Die Unterseite

Sie warteten angespannt im Korridor vor der Liftkabine auf die Rückkehr des Ghiskind. Der Yugash war schon einmal unterwegs gewesen und hatte bestätigt, daß niemand zu sehen war.

Schier unerträgliche fünfzehn Minuten vergingen, bevor der Yugash das zweitemal zurückkam und mit dem Bozog verschmolz.

»Ich habe die Sprengkapsel gefunden«, sagte er. »Eigentlich sehr primitiv. Eine Thermalbombe. Wenn sie explodiert, wird sie in den Schaltungen aber erhebliche Schäden anrichten — auch in den unwillkürlichen Bereichen für die Lebenserhaltungssysteme. Darauf muß ich hinweisen.«

»Es ist gut«, erwiderte Mavra. »Diese Abschnitte sind die schwächsten in Obies Aufbau. Durch den Tunnel führen der Anschluß für die Energieversorgung und ein Großteil der Betriebsschaltungen. Deshalb befindet sich die Ladung an dieser Stelle — sie braucht nicht groß zu sein, sondern nur loszugehen.«

»Das wird sie«, sagte Renard grimmig. Er rollte den Draht von der Spule. Es war nicht Kupfer, aber leitfähig genug.

»Wir müssen den Draht zur Sicherheit etwas weiter führen«, meinte der Ghiskind. »Ich möchte ihn unmittelbar am Hauptanschluß haben, ganz in der Nähe der Sprengladung. Wenn die Auslösung unterbleibt, bringt der Stromstoß die Ladung vielleicht direkt zur Explosion. Dann hat Freund Bozog auch eine bessere Stelle, um ihn anzubringen, und vielleicht etwas mehr Zeit, sich zurückzuziehen.«

Mavra atmete tief ein. »Also gut. Jetzt bleibt wohl nichts anderes mehr, als es zu tun.«

»Es paßt mir trotzdem nicht, daß Sie dem Kerl in die Hände geraten«, murrte Renard.

»Vergessen Sie mich, Renard, ich sage es Ihnen zum letztenmal. Ich bin nicht wichtig. Vergessen Sie nicht, es ist Ihre Sache, alle herauszuholen und das hier in die Luft zu sprengen. Erinnern Sie sich an die Reihe von Symbolen und Zahlen, die ich im Autolog des Schiffes aufgezeichnet habe?«

Er nickte.

»Ein Geschenk von Obie, Renard, mit zweiundzwanzig Jahren Verspätung. Es ist die Formel für den Stoff gegen den Schwamm. Sie wird Millionen retten und dem Syndikat das Genick brechen. Gerade Sie werden am besten verstehen, was das bedeutet. Sie müssen sie zum Rat bringen. Denken Sie an Ihre Verantwortung, Renard.«

Der Agitar nickte. Der Befehl gefiel ihm nicht, aber er wußte, daß sie recht hatte. Es war seine Pflicht, zu fliehen, selbst wenn er der einzige sein sollte, dem das gelang.

Mavra ging langsam und entschlossen den Korridor entlang, gefolgt von den anderen. Vor ihnen tauchte die Öffnung zur ersten Plattform auf, davor die Brücke über dem riesigen Schacht. Sobald sie unter dem Torbogen standen, würde Obie sie wahrnehmen können und gezwungen sein, Ben Yulin und seine Liebessklavinnen zu warnen.

Renard spulte einige Meter Draht ab, dann setzte er sich auf den Boden, so daß man ihn von draußen nicht sehen konnte.

Die orangerote Flüssigkeit im vorderen Buckel des Bozog wirbelte, dann reckte sich ein geschlängelter Fühler heraus, der den Draht ergriff und sich um ihn wand.

Mavra schaute sich um. Renard war in Position, mit der Energiepistole in der Hand. Sein Gesicht war grimmig, und er schwitzte.

»Dann los!«sagte Mavra gepreßt und trat hinaus durch den Torbogen.


* * *

Ben Yulin freute sich über den Fang seiner Mädchen ganz besonders. Woolys bewußtlose Gestalt war am schwersten zu befördern gewesen, vor allem die Treppe hinunter und auf die kleine Plattform, aber sie hatten es geschafft, und die Verwandlung war schnell und vollständig durchgeführt worden. Die winzige Gestalt Vistarus war als nächste an die Reihe gekommen und ebenso schnell verwandelt worden. Da sie schon Namen hatten, ließ er sie ihnen, kannte aber sonst keinerlei Zurückhaltung: Er löschte ihre Erinnerungen, programmierte sie neu als zwei liebevolle Sklavinnen mehr, samt Pferdeschwänzen, nur gering von den anderen zu unterscheiden.

Und danach nahm er sie mit und führte sie in seinen Harem ein, wie er es mit den anderen gemacht hatte.

Er preßte sie beide an sich und tätschelte eine, als Obie sich plötzlich meldete.

»Eindringling auf der Brücke«, sagte er.

Yulin ließ die beiden Mädchen los und sprang zur Steuerkonsole hinauf. »Wer ist es, Obie?«fragte er.

»Eine Lebensform, sehr groß«, sagte der Computer. »Es scheint ausgerechnet ein Pferd zu sein.«

Yulins Augen funkelten.

»Mavra Tschang!«stieß er halblaut hervor — die einzige Person, die er noch als eine Bedrohung betrachtete, weil sie in irgendeiner Verbindung mit Obie stand.

Und sie war auch die einzige Pilotin, die es außer ihm gab.

»Was tut sie?«fragte er.

»Sie steht einfach vor der Brücke.«

Er runzelte die Stirn. Aus welchem Grund sollte sie sich so exponieren?

»Bist du sicher, daß keine anderen Lebensformen auf der Brücke sind?«fragte er betroffen.

»Keine anderen«, bestätigte der Computer. »Außer, der Yugash ist bei ihr. Er würde viel näher herankommen müssen, damit ich ihn wahrnehmen kann — es sei denn, er befindet sich in ihrem Körper, dann wäre er überhaupt nicht zu entdecken.«

Yulin nickte. Das mußte es sein. Sie bot sich als Köder an, und wenn er sie hereinholte, würde der Yugash mit eindringen.

»Obie«, sagte er, »könnte der Yugash sich mit dir in Verbindung setzen?«

»Ja, Ben, natürlich.«

»Aber niemand in diesem Raum könnte von ihm übernommen werden.«

»Nein, Ben.«

Er überlegte.

»Obie, Standardprogrammierung.«Er gab an der Tastatur eine lange Zahlenreihe ein.

»Läuft«, sagte der Computer.

»Du nimmst keinerlei Befehle von einem Yugash an, ob er für sich ist oder sich im Körper eines anderen Wesens befindet«, sagte er tonlos. »Außerdem läßt du alle von einem Yugash stammende Informationen außer acht.«

»Verstanden«, erwiderte der Computer.

Yulin nickte zufrieden. Gut, dachte er. Soll der Yugash nur hereinkommen. Ohne Körper und unfähig, sich mit Obie zu verständigen, würde er mit ihm einen Kompromiß schließen oder ziellos herumschweben müssen. Er konnte ihm anbieten, ihn heimzuschicken, ihn irgendwie unter seine Kontrolle zu bringen.

Er lächelte. Das mochte sich sogar noch als ausgesprochen vorteilhaft erweisen. Er stand auf, ging zum Geländer und rief:»Wooly! Vistaru! Nikki! Mavra! Kommt her!«

Vier Frauen hasteten zu ihm hinauf.

»Auf der anderen Seite der Brücke steht ein Pferd«, sagte er. »Es ist mehr als ein Pferd. Es ist eine Person im Leib eines Pferdes, und sie kann reden. Sie gehört zu meinen Gegnern. Sie ist sehr gefährlich, die gefährlichste von allen. Wir müssen sie hier hereinholen. Andere warten aber in Deckung und fallen vielleicht über euch her.«Er dachte angestrengt nach. »Wenn ihr das Pferd erreicht habt, benützt ihr eure Hypnonadeln. Sagt ihm, daß es euer Pferd sei und es euch folgen müsse. Führt es oder reitet es hierher. Ihr müßt es unbedingt zu mir bringen.«

»Und die anderen, Lord Yulin?«fragten sie.

»Nummer Eins und Drei, mit euren Waffen heraufkommen!«schrie er.

Zwei andere Frauen mit schweren Energiepistolen eilten zu ihm hinauf.

Obie konnte keine organische Abwehr gegen Energiepistolen schaffen, aber die Pistolen selbst herzustellen, vermochte er mühelos.

»Ihr folgt den anderen ungefähr bis zur Mitte der Brücke«, sagte er. »Gebt ihnen Deckung und achtet auf den Torbogen. Wenn da irgend etwas herauskommt, sofort töten! Macht das Pferd euren Schwestern Schwierigkeiten, dann betäubt sie alle miteinander und bringt sie zurück! Verstanden?«

»Wir hören und gehorchen, Lord Yulin.«

Er nickte und setzte sich wieder an die Konsole.

»Obie, auf mein Kommando schaltest du den Abwehr-Status ab und öffnest die Tür. Du nimmst den Abwehr-Status sofort wieder auf, wenn ich es befehle. Kapiert?«

»Kapiert, Ben.«

»Macht euch fertig, Mädels. Also, Obie — fünf… vier… drei… zwei… eins… jetzt

Die Tür glitt zur Seite, und Wooly, Vistaru, Nikki und Mavra stürzten hinaus. Einige Sekunden später folgten die beiden anderen, mit den Pistolen im Anschlag. In zwei Gruppen liefen sie über die Brücke.

Mavra entdeckte sie sofort.

»Okay, Bozog, Ghiskind. Los!«zischte sie.

Wie der Blitz war der Bozog über der Brücke und verschwand an der Seite. Die Frauen, die immer noch geduckt dahinliefen, bemerkten ihn nicht.

Renard wurde von dem sich ungeheuer schnell abspulenden Draht beinahe in den Torbogen hinausgerissen. Mavra war sich bewußt, daß der Draht sichtbar war und unter einigem Lärm abrollte. Da sie unbedingt verhindern mußte, daß man ihn bemerkte, blieb ihr nur eine Wahl. Sie bäumte sich auf wie ein Wildpferd, schnellte nach vorn und hetzte über die breite Brücke.

Die Frauen waren überrascht, erholten sich aber schnell und warteten.

Mavra wurde so schnell, daß sie beschloß, einfach an ihnen vorbeizustürmen, durch die offene Tür in den Kontrollraum. Die vier Frauen sprangen auseinander und ließen eine Gasse frei, durch die Mavra hindurchhetzte. Als sie vorbeilief, spürte sie eine Reihe scharfer Stiche, dann sprang eine Gestalt auf ihren Rücken. Wieder fühlte sie Stiche, diesmal am Hals.

Sie versuchte den Reiter abzuwerfen, aber plötzlich verlangsamte sich alles, ihr Denken verschwamm, und sie blieb stehen.

»Nur weiter, Pferdchen«, sagte eine leise Frauenstimme. »Im Trab durch die Tür.«

Sie gehorchte. Die drei anderen Frauen liefen neben ihr her, die beiden übrigen bildeten die Nachhut.

»Abwehr-Status, Obie!«schrie Yulin. Die Tür schloß sich, als das Pferd hereindrängte. »Obie, sind noch Lebensformen auf der Brücke?«

»Nein, Ben, niemand.«

Vistaru saß immer noch auf Mavras Rücken und lächelte wie ein Kind mit neuem Spielzeug.

»So ein nettes Pferdchen«, sagte sie zu Yulin. »Können wir es behalten? Als Haustier?«

Er lachte leise. Der Gedanke gefiel ihm. Je mehr er darüber nachdachte, desto besser hörte es sich an.

»Bring es zur Plattform, Schatz. Du bekommst ein Haustier, aber ein anderes.«

Die Mädchen hatten einige Schwierigkeiten, die Wendeltreppe mit Mavra zu bewältigen, aber es gelang ihnen. Mavra wurde auf die Scheibe gestellt.

»Obie, du hast doch noch Mavra Tschangs Original-Codierung, nicht?«fragte er.

»Ja, Ben.«

»Gut. Wesen auf der Scheibe codieren«, sagte er.

Der kleine Parabolspiegel schwang herüber, das blaue Licht erfaßte die Scheibe darunter, das Pferd flackerte und verschwand.

»Neue Codierung«, sagte Yulin. »Den Körper von Mavra Tschang mit Pferdeschwanz wie früher. Arme und Beine die eines kleinen Pferdes, mit dem Körper nach unten, auf ihnen ruhend, Länge und Muskulatur in Übereinstimmung mit dem menschlichen Körper. Belastungsfähigkeit von Muskeln und Knochen für Lasten bis zu hundert Kilogramm, Zugkraft noch höher. Ohren wie bei einem Maulesel. Alle Hautmchen und Hautfarben menschlich, das Verdauungssystem jedoch wie das meine, mit der Fähigkeit, alles Organische zu essen und zu verarbeiten. Verstanden?«

»Verstanden, Ben. Hat schon jemand erwähnt, daß Sie Antor Trelig immer ähnlicher werden?«

»Wer sagt, daß mir das etwas bedeutet?«gab er zurück. »Weitere Anweisungen: Brüste so vergrößern, daß sie fast bis zum Boden reichen; Sinneswahrnehmung in allen Bereichen nach menschlicher Norm; mach den Schwanz so lang, daß er den Boden erreicht; die Haare an Kopf und Nacken dicht, aber kurz. Okay? Und sie soll ein Zwitter sein — Fortpflanzung durch Jungfernzeugung. Identische Kopien. Klar?«

»Ja, Ben.«

»Innere Anpassung: Sie soll Menschen sehr mögen, vor allem die im Kontrollraum hier, und ständig Liebe und Aufmerksamkeit brauchen, völlig gutmütig und gehorsam sein, keine Erinnerung vor diesem Zeitpunkt, keine Denkfähigkeit über das Maß eines hochintelligenten Hundes hinaus. Verstanden?«

»Verstanden. Ben, Sie sind wirklich eine Ratte.«

»Danke, Obie. Programm ab.«Es dauerte nicht einmal sechs Sekunden.


* * *

Der Bozog floß an der Schachtwand hinunter, knapp hinter dem Yugash, ohne den Draht loszulassen. Nachdem er, wie es schien, an Tausenden von Schalttafeln und Öffnungen vorbeigekommen war, erreichten sie einen Zugang, auf den der Yugash hinwies, bevor er hineinglitt. Der Bozog folgte ihm.

Der Draht blieb hängen, und das Wesen aus dem Norden mußte ihn vorsichtig lösen, in der Befürchtung, Renard könnte den Ruck als Signal mißverstehen.

Der Weg führte geraume Zeit an großen, summenden Moduln vorbei, hinauf, zurück und im Kreis herum. Das Ganze war ein Labyrinth, und der Bozog hielt sich ganz nah am Yugash, weil er wußte, daß er sonst nie wieder hinausfinden würde.

Endlich erreichte der Yugash die richtige Stelle. Nur etwa einen Meter entfernt befand sich ein sehr merkwürdig aussehender Würfel mit vielen Anschlüssen. Es mußte sich um die Bombe handeln.

Unter Anleitung des Yugash brachte der Bozog den Draht an. Das Gerät war unendlich kompliziert — Millionen winziger Härchen, jedes umgeben von zahllosen, mikroskopisch kleinen, runden Bläschen, ragten aus der Oberfläche. An der richtigen Stelle gab der Bozog eine klebrige, schimmernde Substanz ab und brachte den Draht damit an.

Der Bozog begann am Draht entlang schnell zurückzuweichen. Er war schon ein ganzes Stück weit gekommen, als der Yugash Erregung erkennen ließ.

Der Bozog war einen Augenblick lang verwirrt, dann überlegte er und zog vorsichtig an dem Draht.

Er ließ sich mühelos bewegen.

Beim Rückzug hatte der Bozog den Draht wieder herausgezogen. Mit einem Laut, aus dem der Übersetzer einen Seufzer machte, folgte er dem Yugash erneut zur Bombe.


* * *

»Ah, sie ist ja so süß!« quietschte eines der Mädchen vor Freude, als die neue Mavra auftauchte, sich umschaute, so gut sie konnte, Menschen entdeckte und glücklich schwänzelnd auf sie zulief.

Die Mädchen versammelten sich um sie und streichelten das Wesen. Eine hielt Mavra eine Fruchtschnitte unter die Nase. Sie schnupperte, schnurrte und aß sie wie ein Hündchen.

Yulin betrachtete sein Werk von der Galerie aus.

»Komm, Tschang! Komm! Platz! Komm her!«

Mavra war verwirrt, aber hocherfreut. Ein Idiotenlächeln erschien auf ihrem Gesicht. Sie lief die Stufen hinauf. Er bückte sich, nahm ihr Gesicht zwischen die Hände und tätschelte es grinsend.

Sie leckte ihm die Füße.


* * *

Der Bozog durfte nicht zuviel Sekret auf die Anschlußstelle geben, damit der Strom sein Ziel erreichte.

»Es ist so fest, wie wir es machen können, Ghiskind«, sagte er zu seinem stummen Begleiter. »Du mußt mich auf einem anderen Weg hinausführen, damit ich den Draht nicht wieder abreiße.«

Die geisterhafte Erscheinung nickte, und sie machten sich auf den Weg. Er war diesmal viel länger, und der Bozog hatte das unbehagliche Gefühl, daß der Yugash selbst oft raten mußte. Endlich fanden sie aber in den Schacht zurück. Die Brücke schien endlos weit entfernt zu sein.

Der Draht befand sich einige Meter über ihnen und etwa zehn Meter seitlich entfernt. Der Bozog erreichte ihn, griff danach und glich den Durchhang von der Brücke aus, dann zog er dreimal daran. Noch ein zweitesmal, und er huschte an der Wand zur Brücke hinauf.

Wenn Renard das Signal empfangen hatte, blieben dem Bozog genau dreißig Sekunden.


* * *

Renard wartete, wie es schien, eine Ewigkeit. Er war so angespannt, daß er ohnmächtig zu werden drohte. Als der Draht nach langer Zeit endlich nicht weiter abrollte, hatte er ein wenig aufgeatmet und sich bereit gemacht. Ein paar kleine Rucke ließen ihn hochfahren, aber das zweite Signal blieb aus. Er fluchte und setzte sich wieder hin. Da er nichts tun konnte als warten, stellte er sich vor, was an Grausigem gerade ablaufen mochte. Unternehmen konnte er nichts. Immer wieder glaubte er Geräusche zu hören und riß die Pistole hoch, aber niemand näherte sich.

Plötzlich nahm er wahr, daß der Draht sich spannte. Er hielt den Atem an und griff nach seinem Drahtende. Ein paar Meter lagen noch auf der Spule.

Dann kam es: eins… zwei… drei… eins… zwei… drei…

Er zählte langsam bis dreißig und betete, daß nicht er das schwache Glied in der Kette sein möge.

Mein ganzes Leben habe ich auf diesen Augenblick gewartet, dachte er, während er zählte. Dafür bin ich geboren worden, für diese eine Tat. In wenigen Augenblicken werde ich meine Existenz rechtfertigen… Zwölf… elf… zehn…


* * *

»Bist du sicher, daß kein Yugash in ihr gewesen ist?«

»Absolut, Ben«, versicherte der Computer. »Es ist auch kein Yugash hier im Raum oder auf der Brücke oder auf den Plattformen.«

Yulin beschimpfte sich für seinen Mangel an Voraussicht. Er hätte sie unter Hypnoeinfluß befragen sollen, bevor er sie verwandelt hatte. Was, zum Teufel, hatte sie vorgehabt?

»Analyse von Mavra Tschangs Absichten, hierherzukommen?«

»Um einen Plan anlaufen zu lassen, der Ihnen Einhalt gebietet«, erwiderte der Computer geziert.

»Was für einen Plan?«brüllte Yulin. »Was haben sie vor?«

»Sie versuchen, mich zu zerstören.«

Yulin sprang auf.

»Die anderen! Ein Ablenkungsmanöver! Ich hätte es mir denken können!«

»Schwerer Fehler, Ben. Sie haben vergessen, Mavra Tschang zu befragen. Gewöhnlich wird einem nur ein Fehler zugebilligt, auf dem Gebiet, das Sie sich ausgesucht haben.«

»Hör auf, so fröhlich zu sein!«wütete Yulin. »Wie halte ich sie auf?«

»Nun, Ihre einzige Chance besteht darin — Eindringling Eindringling auf der Brückenplattform!« warnte Obie plötzlich.

»Nummer Eins und Drei, mit Pistolen sofort hier herauf!«kreischte Yulin.

Sie stürmten nach oben.

»Abwehr-Status abschalten, Obie! Tür auf!«Er wandte sich den Mädchen zu. »Alles niederschießen, was ihr seht!«

Sie liefen hinaus.

Inzwischen hetzte Renard, so schnell er konnte, zur Brücke und berührte das unter Strom stehende Geländer, fühlte, wie die Spannung in ihn hineinfloß, obwohl er bereits stark aufgeladen war.

Und jetzt! Er ließ alles in den Draht hineinströmen.

Tief unten blies eine gewaltige Explosion Rauch und Trümmer mit einem ohrenbetäubenden, hallenden Donnerkrachen durch den Schacht. Unvorbereitet auf eine Detonation von solcher Stärke, wurde Renard umgerissen.

Ein Beben erschütterte den Kontrollraum, Geräte stürzten um, die Lichter flackerten, erloschen, leuchteten wieder auf, erloschen ganz. Die Tür flog auf, wie bei jedem Stromausfall, und die trübe Notbeleuchtung schimmerte hier und dort im Dunkeln.

Yulins Infrarotblick erlaubte ihm, die dunkle Konsole zu sehen. Er drückte mit solcher Gewalt auf die Sendetaste, daß sie brach.

»Obie! Obie!«schrie er gellend. »Antworte! Verdammt, du sollst antworten!«

Aber es kam keine Antwort. Aus der Ferne hörte er weitere Explosionen. Verzweifelt schaute er sich um, während seine Träume in sich zusammenstürzten.

Die beiden Mädchen auf der Brücke blieben plötzlich stehen und starrten mit leeren Gesichtern vor sich hin.

Im selben Augenblick, als die Energiezufuhr unterbrochen worden war, schien sich der Nebel um die Frauen zu lichten. Sie schrien entsetzt auf, als sie plötzlich verwandelt waren, die Orientierung zu verlieren schienen, aber nicht für lange.

»Vistaru!«schrie Wooly. »Eine Pistole! Jetzt haben wir den Dreckskerl!«

»Hinter dir!«rief eine andere Frauenstimme, als zwei Gestalten zur Treppe liefen, gefolgt von einem weiteren Paar.

Vistaru schaute sich nervös um.

»Wer, zum Teufel, sind Sie?«

»Nikki Zinder!«schrie die andere. »Weg hier! Ben Yulin gehört mir!«fauchte sie so bösartig, daß die beiden anderen sie vorbeiließen.

Yulin hörte sie kommen und begriff sofort, was geschehen war.

Psychische Veränderungen wurden durch biologische Umgestaltung bewirkt; sie waren von Dauer, wenn sie nicht von Obie, dem Schacht oder einer ähnlichen Kraft verändert wurden. Aber geistige, seelische Beeinflussungen waren vom Computer auferlegt und hingen vom weiteren Betrieb des Computers ab.

Yulin hatte keine Sklaven mehr, nur noch alte Feinde.

Er warf seinen Sessel mit Wucht die Treppe hinunter, und die Frauen sprangen zur Seite. Er nutzte die Verwirrung, um zur Tür hinauszustürmen.

Die beiden Frauen auf der Brücke waren vorher keine starken Persönlichkeiten gewesen, aber sie behielten die Sprachfähigkeit und die Eigenschaften, die Obie ihnen einprogrammiert hatte, auf die gleiche Art, wie Mavra die Pläne für Neu-Pompeii behalten hatte. Doch einige flüchtige Augenblicke lang war den beiden zumute, als seien sie gerade geboren worden. Sie befanden sich in völliger Verwirrung.

Yulin, der damit rechnete, raste in ihre Richtung. Eine von ihnen schien mit ihrer Energiepistole nichts anfangen zu können. Er stürzte auf sie zu. Als er sie fast erreicht hatte, sah er den Agitar auf sich zustürmen.

Er blieb verzweifelt stehen und schaute sich um. Vier seiner ehemaligen Sklavinnen kamen heran, alle bewaffnet, alle finster entschlossen. Aus der anderen Richtung raste Renard an den Frauen vorbei, die Pistole in der Hand.

Yulin entschied sich für Renard. Er fuhr fauchend herum und prallte mit ihm zusammen. Sie stürzten zu Boden.

Yulin überschlug sich, sprang auf und packte Renards Pistole. Mit einem Lächeln lief er an den beiden Frauen vorbei, ergriff eine zweite Pistole und wich auf die Brücke zurück.

Die Beleuchtung im Hauptschacht flackerte, und von unten drang Grollen und Poltern herauf.

»Patt!«schrie Yulin, den Lärm übertönend. »Alle ganz ruhig bleiben!«

»Geben Sie auf, Yulin!«kreischte Nikki Zinder, während das Getöse immer lauter wurde und Blitze zuckten.

»Bleiben Sie, wo Sie sind«, zischte Yulin.

Er wich am Schacht entlang weiter zurück, und sie folgten ihm im selben Abstand.

Renard lief in den Kontrollraum.

»Wir müssen ihn ausschalten«, rief Wooly. »Wenn er das Schiff erreicht, sitzen wir in der Falle — und er kann einen zweiten Obie bauen.«

Es war, wie Yulin gesagt hatte, ein Patt, und er wich immer weiter zurück. Er riskierte einen schnellen Blick zurück. Er hatte die Brücke fast überquert. Sobald er den Korridor erreichte, konnte er vor ihnen am Lift sein. Nur ein kleines Stück noch…

Plötzlich zuckte ein orangeroter Greifarm über die Brücke, wickelte sich um seinen Hals, riß ihn hoch und hinüber, gab ihn frei. Yulin fühlte, wie er hochgehoben, herumgedreht und in den Schacht geschleudert wurde.

Er kreischte geraume Zeit vor Entsetzen. Dank der Corioliskraft wurde er jedoch am Schacht zerschmettert, lange bevor er unten ankam.

Der Bozog kletterte an der Brücke hinauf, gefolgt vom hellroten Ghiskind.

Wooly sah, was geschehen war, und klatschte Beifall. Das Grollen, Dröhnen und Flackern hielt an.

»Vistaru, Zinder, geht mit dem Bozog und dem Ghiskind! Macht beide Liftkabinen bereit! Los, Star! Helfen wir Renard, die anderen zu holen!«Sie liefen zur Türöffnung zurück.

»Renard!«schrie Wooly.

»Hier! Verdammt. Helft mir doch! Ich sehe überhaupt nichts!«

Sie sahen mehr, und Vistaru führte die verwirrten, orientierungslosen Frauen die Treppe hinauf und zur Tür hinaus.

»Los, schnell!«schrie sie.

»Mavra! Wir müssen Mavra finden!«brüllte Renard.

Wooly schaute sich mit ihren scharfen Nachtaugen um.

»Ich sehe sie nicht! Mavra!«kreischte sie. »Mavra!«

Plötzlich wurde der ganze Raum hochgerissen, ein Teil der Galerie stürzte krachend ein.

Wooly packte Renard.

»Los! Raus hier!«schrie sie. »Wir brauchen Sie, damit Sie die anderen herausholen!«

Er wehrte sich.

»Aber — Mavra!«heulte er auf.

»Sie muß tot oder bewußtlos sein!«fuhr ihn Wooly an. Wieder erschütterte ein schwerer Stoß den Raum, und die Schachtbeleuchtung erlosch. »Los jetzt! Wir müssen hier weg, sonst gehen wir alle zugrunde!«

Sie hob ihn einfach hoch und raste die Treppe hinauf. Oben blieb sie einen Augenblick stehen und blickte zurück, mit Tränen in den Augen.

»Verzeih mir noch einmal, liebe Mavra«, flüsterte sie.

Dann hetzte sie über die Brücke.

Beide Wagen waren vollgestopft mit Leibern, und sie blieben mehrmals stehen und ruckten. Es gab Augenblicke, in denen sie sich einzuklemmen schienen, und die Insassen glaubten sich schon dem Erstickungstod ausgeliefert, aber endlich gelangten sie an die Oberfläche.

Renard begriff trotz des Schockzustandes, in dem er sich befand, daß er das Kommando übernehmen mußte.

»Zum Schiff!«schrie er.

Zum Trauern war später Zeit.

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