Wuckl

Nach ihrer Flucht ging es nicht mehr so einfach. Mavras Gehirn schien seine Fähigkeiten zurückzugewinnen; hier und dort gab es noch Lücken, und wie es zu der jetzigen Lage gekommen war, entzog sich ihrem Verständnis, aber es fiel ihr immer leichter, sich an die Vergangenheit zu erinnern.

Als sie und Joshi sich im Hügelland vor dem enthüllenden Licht der Sonne verbargen, das nun den Horizont zu überfluten begann, gab sie sich Rechenschaft über das, was sie wußte und was sie tun mußte.

Das letzte, woran sie sich erinnerte, war der Zaun. Auf irgendeine Weise hatte er ihnen das Bewußtsein geraubt — und sie waren als eigenartige Schweine erwacht. Warum und wie, würde erst viel später geklärt werden können, wenn überhaupt.

Ich bin also ein Schwein, dachte sie leidenschaftslos. In mancher Beziehung war das entschieden ein Vorteil. Ihre Gattung war offenbar dem Leben in der Wildnis angepaßt, also mit Überlebensmechanismen ausgestattet, an denen es ihnen vorher gemangelt hatte.

Wenn man bedachte, womit man sie im Zoo gefüttert hatte, konnte die Ernährung kein Problem sein. Mavra war nicht stolz; wenn sie etwas hinunterschlingen konnte, ohne sich damit zu schädigen, würde sie es essen. Und alle Lebensformen im Süden waren auf Kohlenstoff aufgebaut; manche waren Pflanzen—, andere Fleisch—, wieder andere Allesfresser, aber in der Regel würde die Nahrung einer Rasse Angehörige einer anderen nicht schädigen, selbst wenn sie nicht viel Nutzwert besitzen mochte.

Am bedeutsamsten war die neue Kopfhaltung. Zum erstenmal seit langer Zeit blickte Marva wieder geradeaus, nicht zu Boden. Das enorme Maß an Sicherheit, das damit verbunden war, entschädigte durchaus für die Kurzsichtigkeit, die immer noch ein besseres Sehvermögen lieferte, als sie es vorher besessen hatte. Schließlich stellten die scharfen Stacheln eine Abwehrwaffe dar, die sich als nützlich erweisen mochte.

Alles in allem ist es besser, ein Schwein zu sein, dachte sie. In vieler Hinsicht hatten die Wuckl ihnen einen Gefallen getan. Das einzige große Problem war die Verständigung. Sie begriff, daß ihre Körper in hohem Maß modifiziert, nicht verändert worden waren, da sie von dem winzigen Kristall, der chirurgisch in ihr Gehirn eingepflanzt worden war, noch immer Übersetzerkapazität erwarten konnte. Der Kristall erlaubte es ihr, die Wuckl und andere zu verstehen, aber er ließ keine Kommunikation zu. Joshi, der keinen Übersetzerkristall besaß, tappte zum großen Teil im dunkeln.

Entweder waren ihre Kehlköpfe gelähmt oder entfernt worden; die Geschöpfe konnten nur die klassischen Grunzlaute der Hausschweine hervorbringen.

Sie fragte sich, woran Joshi sich überhaupt noch erinnerte. Ging es ihm geistig besser als ihr oder schlechter? Gab es irgendeinen Weg, sich zu verständigen? Sie würde es versuchen müssen. Sie konnten am hellichten Tag kaum umherlaufen, und die Erscheinungsformen des Tierlebens in ihrer Umgebung überzeugten sie davon, daß in diesem Hex Schweine nur in Zoos gehörten. Sie würden gezwungen sein, weiterhin nur nachts zu laufen.

Sie überlegte sich, was Joshi wußte. Den allgemeinen Code, ja — er hatte ihn gelernt, um den Versorgungsschiffen bei schlechtem Wetter Zeichen zu geben. Wenn es ihr gelang, die Grundlaute zu regulieren, und wenn er begriff und geistig dazu in der Lage war, die Zeichen zu verstehen, mochte das gehen.

Sie stieß ihn mit der Schnauze an, und er schnob.

Sie versuchte einen einfachen Satz — ›Wir sind frei‹ —, um zu sehen, ob sie etwas zu vermitteln vermochte. Es ging überaus langsam, und sie wiederholte ihn unablässig, in der Hoffnung, er werde auf die Wiederholung aufmerksam.

Es vergingen mehrere Minuten, und er wirkte verwirrt. Sie befürchtete schon, er begreife nicht, als plötzlich seine Ohren zuckten.

Tatsächlich hatte Joshi weit weniger heftige Stromstöße erlitten und sich dadurch früher erholt. Er besaß einfach nicht ihren Antrieb und Ehrgeiz. Aber nun fing er ein Wort auf, nachdem er endlich begriffen hatte, daß sie mit ihm zu reden versuchte. Die Zeichengruppe für ›wir‹ war kurz und einfach. Er registrierte und wiederholte sie. Sie geriet in Aufregung, versuchte es schneller, und er folgte ihrem Beispiel erneut, nun selbst erregt. Sie verstummte. Nun war er an der Reihe. »Wir sind Schweine«, grunzte er.

Der Durchbruch! Sie hätte ihn umarmen und küssen mögen, wenn das möglich gewesen wäre. »Wir gehen weiter«, sagte sie. Er stöhnte.

»Was können wir jetzt tun?«fragte er. »Wir sind Schweine.«

»Tschang-Schweine«, gab sie zurück. »Wir denken. Wir wissen. Wir sind immer noch wir. Wenn wir frei bleiben, können wir es trotzdem schaffen.«Er wirkte deprimiert.

Sie erarbeiteten eine kurze Reihe von Lauten für wichtige Begriffe und übten sie ein. Die Mitteilungen waren einfacher Art, ein paar Grunz- und Quieklaute, aber sie konnten ›Halt‹, ›Los‹, ›Lauf‹, ›Gefahr‹ und andere Grundbegriffe wiedergeben. Schließlich signalisierte Joshi:»Ich habe Hunger.«Sie konnte es ihm nachfühlen. Sie hatten immer Hunger. Aber sie besaßen Vernunft, und die Vernunft sagte, daß sie warten mußten, bis das Risiko geringer wurde. Er akzeptierte ihre Logik und schlief statt dessen.

Mavra Tschang konnte nicht sofort schlafen. Sie beobachtete Joshi und begriff, daß hier eine Spaltung, eine Dichotomie, bestand, die der Klärung bedurfte.

Joshi sah normal aus. Sie empfand Hunger wie ein Schwein, fühlte all das, was ein Schwein fühlte. In gewisser Weise hatte diese letzte Verwandlung die letzten Bande zur Menschheit zerrissen, begriff sie. In den vergangenen Jahrzehnten hatte sie sich an ihr Menschsein geklammert; sie war immer noch ein Mensch gewesen, nur eine andere und einzigartige Abart. So fühlte sie nicht mehr. Eine Weile fragte sie sich, ob ihre neue Einstellung auf das zurückzuführen war, was man mit ihr gemacht hatte. Sie bezweifelte es; es war nicht wie die Hypnobeeinflussung, damit sie ihr neues Leben auf allen vieren akzeptierte. Nein, es war etwas anderes und doch Vertrautes. Es war vielmehr wie die Wandlung, als sie aufgehört hatte, darüber nachzudenken, wie sie eines Tages ihre Menschlichkeit wiedergewinnen würde, und sich als das akzeptiert hatte, was sie war.

Schwein — alle Elemente, die das Tier zusammensetzten, mit dem sie nun verwandt war — rang mit menschlicher Persönlichkeit und Ansicht. Was schuldete sie den Menschen denn? Was hatten sie für sie getan? Selbst früher schon, als eine von ihnen, war sie für sich gewesen, anders, ein abgesondertes Element, das sich den ›normalen‹ Leuten ringsum überlegen gefühlt, sich als fremdartig empfunden hatte. Sie war unter ihnen, aber nicht eine von ihnen gewesen, solange sie sich erinnern konnte. Man hatte sie zu einem Tier gemacht; nun gut, sie würde eines sein. Ein Schwein, oder was immer das sein mochte. Ein sehr kluges Schwein, gewiß, aber trotzdem ein Schwein.

Die widerstreitenden Elemente in ihrem Geist stellten den Kampf ein. Sie war ein Schwein und würde es immer bleiben, und es war richtig so.


* * *

Als es dunkel wurde, fühlten sie sich beide dem Verhungern nahe. Vorsichtig liefen sie auf Lichter in der Ferne zu. Sie befanden sich in einem Hoch-tech-Hex; die Wuckl waren offenkundig Tagwesen, aber wie die Menschen konnten sie auch nachts existieren und aktiv ein.

Es war eine kleine Stadt; nicht das Bevölkerungszentrum, nein, sondern ein Ort von einigen tausend Einwohnern. Man würde auf zwei entlaufene Tiere achtgeben, so daß Mavra und Joshi vorsichtig sein mußten. Sie liefen um die Stadt herum und forschten mit ihrer neuen, gesteigerten Witterung nach den Gerüchen, die vorhanden sein mußten. Es gab Abfalltonnen, aber sie zogen es vor, nicht darin zu wühlen, wenn sie es vermeiden konnten — zuviel Lärm und Geklapper. Aber Abfalltonnen ließen auf eine Abfallhalde schließen, und sie verbrachten eine halbe qualvolle Nacht auf der Suche danach.

Endlich fanden sie eine große Grube mit Müll und Speiseabfällen. Sie schlugen sich mit Zeug voll, das sie in ihrem früheren Dasein abgestoßen hätte. Als Wildschweine störte es sie nicht.

Leider war ihr Hunger unbezwingbar; selbst als er nachließ, fiel es ihnen schwer, eine sichere Nahrungsquelle zu verlassen, weil sie wußten, daß sie bald wieder darauf angewiesen sein würden. Aber sie mußten sehen, daß sie weiterkamen; hier in der Gegend zu bleiben, bedeutete sichere Gefangennahme und Unterbringung in einem viel strengeren Gefängnis, vielleicht in einem Käfig.

Die Sonne hatte ihnen gezeigt, wo Osten lag, und sie machten sich auf den Weg. Das Gelände war sumpfig, doch das störte sie nicht; ihre Gattung konnte unermüdlich schwimmen, und weder Feuchtigkeit noch Schlamm behinderten sie.

Alles schien nach Wunsch zu verlaufen. In der zweiten Nacht befanden sie sich in der Nähe eines Feldes mit, wie es schien, fast reifem Mais, und das war für sie wie Weihnachten, zumal ein hier und dort abgefressener Kolben nicht auffallen und die Vegetation gute Tarnung bieten würde.

In der dritten Nacht hörten sie von weitem das Brausen und Peitschen der Brandung, und Joshi konnte es kaum ertragen, als sie eine Klippe erreichten, in die Dunkelheit hinausstarrten und die salzige Luft rochen. Das war die Ostseite des Meeres von Turagin, aber sie fühlten sich an ihre Heimat erinnert.

Blinkende Lichter in Strandnähe kennzeichneten gefährliche Riffe, und Leuchttürme mit grellen Strahlen warnten vor weitreichenderen Gefahren.

Sie ließen Anblick und Gerüche eine Weile auf sich einwirken, aber Mavra tat es mit gemischten Gefühlen. Die See bot einen seltsamen Widerspruch. Da war Freiheit, Erlösung, Entkommen — und ein fast unüberwindliches Hindernis zugleich. Auf der anderen Seite lagen die Wasser-Hexagons. Dies war vermutlich Zanti, das nach Twosh führte. Das lag von ihrem Ziel zu weit ab. Dahinter befand sich Yimsk, das zu Mucrol führte, neben Gedemondas, aber auch neben dem Spinnen-Hex Shamozan, das mit Ortega zusammenarbeitete. Im Norden lag Alestol mit seinen tödliches Gas ausstoßenden Pflanzen. Sie mußten noch Hunderte von Kilometern Sumpfland durchqueren, um nach Mucrol zu gelangen, und mindestens eine Hex-Seite nach Gedemondas. Dabei schien ihr Ziel so nah zu sein, knapp außer Reichweite.

Joshi erriet Mavras Gedanken.

»Was nun?«fragte er.

Was nun? fragte sie sich selbst. Wenn ihr Gedächtnis sie nicht im Stich ließ, bedeuteten diese Lichter, daß sie sich knapp nördlich des Haupthafens von Wuckl befanden, genau dort, wo sie die ›Toorine Trader‹ wiedertreffen sollten, wenn alles nach Plan verlaufen war.

Aber wie lange war das her? Welcher Tag, welche Woche, welcher Monat war das? Und selbst wenn sie noch rechtzeitig zur Stelle waren, wie konnten sie an Bord gelangen, ohne aufzufallen, und dann die Besatzung von ihrer wahren Identität überzeugen Nun, dort würde es wenigstens Abfälle geben und einen Platz zum Schlafen.

Sie liefen am Strand entlang nach Süden, und Mavra glaubte, die Stimme des Gedemondas wieder zu hören.

›Du wirst in die Hölle hinabsteigen‹, flüsterte sie. ›Erst dann, wenn die Hoffnung zunichte ist, wirst du erhoben…‹ Die Hoffnung war erst zunichte, wenn man tot war oder es ebensogut sein mochte, dachte sie. Zwei Schweine konnten das den Gedemondas in ihren eisbedeckten Vulkanhöhlen sagen und es ihnen in ihre selbstzufriedenen, allwissenden Gesichter schleudern.

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