Nocha

Die ›Toorine Trader‹ war erfolgreich repariert worden; nur das neue Holz an Bug, Mittelteil und Aufbau ließ erkennen, daß etwas nicht in Ordnung gewesen war.

Eine Woche später befand sich die ›Trader‹ mehrere hundert Kilometer auf dem Meer von Turagin unterwegs nach Nordwesten, um in Wygon große Kisten mit einem Inhalt abzuliefern, dessen Bestimmung sie nicht verstanden.

Es war kalt in Nocha, knapp über dem Gefrierpunkt. Die Besatzung blieb unter Deck, wenn es ihr möglich war; die See war außerordentlich rauh, und man konnte sehr leicht über Bord fallen. Niemand wollte das — nicht in Nocha, wo nur wenige Meter unter der tobenden Oberfläche Insekten mit Tausenden von Zähnen auf eine solche Beute warteten.

Sie waren ohnehin keine Firmenkunden, und kein Besatzungsmitglied hatte die Absicht, sie kostenlos zu bedienen.

Sturm und Kälte hatte eine kleine, fliegende Gestalt noch weiter nach Westen abgetrieben. Sie war fast erschöpft und begann an ihrem Vermögen zu zweifeln, weiter durchzuhalten. Seit sie auf das Meer hinausgeflogen war, um die ›Trader‹ vor ihrer Landung in Wygon abzufangen, war kein Land sichtbar gewesen.

Sie hatte keine breiten, großen Schwingen, um sich im Aufwind über dem Sturm zu halten. Ihre Flugfähigkeit war enorm und erlaubte es ihr, ebenso fast im rechten Winkel Zickzack zu fliegen wie fast stillzustehen, aber das hieß, daß die Flügel ständig in Bewegung sein mußten, und alle vier Paare waren dadurch jetzt überanstrengt.

Verzweifelt stieg sie hinauf, so hoch sie konnte, und ließ sich von den Böen fortwehen. Der Abtrieb nach Westen wurde ihr beinahe zum Verhängnis. Kaum fähig, etwas zu sehen, verzweifelt gegen die Elemente ankämpfend, war sie nicht vorbereitet, als der Sturm plötzlich aufhörte und eine Wärmeflut sie erfaßte. Die Atmosphäre war überdies ganz ruhig und von geringem Druck, so daß sie hinabfiel wie ein Stein, bevor sie sich umsah.

Sie bemühte sich mit aller Kraft, den Sturz abzufangen, und begriff, daß sie über eine Hex-Grenze geweht worden war. Sie fing den Sturzflug gerade noch ab, bevor sie auf die Wellen geprallt wäre, und flog in geringer Höhe weiter. Das war nicht genug; ein glänzender Silberfisch, der zur Hälfte aus Zähnen zu bestehen schien, sprang aus dem Wasser, um sie zu packen. In Panik stieg sie ein wenig höher.

Zu erschöpft, um klar denken zu können, ließ sie sich von Empfindungen überwältigen, die nahes Unheil ankündigten. Sie begriff, daß sie bald ins Wasser stürzen würde, wenn sie nicht rasch irgendwo niedergehen konnte. Und nasse Flügel würden sie zur leichten Beute für die Raubfische werden lassen.

Sie hatte keine Ahnung, wo sie sich befand. Vermutlich in Hookl, weil es so warm war — ganz gewiß nicht in Jol, wo es von Eisbergen wimmelte.

Im Augenblick wäre sie mit einem Eisberg vollauf zufrieden gewesen.

Sie ließ sich dahintreiben, gewiß, daß ihre Flügel einfach den Dienst aufkündigen würden. Und dann sah sie es. Ja, da war es — ein Fleck am Horizont. Mit allerletzter Kraft flog sie darauf zu.

Es war eine Insel. Nichts Besonderes — ein gekrümmter, gewundener Felsturm, der aus dem Wasser ragte, von Flechten bewachsen.

Einen Augenblick lang beunruhigten sie die Gewächse; sie wußte nicht, welche Wesen dort hausen oder was sie fressen mochten, aber es kam im Grunde nicht darauf an. Ihre Alternative zu einer Landung bestand darin, ein Imbiß für die Raubfische zu werden.

Die Insel war ein wenig größer, als sie zunächst erschienen war, und sie konnte zwischen den Flechten Vogelnester erkennen, so daß sie beschloß, das Risiko einzugehen. Nicht viel größer als manche der Seevögel selbst, wählte sie ein großes Nest am Felsen, das deutlich den Eindruck erweckte, verlassen zu sein, und ließ sich erschöpft nieder.

Das Nest war hart und spröde und hatte viele spitze Stellen, aber das spürte sie nicht. Binnen Sekunden war sie eingeschlafen.

Es war ein traumloser Schlaf gewesen, tief und übermäßig lang. Sie regte sich mühsam; ihr Kopf dröhnte, ihre Augen schienen unter bleischweren Lidern zu liegen. Sie setzte sich auf, stöhnte, öffnete die brennenden Augen und hielt den Atem an.

Sie war nicht allein auf der Insel.

Ein Wesen, dreimal so groß wie sie, stand in der Nähe und beobachtete sie. Es hielt sich am steilen, glatten Felsen so mühelos fest, als befände es sich auf ebenem Boden.

Sie stieß einen Schrei aus und fuhr hoch.

Sie hatte noch nie eine Yaxa aus der Nähe gesehen.

Der schimmernde Totenkopf des Wesens wandte sich ihr zu.

»Versuchen Sie nicht, wegzufliegen«, riet sie. »Ich habe vorsichtshalber Ihre Flügel lahmgelegt.«

Augenblicklich versuchte sie, die Flügel zu bewegen, aber sie fühlten sich bleischwer an. Sie blickte über die Schulter und sah, daß die Flügel an den Spitzen mit kleinen Klammern zusammengeheftet waren. Mit den Händen konnte sie sie nicht erreichen.

Die Yaxa war mit ihrer Demonstration zufrieden, und das aus gutem Grund. Lata waren winzige, zerbrechlich aussehende Wesen, aber sie waren für die meisten warmblütigen Geschöpfe trotzdem sehr gefährlich.

Die Gefangene sah aus wie ein kleines zehn- oder elfjähriges Mädchen; es war unmöglich, das Alter einer Lata zu schätzen, weil sie vom Ausschlüpfen bis zu ihrem Tod fast gleich aussahen. Das Altern war allein eine innere Angelegenheit.

Das Kleinmädchenhafte wurde jedoch noch dadurch betont, daß die Lata nicht einmal einen Meter groß und unfaßbar mager waren. Äußerlich humanoid, glichen sie innerlich eher Insekten und vermochten nahezu alles Organische zu essen und zu verdauen. Selbst ihre weiche, cremige Haut war eine Illusion, da sie eine biegsame innere Chitinhaut bedeckte.

Sie besaßen winzige, spitze Ohren und dichte, schwarze Haare und trugen Pagenfrisur. Die vier durchsichtigen Flügelpaare trugen ihre Körper in der Art der Bienen und verliehen ihnen außerordentliche Manövrierfähigkeit.

Diese Lata hier war von rosaroter Pastellfarbe. Ihr Stachel — eine gefährlich aussehende Spitze, schwarz-rot gestreift, vom Rückgrat bis zum Boden des Nestes reichend — besaß ein Gelenk, an dem er aufgerichtet oder zurückgebogen werden konnte. Das Gift vermochte Organismen von der vielfachen Größe der Lata zu lähmen und zu töten. Es war das Gift, das die Yaxa fürchtete und respektierte.

»Wie heißt du, Lata?«fragte die Yaxa.

»Ich bin Vistaru vom Rehhain«, erwiderte sie, bemüht, ihre Nervosität zu verbergen.

»Vistaru? Die Lata, die Mavra Tschang in den damaligen Kriegen unterstützt hat?«

Sie nickte zögernd.

Die Yaxa schien zu überlegen.

»Ich hätte gedacht, daß Sie inzwischen die männliche Form angenommen haben«, sagte sie schließlich.

»Das hätte ich eigentlich tun sollen, aber ich habe es immer wieder hinausgeschoben. Als Mann hat man die Verantwortung, ein Kind aufzuziehen, und ich habe mich dazu noch nicht imstande gefühlt.«

»Ortega hat Sie hierhergeschickt, damit Sie mithelfen, Mavra zu suchen«, erklärte die Yaxa nach einer Pause.

Vistaru nickte, fügte aber nichts hinzu. Die beiden Rassen waren von Natur aus Feinde. So seltsam die Yaxa sich auch benahm, Vistaru rechnete nicht damit, die Begegnung zu überleben.

»Dann hatte ich also recht«, murmelte der große Falter. »Sie ist nicht tot, sondern vermißt.«

»Was geht das Sie an?«antwortete Vistaru. »Wenn Sie mit ihrem Verschwinden nichts zu tun haben, dann nur, weil Ihnen Trelig oder sonst jemand zuvorgekommen ist.«

»Kühne Worte«, sagte die Yaxa kalt. »Aber ich will trotzdem eine Abmachung mit Ihnen treffen. Beantworten Sie wahrheitsgemäß meine Fragen, und ich sorge dafür, daß Sie Gelegenheit bekommen, doch noch zum Mann zu werden.«

Vistaru starrte das Wesen erstaunt an.

»Mal sehen«, erwiderte sie vorsichtig. »Stellen Sie Ihre Fragen.«

»Wissen Sie, wer Mavras Gehege zerstört hat?«

»Nein, aber wir vermuten, daß Beauftragte von Antor Trelig dahinterstecken.«

Die Antwort schien der Yaxa zu genügen.

»Ich darf annehmen, daß die Ambreza eine groß angelegte Suchaktion begonnen haben?«

Vistaru nickte.

»Sie ist fast mit Sicherheit nicht in Glathriel oder Ambreza und scheint auch die Grenze nach Ginzin nicht überschritten zu haben.«

»Dann ist sie, wie ich vermutete, mit einem Schiff unterwegs. Die Frage ist nur, freiwillig oder unfreiwillig.«

»Trelig hätte für ihren männlichen Begleiter Joshi keine Verwendung«, betonte Vistaru. »Angesichts der Hypnotechnik benötigt man keine anderen Druckmittel, wenn man eine Informationsquelle anzapfen will. Aber er ist auch verschwunden. Wir gehen davon aus, daß sie geflohen sind.«Die Lata verstummte plötzlich, nicht sicher, ob sie nicht schon zuviel verraten hatte.

»Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen«, erklärte die Yaxa, als könne sie ihre Gedanken lesen. »Ich bin bereits zu ähnlichen Schlüssen gekommen. Ich nehme an, daß Sie aus demselben Grund hier sind wie ich — um die ›Toorine Trader‹ abzufangen.«

Die Lata antwortete nicht, aber ihr Ausdruck sprach für sich.

»Lata, ich könnte Sie töten«, sagte die Yaxa nach einer längeren Pause, »aber ich werde es nicht tun. Wenn ich Sie befreie, könnten Sie jedoch versuchen, mich zu stechen, oder wir suchen weiterhin gemeinsam nach der ›Trader‹, die in Richtung Norden nicht mehr allzu weit entfernt sein kann, und stoßen bei einer anderen Gelegenheit wieder zusammen. Ich könnte Sie mit Ihren gefesselten Flügeln einfach hier lassen, und Sie könnten die Flechten essen, würden aber trotzdem bald sterben. Diese Felseninsel liegt weitab von den Schiffsrouten, und nur die Graden hat uns hier zufällig zusammengeführt. Ich schlage also einen ehrenhaften Waffenstillstand vor. Sie verpflichten sich, mich nicht zu stechen, und ich werde Ihnen nichts tun und Ihnen die Klammern abnehmen. Wir suchen gemeinsam die ›Trader‹ und bleiben zusammen, bis wir herausgefunden haben, wo Mavra Tschang ist. Einverstanden?«

Vistaru überlegte. Sie hatte keine Aussicht, die Klammern allein entfernen zu können, und ohne ihre Flügel saß sie in der Falle. Aber konnte sie der Yaxa vertrauen? Welche Motive bewegten sie? Warum war sie hier?

Aber im Grunde hatte sie gar keine Wahl.

»Also gut, ich bin einverstanden. Waffenstillstand. Zumindest so lange, bis wir festgestellt haben, was hier vorgeht. Sie haben mein Wort, daß ich nichts gegen Sie unternehme.«

»Ihr Wort genügt mir.«Eine lange, klebrige Zunge schnellte aus der gewölbten Nase der Yaxa heraus und löste die Klammer von einem Flügelpaar, reichte sie an einen Greifarm weiter, der sie in einem Beutel verstaute. Das wiederholte sich noch dreimal, bis Vistaru befreit war. Sie bewegte dankbar die Flügel und reckte sich.

Die Yaxa blieb regungslos an der Felswand hängen und beobachtete sie. Vistaru wußte, daß sie auf alles vorbereitet war. Aber sie gedachte nichts zu tun. Ihr Wort galt, zumindest so lange, bis sie erfuhren, wo Mavra Tschang war.

»Wissen Sie, wo das Schiff ist?«fragte sie die Yaxa.

»Folgen Sie mir«, sagte die andere und flog mit weit ausgebreiteten Flügeln hinaus. Vistaru schwang sich hinter ihr in die Luft, mußte sich aber anstrengen, auf gleicher Höhe zu bleiben.

»Ein bißchen langsamer«, bat sie, und die Yaxa ging darauf ein.

»Wie heißen Sie?«fragte Vistaru.

»Mein Name ist Wooly«, erwiderte die andere.

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