Egwene erschien Rands Besuch in Cairhien wie eines dieser großartigen Spektakel der Feuerwerker, von denen sie zwar gehört, die sie aber nie gesehen hatte, und die in der ganzen Stadt aufflammten. Der Widerhall schien endlos nachzuklingen.
Sie blieb dem Palast natürlich fern, aber die Weisen Frauen suchten jeden Tag nach mit Saidar errichteten Fallen, und sie sagten ihr, was vor sich ging. Adlige sahen einander mißtrauisch an, und Tairener und Cairhiener gleichermaßen. Berelain schien sich verborgen zu halten und weigerte sich, irgend jemanden zu sehen, wenn es nicht unbedingt notwendig war. Rhuarc hatte sie offensichtlich dafür zur Rechenschaft gezogen, ihre Pflichten vernachlässigt zu haben, aber es hatte kaum gewirkt. Er schien im ganzen Palast der einzige zu sein, der nicht beeinträchtigt war. Sogar die Diener sprangen, wenn man sie nur ansah, obwohl das vielleicht auch daher rührte, daß die Weisen Frauen in allen Ecken herumstöberten.
In den Zelten standen die Dinge nicht besser und unter den Weisen Frauen ohnehin nicht. Die restlichen Aiel waren wie Rhuarc, ruhig und unerschütterlich.
Ihre Haltung ließ die Launenhaftigkeit der Weisen Frauen noch krampfhafter wirken. Amys und Sorilea kamen ziemlich aufgebracht von einem Treffen mit Rand zurück. Sie sagten nicht warum, nicht solange Egwene es hören könnte, aber das Gefühl verbreitete sich so schnell wie ein Gedanke unter den Weisen Frauen, bis jede einzelne von ihnen wie eine kratzbürstige Katze umherschlich. Ihre Lehrlinge bewegten sich fast lautlos und sprachen leise, aber sie wurden dennoch stirnrunzelnd für Dinge gerügt, die zuvor unbemerkt geblieben wären, und für Vergehen bestraft, die zuvor nur ein Stirnrunzeln bewirkt hätten.
Shaido-Weise Frauen, die im Lager erschienen, halfen nicht. Zumindest waren Therava und Emerys Weise Frauen. Die dritte war Sevanna, die wichtigtuerisch und mit ausreichend weit geöffneter Bluse herumstolzierte, um Berelain Konkurrenz zu machen, egal wieviel Staub heranwehte. Therava und Ernerys sagten, Sevanna sei eine Weise Frau, und obwohl Sorilea deswegen grollte, mußte sie als solche anerkannt werden. Egwene war sich sicher, daß sie spionierten, aber Amys sah sie nur an, als sie es erwähnte. Durch die Bräuche geschützt, konnten sie frei zwischen den Zelten umhergehen und wurden von allen Weisen Frauen — sogar von Sorilea — herzlich willkommen geheißen, als seien sie enge Freundinnen oder Erst-Schwestern. Dennoch verschärfte ihre Anwesenheit die Übellaunigkeit aller noch, besonders Egwenes. Diese selbstgefällige Katze Sevanna wußte, wer sie war, und machte sich nicht die Mühe, ihr Vergnügen daran zu verbergen, ›das kleine Lehrmädchen‹ bei jeder Gelegenheit nach einem Becher Wasser oder Ähnlichem zu schicken. Sevanna sah sie an — mit prüfendem Blick. Egwene wurde an jemanden erinnert, der ein Huhn betrachtet, während er darüber nachdenkt, wie er es zubereiten will, nachdem er es gestohlen hat. Und was noch schlimmer war — die Weisen Frauen wollten ihr nicht sagen, worüber sie sprachen. Es waren Angelegenheiten der Weisen Frauen und nicht die der Lehrlinge. Aus welchem Grund auch immer die Shaido dort waren, sicherlich interessierte sie die Stimmung unter den Weisen Frauen. Mehr als einmal sah Egwene Sevanna, wenn sie sich unbeobachtet glaubte, lächeln, wenn sie Amys oder Malindhe oder Cosain vorbeistolzieren, mit sich reden und nutzlos ihre Stolen richten sah. Aber natürlich hörte niemand auf Egwene. Zu viele Bemerkungen über die Shaido-Frauen brachten ihr schließlich die Strafe ein, den größten Teil des Tages ein Loch graben zu müssen, das »ausreichend tief war, um darin zu stehen, ohne gesehen zu werden«, und als sie schwitzend und schmutzig dort herauskletterte und das Loch wieder zuzuschaufeln begann, sah Sevanna zu.
Zwei Tage, nachdem Rand gegangen war, überredeten Aeron und einige andere Weise Frauen drei Töchter des Speers, sich nachts über die Mauer von Arilyns Palast zu stehlen, um zu sehen, was sie herausfinden konnten, und das machte alles noch schlimmer. Die drei umgingen Gawyns Wachen, wenn auch unter größeren Schwierigkeiten als erwartet, aber die Aes Sedai waren eine andere Sache. Während sie noch vom Dach in eine Mansarde kletterten, wurden sie von der Macht umhüllt und hineingezogen. Glücklicherweise schienen Coiren und die anderen zu glauben, sie seien dort eingedrungen, um etwas zu stehlen, obwohl die Töchter des Speers es vielleicht für nicht so vorteilhaft gehalten hatten. Sie wurden so verprügelt auf die Straße geworfen, daß sie kaum gehen konnten, und versuchten dennoch, sich nichts anmerken zu lassen, als sie zu den Zelten zurückkehrten. Die anderen Weisen Frauen schalten Aeron und ihre Freundinnen normalerweise abwechselnd aus, obwohl Sorilea es sich zur Aufgabe gemacht zu haben schien, sie vor so vielen Leuten wie möglich zu rügen. Sevanna und ihre beiden Begleiterinnen zeigten ihre Schadenfreude recht offen, wann immer sie Aeron oder eine der anderen sahen, und rätselten untereinander in lautem Tonfall darüber, was die Aes Sedai tun würden, wenn sie es herausfänden. Sogar Sorilea sah sie deshalb fragend an, aber niemand sagte etwas, und Aeron und ihre Freundinnen fingen an, sich zu verbergen, wenn sie nicht gerade ihren Pflichten nachgingen oder Unterricht hatten. Ungezügelte Temperamente wurden gefährlich wie Rasierklingen.
Bis auf das Graben des Lochs umging Egwene die schlimmsten Auswirkungen, aber nur, weil sie den Zelten häufig fernblieb, hauptsächlich, um Sevanna aus dem Weg zu gehen, bevor sie der Frau eine Lektion erteilen würde. Sie zweifelte nicht daran, wie das enden würde. Sevanna wurde als Weise Frau akzeptiert, egal wie viele Grimassen geschnitten wurden, wenn sie nicht in der Nähe war. Amys und Bair würden die Shaido-Frau wahrscheinlich ihr Strafmaß festsetzen lassen. Zumindest war fernzubleiben nicht allzu schwierig. Sie war vielleicht ein Lehrling, aber nur Sorilea bemühte sich, ihr die tausend Dinge beizubringen, die eine Weise Frau wissen mußte. Bis Amys und Bair ihre endgültige Erlaubnis erteilten, nach Tel'aran'rhiod zurückzukehren, konnte sie weitgehend selbst über ihre Tage und Nächte verfügen, solange es ihr gelang, nicht mit Surandha und den anderen erwischt zu werden, um das Geschirr abzuwaschen oder Dung für die Feuer einzusammeln.
Sie konnte nicht verstehen, warum die Tage so langsam zu vergehen schienen. Sie dachte, es müsse Amys und Bair dienlich sein. Gawyn war jeden Morgen im Großen Mann. Sie gewöhnte sich an das zweideutige, höhnische Grinsen der dicken Wirtin, obwohl sie ein- oder zweimal daran dachte, sie zu treten. Vielleicht auch dreimal, aber nicht öfter. Jene Stunden vergingen wie im Fluge. Sie saß kaum auf Gawyns Schoß, wenn es auch schon Zeit wurde, ihr Haar zu richten und zu gehen. Es ängstigte sie nicht mehr, auf seinem Schoß zu sitzen. Es hatte sie eigentlich niemals wirklich geängstigt, aber inzwischen war es überaus angenehm. Wenn sie manchmal an Dinge dachte, die sie nicht haben konnte, wenn diese Gedanken sie erröten ließen — nun, er strich stets mit den Fingern über ihr Gesicht, wenn sie errötete, und sprach ihren Namen auf eine Art aus, wie sie es gern ihr ganzes Leben lang gehört hätte. Er ließ weniger darüber verlauten, was bei den Aes Sedai vor sich ging, als sie anderswo erfuhr, aber sie konnte sich kaum dazu bringen, sich deswegen zu sorgen.
Es waren die anderen Stunden, die sich zäh dahinschleppten. Es gab so wenig zu tun, daß sie dachte, sie würde vor Langeweile platzen. Weise Frauen, die Arilyns Palast überwachten, berichteten von keinen weiteren Aes Sedai. Die Wächter, die aus jenen auserwählt waren, die die Macht lenken konnten, berichteten, die Aes Sedai würden die Macht im Inneren noch immer Tag und Nacht handhaben, ohne zu zerbrechen, aber Egwene wagte nicht, nahe heranzugehen. Auch wenn sie es täte, könnte sie nicht sagen, was sie taten, wenn sie ihre Stränge nicht sah. Wären die Weisen Frauen weniger mürrisch gewesen, hätte sie vielleicht versucht, in ihrem Zelt Zeit mit Lesen zu verbringen, aber das einzige Mal, als sie, außer nachts bei Lampenlicht, ein Buch anrührte, hatte Bair sich dermaßen über Mädchen geäußert, die ihre Zeit damit verschwendeten, faul herumzuliegen, daß Egwene gemurmelt hatte, sie hätte etwas vergessen, und aus dem Zelt geeilt war, bevor man etwas Nützlicheres für sie zu tun fand. Wenige Augenblicke einer Unterhaltung mit einem anderen Lehrling konnten genauso gefährlich sein. Als sie einmal stehengeblieben war, um mit Surandha zu sprechen, die sich im Schatten eines Zeltes verborgen gehalten hatte, das einigen Steinsoldaten gehörte, hatte ihnen das einen Nachmittag mit Wäschewaschen eingebracht, als Sorilea sie entdeckt hatte. Sie wäre über diese Aufgabe vielleicht sogar froh gewesen, einfach darüber, daß sie überhaupt etwas zu tun hatte, aber Sorilea hatte die vollkommen saubere, im Zelt aufgehängte Wäsche begutachtet, geschnaubt und gesagt, sie müßten sie noch einmal waschen. Sie sagte ihnen zweimal, sie müßten die Wäsche abermals waschen! Sevanna hatte auch dabei zugesehen.
Wenn Egwene sich in der Stadt aufhielt, hatte sie stets das Gefühl, sich umsehen zu müssen, außer am dritten Tag, als sie ihren Weg zu den Kais hinab so sorgfältig wählte, wie eine sich vor einer Katze davonstehlende Maus. Ein dürrer Bursche mit einem kleinen, schmalen Boot kratzte sich das dünner werdende Haar und verlangte ein Silberstück, damit er sie zum Schiff des Meervolks hinausrudern würde. Alles war teuer, aber dies war lächerlich. Sie fixierte ihn mit festem Blick, sagte ihm, er könnte ein geringerwertiges Geldstück haben — was wirklich immer noch viel zuviel war — und hoffte, der Handel würde nicht ihre ganze Geldbörse leeren. Sie besaß nicht viel Geld. Jedermann gehorchte und fuhr zusammen, wenn Aiel in der Nähe waren, aber wenn es ums Handeln ging, vergaßen sie alles über Cadin'sors und Speere und kämpften wie die Löwen. Der Mann öffnete seinen zahnlosen Mund, schloß ihn wieder, betrachtete sie prüfend, murmelte leise etwas und sagte dann zu ihrer Überraschung, sie stehle ihm das Brot aus dem Mund.
»Steigt ein«, brummte er. »Ich kann nicht für einen Hungerlohn den ganzen Tag verschwenden. Einen Mann übers Ohr zu hauen. Ihm das Brot zu stehlen.« Er äußerte sich auch noch in dieser Weise, als er schon zu rudern begonnen hatte und das winzige Boot ins breitere Fahrwasser des Alguenya hinausbrachte.
Egwene wußte nicht, ob Rand diese Herrin der Wogen getroffen hatte, aber sie hoffte es. Laut Elayne war der Wiedergeborene Drache der Coramoor des Meervolks, der Auserwählte, und er brauchte nur aufzutauchen, und sie liefen hinter ihm her. Sie hoffte, sie wären dennoch nicht zu unterwürfig. Davon hatte Rand bereits mehr als genug. Dennoch hatte nicht Rand sie mit dem brummigen Bootsführer hinausgeschickt. Elayne war schon einigen Angehörigen des Meervolks begegnet, war auf einem ihrer Schiffe gereist und behauptete, ihre Windsucherinnen könnten die Macht lenken. Einige von ihnen ohnehin, vielleicht sogar die meisten. Das war ein Geheimnis, das die Athan'Miere gut hüteten, aber die Windsucherin auf Elaynes Schiff war nur zu bereit gewesen, ihr Wissen zu teilen, nachdem ihr Geheimnis bekanntgeworden war. Meervolk-Windsucherinnen kannten sich mit dem Wetter aus. Elayne behauptete, sie wüßten mehr darüber als die Aes Sedai. Sie sagte, die Windsucherin auf ihrem Schiff hätte riesige Stränge gewoben, um günstige Winde zu bewirken. Egwene hatte keine Ahnung, wieviel davon der Wahrheit entsprach und wieviel der Begeisterung erwuchs, aber ein wenig über das Wetter zu lernen, wäre sicherlich besser, als den Daumen zu drehen und sich zu fragen, ob es eine Erleichterung bedeutete, wenn sie von den Weisen Frauen und Sevanna fortkäme, weil Nesune sie gefangennähme. Ihr gegenwärtiges Wissen reichte nicht einmal aus, um es regnen zu lassen, wenn der Himmel bis auf Blitze schwarz war. Im Moment schien die Sonne jedoch golden von einem wolkenlosen Himmel, und Hitzespiegelungen tanzten über das dunkle Wasser. Zumindest gelangte der Staub nicht weit auf den Fluß hinaus.
Als der Bootsführer schließlich die Ruder einzog und das kleine Gefährt neben das Schiff gleiten ließ, stand Egwene auf, ohne auf sein Gemurmel zu achten, daß sie sie beide in den Fluß stürzen würde. »Hallo!« rief sie. »Hallo? Bitte an Bord kommen zu dürfen.«
Sie war bereits auf mehreren Flußschiffen gewesen und war stolz darauf, daß sie die richtige Ausdrucksweise beherrschte — Schiffer waren darin eigen —, aber mit Schiffen wie diesem hatte sie noch keine Erfahrung. Sie hatte schon längere Flußschiffe gesehen, aber noch kein so hohes. Einige Mitglieder der Mannschaft befanden sich in der Takelage oder erklommen die Rahen, dunkelhäutige Männer mit nacktem Oberkörper in weiten, farbenprächtigen Hosen, die von hellen Schärpen gehalten wurden, und auch dunkelhäutige Frauen in hellen Blusen.
Sie wollte gerade erneut und lauter rufen, als eine Strickleiter am Schiffsrumpf herabgelassen wurde. Kein Antwortruf erklang von Deck, und doch schien dies eine ausreichende Aufforderung. Egwene kletterte hinauf. Es war schwierig — nicht das Klettern, sondern ihre Röcke angemessen zu richten; sie konnte erkennen, warum die Meervolk-Frauen Hosen trugen —, aber schließlich erreichte sie die Reling.
Ihr Blick fiel sofort auf eine Frau, die keine Spanne entfernt an Deck stand. Sie trug eine blauseidene Bluse und eine Hose mit einer dunkleren Schärpe. Außerdem hatte sie drei goldene Ringe in jedem Ohr und eine hübsche Kette mit winzigen glänzenden Medaillons, die von einem Ohr zu einem Ring in ihrer Nase verlief. Elayne hatte dies beschrieben und es ihr sogar gezeigt, in Tel'aran'rhiod, aber es selbst zu sehen, ließ Egwene zusammenzucken. Aber da war noch etwas. Sie konnte, die Fähigkeit, die Macht zu lenken, spüren. Sie hatte die Windsucherin gefunden.
Sie öffnete den Mund, und eine dunkle Hand blitzte mit einem glänzenden Dolch vor ihren Augen auf. Bevor sie schreien konnte, durchschnitt die Klinge die Seile der Strickleiter. Sich noch immer an die jetzt nutzlose Leiter krallend, stürzte sie hinab.
Und dann schrie sie — einen Herzschlag lang, bevor sie mit den Füßen zuerst in den Fluß fiel und tief eintauchte. Wasser strömte in ihren geöffneten Mund, erstickte ihren Schrei. Sie glaubte, den halben Fluß zu schlucken. Sie kämpfte verzweifelt gegen die um ihren Kopf gewickelten Röcke und die Strickleiter an. Sie war nicht verzweifelt. Sie war es nicht. Wie tief war sie herabgesunken? Um sie herum war nur schlammige Dunkelheit. In welcher Richtung ging es aufwärts? Eisenbänder umspannten ihre Brust, aber sie atmete durch die Nase aus und beobachtete, wie die Luftblasen, wie es ihr schien, nach links unten schwebten. Sie drehte sich und strebte zur Oberfläche. Wie weit? Ihre Lungen brannten.
Ihr Kopf brach ins Tageslicht durch, und sie sog hustend Luft ein. Zu ihrer Überraschung streckte der Bootsführer die Hand aus, zog sie in sein Boot, murmelte ihr zu, sie solle aufhören zu kämpfen, bevor sie das Meervolk erzürnte, und fügte hinzu, daß sie eben eigen seien. Er beugte sich herüber, um ihre Stola zu packen, bevor sie erneut versank. Sie entriß sie ihm, und er schrak zurück, als glaubte er, sie wollte ihn damit schlagen. Die Röcke hingen schwer um ihre Beine, die Bluse klebte an ihr und das Kopftuch hing schräg über ihrer Stirn. Auf dem Bootsboden unter ihren Füßen begann sich eine Lache zu bilden.
Das Boot war vielleicht zwanzig Schritt vom Schiff abgetrieben. Die Windsucherin stand jetzt mit zwei weiteren Frauen an der Reling, eine in hellgrüner Seide und die andere in rotem, mit Goldfäden durchwirktem Brokat. Ihre Ohr- und Nasenringe und —ketten fingen die Sonne ein.
»Eure Bitte wird verweigert«, rief die grüngekleidete Frau, und die Frau in Rot schrie: »Sagt den anderen, daß Verkleidungen uns nicht täuschen können. Ihr ängstigt uns nicht. Euch allen wird die Gunst verweigert, an Bord zu kommen!«
Der runzlige Bootsführer nahm die Ruder auf, aber Egwene richtete einen Finger direkt auf seine schmale Nase. »Haltet augenblicklich inne.« Er hielt inne und funkelte sie böse an. Kein Wort üblicher Höflichkeit.
Sie atmete tief ein, umarmte Saidar und wob vier Stränge, bevor die Windsucherin reagieren konnte. Also verstand sie auch etwas davon, nicht wahr? Konnte sie ihre Stränge vierfach teilen? Nicht viele Aes Sedai konnten dies tun. Ein Strang war Geist, ein Schild, den sie vor die Windsucherin schob, damit sie sich nicht einmischte. Wenn sie gewußt hätte wie. Die anderen drei Stränge waren Luft, fast unbemerkt um jede der Frauen gewoben und ihre Arme an den Seiten festhaltend. Es war nicht wirklich schwer, sie anzuheben, aber auch nicht sehr leicht.
Tumult erklang auf dem Schiff, als die Frauen in der Luft und geradewegs über den Fluß schwebten. Egwene hörte den Bootsführer stöhnen. Er interessierte sie nicht. Die drei Meervolk-Frauen wehrten sich nicht. Sie hob sie mühsam höher, ungefähr zehn oder zwölf Schritt über die Wasseroberfläche, aber egal, wie sehr sie sich auch bemühte —dies war anscheinend die Grenze. Nun, du willst sie nicht wirklich verletzen, dachte sie und ließ das Gewebe los. Jetzt werden sie schreien.
Die Meervolk-Frauen rollten sich zu Kugeln zusammen, sobald sie zu fallen begannen, drehten sich und spannten sich dann mit nach vorn ausgestreckten Armen an. Sie tauchten fast ohne Spritzer in das Wasser ein. Kurz darauf brachen drei dunkle Köpfe durch die Wasseroberfläche, und die Frauen schwammen eilends zum Schiff zurück.
Egwene schloß den Mund. Wenn ich sie an den Knöcheln hochhebe und ihre Köpfe eintauche, werden sie... Was dachte sie da? Sie mußten schreien, weil sie geschrien hatte? Sie war nicht durchtränkter als sie. Ich muß wie eine ertränkte Ratte aussehen! Sie lenkte vorsichtig die Macht — an sich selbst mußte man stets mit Vorsicht arbeiten, da man die Stränge nicht deutlich sehen konnte —, und das Wasser perlte von ihr ab und sickerte aus ihrer Kleidung. Es bildete eine hübsche Lache.
Erst als der Bootsführer sie mit offenem Mund und geweiteten Augen anstarrte, erkannte sie, was sie getan hatte. Sie hatte mitten auf dem Fluß die Macht gelenkt, wo sie nichts vor den Aes Sedai verbarg, die sie vielleicht von irgendwoher sehen konnten. Obwohl die Sonne schien, fror sie plötzlich bis auf die Knochen.
»Ihr könnt mich jetzt zum Ufer zurückbringen.« Sie wußte nicht, wer sich an den Kais aufhielt. Sie konnte auf diese Entfernung Männer nicht von Frauen unterscheiden. »Nicht zur Stadt. Zum Flußufer.« Der Bursche legte sich so hart in die Ruder, daß sie fast rückwärts umfiel.
Er brachte sie zu einer Stelle, wo das Ufer aus kleinen Felsenbrocken bestand. Es war niemand zu sehen, aber sie sprang aus dem Boot, sobald es knirschend auf die Felsen glitt, schürzte ihre Röcke und schoß in einem wilden Lauf das ansteigende Ufer hinauf, den sie den ganzen Weg zurück zu ihrem Zelt beibehielt, wo sie keuchend und schwitzend zusammenbrach. Sie näherte sich der Stadt nicht wieder. Bis auf ihre Treffen mit Gawyn natürlich.
Die Tage vergingen, und der jetzt fast unaufhörlich wehende Wind trug Tag und Nacht Wogen von Staub und Sand heran. In der fünften Nacht begleitete Bair Egwene in die Welt der Traume, nur ein schneller Ausflug wie eine Art Prüfung, ein Spaziergang in dem Teil Tel'aran'rhiods, den Bair am besten kannte: die Aiel-Wüste, ein ausgetrocknetes, zerklüftetes Land, das selbst das von der Dürre geplagte Cairhien fruchtbar und freundlich erscheinen ließ. Eine schnelle Reise, und dann kamen Amys und Bair und weckten sie, um zu sehen, ob der Ausflug bei ihr eine ungute Wirkung hinterlassen hatte. Dem war nicht so. Egal, wie sie sie laufen und springen ließen, egal, wie oft sie ihr in die Augen sahen und ihrem Herzschlag lauschten — sie waren sich einig. Aber ob Einigkeit oder nicht — in der nächsten Nacht nahm Amys sie auf eine neuerliche Reise in die Wüste mit, gefolgt von einer weiteren Überprüfung, nach der sie froh war, in ihr Bett klettern und in tiefen Schlaf fallen zu dürfen.
In jenen zwei Nächten kehrte sie nicht in die Welt der Träume zurück, aber eher aus Erschöpfung als aus einem anderen Grund. Davor hatte sie sich jede Nacht gesagt, sie könne aufhören — eine gute Sache, wenn sie darin eingebunden war, gegen ihre Beschränkungen anzukämpfen, wenn sie wieder gerade bereit waren, sie aufzuheben —, aber irgendwie beschloß sie stets, daß eine kurze Reise vertretbar wäre, wenn sie ausreichend schnell verliefe, daß sie nicht entdeckt würde. Sie mied besonders den Ort zwischen Tel'aran'rhiod und der wachen Welt, den Ort, an dem die Träume schwebten. Und sie mied ihn besonders, seit sie festgestellt hatte, daß sie glaubte, wenn sie sehr vorsichtig wäre, könnte sie vielleicht in Gawyns Träume spähen, ohne hineingezogen zu werden, und daß es nur ein Traum wäre, selbst wenn sie hineingezogen würde. Sie rief sich energisch in Erinnerung, daß sie eine erwachsene Frau und kein albernes kleines Mädchen mehr war. Sie war nur froh, daß niemand sonst wußte, wie sehr der Mann ihre Gedanken verwirrte. Amys und Bair würden Tränen lachen.
In der siebten Nacht bereitete sie sich sorgfältig aufs Bett vor, zog ein frisches Nachtgewand an und bürstete ihr Haar, bis es glänzte. Das alles war in bezug auf Tel'aran'rhiod nutzlos, aber es hielt sie davon ab, darüber nachzudenken, wie ihr Magen rebellierte. Heute nacht würden Aes Sedai im Herzen des Steins warten, nicht Nynaeve oder Elayne. Das sollte eigentlich keinen Unterschied machen, es sei denn... Die Haarbürste mit dem Elfenbeingriff erstarrte mitten im Strich. Es sei denn, eine der Aes Sedai erkannte, daß sie nur eine Aufgenommene war. Warum hatte sie daran nicht früher gedacht? Licht, sie wünschte, sie könnte mit Nynaeve oder Elayne sprechen. Aber andererseits sah sie auch nicht, was das nützen sollte, und sie war sich sicher, daß ein Traum darüber, Dinge zu zerbrechen, bedeutete, daß etwas schief gehen würde, wenn sie mit ihnen spräche.
Sie kaute auf ihrer Unterlippe, während sie erwog, zu Amys zu gehen und ihr zu sagen, daß sie sich nicht gut fühlte. Nichts Ernstliches, nur ein verdorbener Magen, aber sie glaubte nicht, daß sie die Welt der Träume heute nacht aufsuchen könnte. Sie würden nach dem Treffen von heute nacht erneut mit ihren Lektionen beginnen, aber... Eine weitere Lüge, und eine feige Art, seinen Vorteil zu ergreifen. Sie würde nicht feige sein. Nicht jeder konnte tapfer sein, aber Feigheit war verachtungswürdig. Was auch immer heute nacht geschähe — sie mußte sich zwingen, sich dem zu stellen, sonst nichts.
Sie legte die Bürste entschlossen hin, blies die Lampe aus und legte sich aufs Bett. Sie war ausreichend müde, daß sie rasch einschlief, obwohl sie sich inzwischen jederzeit in Schlaf versetzen konnte, wenn es nötig war, oder in eine leichte Trance, in der sie noch mit jemandem sprechen — nun, murmeln — konnte, der bei ihr war. Kurz vor dem Einschlafen traf sie eine überraschende Erkenntnis: Ihr Magen rebellierte nicht mehr.
Sie stand in einem großen, gewölbeartigen Raum mit dicken Säulen aus geglättetem Sandstein. Das Herz des Steins, im Stein von Tear. Vergoldete Lampen hingen von Ketten über ihr. Sie waren nicht entzündet, aber natürlich kam Licht von überall und nirgends. Amys und Bair waren bereits dort und sahen nicht anders aus als heute morgen, außer daß alle ihre Ketten und Armbänder ein wenig stärker funkelten, als selbst Gold das normalerweise tat. Sie sprachen leise miteinander und wirkten verwirrt. Egwene erhaschte nur hier und da ein Wort, aber zwei davon lauteten ›Rand al'Thor‹.
Sie erkannte jäh, daß sie das weiße Gewand mit dem gestreiften Saum einer Aufgenommenen trug. Sobald sie es bemerkte, wurde es zu einem Kleidungsstück der Weisen Frauen, aber ohne Schmuck. Sie glaubte nicht, daß die anderen beiden Frauen es bemerkt hatten oder, falls sie es doch bemerkt hatten, wissen würden, was es bedeutete. Manchmal verlor man durch Verzicht weniger Ji und erlegte sich weniger Toh auf als auf andere Weisen, aber keine Aiel würde jemals daran denken, ohne den Kampf auch nur zu versuchen.
»Sie sind erneut spät dran«, sagte Amys verärgert, während sie auf die offene Fläche unter der großen Kuppel des Raums hinaustrat. In die Steine des Bodens eingetrieben, war eine Art Schwert aus Kristall zu sehen, der Callandor der Prophezeiung, ein männlicher Sa'angreal und einer der mächtigsten, die jemals geschaffen wurden. Rand hatte ihn dort hinterlegt, um die Tairener an ihn zu erinnern, als bestünde eine Möglichkeit, daß sie ihn jemals vergessen könnten, aber Amys beachtete es kaum. Für andere war Das Schwert, Das Kein Schwert War vielleicht ein Symbol des Wiedergeborenen Drachen. Für sie war es eine Angelegenheit der Feuchtländer. »Wir können zumindest darauf hoffen, daß sie nicht vorzugeben versuchen werden, daß sie alles und wir nichts wissen. Sie waren letztes Mal viel besser.«
Bairs Schnauben hätte Sorilea blinzeln lassen. »Sie werden niemals besser sein. Sie könnten sich wenigstens da aufhalten, wo sie zu sein behaupteten, als sie sagten, sie...« Sie brach ab, als plötzlich mehrere Frauen auf der anderen Seite Callandors erschienen.
Egwene erkannte sie, einschließlich der jungen Frau mit den entschlossenen blauen Augen, die sie schon früher in Tel'aran'rhiod gesehen hatte. Wer war sie? Amys und Bair hatten die anderen erwähnt —meist in bissigem Tonfall —, aber niemals noch eine weitere. Sie trug eine blau gestreifte Stola. Sie alle trugen ihre Stolen. Ihre Kleidung veränderte ständig Farbe und Schnitt, aber die Stolen blieben stets gleich.
Die Blicke der Aes Sedai richteten sich sofort auf Egwene. Die Weisen Frauen hätten genausogut nicht dasein können.
»Egwene al'Vere«, sagte Sheriam förmlich, »Ihr werdet vor den Saal der Burg gerufen.« Ihre schrägstehenden grünen Augen schimmerten vor unterdrückter Empfindung. Egwenes Magen sank. Sie wußten, daß sie sich als vereidigte Schwester ausgegeben hatte.
»Fragt nicht, warum ihr gerufen werdet«, sagte Carlinya unmittelbar nach Sheriam. Ihre frostige Stimme ließ die Förmlichkeit noch härter wirken. »Ihr sollt antworten, nicht fragen.« Aus irgendeinem Grund hatte sie ihr dunkles Haar kurz geschnitten. Das war eine unwichtige Einzelheit, die in Egwenes Geist aufzuragen schien. Sie wollte bestimmt nicht darüber nachdenken, was das alles bedeutete. Die förmlichen Phrasen rollten in stetem Gleichmaß weiter heran. Amys und Bair richteten ihre Stolen und runzelten die Stirn. Ihre Verwirrung verwandelte sich allmählich in Sorge.
»Kommt nicht zu spät.« Egwene hatte Anaiya immer für freundlich gehalten, aber die Frau mit dem offenen Gesicht klang genauso bestimmt wie Carlinya und in ihrer Förmlichkeit auch nicht herzlicher. »Es obliegt Euch, unverzüglich zu gehorchen.«
Die drei Frauen sprachen gleichzeitig. »Es ist angemessen, den Ruf des Saals zu fürchten. Es ist angemessen, eilig und bescheiden und ohne Fragen zu stellen zu gehorchen. Ihr werdet aufgefordert, vor dem Saal der Burg niederzuknien und sein Urteil anzunehmen.«
Egwene hielt ihre Atmung zumindest soweit unter Kontrolle, daß sie nicht hörbar war. War das die Strafe für ihre Taten? Sie vermutete, daß es angesichts all dieser Förmlichkeiten keine milde Strafe würde. Alle sahen sie an. Sie versuchte, aus den Aes-Sedai-Gesichtern etwas herauszulesen. Sechs zeigten zeitlose Gelassenheit mit vielleicht einem Hauch Anspannung in den Augen. Die junge Blaue zeigte die kühle Ruhe einer Frau, die schon seit Jahren eine Aes Sedai war, aber sie konnte ihr zufriedenes Lächeln nicht verhüllen.
Sie schienen auf etwas zu warten. »Ich werde kommen, sobald ich kann«, sagte sie. Vielleicht war ihr der Magen bis zu den Knöcheln gesunken, aber sie konnte ihre Stimme noch den ihren anpassen. Kein Feigling.
Sie würde eine Aes Sedai werden. Wenn sie es hiernach noch zuließen. »Ich weiß jedoch nicht, wie bald das sein wird. Es ist ein langer Weg, und ich weiß nicht genau, wo Salidar ist. Nur daß es irgendwo am Fluß Eldar liegt.«
Sheriam wechselte Blicke mit den anderen. Ihr Kleid veränderte sich von Hellblau zu Dunkelgrau. »Wir sind sicher, daß es eine Möglichkeit gibt, die Reise in Bälde anzutreten, wenn die Weisen Frauen helfen. Siuan ist überzeugt, daß es nicht mehr als einen oder zwei Tage erfordern wird, wenn Ihr Tel'aran'rhiod körperlich betretet...«
»Nein«, fauchte Bair im gleichen Augenblick, als Amys sagte: »So etwas werden wir sie nicht lehren. Es wurde zum Bösen verwendet, es ist böse, und wer auch immer es tut, verliert einen Teil seines Selbst.«
»Dessen könnt Ihr nicht sicher sein«, sagte Beonin geduldig, »da es anscheinend noch niemand von Euch getan hat. Aber wenn Ihr davon wißt, müßt Ihr eine gewisse Vorstellung davon haben, wie man es macht. Vielleicht können wir herausfinden, was Ihr nicht wißt.«
Geduld war entschieden der falsche Weg. Amys richtete ihre Stola und stand noch aufrechter als gewöhnlich. Bair stemmte mit grimmigem Gesichtsausdruck die Fäuste in die Hüften. Gleich würde es einen jener Ausbrüche geben, auf die die Weisen Frauen angespielt hatten. Sie würden diesen Aes Sedai eine Lektion erteilen, was in Tel'aran'rhiod möglich war, indem sie ihnen zeigten, wie wenig sie wußten. Die Aes Sedai traten ihnen sehr ruhig und voller Zuversicht entgegen. Ihre Stolen blieben stets gleich, aber ihre Gewänder veränderten sich fast so schnell wie Egwenes Herzschlag. Nur das Gewand der jungen Blauen schien sich kaum zu verändern, außer einmal während dieses langen Schweigens.
Sie mußte es unterbinden. Sie mußte nach Salidar gehen, und es würde sicherlich nichts nützen, wenn sie als Zeugin der Demütigung dieser Aes Sedai käme. »Ich weiß wie. Ich glaube, ich weiß es. Ich bin bereit, es zu versuchen.« Wenn es nicht funktionierte, konnte sie immer noch reiten. »Aber ich muß trotzdem wissen, wo Salidar liegt — auf jeden Fall genauer, als ich es im Moment weiß.«
Amys und Bair wandten ihre Aufmerksamkeit von den Aes Sedai ihr zu. Nicht einmal Carlinya oder Morvrin hätten diese kalten Blicke übertreffen können. Egwenes Herz sank genauso wie ihr Magen.
Sheriam erteilte ihr sofort Anweisungen — so und so viele Meilen von diesem Dorf entfernt, so und so viele Meilen südlich davon —, aber die junge Blaue räusperte sich und sagte: »Dies ist gewiß hilfreicher.« Die Stimme klang vertraut, aber Egwene konnte sie nicht mit dem Gesicht in Verbindung bringen.
Vielleicht konnte sie ihre Kleidung auch nicht besser unter Kontrolle halten als die anderen — weiche grüne Seide wurde Tiefblau, während sie sprach, ein hoher, bestickter Kragen wurde zu einer Spitzenkrause in tairenischem Stil und eine Perlenkappe erschien auf ihrem Kopf —, aber sie wußte etwas über Tel'aran'rhiod.
Plötzlich hing auf einer Seite eine große Landkarte mit einem leuchtend roten, als ›Catrhien‹ bezeichneten Fleck an einem Ende und einem zweiten, als ›Salidar‹ bezeichneten Fleck am anderen Ende in der Luft. Die Landkarte begann sich auszudehnen und zu verändern. Plötzlich waren die Berge nicht mehr nur Linien, sondern ragten hoch auf, die Wälder nahmen Grün- und Braunschattierungen an und die Flüsse glitzerten wie blaues Wasser im Sonnenschein. Sie wuchs, bis sie eine Wand bildete, die eine Seite des Herzens vollkommen verbarg. Es war, als schaute man auf die Welt hinab.
Sogar die Weisen Frauen waren ausreichend beeindruckt, daß sie ihre Mißbilligung außer acht ließen, zumindest bis sich das tairenische Gewand der Frau in gelbe Seide mit einem silbern bestickten Halsausschnitt verwandelte. Sie interessierten die junge Frau jedoch nicht. Aus irgendeinem Grund sah sie die anderen Aes Sedai herausfordernd an.
»Das ist großartig, Siuan«, sagte Sheriam kurz darauf.
Egwene blinzelte. Siuan? Es mußte sich um eine Frau mit demselben Namen handeln. Diese jüngere Siuan schnaubte selbstzufrieden und nickte auf eine Art, die sehr an Siuan Sanche erinnerte, aber das war unmöglich. Du versuchst es einfach zu verdrängen, sagte sie sich entschieden. »Es genügt sicherlich, daß ich Salidar finden kann, ob ich nun...« Sie sah Amys und Bair an, die so voller schweigender Mißbilligung waren, daß sie wie in Stein gemeißelt schienen. »Ob ich nun in körperlicher Gestalt dorthin gelangen kann oder nicht — ich verspreche, daß ich auf die eine oder andere Weise nach Salidar kommen werde, sobald ich kann.« Die Landkarte verschwand. Licht, was werden sie mir antun?
Ihr Mund formulierte die Frage schon halbwegs, als Carlinya sie schroff unterbrach, wieder tief in Förmlichkeit eintauchte und noch härter sprach als zuvor. »Fragt nicht, warum Ihr gerufen werdet. Ihr sollt antworten, nicht fragen.«
»Verzögert Euer Kommen nicht«, sagte Anaiya. »Es obliegt Euch, eilig zu gehorchen.«
Die Aes Sedai wechselten Blicke und verschwanden dann so schnell, daß Egwene sich halbwegs fragte, ob sie glaubten, daß sie überhaupt gefragt hätte.
Also blieb sie mit Amys und Bair allein, aber als sie sich zu ihnen umwandte, unsicher, ob sie es mit einer Erklärung oder einer Entschuldigung oder einfach einer Bitte um Verständnis versuchen sollte, verschwanden auch sie und ließen sie dort allein, umgeben von den Sandsteinsäulen, Callandor neben ihr schimmernd. Es gab im Ji'e'toh keine Entschuldigungen.
Sie seufzte traurig und schlüpfte aus Tel'aran'rhiod wieder in ihren schlafenden Körper.
Sie erwachte sofort. Zu erwachen, wann man es wollte, war genauso Teil der Ausbildung einer Traumgängerin, wie einzuschlafen, wann man es wollte, und sie hatte versprochen, so schnell wie möglich aufzubrechen. Sie lenkte die Macht, während sie alle Lampen entzündete. Sie würde Licht brauchen. Sie versuchte, sich zu beeilen, während sie sich neben eine der an den Zeltwänden stehenden Kisten kniete und Kleider herausnahm, die sie nicht mehr getragen hatte, seit sie in die Wüste gegangen war. Ein Teil ihres Lebens war vorüber, aber sie würde diesen Verlust nicht beweinen. Das würde sie nicht tun.
Sobald Egwene verschwand, trat Rand al'Thor zwischen den Säulen hervor. Er kam manchmal hierher, um Callandar zu betrachten. Der erste Besuch hatte stattgefunden, nachdem Asmodean ihn gelehrt hatte, seine Gewebe umzukehren. Dann hatte er die rund um den Sa'angreal errichteten Fallen verändert, so daß nur er sie sehen konnte. Wenn man den Prophezeiungen glauben wollte, würde ihm, wer auch immer das Schwert herauszöge, nachfolgen. Er war sich nicht sicher, wieviel er noch glauben durfte, aber es hatte keinen Sinn, Risiken einzugehen.
Lews Therin murmelte in seinem Hinterkopf etwas — er tat dies stets, wenn Rand sich Callandor näherte —, aber heute nacht interessierte Rand das schimmernde Kristallschwert überhaupt nicht. Er betrachtete die Stelle, an der die große Landkarte gehangen hatte. Letztendlich eigentlich keine Landkarte, sondern mehr. Was war dieser Ort? War es lediglich ein Zufall, der ihn heute nacht anstatt gestern oder morgen hierhergezogen hatte? Einer dieser Ta'veren-Rucke am Muster? Egal. Egwene hatte diesen Ruf sanftmütig angenommen, und von der Burg und von Elaida verlautete, daß sie das niemals tun würde. Dieses Salidar war der Ort, wo sich ihre geheimnisvollen Freundinnen verbargen. Wo sich Elayne befand. Sie hatten sich ihm überantwortet.
Er öffnete lachend ein Tor zum Spiegelbild des Palastes in Caemlyn.