dem Amyrlin-Sitz die Treue. Uns sie hatte auch recht damit, daß der heutige Tag sehr wichtig war.

Egwene aß schnell — trotz Chesas gemurmelten Bemerkungen, daß es dem Magen schade, das Essen hinunterzuschlingen, auch wenn die warme Milch mit Honig und Gewürzen immerhin geeignet sei, einen nervösen Magen wieder zu beruhigen — putzte sich die Zähne und wusch sich, ließ Chesa einige Male mit der Bürste durch ihr Haar fahren und zog sich so schnell an, wie die Frau ihr die blaue Seide über den Kopf ziehen konnte. Sie drapierte die Stola mit den sieben Streifen um ihre Schultern und hielt dann inne, um sich im Spiegel zu betrachten. Stola oder nicht — sie sah nicht wie ein Amyrlin-Sitz aus. Aber ich bin es. Dies ist kein Traum.

Unten im großen Raum waren die Tische noch genauso leer wie in der Nacht. Nur die Sitzenden befanden sich dort, die ihre Stolen trugen und nach Ajahs geordnet zusammensaßen. Nur Sheriam war allein. Sie verstummten, als Egwene die Treppe herunterkam, und vollführten einen Hofknicks. Romanda und Lelaine beäugten sie kritisch, wandten sich dann ab, vermieden es ganz offensichtlich, Sheriam anzusehen, und nahmen ihre Unterhaltungen wieder auf. Als Egwene still blieb, taten es die anderen ihr nach. Gelegentlich schaute eine von ihnen zu ihr. Ihre Stimmen klangen sogar noch im Flüsterton zu laut. Draußen war es äußerst ruhig. Egwene nahm ihr Taschentuch aus dem Ärmel und tupfte ihr Gesicht ab. Sie schwitzten überhaupt nicht.

Sheriam trat neben sie. »Es wird gutgehen«, sagte sie leise. »Erinnert Euch einfach an das, was Ihr sagen müßt.« Auch das hatten sie letzte Nacht in allen Einzelheiten durchgesprochen. Egwene mußte heute morgen eine Rede halten.

Egwene nickte. Es war seltsam. Ihr Magen hätte sich umstülpen und ihre Knie hätten zittern sollen. Beides war nicht der Fall, und sie konnte es nicht verstehen.

»Ihr braucht Euch nicht zu sorgen.« Sheriam klang, als glaubte sie, Egwene sei ängstlich, und wollte sie trösten, aber bevor sie erneut etwas sagen konnte, erhob Romanda die Stimme.

»Es ist Zeit.«

Die Sitzenden stellten sich mit raschelnden Röcken dem Alter nach in einer Reihe auf, wobei Romanda dieses Mal voranging, und marschierten hinaus. Egwene näherte sich der Tür. Noch immer kein Magenflattern. Vielleicht hatte Chesa mit der warmen Milch recht gehabt.

Es herrschte noch immer Stille, aber dann erklang erneut Romandas von Natur aus laute Stimme. »Wir haben einen Amyrlin-Sitz.«

Egwene trat in eine Hitze hinaus, die sie erst später am Tag erwartet hätte. Als ihr Fuß aus der Vorhalle trat, landete er auf einer aus Luft gewobenen Plattform. Die Reihen der Sitzenden erstreckten sich draußen zu beiden Seiten, und jede Sitzende schimmerte im Lichte Saidars.

»Egwene al'Vere«, sagte Romanda in feierlichem Tonfall, während ihre Stimme von den Strängen der Macht getragen wurde, »die Hüterin der Siegel, die Flamme von Tar Valon, der Amyrlin-Sitz.«

Sie hoben sie hoch, während Romanda sprach, erhoben die Amyrlin wahrhaftig, bis sie unmittelbar unter dem Strohdach stand, auf dünner Luft stand, wie es jedermann erscheinen mußte, aber eine Frau, die die Macht lenken konnte.

Es waren viele Menschen dort, die sie, von der aufgehenden Sonne umrissen, sahen. Ein zweites Gewebe ließ das Licht zu einem schimmernden Kokon um sie herum werden. Männer und Frauen bevölkerten die Straße. Die Menge erstreckte sich bis um die Häuserecken. Jeder Eingang, jedes Fenster und jedes Dach außer dem der Kleinen Burg selbst war von Menschen erfüllt. Lärm erklang, der Romanda beinahe übertönt hätte, Wogen von Hochrufen, die über das Dorf hinwegrollten. Egwene betrachtete die Menge, suchte nach Nynaeve und Elayne, aber sie konnte sie in diesem Meer aufwärts gewandter Gesichter nicht finden. Ein ganzes Zeitalter schien vergangen zu sein, bevor es wieder still genug wurde, daß sie sprechen konnte. Das Gewebe hatte ihr Romandas Stimme zugetragen.

Sheriam und die anderen hatten ihre Rede vorbereitet, eine ernste Ermahnung, die sie vielleicht ohne Erröten hätte äußern können, wenn sie doppelt —oder, noch besser, dreimal — so alt gewesen wäre, wie sie tatsächlich war. Sie hatte selbst einige Änderungen angebracht. »Wir haben uns hier auf der Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit versammelt, die nicht enden wird, bis die falsche Amyrlin Elaida von dem Platz vertrieben ist, den sie sich widerrechtlich angeeignet hat. Als Amyrlin werde ich euch bei dieser Suche leiten, und ich werde nicht schwanken, wie ihr es, wie ich weiß, tun werdet.« Und das war genug Ermahnung. Sie hatte keinesfalls die Absicht, lange genug hier oben zu bleiben, um alles zu wiederholen, was die Aes Sedai sie sagen hören wollten. Es wäre auch nur auf das hinausgelaufen, was sie ohnehin bereits gesagt hatte. »Ich ernenne Sheriam Bayanar als meine Behüterin der Chroniken.«

Hierauf erklangen weitaus weniger Hochrufe. Eine Behüterin war immerhin keine Amyrlin. Egwene schaute hinab und wartete, bis sie Sheriam herauseilen sah, während sie noch die Stola der Behüterin um ihre Schultern drapierte, die als Zeichen dafür, daß sie der Blauen Ajah entstammte, blau war. Es war beschlossen worden, keinen zweiten Amyrlin-Stab zu gestalten, der von einer goldenen Flamme gekrönt wurde und den die Behüterin trug. Bis der echte Stab von der Weißen Burg zurückerlangt werden konnte, würde es ohne ihn gehen müssen. Sheriam hatte weitaus mehr Unterstützung erwartet, und sie sah Egwene verärgert an. Romanda und Lelaine, die in der Reihe der Sitzenden standen, zeigten ausdruckslose Gesichter. Sie hatten beide ihre eigenen sehr nachdrücklichen Vorschläge zur Ernennung der Behüterin gemacht, und bei beiden war es, wie nicht erwähnt werden muß, nicht Sheriam gewesen.

Egwene atmete tief ein und wandte sich wieder an die wartende Menge. »Um diesen Tag zu ehren, verfüge ich hiermit, daß allen Aufgenommenen und Novizinnen alle Bußen und Strafen erlassen werden.« Das war üblich und bewirkte erfreute Ausrufe von weiß gekleideten Mädchen und einigen wenigen unbeherrschten Aufgenommenen. »Um diesen Tag zu ehren, verfüge ich hiermit, daß Theodrin Dabei, Faolain Grande, Nynaeve al'Meara und Elayne Trakand von diesem Moment an als vereidigte Schwestern und Aes Sedai zur Stola erhoben werden.« Ein fragendes Schweigen lastete auf der Menge, und nur hier und da erklang ein Murmeln. Das war absolut nicht üblich. Es war weit davon entfernt, üblich zu sein. Aber es war gesagt worden, und es war gut, daß Morvrin zufällig Theodrin und Faolain mit einbezogen hatte. Es war Zeit, sich wieder an das zu halten, was sie für sie aufgeschrieben hatten. »Ich verfüge hiermit, daß der heutige Tag ein Tag der Festlichkeit und des Feierns sei. Es sollen nur Arbeiten ausgeführt werden, die für das Vergnügen notwendig sind. Möge das Licht euch alle bescheinen, und die Hand des Schöpfers euch beschützen.« Die letzten Worte wurden von einem tumultartigen Gebrüll übertönt, das selbst das Gewebe niederdrückte, das ihre Worte getragen hatte. Einige Leute begannen an Ort und Stelle auf der Straße zu tanzen, obwohl kaum genug Platz war.

Die aus Luft gestaltete Plattform sank vielleicht ein wenig schneller, als sie aufgestiegen war. Die Sitzenden sahen sie an, als sie herabtrat und das Schimmern Saidars begann unter ihnen zu verblassen, fast bevor sie den Boden berührt hatte.

Sheriam eilte heran, nahm Egwenes Arm und lächelte den Sitzenden mit den starren Gesichtern zu. »Ich muß der Amyrlin ihr Studierzimmer zeigen. Entschuldigt uns.« Egwene hätte nicht direkt behauptet, daß Sheriam sie hineindrängte, aber andererseits hätte sie auch nicht widersprochen, daß sie es tat. Sie glaubte nicht, daß Sheriam sie tatsächlich hineinzerren würde, aber es schien ratsamer, mit der freien Hand ihre Röcke zu raffen und größere Schritte zu machen, um es nicht herausfinden zu müssen.

Ihr Studierzimmer an der Rückseite des Aufenthaltsraums war etwas kleiner als ihr Schlafzimmer und wies zwei Fenster, einen Schreibtisch, einen Stuhl mit hoher Rückenlehne dahinter und zwei weitere Stühle davor auf. Sonst nichts. Die mit einem Klopfholz mit Vertiefungen versehenen Wandpaneele waren poliert, so daß sie matt glänzten, aber die Tischplatte war leer.

Ein Blumenteppich lag auf dem Boden.

»Verzeiht, wenn ich brüsk war, Mutter«, sagte Sheriam, während sie ihren Arm losließ, »aber ich dachte, wir sollten allein miteinander reden, bevor Ihr mit einer der Sitzenden sprecht. Sie haben alle an Eurer Rede mitgearbeitet, und...«

»Ich weiß, ich habe einige Änderungen angebracht«, sagte Egwene mit strahlendem Lächeln, »aber ich hatte solche Bedenken, als ich dort oben stand und all das sagen sollte.« Sie alle hatten daran mitgearbeitet? Kein Wunder, daß es wie die schwülstige Rede einer alten Frau geklungen hatte, die nicht aufhören konnte zu reden. Sie mußte fast lachen. »Wie dem auch sei —ich habe gesagt was zu sagen war, im Kern jedenfalls. Elaida muß vertrieben werden, und ich werde die Menschen dabei führen.«

»Ja«, sagte Sheriam zögernd, »aber es wird vielleicht einige Fragen bezüglich der einen oder anderen ... Änderung geben. Theodrin und Faolain werden sicherlich zu Aes Sedai erhoben werden, sobald wir die Burg und die Eidesrute zurückerlangt haben, und sehr wahrscheinlich auch Elayne, aber Nynaeve kann noch immer keine Kerze anzünden, ohne vorher vor allen Leuten an ihrem Zopf zu ziehen.«

»Genau das wollte ich ansprechen«, sagte Romanda, die hereinkam, ohne anzuklopfen. »Mutter«, fügte sie nach einer betonten Pause hinzu. Lelaine schloß die Tür hinter ihnen, fast vor den Nasen mehrerer anderer Sitzender.

»Es schien notwendig«, sagte Egwene mit geweiteten Augen. »Der Gedanke kam mir in der letzten Nacht. Ich wurde zur Aes Sedai erhoben, ohne geprüft zu werden oder die Drei Eide zu leisten, und wenn ich die einzige wäre, würde das nur auf mich aufmerksam machen. Wenn weitere vier Frauen genauso erhoben werden, wird es bei mir nicht mehr so seltsam erscheinen, zumindest nicht den hier lebenden Menschen. Elaida könnte vielleicht falsche Schlüsse daraus ziehen, wenn sie es hört, aber die meisten Leute haben nur so geringe Kenntnisse über die Aes Sedai, daß sie ohnehin nicht wissen werden, was sie glauben sollen. Die Menschen hier sind am wichtigsten. Sie müssen Vertrauen zu mir haben.«

Jeder andere außer den Aes Sedai hätte sie mit offenem Mund angestarrt. Tatsächlich stotterte auch Romanda fast.

»Vielleicht«, begann Lelaine streng und zog brüsk an ihrer Stola, hielt aber dann inne. Es war so. Und außerdem — der Amyrlin-Sitz hatte jene Frauen Öffentlich zu Aes Sedai erklärt. Der Saal konnte sie vielleicht auf der Stufe von Aufgenommenen halten —oder was auch immer in diesem Fall Theodrin und Faolain waren —, aber der Saal konnte keine Erinnerungen auslöschen, und er würde das Wissen aller nicht zunichte machen können, daß sie sich an ihrem ersten Tag gegen die Amyrlin gestellt hatten.

»Ich hoffe, Mutter«, sagte Romanda mit angespannter Stimme, »daß Ihr beim nächsten Mal zuerst den Saal zu Rate ziehen werdet. Gegen die Gebräuche zu handeln, kann unerwartete Folgen zeitigen.«

»Gegen die Gebräuche zu handeln, kann unglückliche Folgen zeitigen«, sagte Lelaine barsch und fügte ein verspätetes »Mutter« hinzu. Das war Unsinn, oder doch beinahe. Es war richtig, daß die Bedingungen, zur Aes Sedai erhoben zu werden, gesetzlich festgelegt waren, aber die Amyrlin konnte nahezu alles verfugen, was sie wollte. Dennoch ging eine weise Amyrlin nicht bereitwillig Auseinandersetzungen mit dem Saal ein, wenn es vermeidbar war.

»Oh, ich werde den Saal in Zukunft zu Rate ziehen«, versprach Egwene ernst. »Aber es schien mir richtig zu sein. Würdet Ihr mich jetzt bitte entschuldigen? Ich muß wirklich mit der Behüterin sprechen.«

Sie bebten förmlich. Sie vollführten flüchtige Hofknickse, ihre Abschiedsworte vollkommen korrekt, soweit es nur die Worte betraf, aber bei Romanda klangen sie mürrisch und bei Lelaine messerscharf.

»Ihr habt das sehr gut gehandhabt«, sagte Sheriam, als sie fort waren. Sie klang überrascht. »AberIhrmüßt im Gedächtnis behalten, daß der Saal jeder Amyrlin Schwierigkeiten machen kann. Einer der Gründe, warum ich Eure Behüterin bin, ist der, daß ich Euch raten und Euch von dieser Art Schwierigkeiten fernhalten kann. Ihr solltet mich fragen, bevor Ihr irgend etwas verfügt. Und wenn ich nicht in der Nähe bin, dann fragt Myrelle und Morvrin und die anderen. Wir sind hier, um Euch zu helfen, Mutter.«

»Ich verstehe, Sheriam. Ich verspreche Euch, sorgfältig auf Eure Worte zu achten. Ich würde Nynaeve und Elayne gern sehen, wenn es möglich ist.«

»Es sollte möglich sein«, sagte Sheriam lächelnd, »obwohl ich Nynaeve vielleicht leibhaftig von einer Gelben fortzerren muß. Siuan wird Euch über das Zeremoniell belehren, das eine Amyrlin beherrschen muß — es gibt vieles darüber zu lernen —, aber ich werde ihr sagen, daß sie erst etwas später kommen soll.«

Egwene schaute zur Tür, nachdem auch Sheriam gegangen war. Dann wandte sie sich um und betrachtete den Tisch. Er war vollkommen leer. Es gab keine Berichte zu lesen und keine Aufzeichnungen zu betrachten. Nicht einmal ein Federhalter oder Tinte waren vorhanden, um eine Nachricht und erst recht keine Verfügung festzuhalten. Und Siuan würde sie über das Zeremoniell belehren.

Als es schüchtern an der Tür klopfte, stand sie noch immer am selben Fleck. »Kommt herein«, rief sie und fragte sich, ob es Siuan oder vielleicht ein Diener mit Honigkuchen war, der bereits in mundgerechte Stücke geschnitten war.

Nynaeve streckte zögernd den Kopf ins Zimmer und wurde dann von Elayne hineingeschoben. Sie vollführten Seite an Seite perfekte Hofknickse, breiteten dabei die weißen, mit Streifen versehenen Röcke aus und murmelten: »Mutter.«

»Bitte tut das nicht«, sagte Egwene. Tatsächlich war es eher ein Stöhnen. »Ihr seid meine einzigen Freundinnen, und wenn ihr anfangt...« Licht, sie würde gleich weinen!

Elayne erreichte sie um Haaresbreite zuerst und schlang ihre Arme um sie. Nynaeve schwieg und spielte nervös mit einem schmalen Silberarmband. »Wir sind noch immer deine Freundinnen, Egwene, aber du bist der Amyrlin-Sitz. Licht, erinnere dich, daß ich dir gesagt habe, du würdest eines Tages die Amyrlin sein, als ich...« Elayne verzog leicht das Gesicht. »Nun, auf jeden Fall bist du es. Wir können nicht einfach zur Amyrlin spazieren und fragen: ›Egwene, macht mich dieses Kleid dick?‹ Es wäre nicht angemessen.«

»Das stimmt«, bestätigte Egwene tapfer. »Nun, wenn wir allein sind«, gestand sie kurz darauf ein, »möchte ich, daß ihr mir sagt, wenn mich ein Kleid dick macht, oder ... oder was immer ihr wollt.« Sie lächelte Nynaeve an und zog sanft an ihrem dicken Zopf. Nynaeve schrak zusammen. »Und ich möchte, daß du das wieder tust, wenn dir danach zumute ist. Ich brauche jemanden, der Egwenes Freundin ist und nicht ständig diese ... diese verdammte Stola sieht, sonst werde ich verrückt. Da wir gerade von Kleidern sprechen — warum trägst du dieses noch? Ich dachte, du könntest dich jetzt sicherlich umziehen.«

Da zog Nynaeve tatsächlich an ihrem Zopf. »Diese Nisao sagte mir, es müsse ein Irrtum sein, und zerrte mich davon. Sie sagte, sie würde ihre Zeit nicht für eine Feier verschwenden.« Draußen waren erste Klänge dieser Feier zu hören, ein allgemeines Summen, das gerade laut genug war, die Steinmauern zu durchdringen, und leise Musik.

»Nun, es war kein Irrtum«, sagte Egwene. Nisao hatte etwas anderes vor? Nun, sie würde nicht jetzt danach fragen. Nynaeve war nicht glücklich darüber, und Egwene wollte, daß dies ein möglichst fröhliches Zusammensein würde. Sie zog den Stuhl hinter dem Tisch hervor, sah zwei Kissen darauf liegen und lächelte. Chesa. »Wir werden uns hierher setzen und miteinander reden, und dann werde ich euch helfen, die beiden schönsten Kleider in Salidar zu finden. Erzählt mir von euren Entdeckungen. Anaiya erwähnte sie, und Sheriam ebenfalls, aber ich konnte sie nicht lange genug aufhalten, daß sie mir Einzelheiten hätten berichten können.«

Die beiden Frauen hielten fast gleichzeitig in ihrer Bewegung inne, sich hinsetzen zu wollen, und wechselten Blicke. Unerklärlicherweise schienen sie nur widerwillig von Nynaeves Heilung Siuans und Leanes — Nynaeve wiederholte drei Mal sehr besorgt, daß die Heilung Logains ein Versehen gewesen sei —und Elaynes Arbeit mit dem Ter'angreal sprechen zu wollen.

Es waren bemerkenswerte Erfolge, besonders Nynaeves Wirken, aber mehr wollten sie nicht sagen. Egwene konnte ihnen noch so oft erklären, wie großartig das war, was sie getan hatten, und wie sehr sie sie beneidete. Egwene hatte nicht lange versucht, selbst Heilung zu bewirken. Sie hatte kein richtiges Gefühl dafür und besonders nicht für dieses komplizierte Muster, das Nynaeve ohne nachzudenken wob, und obwohl sie gut mit Metallen zurechtkam und sowohl Feuer als auch Erde gut beherrschte, verlor sie sie fast augenblicklich wieder. Natürlich wollten sie wissen, wie das Leben unter den Aiel war. Dem erstaunten Blinzeln und jäh abbrechenden Lachen nach zu urteilen, war sich Egwene nicht sicher; ob sie glaubten, was sie ihnen erzählte, und sie erzählte sicherlich nicht alles. Das Thema Aiel führte natürlich auch zum Thema Rand. Beide Frauen lauschten ihrer Wiedergabe seines Treffens mit den Aes Sedai aufmerksam. Sie stimmten ihr zu, daß er sich in größere Gefahr begab, als ihm bewußt war, und jemanden brauchte, der ihn anleitete, bevor er in eine Falle geriet. Elayne glaubte, Min könnte dabei hilfreich sein, wenn die Abordnung Caemlyn erst erreicht hätte — Egwene hörte jetzt zum ersten Mal, daß Min zu der Abordnung gehörte oder überhaupt in Salidar gewesen war —, obwohl sie in Wahrheit eher halbherzig bei der Sache war. Und sie äußerte etwas höchst Eigenartiges, als sei dies eine Wahrheit, die sie nicht hören wollte.

»Min ist besser als ich.« Aus irgendeinem Grund bewirkte dies einen mitfühlenden Blick von Nynaeve. »Ich wünschte, ich wäre dort«, fuhr Elayne mit kräftigerer Stimme fort. »Ich meine, um ihn anzuleiten.« Sie schaute von Egwene zu Nynaeve, und ihre Wangen röteten sich. »Nun, auch das.« Nynaeve und Egwene mußten so sehr lachen, daß sie beinahe von ihren Stühlen fielen, und Elayne schloß sich ihnen fast augenblicklich an.

»Es gibt eine gute Nachricht, Elayne«, sagte Egwene atemlos, während sie sich noch immer zu fassen versuchte. Dann erkannte sie plötzlich, was sie im Begriff war zu sagen und warum sie es sagen wollte. Licht, in welch eine Lage war sie da geraten, und sie lachte noch! »Es tut mir leid wegen deiner Mutter, Elayne. Du weißt nicht, wie sehr ich mir wünschte, ich hätte dir mein Beileid früher aussprechen können.« Elayne wirkte verständlicherweise verwirrt. »Die Sache ist die, daß Rand dir den Löwenthron und den Sonnenthron übergeben will.« Elayne setzte sich zu ihrer Überraschung ruckartig auf.

»Tut er das, tut er das?« fragte sie mit beherrschter, tonloser Stimme. »Er beabsichtigt, mir beide Throne zu übergeben.« Sie reckte leicht das Kinn. »Ich habe einigen Anspruch auf den Sonnenthron, und wenn ich ihn einnehmen will, dann werde ich ihn allein einnehmen, weil ich das Recht dazu habe. Und was den Löwenthron betrifft — Rand al'Thor hat kein Recht, überhaupt kein Recht, mir zu geben, was mir bereits gehört.«

»Ich bin sicher, daß er es nicht so gemeint hat«, wandte Egwene ein. Wirklich nicht? »Er liebt dich, Elayne. Ich weiß, daß er dich liebt.«

»Wenn es doch nur so einfach wäre«, murmelte Elayne, was auch immer das bedeuten sollte.

Nynaeve schnaubte. »Männer behaupten stets, sie meinten es nicht so. Man könnte glauben, sie sprächen eine andere Sprache.«

»Wenn ich ihn wieder in die Finger bekomme«, sagte Elayne bestimmt, »werde ich ihn lehren, sich richtig auszudrücken. Sie mir geben!«

Es kostete Egwene Mühe, nicht erneut zu lachen. Wenn Elayne das nächste Mal Rand in die Finger bekam, würde sie zu sehr damit beschäftigt sein, einen abgeschiedenen Platz zu finden, um ihn etwas zu lehren. Es war genau wie in alten Zeiten. »Jetzt, wo du eine Aes Sedai bist, kannst du zu ihm gehen, wann immer du willst. Niemand kann dich aufhalten.« Die beiden wechselten schnell einen Blick.

»Der Saal läßt niemanden einfach gehen«, sagte Nynaeve. »Und selbst wenn sie einfach so gehen könnte, würden wir mit Sicherheit etwas Wichtigeres finden.«

Elayne nickte heftig. »Das glaube ich auch. Ich gebe zu, daß ich, als ich gehört habe, daß du zur Amyrlin ernannt worden bist, zuerst dachte, Nynaeve und ich könnten es jetzt vielleicht wirklich finden. Nun, es war wohl eher der zweite Gedanke; zuerst empfand ich eine Art benommener Freude.«

Egwene blinzelte verwirrt. »Ihr habt etwas gefunden? Aber jetzt müßt ihr es wirklich finden?« Sie beugten sich auf ihren Stühlen vor und antworteten eifrig und einander fast übertönend.

»Wir haben es gefunden«, sagte Elayne, »aber nur in Tel'aran'rhiod.«

»Wir haben die Notwendigkeit benutzt«, fügte Nynaeve hinzu. »Wir benötigten sicherlich etwas.«

»Es ist eine Schale«, fuhr Elayne fort, »ein

Ter'angreal, und ich denke, daß sie vielleicht ausreichend stark sein könnte, das Wetter zu verändern.«

»Aber die Schale befindet sich irgendwo in Ebou Dar, in einem schrecklichen Gewirr von Straßen ohne Hinweise oder irgend etwas, das uns helfen könnte. Der Saal hat Merilille einen Brief gesandt, aber sie wird ihn niemals finden.«

»Besonders weil sie Königin Tylin nachdrücklich davon überzeugen soll, daß sich die wahre Weiße Burg hier befindet.«

»Wir haben ihnen gesagt, daß beim Lenken der Macht ein Mann benötigt wird.« Nynaeve seufzte. »Das war natürlich vor Logain, obwohl ich nicht glaube, daß sie ihm vertrauen würden.«

»Es wird nicht wirklich ein Mann benötigt«, erklärte Elayne. »Wir wollten sie einfach überzeugen, daß sie Rand brauchen. Ich weiß nicht, wie viele Frauen nötig sein werden, aber vielleicht ein vollständiger Kreis von dreizehn Frauen.«

»Elayne sagte, die Schale sei sehr mächtig, Egwene. Sie könnte das Wetter wieder regeln. Mir wäre es recht, wenn mein Wettersinn wieder funktionierte.«

»Die Schale kann es tatsächlich wieder regeln, Egwene.« Elayne wechselte beglückte Blicke mit Nynaeve. »Du mußt uns nur nach Ebou Dar schicken.«

Der Redefluß versiegte, und Egwene lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. »Ich werde tun, was ich kann. Vielleicht wird es keine Einwände geben, da ihr jetzt Aes Sedai seid.« Aber sie hatte das Gefühl, daß es doch Einwände geben würde. Sie zu Aes Sedai zu ernennen, war als kühner Streich erschienen, aber sie begann allmählich zu glauben, daß es doch nicht so einfach war.

»Was du kannst?« fragte Elayne ungläubig. »Du bist der Amyrlin-Sitz, Egwene. Du befiehlst, und die Aes Sedai springen.« Sie grinste flüchtig. »Sag ›spring‹, und ich beweise es dir.«

Egwene verzog das Gesicht. »Ich bin die Amyrlin, aber... Elayne, Sheriam muß nicht allzu scharf nachdenken, um sich einer Novizin namens Egwene zu erinnern, die alles mit großen Augen betrachtete und geschickt wurde, die Wege im Neuen Garten zu harken, weil sie nach dem Zubettgehen Äpfel gegessen hatte. Sie will mich an der Hand führen oder am Genick vorwärtsschieben. Romanda und Lelaine wollten beide Amyrlin werden, und sie sehen noch immer diese Novizin in mir. Sie beabsichtigen genauso sehr wie Sheriam, mich in meine Schranken zu weisen.«

Nynaeve runzelte besorgt die Stirn, aber Elayne verkörperte die reine Empörung. »Du kannst es ihnen nicht durchgehen lassen, daß sie dich zu ... zu tyrannisieren versuchen. Du bist die Amyrlin. Die Amyrlin sagt dem Saal, was er tun soll, nicht umgekehrt. Du mußt dich erheben und sie den Amyrlin-Sitz erkennen lassen.«

Egwene lachte ein wenig verbittert. War es erst gestern abend gewesen, daß sie sich heftig dagegen ausgesprochen hatte, tyrannisiert zu werden? »Es wird ein wenig Zeit brauchen, Elayne. Ich verstehe letztendlich, warum sie mich erwählt haben. Ich glaube, daß es mit Rand zu tun hat. Vielleicht glauben sie, er wird zugänglicher sein, wenn er mich die Stola tragen sieht. Ein anderer Grund ist, daß sie sich der Novizin erinnern. Eine Frau — nein: ein Mädchen! —, die so sehr daran gewöhnt ist zu tun, was man ihr sagt, wird keine Schwierigkeiten machen und leicht zu beeinflussen sein.« Sie griff nach der gestreiften Stola um ihren Hals. »Nun, was auch immer die Gründe sind — sie haben mich zur Amyrlin gewählt, und da sie es getan haben, will ich die Amyrlin sein, aber ich muß vorsichtig sein, zumindest vorerst. Vielleicht hat Siuan den Saal springen lassen, wann immer sie die Stirn runzelte« — sie fragte sich, ob das jemals der Wahrheit entsprochen hatte —, »aber wenn ich das versuchte, könnte ich genausogut die erste Amyrlin werden, die am Tag nach ihrer Ernennung abgesetzt wurde.«

Elayne wirkte verblüfft, aber Nynaeve nickte zögernd. Vielleicht hatte ihr die Tatsache, daß sie eine Waise und zu Hause mit dem Frauenzirkel zusammengewesen war, tiefere Einblicke darein gewährt, wie der Amyrlin-Sitz und der Saal der Burg tatsächlich zusammenarbeiteten, als Elayne während ihrer ganzen Vorbereitung zur Königin erlangt hatte.

»Elayne, wenn sich die Nachricht erst verbreitet und die Herrscher von mir wissen, kann ich den Saal allmählich zu der Erkenntnis führen, daß sie eine Amyrlin und keine Marionette erwählt haben, aber bis dahin könnten sie mir diese Stola tatsächlich genauso schnell wieder nehmen, wie sie diese mir gegeben haben. Ich meine, wenn ich nicht wirklich die Amyrlin bin, ist es nicht schwer, mich beiseite zu schieben. Es würde vielleicht einige Proteste geben, aber ich bezweifle nicht, daß sie sie leicht beiseite räumen könnten. Wenn jemand außerhalb Salidars jemals hörte, daß eine junge Frau namens Egwene al'Vere zur Amyrlin erhoben wurde, wäre es nur wieder eines dieser seltsamen Gerüchte, die um die Aes Sedai entstehen.«

»Was wirst du tun?« fragte Elayne leise. »Du wirst das nicht demütig hinnehmen.« Das ließ Egwene aufrichtig lächeln. Es war keine Frage, sondern eine nachdrückliche Feststellung.

»Nein, das werde ich nicht tun.« Sie hatte vielen Lektionen über das Spiel der Häuser gelauscht, die Moiraine Rand erteilt hatte. Damals hatte sie das Spiel für widersinnig und äußerst hinterhältig gehalten. Jetzt hoffte sie nur noch, sich an alles erinnern zu können, was sie damals gehört hatte. Die Aiel sagten stets: Gebrauche die dir zur Verfügung stehenden Waffen. »Vielleicht hilft es mir, daß sie mich auf drei verschiedene Marionettenfäden vorzubereiten versuchen. Ich kann vorgeben, von dem einen oder anderen beeinflußt zu werden, abhängig davon, welches meinem Streben gerade eher entspricht. Ab und zu kann ich einfach tun, was ich will, so wie ich euch beide ernannt habe, aber nicht mehr sehr häufig.« Sie straffte die Schultern und begegnete ihren Blicken mit Gelassenheit. »Ich würde gerne sagen, daß ich euch ernannt habe, weil ihr es verdient habt, aber die Wahrheit ist, daß ich es getan habe, weil ihr meine Freundinnen seid und weil ich hoffe, daß ihr mir als vereidigte Schwestern helfen könnt. Ich weiß einfach nicht, wem außer euch beiden ich vertrauen kann. Ich werde euch so bald wie möglich nach Ebou Dar schicken, aber davor und danach kann ich mit euch über alles reden. Ich weiß, daß ihr mir die Wahrheit sagen werdet. Diese Reise nach Ebou Dar dauert vielleicht nicht so lange, wie ihr glaubt. Ihr beide habt alle möglichen Entdeckungen gemacht, wie ich hörte, aber wenn ich einiges herausfinden kann, werde ich vielleicht auch meine eigene Entdeckung machen.«

»Das wird wundervoll sein«, sagte Elayne, aber sie klang fast abwesend.

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