Die flammende Sonne stieg hinter ihm höher auf, und Mat war froh, daß ihm sein breitkrempiger Hut ein wenig Schatten spendete. Der altarenische Wald war winterkahl und braun, mit Pinien und Lederblattbäumen und anderen immergrünen Bäumen, die verdorrt und aschfarben und bloß wirkten. Es war noch nicht Mittag, weshalb die schlimmste Hitze erst noch kommen würde, aber der Tag war bereits jetzt brutheiß. Mat hatte seinen Umhang über die Satteltaschen gelegt, aber der Schweiß ließ sein Leinenhemd dennoch an der Haut kleben. Pips' Hufe knirschten auf toten Farnen und dichtem herabgefallenen Laub, und die Horde ritt ebenfalls geräuschvoll über den Waldboden. Einige wenige Vögel tauchten auf, schnelle Blitze zwischen den Zweigen, aber kein einziges Eichhörnchen. Es gab jedoch Fliegen und Stechmücken, als befände man sich mitten im Sommer und nicht einen Monat vor dem Lichterfest. Tatsächlich gab es hier nichts anders als das, was er in Erinin gesehen hatte, aber er fühlte sich unbehaglich, hier dieselben Bedingungen vorzufinden. Würde die ganze Welt tatsächlich ausbrennen?
Aviendha schritt neben Pips einher, ihr Bündel auf dem Rücken, von sterbenden Bäumen oder Stechmücken offensichtlich unbeeinträchtigt, und verursachte trotz ihrer Röcke erheblich weniger Geräusche als das Pferd. Sie suchte mit ihren Blicken die umstehenden Bäume ab, als traue sie den Kundschaftern und Wächtern der Horde nicht zu, einen Hinterhalt zu erkennen. Sie hatte das angebotene Pferd nicht angenommen, was er ohnehin nicht erwartet hatte, nachdem er erkannt hatte, wie Aiel dem Reiten gegenüber empfanden, aber sie hatte auch keine Schwierigkeiten gemacht, außer daß die Tatsache, daß sie bei jedem Halt ihr Messer schärfte, als Herausforderung angesehen werden konnte. Gewiß, da war der Zwischenfall mit Olver gewesen. Er ritt den hochtrabenden Grauen, den Mat unter den Ersatzpferden für ihn gefunden hatte, und behielt sie wachsam im Auge. Er hatte in der zweiten Nacht versucht, sie mit seinem Gürtelmesser zu töten, wobei er etwas über Aiel schrie, die seinen Vater umgebracht hätten. Sie nahm ihm das Messer natürlich nur ab, aber selbst nachdem Mat ihn zurechtgewiesen und ihm den Unterschied zwischen Shaido und anderen Aiel zu erklären versucht hatte — etwas, wovon Mat keineswegs sicher war, daß er es selbst verstand —, behielt Olver sie ständig im Auge. Er mochte die Aiel nicht. Aviendha fühlte sich in Olvers Gegenwart anscheinend unbehaglich, was Mat überhaupt nicht verstand.
Die Bäume waren ausreichend hoch, daß sich eine Brise unter dem spärlichen Baldachin über ihnen hätte regen können, aber das Banner der Roten Hand hing schlaff herab, wie auch die beiden Banner, die er hervorgeholt hatte, nachdem Rand sie durch das Tor auf eine nachtgeschützte Wiese gelassen hatte — ein Drachenbanner, dessen rotgoldenes Symbol in weißen Falten verborgen war, sowie eines der Horde, das al'Thors Banner genannt wurde und dessen uraltes Aes-Sedai-Symbol dankenswerterweise auch nach innen geschlagen war. Ein grauhaariger, rangälterer Bannerträger hielt die Rote Hand, ein Bursche mit schmalen Augen und mehr Narben als Daerid, der tatsächlich darauf bestand, das Banner einen Teil des Tages selbst zu tragen, was nur wenige Bannerträger taten. Talmanes und Daerid hatten für die beiden anderen Banner Unterführer besorgt, junge Männer mit frischen Gesichtern, die sich als ausreichend standhaft erwiesen hatten, ein wenig Verantwortung zu übernehmen.
Drei Tage lang waren sie durch Altara gezogen, drei Tage im Wald, ohne einem einzigen Drachenverschworenen zu begegnen — oder sonst jemandem —, und Mat hoffte, daß sich ihr Alleinsein zumindest noch über diesen vierten Tag erstrecken würde, bevor sie Salidar erreichten. Abgesehen von den Aes Sedai mußte man auch noch Aviendha von Elaynes Kehle fernhalten. Er hegte kaum Zweifel darüber, warum sie ständig dieses Messer schärfte. Die Klinge glitzerte bereits wie Edelsteine. Er befürchtete stark, daß er die Aiel-Frau letztendlich unter Bewachung nach Caemlyn bringen müßte, während die verdammte Tochter- Erbin auf jedem Schritt des Weges von ihm verlangte, jene zu hängen. Rand und seine verdammten Frauen! Mats Ansicht nach war alles nützlich, was die Horde verlangsamte und ihn von dem abhielt, was ihn in Salidar erwartete. Es war hilfreich, früh anzuhalten und spät aufzubrechen. Das galt für die den Zug beschließenden Proviantwagen, die im Wald nur langsam vorankamen. Aber auch die Horde konnte nur langsam voranreiten. Vanin war sich sicher, nur zu bald etwas zu finden.
Wie auf ein Stichwort tauchte der dicke Kundschafter mit vier weiteren Reitern vor ihnen zwischen den Bäumen auf. Er war vor der Dämmerung mit sechs Männern losgeritten.
Mat hob eine geballte Faust und gab so das Zeichen zum Anhalten. Murmeln erklang in der Schlange. Sein erster Befehl, nachdem sie das Tor zurückgelassen hatten, hatte »keine Trommeln, keine Trompeten, keine Flöten und kein verdammtes Singen« gelautet, und wenn zunächst einige verdrießliche Gesichter zu sehen gewesen waren, widersprach nach dem ersten Tag in dem Waldgebiet, in dem man niemals mehr als hundert Schritte voraus sehen konnte, niemand mehr.
Mat legte seinen Speer quer über den Sattel, wartete, bis Vanin herankam, und runzelte unbewußt die Stirn. »Ihr habt sie gefunden?«
Der kahl werdende Mann beugte sich im Sattel zur Seite, um durch eine Zahnlücke auszuspeien. Er schwitzte so stark, daß er zu schmelzen schien. »Ich habe sie gefunden. Acht oder zehn Meilen westlich. In den Wäldern befinden sich Behüter. Ich habe gesehen, wie einer von ihnen einen Mär gefangengenommen hat. Kam einfach in einem dieser Umhänge aus dem Nichts und riß ihn aus dem Sattel. Ich habe ihm erheblich zugesetzt, aber ich habe ihn nicht getötet. Ich vermute, daß Ladwin aus demselben Grund nicht wieder aufgetaucht ist.«
»Also wissen sie, daß wir hier sind.« Mat atmete heftig durch die Nase. Er erwartete nicht, daß die Männer etwas über die Behüter zurückhalten würden, und noch viel weniger über die Aes Sedai. Aber andererseits mußten auch die Aes Sedai es früher oder später erfahren. Er hätte sich nur gewünscht, daß es erst später geschehen würde. Er schlug nach einer Stechmücke, aber sie summte davon und hinterließ einen Blutfleck an seinem Handgelenk. »Wie viele?«
Vanin spie erneut aus. »Mehr als ich jemals erwartet hätte. Ich bin zu Fuß ins Dorf gelangt und habe dort überall Aes-Sedai-Gesichter gesehen. Vielleicht zwei- oder dreihundert. Vielleicht auch vierhundert. Ich wollte nicht zu offensichtlich zählen.« Bevor Mat diesen Schock verdauen konnte, lieferte der Mann schon den nächsten. »Sie haben auch ein Heer. Es lagert nördlich des Dorfes. Mehr Männer, als Ihr habt. Vielleicht doppelt so viele.«
Talmanes, Nalesean und Daerid waren währenddessen schwitzend und nach Stechmücken schlagend herangeritten. »Habt Ihr es gehört?« fragte Mat, und sie nickten betrübt. Er hatte zwar stets Glück im Kampf, aber zwei zu eins in der Minderheit zu sein, mit Hunderten darin verwickelten Aes Sedai, konnte jedes Glück überstrapazieren. »Wir sind nicht hier, um zu kämpfen«, erinnerte er sie, aber ihr Gesichtsausdruck blieb betrübt. Er selbst fühlte sich durch seine Bemerkung auch nicht besser. Es zählte nur, ob die Aes Sedai ihr Heer in den Kampf schicken wollten.
»Die Horde soll sich auf einen Angriff vorbereiten«, befahl er. »Legt soviel Fläche wie möglich frei, und benutzt die Baumstämme für Barrikaden.« Talmanes verzog das Gesicht fast genauso stark wie Nalesean. Sie kämpften lieber im Sattel. »Denkt daran, vielleicht beobachten uns Behüter auch jetzt.« Er war überrascht, Vanin nicken und vielsagend nach rechts blicken zu sehen. »Wenn sie sehen, daß wir uns auf die Verteidigung vorbereiten, werden sie erkennen, daß wir offensichtlich nicht angreifen wollen. Das könnte sie vielleicht überzeugen, uns in Ruhe zu lassen, aber wenn nicht, dann sind wir wenigstens bereit.« Talmanes verstand seine Gedankengänge eher als Nalesean. Daerin hatte von Anfang an zu seinen Worten genickt.
Nalesean zwirbelte seinen geölten Bart und murrte: »Was habt Ihr vor? Einfach dazusitzen und auf sie zu warten?«
»Genau das«, bestätigte Mat ihm. Der verdammte Rand und seine vielleicht fünfzig Aes Sedai‹! Verdammt seien er und sein drohe ein wenig; schüchtere sie ein‹! Es schien eine sehr gute Idee, hier zu warten, bis jemand aus dem Dorf herauskam, um zu fragen, wer sie seien und was sie hier wollten. Dieses Mal ohne verkehrendes Ta'veren. Jeglicher Kampf würde zu ihm gelangen müssen. Er würde nicht hineinspazieren.
»Sind sie dort?« fragte Aviendha und deutete in eine bestimmte Richtung. Ohne auf eine Antwort zu warten, rückte sie ihr Bündel auf dem Rücken zurecht und schritt gen Westen.
Mat sah ihr nach. Verdammte Aiel. Irgendein Behüter würde sie vermutlich auch gefangenzunehmen versuchen — und seinen Kopf bekommen. Oder vielleicht auch nicht, wenn man Behüter kannte. Wenn sie einen von ihnen mit dem Messer zu töten versuchte, würde er sie vielleicht nur verletzen. Aber wenn sie zu Elayne gelangte und sich mit ihr über Rand stritt oder noch schlimmer, sie mit dem Messer tötete... Sie bewegte sich schnell voran, bestrebt, Salidar zu erreichen. Blut und blutige Asche!
»Talmanes, Ihr übernehmt das Kommando, bis ich zurückkomme, aber Ihr regt Euch nicht, es sei denn, jemand springt die Horde mit beiden Beinen gleichzeitig an. Diese vier Männer werden Euch erklären, was Euch möglicherweise bevorsteht. Vanin, Ihr geht mit mir. Olver, bleib dicht bei Daerid, falls er Botschaften senden muß. Du kannst ihm das Schlangen-und-Füchse-Spiel beibringen«, fügte er mit einem Grinsen zu Daerid hinzu. »Er hat mir gesagt, er würde es gern lernen.« Daerids Kinn sank herab, aber Mat war bereits gegangen. Es wäre verheerend, wenn er letztendlich mit einer Beule am Kopf von einem Behüter nach Salidar verschleppt würde. Wie konnte er das verhindern? Sein Blick fiel auf die Banner. »Ihr bleibt hier«, erklärte er dem grauhaarigen Bannerträger.
»Ihr anderen beiden kommt mit mir. Und rollt die Banner zusammen.«
Seine seltsame kleine Gruppe holte Aviendha rasch ein. Wenn etwas die Behüter überzeugen könnte, sie ungehindert durchzulassen, dann sollte ein Blick genügen. Eine Frau und vier Männer, die sich offensichtlich nicht bemühten, unbemerkt zu bleiben und keine Banner trugen, bedeuteten keine Bedrohung. Er überprüfte die Unterführer. Es war noch immer windstill, aber sie hielten die Banner ohnehin an die Stäbe gedrückt. Ihre Gesichter waren angespannt. Nur ein Narr würde zwischen Aes Sedai reiten und sie erschrecken wollen.
Aviendha sah ihn von der Seite an und versuchte dann, seinen Stiefel aus dem Steigbügel zu schieben. »Laßt mich hinauf«, befahl sie kurz angebunden.
Warum, unter dem Licht, wollte sie jetzt reiten? Nun, er würde sie nicht allein aufsteigen und ihn dabei sehr wahrscheinlich aus dem Sattel stoßen lassen. Er hatte ein- oder zweimal Aiel auf ein Pferd steigen sehen.
Er schlug nach einer weiteren Mücke, beugte sich dann herab und ergriff ihre Hand. »Haltet Euch fest«, sagte er und hob sie brummend hinter sich. Sie war fast so groß wie er und außerdem kräftig. »Legt Euren Arm einfach um meine Taille.« Sie sah ihn nur an und drehte sich unbeholfen, bis sie rittlings saß und beide Beine bis über die Knie entblößt waren, was sie aber nicht störte. Hübsche Beine, aber er würde sich nicht noch einmal mit einer Aiel-Frau einlassen, selbst wenn sie nicht von Rand besessen war.
Nach einiger Zeit sagte sie hinter ihm: »Der Junge, Olver — haben die Shaido seinen Vater getötet?«
Mat nickte, ohne sich umzusehen. Würde er Behüter überhaupt bemerken, bevor es zu spät war? Vanin ritt, wie immer wie ein Mehlsack zusammengesunken, voraus, aber er beobachtete seine Umgebung genau.
»Und seine Mutter ist verhungert?« fragte Aviendha.
»Entweder das, oder sie ist an einer Krankheit gestorben.« Behüter trugen jene Umhänge, die mit allem verschmolzen. Man konnte an einem Behüter vorübergehen, ohne ihn zu sehen. »Olver hat es nicht so genau erzählt, und ich habe ihn nicht bedrängt. Er hat sie selbst begraben. Glaubt Ihr, Ihr schuldet ihm etwas, weil Aiel seine Familie auf dem Gewissen haben?«
»Etwas schulden?« Sie klang bestürzt. »Ich habe die beiden nicht getötet, und ich hätte es nur getan, wenn sie Baummörder gewesen wären. Wie könnte ich dann Toh haben?« Sie fuhr ohne Pause fort, als würde sie das gleiche Thema weiterverfolgen. »Ihr kümmert Euch nicht richtig um ihn, Mat Cauthon. Ich weiß, daß Männer nichts von Kindererziehung verstehen, aber er ist zu jung, um seine ganze Zeit mit erwachsenen Männern zu verbringen.«
Mat sah sie an und blinzelte. Sie hatte ihr Kopftuch abgenommen und ließ einen glänzenden GrünsteinKamm eifrig durch ihr dunkles, rötliches Haar gleiten. Das schien ihre ganze Aufmerksamkeit zu erfordern —und das Bemühen, nicht vom Pferd zu fallen. Sie hatte sich außerdem eine fein gearbeitete Silberkette und ein breites Armband aus geschnitztem Elfenbein umgelegt.
Er schüttelte den Kopf und beobachtete dann weiterhin den Wald. Aiel oder nicht — in mancherlei Beziehung waren sich alle gleich. Eine Frau wird auch dünn noch Zeit finden, sich die Haare zu richten, wenn die Welt untergeht. Eine Frau wird einem Mann auch dann noch sagen, daß er falsch gehandelt hate wenn die Welt untergeht. Er hätte sicherlich leise gelacht, wenn er nicht so sehr damit beschäftigt gewesen wäre, sich zu fragen, ob die Behüter ihn gerade jetzt beobachteten.
Die Sonne hatte den Zenit bereits überschritten, als der Wald plötzlich endete. Weniger als hundert Schritte gerodetes Gelände trennten den Wald vom Dorf, und es sah so aus, als sei der Boden noch nicht sehr lange gerodet. Salidar selbst war ein beachtliches Dorf aus grauen Steingebäuden mit Strohdächern, dessen Straßen bevölkert waren. Mat zuckte in seinem Umhang aus grünem, an den Ärmeln und am Halsausschnitt mit Goldfäden bestickten Stoff die Achseln. Er sollte genügen, um Aes Sedai angemessen zu begegnen. Er ließ ihn jedoch offenstehen. Er würde selbst für Aes Sedai nicht vor Hitze umkommen.
Niemand versuchte sie aufzuhalten, während sie ins Dorf ritten, aber die Menschen blieben stehen, und aller Blicke wandten sich ihm und seiner seltsamen kleinen Gruppe zu. Gut, sie wußten es. Jedermann wußte es. Bei der Zahl Fünfzig gab er es auf, die Aes-Sedai-Gesichter weiterhin zu zählen, da diese Zahl beunruhigend schnell erreicht war. In der Menge waren keine Soldaten zu sehen, es sei denn, man rechnete die Behüter dazu, von denen einige in den die Farbe verändernden Umhängen darunter waren und die nach ihrem Schwertheft tasteten, während sie sie vorüberziehen sahen. Wenn keine Soldaten im Dorf waren, bedeutete das nur, daß sie sich in den Lagern aufhielten, die Vanin erwähnt hatte. Und wenn alle Soldaten in den Lagern waren, bedeutete das, daß sie bereit waren zu handeln. Mat hoffte, daß sich Talmanes an seine Anweisungen hielt. Talmanes war nicht dumm, aber genauso schnell wie Nalesean bereit, loszustürmen und jemanden anzugreifen. Er hätte lieber Daerid seine Aufgabe übertragen — Daerid hatte zu viele Kämpfe gesehen, um zum Kampf bereit zu sein —, aber der Adlige hätte niemals dazu gestanden. In Salidar schien es auch keine Mücken zu geben. Vielleicht wissen sie etwas, was ich nicht weiß.
Eine Frau zog seinen Blick auf sich, eine hübsche Frau in merkwürdiger Kleidung — eine weite gelbe Hose und ein kurzer weißer Mantel — und das goldene Haar bis zur Taille kunstvoll geflochten. Sie trug einen Bogen bei sich. Nicht viele Frauen fühlten sich für den Bogen berufen. Sie bemerkte seinen Blick und verschwand in einer schmalen Gasse. Etwas an ihr erweckte seine Erinnerung, aber er konnte nicht sagen, was es war. Das war der Haken an diesen alten Erinnerungen. Er sah stets Menschen, die ihn an jemanden erinnerten, der, wie sich herausstellte, wenn es ihm wieder einfiel, bereits seit tausend Jahren tot war. Vielleicht hatte er sogar einmal wirklich jemand gekannt, der dieser Frau ähnlich sah. Jene Lücken in der Erinnerung an sein eigenes Leben waren von Verschwommenem umgeben. Wahrscheinlich ein weiterer Jäger des Horns, dachte er verwirrt und verdrängte den Gedanken an die Frau.
Es hatte keinen Sinn umherzureiten, bis jemand sie ansprach, weil es anscheinend niemand tun würde. Mat zügelte sein Pferd und nickte einer dünnen, dunkelhaarigen Frau zu, die gelassen zu ihm hochsah. Sie war hübsch, aber für seinen Geschmack selbst ohne dieses alterslose Gesicht zu hager. Wer wollte schon bei jeder Umarmung gestochen werden? »Mein Name ist Mat Cauthon«, sagte er ruhig. Wenn sie Huldigungen erwartete, würde sie enttäuscht werden, aber es wäre auch töricht, ihre Feindschaft zu erwecken. »Ich suche Elayne Trakand und Egwene al'Vere. Und auch Nynaeve al'Meara.« Rand hatte sie nicht erwähnt, aber Mat wußte, daß sie mit Elayne fortgegangen war.
Die Aes Sedai blinzelte überrascht, faßte sich aber augenblicklich wieder. Sie betrachtete ihn und die anderen einen nach dem anderen, hielt bei Aviendha inne und betrachtete auch die Unterführer dann so lange, daß Mat sich fragte, ob sie den Drachen und die schwarzweiße Scheibe durch die Falten des Stoffes hindurch sehen konnte. »Folgt mir«, sagte sie schließlich. »Ich werde nachsehen, ob der Amyrlin-Sitz Euch empfangen kann.« Sie raffte ihre Röcke und eilte die Straße hinauf.
Während Mat Pips hinter ihr herführte, ließ Vanin seinen Grauen zurückfallen und murrte: »Aes Sedai nach etwas zu fragen, ist niemals gut. Ich hätte Euch den Weg zeigen können.« Mat wandte den Kopf einem dreistöckigen, kubusförmigen Steingebäude zu. »Sie nennen es die Kleine Burg.«
Mat zuckte unbehaglich die Achseln. Die Kleine Burg? Und hier gab es jemanden, den sie den Amyrlin-Sitz nannten? Er bezweifelte, daß die Frau Elaida gemeint hatte. Rand hatte sich erneut geirrt. Diese Leute hatten keine Angst. Sie waren zu stolzgeschwellt und verrückt, um Angst zu haben.
Vor dem kubusförmigen Steingebäude sagte die hagere Aes Sedai herrisch: »Wartet hier.« Sie verschwand im Inneren.
Aviendha glitt vom Pferd, und Mat tat es ihr schnell nach, bereit, sie zu ergreifen, falls sie fliehen wollte. Auch wenn es ihm in der Seele weh tat, würde er sie nicht davonlaufen und Elayne die Kehle aufschlitzen lassen, bevor er auch nur die Gelegenheit gehabt hatte, mit dieser sogenannten Amyrlin zu sprechen. Aber sie stand nur da und starrte mit über der Taille verschränkten Händen und der um die Ellenbogen geschlungenen Stola vor sich hin. Sie wirkte vollkommen gelassen, aber er dachte, daß sie vielleicht dennoch schreckliche Angst hatte. Wenn sie Verstand hätte, würde sie sich fürchten. Sie hatten eine Menschenmenge angezogen.
Aes Sedai hatten sich versammelt, schlossen sie vor der Kleinen Burg ein und beobachteten Mat schweigend, während der Halbkreis der Frauen immer dichter wurde, je länger er dort stand. Tatsächlich schienen sie Aviendha genauso zu beobachten wie ihn, aber er spürte all jene kühlen, unlesbaren Blicke. Er konnte sich kaum beherrschen, den silbernen Fuchskopf unter seinem Hemd zu berühren.
Eine Aes Sedai mit klaren Gesichtszügen bahnte sich ihren Weg zur vordersten Reihe der Menge und führte eine schlanke junge Frau in Weiß mit sich. Sie erinnerte ihn vage an Anaiya, aber sie schien kaum an ihm interessiert. »Seid Ihr sicher, Kind?« fragte sie die Novizin.
Die junge Frau preßte den Mund leicht zusammen, aber ihre Stimme klang fest. »Er scheint noch immer zu leuchten oder zu strahlen. Ich sehe es wirklich. Ich weiß nur nicht warum.«
Anaiya lächelte sie erfreut an. »Er ist Ta'veren, Nicola. Ihr habt Euer erstes Talent entdeckt. Ihr könnt Ta'veren sehen. Und jetzt zurück zum Unterricht. Schnell. Ihr wollt doch nichts versäumen.« Nicola vollführte einen Hofknicks und verschwand mit einem letzten Blick auf Mat in der Menge der sie umgebenden Aes Sedai.
Dann sah Anaiya ihn an, mit einem jener Aes Sedai-Blicke, die einen Mann beunruhigen sollten. Er beunruhigte ihn tatsächlich ausreichend. Natürlich wußten einige Aes Sedai etwas über ihn — einige wußten mehr, als ihm lieb war, und wenn er darüber nachdachte, erinnerte er sich daran, daß Anaiya dazugehörte —, aber wenn die Dinge so verkündet wurden, vor das Licht wußte wie vielen Frauen mit jenen kühlen Aes Sedai-Augen... Er strich mit der Hand über das geschnitzte Heft seines Schwertes. Fuchskopf oder nicht, sie waren ausreichend viele, daß sie einfach Hand an ihn legen und ihn davontragen könnten. Verdammte Aes Sedai! Verdammter Rand!
Aber Anaiyas Aufmerksamkeit galt nur kurz ihm. Sie trat zu Aviendha und sagte: »Und wie heißt Ihr, Kind?« Ihre Stimme klang freundlich, erwartete aber unverzüglich eine Antwort.
Aviendha sah sie offen an. Sie war einen Kopf größer und nutzte auch jeden Zentimeter dieser Größe. »Ich bin Aviendha, von der Neun-Täler-Septime der Taardad-Aiel.« Anaiya verzog den Mund zu der Andeutung eines Lächelns, als sie den trotzigen Unterton bemerkte.
Mat fragte sich, wer bei diesem Duell der Blicke wohl siegen würde, aber bevor er sich eine Meinung darüber bilden konnte, trat eine weitere Aes Sedai zu ihnen, eine Frau, deren knochiges Gesicht trotz glatter Wangen und glänzendem braunen Haar den Eindruck von Alter vermittelte. »Seid Ihr Euch bewußt, daß Ihr die Macht lenken könnt, Kind?«
»Ja«, antwortete Aviendha kurz und schloß jäh den Mund, als beabsichtige sie von jetzt ab zu schweigen. Sie konzentrierte sich darauf, ihre Stola zu richten, aber sie hatte schon genug gesagt. Aes Sedai drängten zu ihr heran und schoben Mat beiseite.
»Wie alt seid Ihr, Kind?«
»Ihr habt viel Kraft entwickelt, aber Ihr könntet als Novizin noch vieles dazulernen.«
»Sterben viele Aiel-Mädchen in jüngerem Alter als Eurem an Abzehrung?«
»Wie lange habt Ihr...«
»Ihr könntet...«
»Ihr solltet wirklich...«
»Ihr müßt...«
Nynaeve erschien so plötzlich im Eingang, daß sie sich aus der Luft materialisiert zu haben schien. Sie stemmte die Fäuste in die Hüften und sah Mat an. »Was tust du hier, Matrim Cauthon? Wie bist du hierhergelangt? Vermutlich wird meine Hoffnung enttäuscht, daß du etwas mit diesem Heer der Drachenverschworenen zu tun hast, das hierherkornmen soll.«
»Tatsächlich«, sagte er trocken, »bin ich der Befehlshaber.«
»Du...!« Nynaeve stand mit offenem Mund da, riß sich dann aber zusammen und zupfte an ihrem blauen Gewand, als sei es in Unordnung gewesen. Es war tiefer ausgeschnitten als jedes andere Gewand, an das er sich bei ihr von früher erinnern konnte, tief genug, um Einblick zu gewähren, mit gelben Ornamenten an Halsausschnitt und Saum. »Nun, dann komm mit«, sagte sie scharf. »Ich bringe dich zur Amyrlin.«
»Mat Cauthon«, rief Aviendha ein wenig atemlos. Sie suchte ihn über die Köpfe der Aes Sedai hinweg. »Mat Cauthon.« Mehr nicht, aber sie wirkte für Aiel-Verhältnisse außer sich.
Die sie umgebenden Aes Sedai sprachen mit ruhigen Stimmen überlegt, aber unaufhörlich weiter.
»Für Euch wäre es das beste, wenn...«
»Ihr müßt bedenken...«
»Das allerbeste... «
»Ihr könnt wohl kaum erwägen...«
Mat grinste. Sie würde wohl jeden Moment ihr Messer ziehen, aber er bezweifelte, daß es ihr in dieser Menschenmenge viel nützen würde. Sie würde Elayne nicht so bald erwischen, das war sicher. Mit der Überlegung, ob er sie bei seiner Rückkehr in einem weißen Gewand vorfinden würde, machte er Vanin mit dem Speer ein Zeichen. »Geh voraus, Nynaeve. Laß uns dieser Amyrlin begegnen.«
Sie sah ihn finster stirnrunzelnd an, führte ihn aber in das Gebäude, während sie an ihrem Zopf zog und halb zu sich selbst murrte: »Dies ist Rands Werk, nicht wahr? Ich weiß es. Irgendwie ist es das. Jedermann vor Angst halbwegs in den Wahnsinn zu treiben! Achte darauf, wo du hintrittst, Lordhauptmann Cauthon, oder ich schwöre, daß du dir wünschen wirst, ich hätte dich nur wieder beim Blaubeerenstehlen erwischt. Menschen zu ängstigen! Selbst ein Mann sollte mehr Verstand haben! Hör auf zu grinsen, Mat Cauthon. Ich weiß nicht, wie sie hierauf reagieren wird.«
An den Tischen im Inneren saßen Aes Sedai — der Raum schien ein Aufenthaltsraum zu sein, auch wenn diese Aes Sedai, die schrieben oder Befehle ausgaben, sorgfältig plaziert wirkten —, aber sie beachteten ihn und Nynaeve kaum, während sie den Raum durchquerten. Es verdeutlichte nur einmal mehr, eine wie armselige Vorführung sie hier boten. Eine Aufgenommene stolzierte durch den Raum, wobei sie etwas vor sich hinmurmelte, aber keine der Aes Sedai sagte etwas. Er hatte sich nur so kurz wie möglich in der Burg aufgehalten, aber er wußte, daß Aes Sedai sonst nicht so reagierten.
Nynaeve öffnete eine Tür an der Rückseite des Raumes, die schon bessere Zeiten gesehen hatte. Alles hier schien schon bessere Zeiten gesehen zu haben. Mat folgte ihr hindurch — und blieb jäh stehen. Elayne befand sich in dem Raum, sehr hübsch mit diesem goldenen Haar, aber sie spielte in ihrer grünen Seide mit einem hohen Spitzenkragen, mit dieser herablassenden Art zu lächeln und den hochgezogenen Augenbrauen die große Dame. Egwene befand sich ebenfalls dort, sie saß mit fragendem Lächeln hinter einem Tisch. Und mit einer Stola mit sieben Streifen über ihrem hellgelben Gewand. Mat spähte schnell nach draußen und schob dann die Tür zu, bevor eine der Aes Sedai hereinsehen konnte.
»Vielleicht hältst du das für spaßig«, grollte er und trat sofort zu ihr, »aber sie werden dich erwischen, wenn sie es herausfinden. Sie werden dich, verdammt, niemals gehen lassen, keine von euch, wenn sie...« Er riß Egwene die Stola von den Schultern und zog sie eilig aus dem Sessel — und der silberne Fuchskopf auf seiner Brust wurde eiskalt.
Er schob Egwene ein kleines Stück vom Tisch fort und sah sie alle an. Egwene wirkte nur verwirrt, aber Elayne schienen die großen blauen Augen fast aus dem Kopf zu fallen. Eine von ihnen hatte versucht, bei ihm die Macht anzuwenden. Das einzig gute Ergebnis seiner Reise in jenes Ter'angreal war das FuchskopfMedaillon gewesen. Er vermutete, daß es ebenfalls ein Ter'angreal sein mußte, aber er war gleichzeitig auch dankbar dafür. Solange es seine Haut berührte, konnte die Eine Macht ihn nicht beeinträchtigen. Und Saidar ohnehin nicht. Er hatte mehr Beweise dafür bekommen, als ihm lieb war. Aber es wurde kalt, wenn jemand es versuchte.
Er warf die Stola und seinen Hut auf den Tisch, setzte sich hin, sprang dann wieder auf, zog einige Kissen hervor und warf sie auf den Boden. Er legte einen Fuß auf die Tischkante und betrachtete die törichten Frauen. »Ihr werdet diese Kissen brauchen, wenn die sogenannte Amyrlin von eurem kleinen Scherz erfährt.«
»Mat«, begann Egwene mit fester Stimme, aber er unterbrach sie.
»Nein! Wenn du reden wolltest, hättest du statt dessen lieber darüber reden sollen, daß du mit deiner verdammten Macht um dich schlagen wolltest. Jetzt kannst du zuhören.«
»Wie hast du...?« fragte Elayne verwundert. »Die Stränge sind einfach ... verschwunden.«
Fast im selben Augenblick sagte Nynaeve in drohendem Tonfall: »Mat Cauthon, du begehst den größten... «
»Ich sagte zuhören!« Er deutete mit einem Finger auf Elayne. »Dich nehme ich mit zurück nach Caemlyn, wenn ich Aviendha davon abhalten kann, dich umzubringen. Wenn du nicht willst, daß man dir deine hübsche Kehle durchschneidet, solltest du in meiner Nähe bleiben und tun, was ich dir sage!« Jetzt wurde der Finger auf Egwene gerichtet. »Rand sagt, daß er dich zu den Weisen Frauen zurückbringt, wann immer du willst, und wenn das, was ich bisher gesehen habe, in irgendeiner Weise ein Hinweis darauf ist, wie du hier enden wirst, rate ich dir, ihn jetzt beim Wort zu nehmen! Anscheinend kannst du Schnell Reisen« —Egwene zuckte leicht zusammen —, »also kannst du für die Horde ein Tor nach Caemlyn eröffnen. Ich will keinen Streit, Egwene! Und du, Nynaeve! Ich sollte dich hierlassen, aber wenn du mitkommen willst, steht es dir frei. Aber ich warne dich. Ziehst du nur einmal an diesem Zopf, dann schwöre ich dir, daß ich dir die Kehrseite verbleuen werde!«
Sie starrten ihn an, als wären ihm wie einem Trolloc Hörner gewachsen, aber zumindest hielten sie den Mund. Vielleicht hatte er ihnen ein wenig Verstand eingegeben. Nicht daß sie ihm jemals dafür danken würden, daß er ihre Haut gerettet hatte. O nein, sie nicht. Sie würden, wie üblich, behaupten, daß sie es auch allein geschafft hätten, obwohl sie dafür ein wenig länger gebraucht hätten. Wenn eine Frau sogar sagte, man hätte sich eingemischt, wenn man sie aus einem Kerker befreit — was würde sie dann nicht sagen?
Er atmete tief ein. »Also, wenn die arme blinde Närrin, die sie zur Amyrlin erwählt haben, hierherkommt, werde ich das Reden übernehmen. Sie kann nicht sehr klug sein, sonst hätten sie sie niemals zu dieser Aufgabe drängen können. Amyrlin-Sitz für ein verdammtes Dorf inmitten des verdammten Nichts! Haltet den Mund und vollführt angemessene Hofknickse, dann werde ich wieder einmal für euch die Kohlen aus dem Feuer holen.« Sie sahen ihn nur an. Gut. »Ich weiß alles über ihr Heer, aber ich besitze ebenfalls eines. Wenn sie verrückt genug ist zu glauben, sie kann Elaida die Burg nehmen... Nun, sie würde wahrscheinlich keine Verluste riskieren, nur um euch drei festzuhalten. Egwene, du eröffnest dieses Tor, und ich werde euch morgen, spätestens übermorgen, in Caemlyn sehen. Und diese verrückten Frauen können davonlaufen und sich von Elaida töten lassen. Vielleicht werdet ihr Begleitung haben. Sie können nicht alle verrückt sein. Rand ist bereit, Zuflucht zu gewähren. Ein Hofknicks, ein kurzer Treueschwur — und er wird Elaida daran hindern, ihre Köpfe in Tar Valon aufzuspießen. Etwas Besseres können sie nicht verlangen. Nun? Gibt es irgend etwas zu sagen?« Sie blinzelten nicht einmal, soweit er es erkennen konnte. »Ein einfaches ›Danke, Mat‹ würde genügen.« Kein Wort. Kein Blinzeln.
Ein leises Klopfen erklang an der Tür, und eine Novizin trat ein, ein hübsches, grünäugiges Mädchen, das ehrfürchtig einen tiefen Hofknicks vollführte. »Ich soll Euch fragen, ob Ihr irgend etwas braucht, Mutter. Für den ... für den Lordhauptmann, meine ich. Wein, oder ... oder...«
»Nein, Tabitha.« Egwene zog die gestreifte Stola unter Mats Hut hervor und legte sie sich um die Schultern. »Ich möchte noch ein wenig länger mit Lordhauptmann Cauthon allein sprechen. Sagt Sheriam, daß ich in Kürze nach ihr schicken werde, damit sie mich berät.«
»Mach den Mund zu, bevor dir Fliegen hineingeraten, Mat«, riet Nynaeve in zutiefst zufriedenem Tonfall.