Ecundo

Ihr Hauptproblem war, daß sie nicht das Logische und Sichere tun konnten — am Strand bleiben. Jeder, der sie suchte, würde schließlich auf die ›Toorine Trader‹ stoßen und sich seinen Reim darauf machen.

»Aber wir haben doch die Wesen in die Luft gesprengt, die uns verfolgten«, sagte Joshi klagend, als sie sich durch das Dickicht zwängten. »Warum laufen wir davon?«

Mavra dachte über die Frage nach. Wie konnte sie ihm die Lage auf eine für ihn verständliche Weise erklären? Daß sie aus der Gefangenschaft der Freiheit entgegenflüchteten, um das Recht in Anspruch zu nehmen, selbst über ihr Schicksal zu bestimmen? Das war zu abstrakt für ihn. Glathriel war die einzige Heimat, die er kannte. Abgesehen von einem gelegentlichen Besuch in Ambreza, für ihn ein Abenteuer, waren Dorf und Gehege seine Welt gewesen.

Aber sie gab vor sich selbst zu, daß sie sich beinahe in dieselbe Gemütsverfassung hätte treiben lassen. Sie, die Braut der Sterne, der freie Geist vieler Welten, war in eine Falle geraten, die beinahe bewirkt hätte, daß sie sich mit ihrem ruhigen, friedlichen Dasein abfand, ihren Auftrag und ihr Ziel vergaß.

Sie war beauftragt worden, die Bedrohung durch Neu-Pompeii zu unterbinden, und da hing der Asteroid noch immer am Nachthimmel, ein Dolch, der auf das Herz des Daseins an sich zielte. Der Auftrag, vor so langer Zeit erteilt, war immer noch nicht ausgeführt. Und dazu kam ihr eigentliches Ziel, das sie in klaren Nächten vom Strand aus sehen konnte — die Sterne!

Warum fliehen wir, Joshi? dachte sie. Wovor und wohin? Vor Stillstand und schließlichem Tod zu Abenteuern nach unseren eigenen Bedingungen — dahin!

Laut sagte sie:»Wir wissen nicht, ob sie diejenigen waren, welche uns überfallen hatten, und selbst wenn sie es gewesen sind, waren sie nur Werkzeuge und nicht die Leute, die es eigentlich auf uns abgesehen haben. Die Hintermänner werden es immer wieder versuchen, bis sie uns eines Tages in ihrer Gewalt haben. Wir können dasitzen und Zielscheiben abgeben, bis sie uns treffen, oder wir können versuchen, die Spielregeln zu ändern. Wir werden das zweite versuchen.«

Er bedachte, was sie gesagt hatte, akzeptierte es sogar, aber ganz verstand er es nicht. Das Gehege war immer ein Symbol für Frieden und Sicherheit gewesen; sich damit abzufinden, daß davon nichts geblieben war, würde geraume Zeit dauern.

Sie trugen Kleidungsstücke, die der Segelmacher für sie angefertigt hatte. In den Taschen war Nahrung verstaut, Vitamine für schlechte Zeiten, und Vorräte, die sie brauchen mochten. Sie hatten alles eingepackt, was sie tragen konnten, und die Jacken waren mit dunklem Pelz benäht, den man in der Dunkelheit mit ihren Haaren verwechseln konnte.

In Ecundo waren die Tage warm, aber der Anbruch der Nacht im Landesinneren brachte unbehagliche Kälte mit sich. Sie schliefen zugedeckt mit Zweigen und erwachten oft durchfroren und taubenäßt.

In Ecundo gab es fünf große Städte, vier an der Küste und eine in der Mitte des Hexagons, in der Nähe des Zone-Tores, aber sie mieden sie alle. Die Ecundaner waren lange, röhrenartige Wesen mit biegsamen Klauen und bösartigen Stacheln am Unterkörper. Ihre Städte waren riesige, künstlich aufgeschüttete Haufen, wo Tausende in Grabgängen lebten.

Zur Ernährung der Bevölkerung wurde fast das ganze Land der Viehzucht gewidmet; sie waren Fleischfresser, die hauptsächlich von den Bundas lebten, Wesen, die sich kaninchenhaft vermehrten und in großen, wilden Herden umherstreiften.

Nach zwei Tagen sahen sie die ersten. Sie spürten ein Dröhnen im Boden, huschten zu ein paar Felsen zurück und warteten. Bald kam die Herde vorbei — Hunderte von Tieren, wie es schien, manche so nah, daß Dreck in ihr Versteck geschleudert wurde. Aber die Bundas zeigten keine besondere Neugier, wenn sie die beiden Flüchtlinge überhaupt wahrnahmen.

Mavra zählte auf die Bundas, um durch das Hex zu gelangen. Außerhalb der Paarung lebten sie in Herden; dann entfernten sich Paare, um für die Aufzucht der Jungen zu sorgen. Aus diesem Grund hatten die Ecundaner es stets auf die Herden abgesehen und beachteten Paare nicht, die ja schließlich dafür sorgten, daß der Nachwuchs nicht ausblieb.

Ein Teil ihrer Anweisungen für den Segelmacher war auf diese Kenntnisse gegründet gewesen. Sie sollten aus einiger Entfernung Bundas so ähnlich wie möglich sehen. Im Idealfall konnten sie sich von neugierigen Stielaugen so weit fernhalten, daß sie nicht als fremde Eindringlinge erkannt wurden.

Als Joshi die Bundas sah, begriff er Mavras Pläne endlich.

Die Wesen waren etwas größer als er und standen, wie sie, auf vier Füßen mit Hufen. Die Hufe waren schwarz, statt schmutzigweiß, gewiß, aber sie hinterließen gleichartige Spuren. In anderer Hinsicht glichen die Geschöpfe eher riesigen Meerschweinchen. Kurze, schwarze Haare bedeckten alles, bis auf die Gesichter, und ließen Ohren erkennen, die, wenn auch nicht so lang wie die der Tschangs, doch von beträchtlicher Länge waren. Ihre Gesichter glichen dem eines Meerschweines, mit großen, braunen Augen und runder Schnauze, unter der ein kurzer Unterkiefer hing. Sie waren vorwiegend Pflanzenfresser, fraßen Gras und Buschwerk auf den Ebenen, aber auch Insekten, die wie eine Kreuzung zwischen Ameisen und Schaben aussahen und in kleinen Erdhaufen überall zu finden waren. Die Bundas machten sich nie die Mühe, die Insekten zu suchen oder die Haufen aufzuwühlen. Statt dessen legten sie sich nachts, nachdem sie untertags frisches Gras und Laub gefressen hatten, einfach hin, schlieren und reckten lange, klebrige Zungen hinaus, die mit weißen Haaren bedeckt zu sein schienen. Die Insekten krochen dann aus ihren Haufen und auf die wartenden Zungen, wo sie hängenblieben. Ohne aufzuwachen, zog das Bunda die Zunge ein, schluckte und fuhr sie wieder aus.

Mehrere Eigenschaften der Bundas wurden erkennbar, als Mavra und Joshi über die Ebene liefen. Die Tiere waren träge, zufrieden, leicht zu erschrecken und so dumm, folgerte Joshi, daß sie, wenn sie auf ein drei Meter langes Stück Zaun stießen, das ganz allein herumstand, einfach umkehrten, statt sich zu überlegen, wie man es umgehen konnte.

Die Bundas wogen im Durchschnitt etwa sechzig Kilogramm oder mehr. Das Fett hing überall an ihnen herab. Und sie vermehrten sich enorm — alle fünf Wochen ein Wurf von fünf Jungtieren, nur zwei oder drei Wochen gesäugt, nach ungefähr einem Jahr voll erwachsen. Außer den Ecundanern hatten sie keine natürlichen Feinde.

Aus einiger Entfernung, so hofften sie, würde ein Ecundaner nur ein von der Herde getrenntes Paar wahrnehmen, das vielleicht ein wenig absonderlich und langohrig war, mit weniger Pelzbewuchs versehen als die anderen. Zwei Bundas allein durfte man nicht stören, denn sie sorgten für künftige Nahrung. Am sechsten Tag wurde ihre Theorie auf die Probe gestellt. Sie hatten sich daran gewöhnt, daß die Herden auf Pfaden, die von Generationen ihrer Vorfahren ausgetreten worden waren, vorbeidonnerten. Mavra und Joshi beachteten sie deshalb kaum noch. Bei dieser Gelegenheit jedoch schien die Herde in Panik zu sein. Gewöhnlich wären Mavra und Joshi nachts unterwegs gewesen, aber wenn man sich als Bunda ausgeben will, kann man nicht in Bewegung sein, während die anderen Bundas schlafen, und so schien die Sonne warm auf sie herunter, als gegen Mittag die Herde durchging. Sie konnten ihr nur mit Mühe ausweichen.

Die beiden legten sich in das hohe Gras und warteten einige Minuten, bevor sie die Ursache für die überstürzte Flucht erkannten: Fünf Ecundaner, jeder auf sechs zwei Meter langen Krabbenbeinen, hetzten mit erstaunlicher Geschwindigkeit hinter den flüchtenden Bundas her. Ihre kleinen Stielaugen blickten nach vorn, die langen Unterkörper waren aufgerichtet, aus den Stacheln tropfte Gift, die beiden Klauen waren erhoben.

Die Ecundaner fingen die Herde in der Nähe von Mavra und Joshi ab. Die beiden preßten sich auf den Boden und hielten den Atem an, als ein Ecundaner fast direkt über sie hinwegstürzte, den Blick auf die Beute vor sich gerichtet. Er stank erbärmlich.

Die Ecundaner schwärmten aus, trieben die Herde zuerst in die eine, dann in die andere Richtung und schließlich fast im Kreis herum. Als die Tiere müde wurden, stürzten sich die Ecundaner auf sie zu, mit den Klauen zupackend, die Stacheln in Aktion.

Die als erste Gestochenen sollten jedoch nur als Hindernisse dienen, um die verzweifelten Tiere in eine einzige Gasse zu treiben, wo andere Ecundaner mit großen Netzen bereitstanden. Die Herde lief ihnen genau in die Hände, und während die Leittiere stolperten und quiekend in die Falle stürzten, liefen die anderen gedankenlos hinterher, bis die Ecundaner den Fang für ausreichend hielten und das Netz zuzogen. Zwei Netze faßten jeweils mindestens zwanzig Bundas, und die großen Skorpione trugen die Last mühelos.

Zufrieden ließen die Ecundaner den Rest der Herde laufen, und alle Hände stürzten sich auf die gelähmten Bundas, die den lebenden Pferch gebildet hatten, zerschnitten sie mit scharfen Klauenzähnen und fraßen sie, samt den Knochen, in großen Klumpen, mit Mündern, die sich weit in vier Richtungen öffneten. Die Tschangs konnten keine Kaubewegungen erkennen; entweder verschlangen die Ecundaner die Stücke ganz, oder ihre Zähne lagen weit hinter dem Brustkorb.

»Oje«, seufzte Joshi, als die Ecundaner mit der Beute abzogen. »Ich würde lieber mit ihnen reden als streiten.«

»Würde nicht viel nützen«, meinte Mavra. »Die Leute auf dem Schiff sagten, die Ecundaner reagierten sehr grimmig auf Fremde, die sie nicht eingeladen haben. Sie fressen sie oder lähmen sie einfach und schicken sie mit dem Schiff zur Warnung zurück. Nein, von den Ecundanern haben wir keine Hilfe zu erwarten, glaub mir.«

Am neunten Tag gingen ihre Nahrungsmittelvorräte zur Neige.

»Wie weit ist es noch zur Grenze von Wuckl?«

»Sollte nicht mehr weit sein«, gab Mavra zurück. »Wir sind sehr gut vorangekommen.«Vor allem, seit wir gesehen haben, wie die Ecundaner ihre Bundas zur Strecke bringen, dachte sie.

Sie waren tatsächlich gut vorangekommen. Das Gelände war flach, es gab kaum Hindernisse, überall Bunda-Pfade, und sie hatten jeden Tag die Sonne, um sich zu orientieren. Das flache Land und die ausgetretenen Wege hatten es ihnen ermöglicht, zu traben; sie schafften nach Mavras Berechnung am Tag vierzig bis fünfzig Kilometer. Wenn sie die Richtung nicht verfehlt hatten, mußte die Grenze in der Nähe sein. Das sagte sie Joshi.

»Wird auch gut sein«, meinte er. »Was essen die denn dort in Wuckl eigentlich?«

»So ziemlich dasselbe wie wir. Aber viel weniger Fleisch. Sie sind sehr sonderbar, wenn ich mich recht entsinne. Man muß einen gesehen haben, um es zu glauben — ich will nicht einmal versuchen, sie zu beschreiben. Hauptsächlich freiwillige Vegetarier, betreiben sie etwas Süßwasserfischerei in Seen. Sie sind hoch-technologisiert, aber die Bevölkerung ist klein, und sie vermehren sich langsam. Wenn man auf der ›Trader‹ richtig informiert war, haben sie viele Parks und Wildreservate, einfach so zum Vergnügen.«

Er nickte.

»Aber wird es nicht gefährlich sein, um Nahrung zu bitten?«fragte er. »Schließlich ist das ein Hoch-tech-Hex. Die Leute, die uns suchen, werden dort sicher auch nachforschen.«

»Wir fragen nur, wenn wir müssen. Es wächst viel Obst und Gemüse in den Parks und Seengebieten, und ich glaube nicht, daß wir viel Mühe haben werden.«

Sie hatte recht. Bevor es dunkel wurde, erreichten sie die Grenze.

Es war ein Wald, aber kein dichter, sondern eine parkähnliche Anlage mit Kieswegen. Sie sahen Sträucher mit wilden Beeren und sogar einige Zitrusbäume, die dicht mit Früchten behangen waren. Es sah aus wie das Land mit Milch und Honig, und die Wuckl waren weder fremdenfeindlich noch bösartig.

Aber es gab einen Haken.

»Sieh dir das an«, knurrte Joshi. Vier Stränge kupferfarbenen Stacheldrahts, ungefähr zwei Meter hoch, alle vier Meter Metallpfosten; ein Zaun, so weit das Auge reichte.

»Um die Ecundaner fernzuhalten?«fragte Joshi.

Sie schüttelte den Kopf.

»Um das Eindringen der Bundas in die Parks der Wuckl zu verhindern, würde ich sagen. Wahrscheinlich haben sich beide Länder darauf geeinigt.«

»Die oberste Stacheldrahtreihe sieht gefährlich aus. Wie kommen wir hinüber?«

»Gar nicht«, sagte Mavra. »Wir gehen unten durch. Das sind mindestens fünfzig Zentimeter, und ein, zwei Stacheln halte ich aus. Einverstanden?«

Joshi warf einen Blick auf die Dornen, die nicht sehr gefährlich wirkten, dann dachte er an die Ecundaner.

»Wer zuerst?«fragte er.

»Ich. Wenn ich Glück habe, kann ich mich hindurchzwängen, dann helfe ich dir.«

Er nickte, und sie ging auf den Zaun zu.

»Komisch«, sagte sie. »Man hört ein Summen. Eine Vibration?«

Er hörte es, zuckte aber mit den Schultern.

»Wer weiß?«

»Dann los!«sagte sie und kauerte sich nieder, so tief sie konnte. Es war mühsame Arbeit, und sie begann zu bedauern, daß sie in den letzten Jahren soviel zugenommen hatte.

Sie hatte sich halb hindurchgezwängt, als ihre Hüften den untersten Draht berührten.

Sie schrie auf, und Joshi hörte ein lautes Surren; sie kreischte und warf sich herum.

»Mavra!«rief Joshi entsetzt und stürzte auf sie zu. Als er ihr zuckendes Hinterbein berührte, spürte er den Schlag ebenfalls.

Ecundo war ein halb-technologisches Hex, Wuckl leider aber ein hoch-technologisches, und der Zaun befand sich einen Meter auf Wuckl-Gebiet.

Und er stand unter Strom.

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