Zone Nord

Wie ihr Gegenstück im Süden besaß auch die nördliche Halbkugel mit 780 nicht auf Kohlenstoff beruhenden Lebensformen ihre Zone und eigene Botschaften. Insgesamt waren 702 Hexagons dauernd oder zeitweise vertreten, und es gab einen eigenen Interzone-Rat mit wechselndem Vorsitz. Der Norden hatte jedoch mit mehr Problemen zu kämpfen als der Süden, wo das Gefühl der Einheit stärker war. Die Markovier waren eine aus Kohlenstoff aufgebaute Lebensform gewesen und hatten einen Großteil ihrer Energie naturgemäß verwandten Formen gewidmet. Aber es galt auch, nichts zu übersehen. In ihrem selbstmörderischen Bestreben, für ihre Kinder an Glorie zu erlangen, was ihre Vorfahren durch Stagnation in einem göttergleichen Dasein versäumt hatten, konnten die Markovier es sich nicht leisten, die Gefahr zu mißachten, sie könnten zum Scheitern verurteilt sein, weil sie auf Kohlenstoff aufgebaut waren.

Zone Nord war das Paradies des echten Experimentators. Es gab keine Regeln oder Beschränkungen für die 780 Nord-Hexagons, und manche Lebensformen dort waren von derart abnormer Fremdartigkeit, daß sie nicht einmal untereinander eine gemeinsame Grundlage fanden. So war es bei den Uchjin, in deren Nicht-tech-Hex Trelig und Yulin notgelandet waren. Einen Botschafter von dort gab es zwar — der einzige Grund, weshalb die Flüchtlinge den Süden hatten erreichen können —, aber nur wenige konnten mit den Wesen sprechen. Ihre Äußerungen ergaben einfach keinen Sinn, ihr Bezugsrahmen, ihre Begriffe waren von so durchgreifender Fremdartigkeit, daß es unmöglich gewesen wäre, ihnen auch nur vermitteln zu wollen, was das Schiff war oder darstellte.

Das Wort ›Nein‹ ließ sich jedoch mühelos übertragen, selbst bei den nördlichen Rassen, die ihrerseits versucht hatten, des Schiffes habhaft zu werden, ohne jeden Erfolg freilich.

Das Wesen, das im Tor der Zone Nord stand, gehörte nicht dorthin. Es war groß — über zwei Meter lang, nicht mitgerechnet die riesigen, orangerot und braun gefleckten Schmetterlingsflügel, die jetzt angelegt waren —, und der glänzende, steinharte Körper ruhte auf acht gummiartigen, schwarzen Fühlern, die allesamt in weiche, klebrige Klauen ausliefen. Das Gesicht sah aus wie ein menschlicher Totenschädel, kohlschwarz, mit kleinen gelben Halbmonden, so daß der Eindruck einer Teufelsmaske entstand. Zwei Fühler mit starker Vibration ragten oben heraus. Die Augen waren Samtpolster von dunklem Orangerot, ein Sehsystem, das sich von dem im Süden üblichen grundlegend unterschied.

Die Yaxa fühlten sich in Zone Nord nie wohl, aus Furcht, eine defekte Abdichtung oder eine unvorsichtige Hand mochte hereinlassen, was an Atmosphäre auf der anderen Seite der Tür brodelte. Weiter als hierher kam gewöhnlich niemand aus dem Süden.

Das Schachttor schnellte einen Nordbewohner in die Zone Süd oder umgekehrt, aber eine Öffnung von einer der beiden Zone-Gebiete in die Außenwelt bestand nicht; nur die Zone-Tore lieferten Transport zu und von den Sechsecken. Und jedes Zone-Tor, im Norden oder im Süden, beförderte einen auf der Stelle wieder in sein Heimat-Hexagon.

Diesmal trug der Yaxa keinen Druckanzug, ein Grund mehr für seine Nervosität. Der andere Grund war die bevorstehende Begegnung.

Die Yaxa hatten zu den Urhebern des Krieges gehört, der so enttäuschend zu Ende gegangen war, und man gab auch mit Rücksicht auf den Norden nicht auf. Vor sehr langer Zeit war ein Bewohner des Nordens durch ein Süd-Tür gekommen.

Aber wie?

Die Yaxa hatten sich jahrelang mit diesem Problem beschäftigt. Sie wußten, daß der Nordbewohner ein Symbiont namens Der Erahner und Der Rel gewesen war, aus dem Nord-Hex, das der Übersetzer als Astilgol bezeichnete — keiner der Namen nördlicher Hexagons ließ sich in Wirklichkeit übertragen, aber so klang das jedenfalls.

Die Astilgol waren an dem Raumschiff interessiert. Sie hatten bereits mit den Uchjin zu sprechen versucht, waren aber, wie alle anderen auch, gescheitert. Knapp über dem Boden schwebend, sahen die Uchjin für jeden Südbewohner in höchstem Maß fremdartig aus — nichts als ein langer Strom glitzernder Silberglöckchen, an einer Kristallstange hängend, auf der eine Reihe winziger Lichter leuchtete, wie Glühwürmchen, die man in einer Schüssel eingefangen hatte. Aber irgendein Behältnis war nicht zu sehen — man hatte nur das Gefühl, es gebe eines.

Der Astilgol-Botschafter hatte sich für die Kontakte der Yaxa interessiert; man befand sich im Norden, und die Yaxa hatten Yulin unter Kontrolle. Außerdem hörten sie auf Treligs Makiem ebenso wie auf Ortega.

Beim eigentlichen Problem konnten sie jedoch nicht von Nutzen sein: Der Erahner, so schien es, war als Mutant entstanden, fähig, sich gelegentlich auf die internen Prozesse des Schachts einzustimmen. Manchmal vermochte er vorherzusagen, wann der Schacht nach neuen Eingaben Wahrscheinlichkeiten berechnete — aber durchaus nicht regelmäßig. Nur drei Erahner waren innerhalb der bekannten Geschichte geboren worden, und derjenige, welcher sich nach Süden begeben hatte, war nie zurückgekehrt. Er war der letzte.

Warum hatte der Schacht den Erahner und den Rel durchgelassen? Niemand wußte es. Der Schacht war ein Computer und keine Wesenheit; er traf nicht die Entscheidung, durcnzulassen — auf irgendeine Weise hatte das kombinierte Wesen mit dem Transportsystem des Schachts zusammengewirkt, wie sonst niemand es konnte.

Die Yaxa hatten sich seit Jahren mit der Frage befaßt. Die Lösung mußte davon abhängen, wie der Schacht ein Wesen einstufte. Man hatte stets angenommen, das bestimme sich nach seiner körperlichen Zusammensetzung, aber wie, wenn das nicht zutraf?

Hatte die Beziehung des Erahners zum Schacht auf irgendeine Weise den normalen Übertragungsprozeß stocken lassen? Oder hatte der Erahner dem Schacht einfach klargemacht, er sei ein anderes Wesen, als er es in Wirklichkeit darstellte? Erkannte der Schacht ein Individuum an seinem Bild, das es von sich selbst hatte? Konnte man den Schacht also täuschen? Hatte der Erahner eine Täuschung bewirkt, im Süden erklärt: ›Ich bin ein Azkfru‹, um dann nicht in Astilgol, sondern in Akzfru zu landen?

Man hatte Versuche angestellt, anderen Wesen durch Tiefhypnose die Überzeugung zu vermitteln, sie wären Yaxa, aber die Wesen kamen doch immer wieder in ihren wahren Hexagons heraus.

Rassen vom Norden betrieben teilweise Handel mit dem Süden. So wurden etwa die Übersetzer konkret in nördlichen Wesen in Moiush gezüchtet und gegen Eisen getauscht, das die Moiush benötigten. Auf diese Weise besaßen manche nördlichen Rassen Beziehungen zum Süden, so wie einige südliche Rassen mit dem Norden zusammenarbeiteten.

Mit der Zeit spricht sich das herum. Sogar bis zu den Yugash.

Sie bemannten ihre Botschaft in Zone nie; sie waren weder beliebt, noch genossen sie Vertrauen; offenkundig besaßen sie nichts von Wert, womit sie hätten Handel treiben können, und alle anderen Rassen behandelten sie gewöhnlich wie bloße Tiere; unter ihrer Würde.

Ihre physische Struktur war lediglich gebundene Energie. Wilde Wesen von unvorstellbaren Formen und Größen bewohnten ihr kristallines Hex; die Yugash züchteten einen Organismus nach Wunsch — dann schlüpften sie auf irgendeine Weise hinein, ergriffen Besitz von ihm und lenkten ihn.

Physische Wesen waren für die Yugash lediglich Werkzeuge, die man benützte, bis sie zerbrachen oder nicht mehr gebrauchsfähig waren. Als Bewohner eines Hoch-tech-Hex wußten sie von dem Raumschiff in Uchjin; es hatte sie bei der Annäherung überflogen, war aber drei Sechsecke entfernt heruntergekommen. Einige der Yugash hatten es sogar gewagt, nach Uchjin zu reisen, obwohl die Rassen ringsum sie haßten und fürchteten und ihnen in den Weg legten, was sie konnten.

Dann tauchten die Yugash plötzlich, zum erstenmal überhaupt, in Zone Nord auf. Sie erhielten Berichte von den Kriegen im Süden und lasen sie begierig. Auch sie begannen sich dem Problem zuzuwenden, da ihre Beauftragten ihnen mitgeteilt hatten, sie könnten zwar ein Wesen hervorbringen, das dieses Schiff zu fliegen vermöge, aber es gäbe im ganzen Norden niemanden, der sich damit auskenne. Selbst für die Neuzugänge sei es zu fremdartig.

Sie hatten zeitweilig Kontakte mit Trelig, Ortega und Yulin, und letzterer hatte sie an die Yaxa verwiesen. Die Bewohner seines eigenen Hex — zumeist Farmer — hätten ihn gelyncht, wenn ihnen zu Ohren gekommen wäre, daß er noch immer daran dachte, sich des Raumschiffes zu bemächtigen.

Plötzlich hatte sich alles zusammengefügt.

Die Schleusentür öffnete sich, und der Yugash kam herein.

Schwebte herein, wäre ein passenderer Ausdruck gewesen. Das Geschöpf sah seltsam aus, im Licht beinahe unsichtbar. Gut fünfzig Zentimeter über dem Boden fügten sich Reihen von horizontalen und vertikalen Linien zusammen zu einer Art Rotstift-Skizze eines großen Kapuzenmantels — in dem niemand steckte.

Selbst die Yaxa, auf der Sechseck-Welt die Wesen mit dem besten Sehvermögen, hatten Mühe, das Geschöpf im Blick zu behalten. Es mochte in völliger Dunkelheit deutlich sichtbar sein, aber nahezu jede Lichtquelle, geschweige denn die grelle Beleuchtung hier, löschte es aus.

Der Yugash schien zu nicken, sagte aber nichts. Er gehörte zu den wenigen Wesen, für die ein Übersetzer vollkommen ungeeignet war; es gab keine Stelle, wo man ihn anbringen konnte, da die Yugash kein materielles Dasein besaßen.

Das Wesen schwebte langsam an dem Yaxa vorbei zur Schwärze des Schacht-Tores. Es drehte sich, nickte wieder und glitt in das Tor, als fremdartiges Phantom für Sekundenbruchteile scharf umrissen, bevor es verschluckt wurde. Der Yaxa folgte, nervöser denn je, und kam gleichzeitig aus dem Tor von Zone Süd heraus.

Der Yugash floß auf ihn zu und berührte ihn. Der Yaxa spürte ein unheimliches, unangenehmes Prickeln, sonst nichts. Der Yugash war nicht mehr sichtbar, verschmolzen mit dem Yugash-Körper.

In Zone waren einige andere Wesen unterwegs, aber niemand achtete sonderlich auf den Yaxa. Die Riesen-Falter waren stets kalt und distanziert und erregten in manchen Wesen Furcht. Nur ein anderer Yaxa hätte bemerken können, wie unbeholfen das Geschöpf wirkte.

Es betrat die Botschaft von Yaxa. Der Botschafter und mehrere andere Yaxa-Führer waren versammelt — alle weiblich. Das Männchen der Gattung war an den Boden gefesselt, eine weiche, schwammige Raupe, nur für einen Zweck gedacht, in Dauerschlaf, bis sie gebraucht wurde. Die Yaxa-Weibchen fraßen ihre Geschlechtspartner hinterher auf.

Die Botschafterin fragte besorgt:»Ist etwas nicht in Ordnung?«

Die Neuangekommene schwankte unsicher auf vier Tentakeln. Ihre Stimme war undeutlich und völlig fremdartig.

»Ich bin der Torshind von Yugash«, murmelte sie. »Ihr müßt mir verzeihen. Ich lerne erst, mit dem Körper umzugehen. In Yugash züchten wir die Körper, die wir brauchen, und sie sind aus guten Kristallen und entsprechen ihrem Zweck. Euer Wesen ist außerordentlich kompliziert, und die Wirtin leistet überdies großen Widerstand.«

»Soll das heißen, daß Sie ein Wesen aus dem Norden sind, das im Augenblick den Körper unserer Schwester bewohnt?«fragte jemand.

Die fremde Yaxa nickte.

»Ja. Würden Sie das Wesen anweisen, sich nicht so stark zu wehren? Wir können diesen Versuch nicht abschließen, bis ich den Schädelbereich ganz unter Kontrolle habe.«

Sie sahen einander nervös an.

»Bitte!«sagte der Torshind. »Wenn Sie es nicht tun, muß ich den Körper entweder verlassen, oder es tritt ein dauernder Gehirnschaden ein.«

Das wirkte endlich.

»Hypno!«befahl jemand, und man brachte eine Injektionsspritze.

Die Ärztin wirkte unsicher.

»Sind Sie sicher, daß das nicht auch auf Sie Einfluß hat?«fragte sie besorgt. »Und ist die totale Übernahme umkehrbar?«

Der Yaxa-Yugash nickte.

»Völlig. Das Wesen wird sich an die Übernahme nur ganz undeutlich erinnern. Beeilen Sie sich!«

Die Spritze wurde durch ein Gelenk gestochen, und nach wenigen Minuten hörte das Zucken auf. Die Yaxa befand sich in tiefem Hypnoseschlaf. Plötzlich wurde sie lebendig, erhob sich und legte einen Druckanzug an.

»Das ist viel besser«, sagte der Torshind. »Ich habe jetzt vollständige Kontrolle. Ich würde mehrere Tage in einem solchen Körper verbringen müssen, um ihn ganz zu beherrschen, aber ich glaube, ich komme zurecht damit. Gehen wir?«

Die ganze Gruppe begab sich zum nächstgelegenen Zone-Tor.

Die Botschafterin und die Leiterin des Unternehmens traten als erste in das Tor, dann der Yaxa-Yugash, gefolgt von den anderen.

In seinem Büro ganz unten im Korridor fluchte Serge Ortega vor sich hin. Seine Monitoren hatten ihm alles verraten, bis auf die Frage, ob das Experiment gelungen war. Befand sich der Torshind jetzt in Yaxa oder in Yugash?

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