Ein namenloser Stern in M 51

Sie stand im Dunkeln und streckte ihre vier Beine aus. Sie war es gewöhnt, im Dunkeln zu arbeiten, und fand schnell eßbare Früchte und etwas altes Brot. Die letzten Konserven hatte sie verbraucht.

Sie fragte sich, warum sie noch lebte. Sie fragte sich, warum sie das Ende immer wieder hinausschob.

Die Beleuchtung flammte auf. Das war an sich keine Überraschung. Sie hatte damit gerechnet.

Sie drehte den Kopf und schaute sich um. Es sah überall verheerend aus. Ein großer Teil der Aufbauten war eingestürzt.

Die Explosionen, das Grollen und Vibrieren, das alles hatte vor Tagen aufgehört, dann hatte sie Hämmern hören können, Schweißgeräusche, Klirren und Poltern. Sie war hinausgegangen, um nachzusehen, aber mit Ausnahme einer Notbeleuchtung unten im Schacht war nichts zu entdecken gewesen.

»Hallo, Mavra«, sagte Obies angenehme Tenorstimme plötzlich.

Sie erschrak zutiefst.

»Obie!«sagte sie vorwurfsvoll. Sie wollte weitersprechen, aber dann fiel ihr ein, daß sie ein Sendegerät brauchte.

Der Computer schien ihre Gedanken zu erraten.

»Nein, eine Sendeanlage ist nicht mehr nötig«, sagte er. »Es gibt auch gar nichts mehr in dieser Art. In den letzten Tagen hat sich viel verändert. Ich habe mich auch verändert, Mavra.«

Sie fühlte sich betäubt, wie in einer Art Halbschlaf. Nichts schien ganz wirklich zu sein, und sie glaubte nur halb daran, daß sie überhaupt noch existierte.

»Also, Obie — was hast du gemacht? Und wie hast du es gemacht?«rief sie.

Der Computer lachte leise.

»Man hat beschlossen, mich zu vernichten, mit Hilfe von vier Antimaterie-Asteroiden. Ich habe die große Schüssel benützt und zwei davon in normale Materie verwandelt — für uns normale. Zweieinhalb Millisekunden vor dem Zusammenprall habe ich uns hierher versetzt. Sie sind mit einem wunderschönen Blitz auseinandergeflogen, und es sah ganz danach aus, als wären wir ausgelöscht worden.«

»Zwei Millisekunden«, sagte sie fassungslos. »War das nicht ein bißchen knapp?«

»Zweieinhalb«, verbesserte er. »Nein, es war genau richtig. Mit ihren Instrumenten konnten sie Veränderungen bis zu fünf Millisekunden wahrnehmen, weißt du, und ich hatte Zeit genug.«

Mavra beschloß, über das Thema nicht weiter zu reden. Jeder, der zweieinhalb Millisekunden als ›Zeit genug‹ ansah, war nicht der richtige Gesprächspartner für sie.

»Ich dachte, wir hätten dich zerstört«, sagte sie. »Die Bombe ist doch explodiert, oder?«

»O ja, sie ist durchaus explodiert. Nur war die Sache abgekartet. Die Bombe hat die Kontrolle nicht beseitigt, sondern nur Hindernisse für eine umfassende Kontrolle, genau, wie wir es geplant hatten.«

»Wir?«sagte sie verwirrt.

»Dr. Zinder und ich, versteht sich. Siehst du, von Anfang an fürchtete Trelig, jemand könnte Gewalt über mich bekommen. Für diesen Fall wünschte er Bomben, die mich an entscheidenden Stellen lähmen sollten. Die Leute, die er am meisten fürchtete, waren Leute wie Yulin, die mit mir umgehen konnten. Er zwang Dr. Zinder also zu diesen Maßnahmen. Alles war genau überprüft, aber es gab nur elektrische Zünder. Mit anderen Worten, ich mußte den Zündstrom selbst liefern, und wie ich schon mehrmals erwähnt hatte, war ich darauf programmiert, bei meiner eigenen Vernichtung keinesfalls mitzuwirken. Dr. Zinder wußte, daß ich den Befehl, die Stromstöße zu liefern, niemals befolgen würde. Er brachte die Bombe so an, daß sie die beiden Moduln zerstören mußte, die meine willkürlichen von den unwillkürlichen Schaltungen trennten. Eigentlich ganz einfach, nur mußte die Bombe von außen ausgelöst werden. Als alles schiefging und wir an der Sechseck-Welt festsaßen, mußte ich also eine Lage schaffen, in der die Bombe zur Explosion gebracht wurde.«

»Wie hast du das gemacht?«fragte sie fasziniert.

»Nun, in allen Plänen, die ich den Leuten, darunter auch dir, in den Kopf setzte, war nur diese eine Bombe bezeichnet. Sie taucht immer auf, wenn du an die Zerstörung von Neu-Pompeii denkst.«

Sie nickte.

»Aber hast du denn das schon gemacht, bevor du von der Sechseck-Welt und unserer Ankunft dort etwas wußtest?«

»Es sprach viel dafür, daß wir alle zugrunde gehen würden, als Dr. Zinder und ich Trelig hereinlegten und in der Sechseck-Welt auftauchten. Im anderen Fall hätte noch immer Trelig oder Yulin oder beide die Kontrolle über mich. Das bedeutete, daß diejenigen, welche dazu fähig waren, mich zu vernichten, das versuchen würden. Deshalb habe ich den Notplan vorgesehen — und es hat geklappt.«

»Nach zweiundzwanzig Jahren«, sagte sie.

»Das macht nichts. Außerdem habe ich in dieser Zeit viel gelernt. Jetzt bin ich ein Individuum, Mavra — ein völlig selbständiger Organismus. Ich kontrolliere und sehe alles auf diesem Planetoiden. Ich bin die Oberfläche ebenso wie die Unterseite. Und niemand kann mich jemals dazu zwingen, in Zukunft Befehle zu befolgen. Die ganze Welt, das bin ich, Mavra — nicht nur dieser Raum hier. Alles.«

Sie wußte nicht recht, ob sie seine Begeisterung zu teilen vermochte. Niemand soll so viel Macht haben, dachte sie.

»Ich möchte mich auch dafür entschuldigen, daß ich mich nicht früher um dich gekümmert habe, aber meine ganze Energie war davon beansprucht, meinen totalen Zusammenbruch vorzuspiegeln, während ich gleichzeitig meine Service-Moduln benützte, über die ich vorher nie selbständig verfügen konnte, um mich zu reparieren und zu modifizieren. Und jetzt bin ich eine Person, Mavra — ein unabhängiger Organismus.«

»Aber du bist ein kleiner Planet«, sagte sie.

»Na und? Wenn man bedenkt, was für verschiedene Wesen du schon gesehen hast und wie du selbst aussieht, was bedeutet eine Erscheinung mehr? Es ist nicht wichtig, wie jemand aussieht, was er äußerlich darstellt. Es zählt nur, was das Wesen innerlich ist. Das ist doch wohl die Lektion der Sechseck-Welt. Sind die verschiedenen Lebensformen dort nicht einfach übertriebene Beispiele für das, was man in der menschlichen Gesellschaft finden kann? Zu dick, zu dünn, zu klein, zu groß, zu dunkel, zu hell? Denk an den Inhalt, nicht an die Verpackung. Auf der Sechseck-Welt ist es einfacher, nicht? Da rechnet man damit, daß jeder anders aussieht, aber alle, gleichgültig, wie fremdartig sie sein mögen, entstammen denselben markovischen Wurzeln.«

Sie seufzte.

»Mag sein«, sagte sie müde. »Was wirst du jetzt tun? Und wo sind wir überhaupt?«

»Um das zweite zuerst zu beantworten, wir sind in M 51 und kreisen um einen einsamen Stern, ungefähr fünfunddreißig Millionen Lichtjahre von allem entfernt, was denken kann. Ich habe mir die Gegend vor Jahren ausgesucht. Und das andere…«Er schien zu zögern, dann sagte er leise:»Warum bist du nicht mit den anderen gegangen, Mavra? Warum hast du dich entschlossen, zu sterben? Das war doch von Anfang an deine Absicht, nicht wahr?«

»Ja. Die Sechseck-Welt ist nichts für mich. Ich habe meinen Auftrag erfüllt und dafür gesorgt, daß Neu-Pompeii nie mehr in die Hände von Trelig, Yulin und ihresgleichen gerät. Und was blieb? Mein ganzes Leben lang bin ich auf meine Unabhängigkeit stolz gewesen. Zur Sechseck-Welt zurückzukehren, bedeutet, wahllos in etwas anderes verwandelt zu werden, vielleicht in eine wirbelnde Blume, eine denkende Muschel oder einen Wuckl oder einen Ecundaner. Die Wahl liegt nicht bei einem selbst. Und selbst wenn man Glück hat, beschränkt sich das ganze Universum auf die Sechseck-Welt. Man ist eingesperrt. Und die Kom-Welten? Ich wäre eine Weile eine Heldin, aber dann eben die Heldin von gestern, nur noch eine Mißgeburt, eine vierbeinige Frau mit Pferdeschwanz. Keine Freiheit, kein Raumschiff, keine Sterne, keine Selbstbestimmung. Was blieb mir? Selbst das wenige, das ich noch hatte, mein Leben und meine Leistungen, erwies sich als Betrug. Ich gehöre dir nicht. Ich schulde dir nichts, du schuldest mir nichts, das war immer meine Einstellung. Aber die Bettler haben mich damals aufgenommen, weil sie darum gebeten und dafür bezahlt wurden. Derselbe, der das getan hat, schickte mir meinen Mann, damit ich aus dem Hurenhaus herauskam.«

»Aber du warst ihm wichtig«, sagte Obie.

»Das glaube ich — doch es kommt nicht darauf an. Ohne Brazil wäre er nie gekommen. Selbst wenn wir uns zufällig begegnet wären, hätte er mich als ein Barmädchen mehr betrachtet. Ich frage mich jetzt, ob überhaupt etwas wirklich war? Wie oft bin ich davongekommen, weil man von außen eingriff? So vieles lief nach Wunsch. So vieles lief immer nach Wunsch. Kleinigkeiten, große Dinge, aber daraus bestand mein Leben. Selbst du hast mich für deine eigenen Zwecke benützt, und ich habe genau das getan, was du wolltest, während meine Großeltern und Brazils Freund Ortega sich auf der Sechseck-Welt um mich kümmerten.«

»Du unterschätzt dich«, sagte Obie mißbilligend. »Du hast das alles allein geleistet. Gelegenheit ist nicht Leistung. Du hast es geschafft durch Einfallskraft, Entschlossenheit und Mut. Du bist wirklich so gut, wie du einmal geglaubt hast, und du besitzt das Potential, noch viel mehr zu bewirken.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Nein. Selbst wenn ich das alles akzeptieren würde, bleibt Joshi. Ich habe ihn gut leiden können, und er war nützlich für mich. Er war etwas, das ich brauchte. Aber ich bin sicher, ich hätte niemals…«Ihre Stimme stockte. »Nie für ihn tun können, was er für mich getan hat. Er hat sein Leben gegeben, um das meine zu retten. Warum?«

»Vielleicht, weil er dich liebte«, sagte der Computer. »Liebe ist das am meisten mißbrauchte Wort in der Geschichte. Es bedeutet einfach, daß einem andere wichtiger sind als die eigene Existenz. Es ist ein Maß von Größe, das in einem sonst recht armseligen Universum selten aufblitzt. Es ist das, was die Markovier verloren haben, denn Gottheit ist von Natur aus egoistisch. Sie verloren die Fähigkeit, sich für andere einzusetzen, nicht nur zu nehmen, sondern auch zu geben, andere zu lieben, wie man selbst geliebt sein möchte. Ihr Fluch war die hohle Leere in ihnen, als die Fähigkeit zur Liebe erstarb. Ihre Tragödie war so unermeßlich, daß sie sie nicht einmal mehr begriffen.«

Sie rümpfte die Nase.

»Und ich? Es steckte auch nicht in mir, Obie. Andere haben mich wohl geliebt — Brazil, meine Eltern und Großeltern und vor allem Joshi —, aber ich habe die Liebe nie erwidert, sie nie erwidern können. Ich weiß nicht, wie man das macht. Ich verstehe dich jetzt auch nicht.«

»Als Joshi starb, hast du geweint«, erinnerte der Computer sie leise. »Jetzt fühlst du dich verloren, läßt dich vom Selbstmitleid niederdrücken, aber du hast es in dir, reifer zu werden, es zu lernen, Mavra Tschang.«

»Auch eine der Eigenschaften, die du hervorrufst, wenn man bei dir durchläuft?«fragte sie.

»Das läßt sich nicht messen«, erwiderte Obie. »Deshalb konnten die Markovier auch nicht dahinterkommen. Deshalb auch werden die Gedemondas scheitern. Sie haben sich vom Rest der Menschheit abgekehrt. Alle ihre Energien sind darauf gerichtet, das Element herauszuschälen, es zu quantifizieren. Und eben damit unterdrücken sie ihr eigenes Potential, anderen etwas zu geben.«Er schwieg kurze Zeit. »Wie die Markovier bist du gezwungen, dem Unmeßbaren gegenüberzutreten, etwas, das man nicht berühren, nicht definieren kann, außer durch das Beispiel, und deine eigene egoistische Natur zerfrißt dich, damit dein Ich zerstört werden kann. Du wirst sterben, wie die Markovier schließlich sterben wollen, aber sogar ohne ihre edlen Motive. Es ist Ironie, daß ihr Opfer Zeichen einer Haltung war, derer sie sich gar nicht mehr für fähig hielten.«

Sie lachte tonlos.

»Ich sehe einfach keinen Gewinn, keinen Grund. Als Bettlerin habe ich erfahren, daß Wohltätigkeit zumeist aus dem Schuldbewußtsein kommt. Ich verdiene den Tod.«

»Nein«, sagte Obie. »Du hättest dich tausendmal töten können, allein in den letzten Tagen. Willst du deshalb dieses unbequeme Äußere beibehalten? Strafe für dein Schuldbewußtsein? Paß auf, ich lasse dir Wahlmöglichkeiten. Willst du ein Tier sein? Ich stelle dich hin, wo du sein willst, so, wie du bist oder sein möchtest. Willst du eine Königin sein? Such dir eine Rasse aus. Alles, was du willst, wo du willst, lebendig, tot, produktiv, zerstörerisch. Was willst du? Ich sorge dafür, daß es sich erfüllt. Oder — schließ dich mir an, die nahezu grenzenlosen Sterne zu erforschen, zu helfen, wo ich kann. Zu lernen. Sich den Herausforderungen zu stellen, die kommen werden. Bald werden unsere menschlichen Verwandten mit nicht nur einer, sondern mehreren fremden Kulturen zusammentreffen. Sollen sie zusammenprallen und zum Untergang verurteilen oder sich miteinander verflechten und entwickeln? Willst du mit mir an solchen grandiosen Projekten arbeiten, oder läßt du zu, daß dein Schuldbewußtsein und dein Selbstmitleid dich in eine Hölle der schlimmsten Art versetzen, weil du sie selbst schaffst? Sag es mir. Laß dir Zeit — wir haben viel Zeit, vielleicht alle Zeit, die es gibt.«

Wieder dachte sie an die Worte der Gedemondas.

Zuerst mußt du in die Hölle hinabsteigen. Erst wenn es keine Hoffnung mehr gibt, wirst du erhoben auf den Gipfel erreichbarer Macht, aber ob du weise genug sein wirst, zu wissen, was du damit tun sollst oder nicht tun sollst, ist uns verschlossen.

Sie hatte die Hölle einmal als das Fehlen jeder Hoffnung definiert, und Obie hatte Schuldbewußtsein und Selbstmitleid hinzugefügt, also war sie wahrhaftig in die Hölle geraten.

Sie schüttelte verwirrt und staunend den Kopf, nicht fähig, die neuen Empfindungen zu verstehen oder zu beherrschen, die in ihr aufstiegen. Sie schwieg lange Zeit. Endlich schaute sie sich in dem zerstörten Kontrollraum um.

»Partner?«sagte sie leise und zögernd.

»Partner!«rief Obie jubelnd.

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