Nahe der Grenze Ecundo — Wuckl

Er hatte wochenlang gesucht, weil er wußte, daß sie da sein mußten. Kurs, Geschwindigkeit und Position der ›Trader‹ hatten ihn davon überzeugt, daß Mavra nur in Ecundo abgesetzt worden sein konnte.

Renard flog in niedriger Höhe über Ecundo und suchte das Gelände ab, wie schon seit über zwei Wochen. Er kannte sie gut genug, um ihre Pläne zu erraten; er hatte die Bundas gesehen.

Was Renard weitertrieb, war sein Vertrauen in die seltsame Frau, die er seit über zwanzig Jahren nicht mehr gesehen hatte. Sie hatte sich nicht verändert, das bewiesen ihre erfolgreiche Flucht und die Proben ihrer Einfallskraft.

Ein Blick auf die Karte hatte ihn davon überzeugt, daß sie nur ein Ziel haben konnte: Gedemondas. Er war zusammen mit ihr in dem kalten Hex gewesen und hatte beobachtet, wie die Antriebskapsel abgestürzt und explodiert war. Aber niemand, der sich dort aufgehalten hatte, konnte sich erinnern, die geheimnisvollen Gedemondas selbst gesehen zu haben; nur Mavra beharrte darauf, sie nicht nur gesehen zu haben, sondern zusammen mit den anderen auch ihr Gast gewesen zu sein; die seltsamen Schneewesen hätten auf irgendeine Weise die Gehirne aller beeinflußt, nur das ihre nicht.

Manchmal, in seinen Träumen, schien Renard sie zu sehen, und gelegentlich sorgte er sich, sie könnte recht haben — wie stets zuvor. Ein Agitar-Psychiater hatte selbst mit Hilfe der modernsten Techniken keine blockierten Erinnerungen entdecken können und schließlich Renard davon überzeugt, daß er selbst recht habe, nicht Mavra, und daß seine Träume Spiegelungen ihres Wahns seien.

Aber Gedemondas blieb das einzige Ziel, das angesichts ihres Weges Sinn ergab; sie geriet nie in Panik, gab niemals auf und unternahm nie etwas Zielloses.

Die einzige Landverbindung zwischen Ecundo und Wuckl war eine 355 Kilometer lange Grenze, gesperrt durch einen Elektrozaun. Er hatte am südöstlichsten Ende angefangen und war über Land und in der Luft an der Grenze entlanggezogen, auf Spuren achtend. Wenig Wuckl lebten in Grenznähe; er konnte es ihnen nicht verdenken, wenn er die bösartige Gesinnung und die brutalen Tischmanieren ihrer Nachbarn bedachte.

Knapp nach der Hälfte des Weges hatte Renard ein größeres Gebiet gefunden, das als Park oder Wildreservat gestaltet war, und im Wald einen kleinen Gebäudekomplex entdeckt. Nicht weit davor stand ein Relaishaus mit den Generatoren und Monitoren für den nahen Zaunbereich. Er war an vielen solchen Stellen gelandet und hatte mit den Wesen gesprochen, die dort tätig waren; alles ohne Erfolg.

Plötzlich sah er einen Wuckl aus dem Relaishaus treten; er hatte seit geraumer Zeit kein solches Gebäude mehr besetzt gefunden und flog deshalb hinunter, um mit dem Geschöpf zu sprechen. Wie bei allen anderen Wuckl öffnete sich auch bei diesem der Schnabel weit, und der Kopf zuckte vor Verwunderung vor und zurück, als das riesige fliegende Pferd niedrig heranflog und landete.

Renard sprang mit seinen dünnen Ziegenbockbeinen aus dem Sattel und ging auf den Wuckl zu, der ihn überragte.

»Guten Tag und Dienst«, rief er, wie er es in Wuckl gelernt hatte. Die Sprache von Wuckl war ohne Geschlecht, obwohl die Bewohner drei hatten.

»Guten Tag auch Ihnen«, erwiderte der Wuckl verwirrt und sah zu Domaru hinüber.

»Ich bin weit umhergezogen auf der Suche nach jemandem, der so aussieht«, sagte Renard und zog eine Fotografie von Mavra heraus, die er von Ortega bekommen hatte.

Der Wuckl griff danach, betrachtete sie und geriet plötzlich in heftige Erregung.

»Was ist?«fragte Renard. »Haben Sie sie gesehen?«

»Z-zwei solche«, stammelte der Wuckl. Es war Toug. »Vor etwa zehnsechs Tagen. Ich habe sie aus dem Zaun geholt.«

»Sie — sie sind doch nicht tot?«stieß Renard hervor.

Der Kopf des Wuckls beschrieb einen Kreis, was Nein bedeutete.

»Ich habe sie zum Wildhüter gebracht. Sie meinen, sie waren — keine — Tiere?«

Renard erschrak.

»Nein — Leute wie Sie und ich, nur in anderer Form.«

»Du meine Güte!«entfuhr es Toug. »Sie müssen sofort mit mir zum Wildhüter!«

Renard griff nach Domarus Zügeln und folgte dem besorgten Wesen.

Tougs Reaktion war nichts im Vergleich zu der des Wildhüters, der, nachdem er alles gehört hatte, begriff, was er getan hatte.

»Die Gehirne habe ich nicht angerührt«, sagte er sofort. »Wenn es keinen dauerhaften Schaden durch die Stromstöße gegeben hat, würde die Konditionierung nach wenigen Tagen nachlassen — sie dient vor allem dazu, ein animalisches Schema zu etablieren oder alte Gewohnheitsmuster zu verändern.«

»Läßt sich das umkehren?«fragte Renard betroffen.

»Mehr oder weniger ja. Eine komplette Serie von Fotografien oder gute Zeichnungen, ja, ich denke schon. Aber nicht mehr ganz genau. Es würde wohl von ihnen abhängen.«

Renard akzeptierte das und empfand für den Wildhüter Mitgefühl. Die Welt war groß und kompliziert und Wuckl sehr abgelegen. Der Veterinär schien von seinen Schuldgefühlen nicht loszukommen.

»Es tut mir so leid«, erklärte er immer wieder. »Ich hatte einfach keine Ahnung.«

Er rief in der Hauptstadt an, um Renard den Weg zu ebnen, und erfuhr zum erstenmal, daß seine beiden Schützlinge geflohen waren.

»Damit mußte man wohl rechnen«, sagte der Wuckl seufzend. »Ich möchte mich dort auch nicht einsperren lassen. Passen Sie auf, ich gebe Ihnen eine Karte, damit Sie den Zoo finden, und Sie können von dort aus weitersuchen. Man hat bereits einen Aufruf erlassen und wird ergänzend bekanntgeben, daß es sich um intelligente Wesen handelt, damit sie nicht noch einmal in die Hände eines Pfuschers fallen. Man wird sie finden.«

Renard zweifelte daran.

»Bisher haben Sie nicht viel Glück gehabt«, meinte er.

»Aber es ging bisher um zwei harmlose Tiere. Jetzt wird die Suche intensiv durchgeführt werden.«

»Wenn sie gefunden werden, unterrichten Sie Botschafter Ortega aus Ulik in Zone«, sagte Renard, »und sorgen Sie dafür, daß sie sofort in das Tor kommen.«

Renard verabschiedete sich. Als er auf Domaru zuging, fiel ein großer Schatten über ihn. Er fuhr herum und schaute hinauf. Eine Yaxa sank auf ihn herab.

Er streckte den Arm aus, um seine elektrische Ladung abzuschießen, aber die Yaxa flatterte mit den Flügeln, wich ein wenig zurück und rief:»Warten Sie! Keine Angst! Im Augenblick sind wir keine Gegner!«

Renard zögerte. Die Yaxa sank zwischen ihm und Domaru auf den Boden. Der Pegasus zuckte und starrte das Wesen argwöhnisch an.

»Sie sind die Yaxa, die nach Mavra Tschang sucht. Die Besatzung der ›Toorine Trader‹ hat von Ihnen gesprochen«, sagte Renard. »Weit von zu Hause fort, nicht? Versuchen Sie die Konkurrenz auszuschalten?«

»Ich würde ihr nichts tun«, erwiderte der große Falter mit kalter Stimme. »Darauf gebe ich Ihnen mein Wort. Mein einziges Interesse im Augenblick ist ihr Wohlergehen. Ich kann Ihnen versichern, daß ich im Lauf der vielen Jahre diejenige gewesen bin, welche sie vor Verschwörungen meines Volkes und seiner Verbündeten geschützt hat.«

»Und warum?«fragte Renard skeptisch.

»Das kann ich jetzt nicht sagen. Vielleicht später einmal. Ich weiß, daß es unsinnig ist, Sie unter Druck zu setzen. Wollen wir es exakter ausdrücken? Ich und mein Volk sind bittere Feinde Antor Treligs, wie Sie. Genügt es im Augenblick nicht, zu sagen, der Feind meines Feindes sei mein Freund?«

»Trelig?«sagte Renard verwirrt. »Was hat er damit zu tun?«

»Es war Trelig, der den Anschlag auf sie in Glathriel inszeniert hatte. Es waren Treligs Killer, die sie in die Flucht getrieben haben. Er hat keinen Zugang zum Norden. Das war der einzige Weg. Es liegt in unserem gemeinsamen Interesse, daß sie nicht in seine Hände fällt.«

»Sie glauben, Trelig will es noch einmal versuchen? Nach allem, was ich von der Besatzung der ›Trader‹ gehört habe, sind seine Leute in die Luft gesprengt worden.«

»Das ist wahr, aber sie waren nur Handlanger — einige wenige von Zehntausenden, die aus Gewinnsucht für ihn arbeiten. Einige davon suchen jetzt nach ihr. Meine Gehilfin versucht zur Zeit, etwas über ihre Pläne zu erfahren; sie ist klein und kann an Stellen gelangen, die uns verschlossen wären.«

Das interessierte ihn.

»Sprechen Sie von einer Lata?«

»Sie sind gut informiert. Ja, eine Lata — wie Sie nicht eine der engen Freundinnen der Yaxa, aber wir haben beschlossen, lieber zusammenzuarbeiten, als gegeneinander zu kämpfen. Sie sollten sich uns anschließen. Damit werden unnötige Gewalt und doppelte Anstrengung vermieden — und ihr seid für den Fall, daß Sie meinen Motiven immer noch mißtrauen, zu zweit.«

Renard mißtraute ihr tatsächlich, aber was sie sagte, klang vernünftig.

»Also gut, tun wir uns vorübergehend zusammen. Ich bin Renard.«

»Ich weiß. Mein Name ist Wooly. Die Lata kennen Sie, glaube ich — sie heißt Vistaru.«

Es war eine Überraschung für ihn, obwohl er beinahe damit gerechnet hatte.

»Wann wird sie kommen?«fragte er.

»Sie wird sich hier mit uns treffen, sobald sie kann«, erwiderte Wooly. »Inzwischen tauschen wir unsere Informationen aus und versuchen die Suche einzuengen.«

Es schien wenig Sinn zu haben, mit seinem Wissen zurückzuhalten. Wenn er sich weigerte, würde die Yaxa einfach zu dem Wildhüter gehen. Er berichtete.

Schließlich fragte Wooly:»Wenn sie nach Gedemondas will, wird sie ohne Zweifel schon an der Küste sein. Wie gedenkt sie über das Meer zu kommen? Sie kann nicht einmal sprechen.«

Renard dachte kurze Zeit nach.

»Wenn es irgendeinen Weg gibt, wird Mavra ihn finden.«

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