Everod, vor der Küste von Ecundo

Fast die ganze Nacht hatte Nebel geherrscht, und sie waren nach Süden getrieben. Sie wußten es, beschlossen aber, sich der Strömung zu überlassen, solange sie in tiefem Wasser waren, jedenfalls bis zum Morgen, der ihnen Gelegenheit bot, sich an der Sonne zu orientieren.

Und die Sonne spielte auch ein wenig mit — ein kaum sichtbarer Fleck steuerbord vor ihnen. Nachdem der Kapitän das aus seiner Mitte ragende Nasenstück gerieben hatte, beschloß er, Segel zu setzen und nach Westen zu fahren, geleitet von der Überlegung, daß der Nebel sich an der Inselküste hielt.

Mavra war lebendiger und froher, als irgend jemand sie in Erinnerung hatte. Sie forschte die Besatzung nach Informationen über Ecundo und Wuckl aus. Joshi begrüßte die Seereise ebenfalls als Abenteuer und lief überall herum, stellte Fragen, untersuchte die Geräte und genoß den Geruch der See und das kühle Streicheln des Nebels.

Der Segelmacher hatte zwei Tage lang an Jacken gearbeitet, die von den Tschangs benützt werden konnten.

Tbisi blieb besorgt, nicht nur, was die bevorstehenden Märsche der beiden, sondern auch, was die Zeit danach anging.

»Gut, nehmen wir an, ihr kommt durch Ecundo, was ohnehin schon schwierig ist, und ihr bringt auch Wuckl hinter euch und trefft wieder auf uns oder auf eines der anderen Paketschiffe, die wir verständigen. Wenn wir euch nach Mucrol bringen, müßt ihr immer noch dort hindurch, bevor ihr Gedemondas erreicht. Dann müßt ihr in die kalten Berge hinaufsteigen, für die ihr nicht ausgerüstet seid. Was dann? Was bringt euch das ein?«

Mavra hatte oft darüber nachgedacht.

»Vielleicht Hilfe — man kennt mich dort und hat Verständnis für mich. Man scheint mich als den kommenden Mittelpunkt ihrer mystischen Vermutungen zu betrachten. Ob man diesen Quatsch nun glaubt oder nicht, die Leute nehmen das ernst. Sie werden uns Zuflucht gewähren, davon bin ich überzeugt. Sobald wir dort sind, kann ich für die Zukunft planen.«

Sie war unbeirrbar. Tbisi konnte sie von ihren Plänen nicht abbringen und gab die Versuche schließlich auf.

Der Kapitän hatte den Nebel richtig eingeschätzt; er verdünnte sich, und ein leuchtender Dunst von wirbelndem Orangerot entstand. Die Sonne war im Nordosten fast noch ganz verhüllt, aber man konnte mit dem Sextanten arbeiten.

»Schiff, ho!«rief ein Ausguck vom vorderen Mast.

Mavra und Joshi hatten nur einen Gedanken: Die Ambreza hatten am Rand des Nebels Schiffe postiert und auf das Auftauchen der ›Trader‹ gewartet.

Man reffte die Segel, bis sie die starke Südströmung ausglichen und das Schiff fast regungslos im Wasser lag. Mavra und Joshi liefen zur Reling und sprangen hinauf. Tbisi trat zu ihnen und starrte mit hinaus.

»Ein kleines Schiff«, murmelte er. »Ein kleiner, schwarzer Kutter. Schnell, aber keine Gefahr für uns, würde ich sagen.«

»Ambreza?«fragte sie nervös.

Tbisi streckte seinen langen, unfaßbar dünnen Hals und starrte in den Dunst.

»Nein, das glaube ich nicht. Sie verwenden solche Schiffe nicht. Aluminiumrumpf und gepanzert, wie mir scheint. Das Schiff ist ein oglabanisches — man sieht sie auf der Westseite gar nicht mehr —, aber stark umgebaut. Ich fürchte, ich weiß nicht genau, was es ist.«

Das kleine, schwarze Schiff schien plötzlich in einer Reihe greller, blauweißer Blitze zu explodieren.

»Signal an ›Trader‹!«rief der Ausguck. »Beidrehen zum Entern und Durchsuchen! Sie verwenden übliche Zollverschlüsselung, aber das ist ganz bestimmt kein Behördenschiff!«

»Nichts entern und durchsuchen!«schrie die Stimme des Kapitäns durch den Übersetzer. »Nicht bei meinem Schiff! Signal: Wir sind in neutralen Gewässern. Kümmert euch um eure Angelegenheiten!«

Eine große Laterne wurde am Bug angebracht, die gefüllt war mit einem leuchtenden Stoff, der das Innere aber nicht schmelzen ließ. Ein wieselartiges Wesen bewegte an der Lampe mit einem Hebel eine Klappe, die das Licht abdeckte und wieder freigab.

»Erledigt, Käpt'n!«rief es.

Die ›Trader‹ wartete auf die Reaktion des Kutters.

»Weißt du, das könnten dieselben sein, die uns neulich nachts überfallen haben«, sagte Mavra zu Joshi. »Sie müssen mit einem Schiff gekommen sein — ich wette, das sind sie.«

Joshi nickte und starrte hinaus. Seine Kehle war trocken.

»Kanoniere auf die Posten!«rief der Kapitän. »Ballast auf Steuerbord pumpen!«

Die Besatzung war eingespielt; nach kurzer Zeit waren die Kanonen bemannt, geladen, die Luken standen offen, und die Geschütze wurden auf kleinen Schienen ausgefahren.

»Ich glaube, wir sinken«, sagte Joshi plötzlich entsetzt.

Tbisi lachte.

»Nein, wir führen große Ballasttanks und pumpen je nach Bedarf Wasser hinein, wenn die Ladung ungleich verteilt ist. Jetzt wird alles auf diese Seite des Schiffes gepumpt, damit wir ihnen möglichst wenig Angriffsfläche bieten.«

»Aber dann kippt ihnen doch das Deck entgegen!«sagte Joshi. »Ist das nicht schlimmer?«

Tbisi lachte.

»Nein, am Aufbau können wir allerhand direkte Treffer einstecken. Das gibt zwar Schäden, aber wir sinken nicht und werden nicht steuerlos. Aber ein Treffer unter der Wasserlinie, der zwischen zwei wasserdichten Luken sitzt, könnte uns auf den Meeresgrund schicken.«Er sah die beiden an. »Geht lieber in Deckung. Es könnte mulmig werden. Ich muß auf meinen Posten auf der Hilfsbrücke.«

Mavra und Joshi zogen sich zurück.

»Sie fahren auf uns zu, Käpt'n!«rief der Ausguck. »Es scheint ernst zu werden!«

»Segel ganz reffen!«befahl der Kapitän. »Wir lassen uns von der Strömung in den Nebel zurücktreiben. Hart steuerbord! Heckbrücke besetzen!«

Die Segel kamen sofort herunter, zugleich drehte sich die ›Trader‹ langsam, um dem Angreifer die geringste Zielfläche zu bieten. Durch die Strömung wurde sie gleichzeitig langsam zurückgetrieben.

»Alle von oben herunter!«schrie der Kapitän, und alle Mann, der Ausguck eingeschlossen, huschten herunter und nahmen ihre Posten ein. Man machte große Wasserfässer bereit, um das Kanonendeck spülen zu können. Fackeln wurden eilig angezündet.

Der Kutter paßte sich dem Manöver an. Es gab einen grellen, gelben Blitz und einen Knall auf dem Vordeck des Kutters, ein Rauchwölkchen kam auf sie zu, beschrieb einen Bogen, sank herunter.

»Hart steuerbord!«rief der Kapitän.

Das mächtige Ruder des Schiffes drehte sich unter starken Muskeln, die Ketten ächzten, die Masten schwankten, als das Schiff sich drehte.

Ungefähr dreißig Meter entfernt gab es eine Explosion, einen ungeheuren Schlag, als die Rakete vor ihnen im Wasser auftraf und die Oberfläche mit einer Geschwindigkeit durchstieß, die ausreichte, um die Federzünder auszulösen.

Metallsplitter prasselten selbst aus dieser Entfernung gegen das Schiff, aber der Schuß war eindeutig danebengegangen.

Der Kutter wendete scharf und ließ erkennen, daß er nur über zwei Werfer verfügte, am Bug und am Heck. Bis der Heckwerfer in Position gebracht werden konnte, würde man kurz, aber einladend die Breitseite darbieten müssen.

Der Zweite Maat, der die Geschützmannschaften befehligte, wartete ab. Dann standen, für einen kurzen Augenblick, die Schiffe parallel zueinander.

»Feuer!«schrie er, und augenblicklich wurden lodernde Fackeln an Zündlöcher gehalten. Es gab eine Reihe von Explosionen, die das Schiff erzittern ließen, als sechzehn Kanonen hintereinander feuerten.

Zu kurz. Rings um den Kutter schossen zwar Wasserfontänen hoch, und man hatte ganz den Eindruck, als sei das kleinere Schiff völlig zerstört worden, aber als das Wasser sich beruhigte, war nicht zu übersehen, daß keines der Geschosse näher als fünfzig Meter an den Kutter herangekommen war.

Die ›Trader‹ drehte sich weiter herum, der Bug erschien nun vor dem Heck des Angreifers. Die starke Strömung ließ das kleinere Fahrzeug näher herankommen, aber infolge der aufgepeitschten See war es nicht leichter zu drehen als das viel größere Schiff.

Der Kapitän verlangte vom Navigator eine genaue Ortsbestimmung, als die zweite Granate schon in der Luft war, ganz in der Nähe einschlug und eine Reihe von tiefen Furchen in die Bordwand und die Aufbauten der ›Trader‹ riß.

Der Kapitän schrie Befehle; der Nebel wurde wieder dichter, und man konnte den Kutter nur noch undeutlich sehen. In wenigen Minuten würden die beiden Schiffe füreinander unsichtbar sein, was aber dem Kutter zugute kommen würde, da er in der Lage war, näher heranzufahren.

Joshi schaute unter einem Segeltuch hervor.

»Wenn ich nur sehen könnte, was vorgeht«, klagte er. »Der Nebel wird wieder dicht.«

»Sei froh, wenn du davonkommst«, fuhr ihn Mavra an. »Bleib, wo du bist. Der Kapitän weiß, was er tut.«

Hoffentlich, dachte sie. Sie konnte ebensowenig schwimmen wie Joshi.

Der Navigator auf der Brücke rief:»34 Süd, 62 West!«

»Genau!«sagte der Kapitän. »Wie lange haben wir's noch zur Hex-Spitze von Ecundo und Usurk?«

»Bei dieser Geschwindigkeit vielleicht zehn, zwölf Minuten.«

Der Kapitän war zufrieden.

»Alles hinauf!«schrie er. »Alle Segel hoch!«

Vom Kutter aus war undeutlich erkennbar, daß sich auf dem großen Schiff die Segel entrollten.

Der Parmiter, mittschiffs auf einer Beobachtungsplattform, schrie:»Sie setzen Segel! Wir müssen sie schnell einholen, sonst entwischen sie! Los, ihr Halunken! Wenn wir auf diese Entfernung etwas so Großes nicht treffen, sind wir alle verloren!«

Das Bugrohr feuerte wieder, und diesmal ging es ganz knapp. Sie holten nicht nur auf, sie fanden auch die Reichweite; hätten sie zwei Bugrohre einsetzen können, wäre es ihnen vermutlich gelungen, der ›Trader‹ einen Volltreffer zu verpassen.

Der Kapitän auf der Brücke der ›Trader‹ begann sich ernsthafte Sorgen zu machen. Der letzte Schuß hatte ein Loch ins Heck gerissen und einen Lukendeckel aufgesprengt.

»Wir müssen doch schon nah an der Grenze sein!«rief der Kapitän. »Kesselraum besetzen! Vorheizen! Abwehr A!«

Zwei Twosh-Kegel huschten auf weißen Handschuhen über das Deck und sprangen auf ein abgedecktes Objekt am Bug. Das Segeltuch wurde entfernt und gab ein Gerät frei, das einem kleinen Teleskop mit kuppelförmigem Gehäuse glich.

Wieder zischte eine Raketenmine durch die Luft, schlug mittschiffs ein und riß ein großes Loch in die ›Trader‹.

»Ballast umpumpen!«brüllte der Kapitän. Los, ihr Halunken, wo ist die Grenze? dachte er.

Dann kam plötzlich, als sei ein Vorhang aufgegangen, die ›Toorine Trader‹ aus dem Nebel und stand vor den Verfolgern, eine wehrlose Zielscheibe.

»Wir haben sie!«kreischte der Parmiter.

»Macht sie fertig!«

Die Raketenmannschaften grinsten und luden. Sie zielten auf den Mittelteil, in der Hoffnung, den Hauptmast zu treffen.

Die Besatzung des Parmiters ließ sich Zeit und zielte so genau, daß niemand bemerkte, wie aus den zwei Schornsteinen der ›Trader‹ weißer Rauch aufstieg.

Die beiden Twosh an ihrer Konsole jubelten plötzlich, als die Steuertafeln vor ihnen aufflammten. Ein Radarmast fuhr aus und begann, sich mit seiner Antenne zu drehen, ein großes Gitter vor einem der Twosh zeigte deutlich den Computer.

Der Kapitän hatte sein Spiel gewonnen. Sie waren über die Grenze in das Hoch-tech-Hex Usurk gelangt, und alle ihre Geräte funktionierten wieder.

Sie konnten sehen, wie auf dem Kutter ein Kanonier im Begriff war, die Raketenmine auszulösen, die der ›Trader‹ den Todesstoß versetzen sollte.

Die Twosh ließen ihre Plattform plötzlich hochfahren und feuerten mit computergestützter Genauigkeit.

Das sonderbar aussehende Teleskop war in Wahrheit eine Laserkanone.

Gleichzeitig drehte sich die ›Trader‹, die Segel wurden in Rekordzeit geborgen, und als der Hauptanzeiger auf der Brücke blinkte, schoß ein dünner Greifarm aus dem Kapitän und betätigte einen Hebel, der den mächtigen Antrieb mit den Doppelschrauben in Betrieb setzte.

Große Rauchwolken quollen aus den Schornsteinen, bevor die Segel noch ganz abgenommen waren, die ›Trader‹ drehte sich mit verblüffender Geschwindigkeit und hielt auf den kleinen Kutter zu.

»Feuer!«kreischte der Parmiter, aber im selben Augenblick traf sie ein blendender Strahl von grünlichweißem Licht. Die Rakete stieg einen Meter empor, dann explodierte sie. Der Laserstrahl zuckte hinunter und trennte einen Teil des Bugs vom Kutter ab.

Das kleine Schiff explodierte.

Es gab einen grellen Blitz und ein donnerndes Krachen, als die restlichen Raketengranaten explodierten. Eine ungeheure Wasserfontäne schoß in die Luft, zerbarst und ließ nur Bruchstücke des Kutters zurück.

Auf der ›Trader‹ atmete man erleichtert auf.

Der Kapitän betrachtete die Szene, den sonderbar durchsichtigen Kopf ein wenig zur Seite geneigt.

»Vielleicht haben Sie recht«, murmelte er vor sich hin. »Vielleicht sind die Granaten wirklich zu gefährlich.«

Arbeitstrupps begannen mit den Reparaturen.

Die ›Trader‹ näherte sich der jetzt sichtbaren Küste von Ecundo, die so tief im Süden gefährlich und unzugänglich aussah. Bald würde sie wieder nach Norden fahren, an der Küste entlang, diesmal abermals unter Besegelung.

Als das Schiff auf das Land zuhielt, entfernte es sich von einer einzelnen, kleinen Gestalt, die mit der Strömung nach Süden getrieben wurde. Sie war zu klein und bald zu weit entfernt, als daß außer einigen Seevögeln irgend jemand sie hätte hören können.

»Helft mir! O bitte, lieber Gott! So helft mir doch!«tönte die gequälte Stimme des Parmiters. »Doc! Grüne! Irgendeiner! Helft mir!«

Aber diesmal gab es keinen, der dem Parmiter half.

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