Yugash, dann Masjenada

Kleine Gestalten zogen durch eine unheimliche Landschaft; überall erhoben sich grauschwarze Felsen, und sie schlängelten sich zwischen ihnen hindurch wie Ameisen durch einen Granitsteinbruch.

Sie waren zu siebt: zwei Makiem-Frösche in weißen Raumanzügen, eine Lata in einem Anzug eigener Konstruktion, ein kleiner Agitar in einem durchsichtigen, hautengen Modell, zwei große Dillianer — einer männlich, einer weiblich —, schwer beladen und überdies noch einen Wagen schleppend, und der Kristallkrebs, in dem der rätselhafte Ghiskind steckte.

»Wieviel Vorsprung haben sie?«fragte Renard.

»Ungefähr sechs Stunden«, erwiderte der Ghiskind. »Nicht sehr viel, aber sie schleppen nicht soviel mit wie wir — wir haben nur zwei Stützpunkte, sie fünf.«

»Dann kommen sie uns auf jeden Fall zuvor«, sagte Vistaru unglücklich. »Mit jeder Stunde wird sich ihr Vorsprung vergrößern.«

»Nicht unbedingt«, erwiderte der Ghiskind. »Wir haben Vorteile, über die sie nicht verfügen. Mein eigenes Unternehmen hat bessere Beziehungen entwickelt, als das dem Torshind und seinesgleichen möglich war, und Ortegas Geschick auf diesem Gebiet hat sich ebenfalls ausgezahlt. Ich glaube, wir haben eine gute Chance. Die Hauptgefahr ist, daß wir mit ihnen zusammentreffen. Wir werden auf eine Falle vorbereitet sein müssen.«

»Wenn ich nur fliegen könnte«, sagte die Lata seufzend. »Dann wäre alles viel einfacher.«Sie war sogar zu klein, um mit den anderen Schritt halten zu können, und fuhr auf dem Proviantwagen mit.

Makorix und Faal, die Dillianer, im Stil ihrer Rasse miteinander verheiratet, zogen den Wagen ohne Klage und Mühe. Yagush besaß eine etwas geringere Schwerkraft als Dillia, was sich günstig auswirkte, wenngleich sie fürchteten, auf Hexagons zu stoßen, in denen das Umgekehrte galt.

»Wie lange noch, bis wir die Grenze erreichen?«sagte Makorix zu dem Yugash.

»Nicht mehr lange«, erwiderte der Ghiskind. »Gleich hinter der nächsten Erhebung.«

Renard schaute sich zweifelnd um.

»Hübscher Ort für einen Hinterhalt«, sagte er. Antor Trelig, der sich mit seinen großen, voneinander unabhängigen Chamäleonaugen ebenfalls umsah, nickte nervös.

»In Yugash wagen sie nichts zu unternehmen«, versicherte der Ghiskind. »Der Kult hat hier nur noch wenig Bedeutung, und meine eigenen Leute haben uns unsichtbar begleitet. Sie kennen unsere Stärke, und sie wissen auch, daß sie einen Angriff auf ihren Haupttempel gewärtigen müßten, wenn sie sich hinreißen ließen. Nein, hier wird es keinen Hinterhalt geben. Und in Masjenada werden wir sie umgehen. Wenn wir sie nicht überholen, werden wir wenigstens nicht mit ihnen zusammenstoßen. Der beste Ort wäre wohl Pugeesh; darüber haben wir nahezu nichts in Erfahrung bringen können. Aber — da, sehen Sie! Da ist schon die Grenze!«

Sie erreichten die Kuppe. Obwohl alle Bewohner der Sechseck-Welt an plötzliche Veränderungen bei den Hex-Grenzen gewöhnt waren, fiel das hier doch aus dem Rahmen.

Die dunkle Ode von Yugash erreichte die unsichtbare Linie, und auf der anderen Seite explodierte der Horizont in Licht und Farbe. Der Boden selbst gleißte. Schillerndes Gelb und Grün und Orangerot, das eigenes Leben zu besitzen schien. Überall auf den gewölbten Ebenen dicke, hellrote Pflanzen, die wie exotische Korallen aussahen. Der Himmel von leuchtendem Hellgrün, mit dünnen, braunen Wolken gesprenkelt. Er schien die vom Boden heraufschimmernden Farben widerzuspiegeln.

»Masjenada«, sagte der Ghiskind. »Sehen Sie den Felsen auf der linken Seite? Das ist unser Treffpunkt.«

Sie machten sich auf den Weg dorthin. Als sie in ihren Druckanzügen die Grenze überschritten, sank die Schwerkraft gering auf etwa 0,8 des Sechseck-Welt-Durchschnitts, so daß sie müheloser und schneller vorankamen.

Die Pflanzen waren so steinhart wie sie aussahen, und die Expedition mied sie, so gut es ging, da sie oft scharfe Vorsprünge hatten und einen Anzug beschädigen konnten. Sie erreichten bald den Felsen, und die beiden Dillianer lösten sich vom Wagen.

Man packte verschiedene Vorräte aus, die Nahrungs- und Wasserkapseln wurden überprüft und nötigenfalls ausgewechselt. Trelig und Burodir halfen wenig; sie saßen geduldig dabei und schienen es für ihr Vorrecht zu halten, bedient zu werden.

Sie brauchten auf den Kontakt nicht lange zu warten.

Die Masjenadier waren ausgesprochen ungewöhnlich. Man konnte bald mehrere von ihnen in der Nähe fliegen sehen, dann kreiste eine kleine Anzahl und näherte sich auf Umwegen. Sie glichen Schwänen, wie ein meisterhafter Glasbläser sie hätte erschaffen können, waren aber drei Meter lang und aus durchsichtigem Stoff, der die vorherrschenden Farben auffing und glitzernd zurückwarf. Die Wesen schienen weder Hals noch Kopf, noch Beine zu besitzen. Sie waren stilisierte Kristallformen, mühelos mit nahezu unsichtbaren Flügeln fliegend.

Die Gruppe beobachtete sie fasziniert. Renard erschrak, als zwei der Wesen direkt aufeinander zuflogen.

»Sie stoßen zusammen!«schrie er und stand auf.

Aber davon konnte keine Rede sein. Die Masjenadier begegneten sich und schienen gegeneinander hindurchzugleiten, als nähme keiner den anderen wahr — als bestünden beide aus Luft.

»Wie, zum Teufel…?«stieß Trelig hervor.

»Ich fürchte, sie existieren auf mehr Ebenen als wir«, erklärte der Ghiskind. »Ich weiß nicht recht, ob ich das richtig begreife, aber sie fliegen die ganze Zeit ohne nachteilige Wirkung gegeneinander hindurch — und sie können sich auch vereinigen.«

»Was sind sie, Gasblasen?«fragte Vistaru kopfschüttelnd.

»Wir wissen nicht genau, was sie sind«, bekannte der Ghiskind. »Eines steht fest — sie besitzen Masse und alles, was damit zusammenhängt.«

Die Masjenadier, die sich durchdrungen hatten, blieben einige Zentimeter über dem Boden vor ihren Besuchern hängen.

Der Ghiskind näherte sich ihnen.

»Die Lata haßt Schlangen«, sagte er rätselhaft.

In einem der Wesen erglühte plötzlich grellgelbes Licht.

»Wenn die Lata nicht eine Schlange ist«, erwiderte das Wesen mit einer dünnen, schrillen, vibrierenden Stimme.

Als die Kennwörter ausgetauscht waren, atmete man auf.

»Ich bin der Ghiskind von Yugash«, sagte das Kristallwesen. »Das sind Antor Trelig und Burodir von Makiem, Makorix und Faal von Dillia, Vistaru von Lata und Roget von Agitar«, erklärte er, Renards Pseudonym gebrauchend. »Alle aus dem Süden.«

Die Körper der Masjenadier drehten sich ein wenig, offenbar, um die anderen zu betrachten.

»Wir haben eben andere verständigt«, sagte das gelb leuchtende Wesen. »In wenigen Minuten werden wir alles hier haben, was wir brauchen. Es ist möglich, daß wir euch in einem Tag hinübertransportieren können.«

Das war für alle eine gute Nachricht.

»Was ist mit der anderen Gruppe?«fragte Burodir. »Hat man etwas gehört?«

Das Licht erlosch kurz und leuchtete wieder auf.

»Sie sind weit nördlich von hier herübergekommen«, erwiderte der Masjenadier. »Auch sie lassen sich von Freunden fliegen. Wir wollen die Distanz beibehalten, ungefähr einen halben Tagesmarsch.«

»Etwas Neues über Pugeesh?«fragte Renard sorgenvoll.

»In Oyakot könnt ihr mehr erfahren«, gab der Schwan zurück. »Wir wissen wenig.«

Es blieb kurze Zeit still, dann war die Luft plötzlich von glitzernden Masjenadiern erfüllt. Die seltsamen Wesen durchdrangen einander, flogen hin und her, hinauf und hinunter.

Jedes Durchdringen schien einen langen Strang glasartigen Tauwerks zu erzeugen. Die Muster wurden immer komplizierter, und sie verwoben den starren Stoff zu einem einzigen Geflecht, das einem riesigen Netz glich.

»Wo kommt das Zeug her?«fragte Vistaru.

»Aus ihnen, glaube ich«, erwiderte der Ghiskind. »Aus ihren Körpern. Im Norden können die Dinge von einem Hex zum anderen völlig verschieden sein, vergessen Sie das nicht. Nicht nur verschiedene Lebensformen, sondern auch gänzlich andersartige Erscheinungen, die miteinander nicht das geringste zu tun haben. Yugash grenzt hier seit der Mitternacht am Schacht der Seelen an, aber wir wissen noch immer nicht mehr darüber, was sie tun, warum sie es tun und wie sie es tun.«

Das sonderbare Flugballett war beendet, und das riesige Geflecht, das sehr biegsam zu sein schien, war fertiggestellt.

Schwäne, die am Netz nicht beteiligt waren, huschten umher und prallten miteinander zusammen — aber diesmal tauchten sie auf der anderen Seite nicht wieder auf, sondern verschmolzen miteinander zu Masjenadiern von doppelter Größe. Diese wiederholten das Verfahren mit anderen kombinierten Wesen, bis acht riesengroße Schwäne von vielleicht zwölf Metern Länge die Gruppe fast zudeckten. Sie schwärmten aus und begaben sich paarweise an das Netz, flossen ein wenig in das Geflecht hinein, aber nicht in die normal großen Wesen dort, und ließen das Ganze auf den Boden hinab.

Die Reisenden waren vor Staunen fast erstarrt, und der Ghiskind mußte sie aus ihrer Versunkenheit reißen.

»Schaffen wir die Ausrüstung in das Netz!«befahl er, und nach einigen Augenblicken machten sie sich an die Arbeit, rollten zuerst den Wagen darauf, dann schleppten sie die Traglasten. Schließlich breiteten sie ein großes Fell vor und hinter der Fracht aus. Es kostete einige Versuche, Ladung und Passagiere richtig zu verteilen.

»Sollten wir nicht Gurte haben oder so etwas?«fragte Vistaru.

»Keine Sorge«, erwiderte der Ghiskind. »Sie werden sehen, daß es nicht so schlimm ist, wie es aussieht. Halten Sie sich nur von den Rändern fern, und achten Sie auf das Gleichgewicht.«

Bevor jemand etwas erwidern konnte, erhob sich das Ganze in die Luft. Es war ein merkwürdiges Gefühl — kein Ruck, keine Empfindung der Beschleunigung, ganz so, als wären sie plötzlich schwerelos geworden und davongeschwebt. Nur die acht riesigen Masjenadier, deren Schwingen sie alle überschatteten, und die Dutzende von kleineren wandten Energie auf.

Sie befanden sich mehr als tausend Meter über dem Boden, bevor sie sich umschauten, und das Land entfaltete sich unter ihnen.

Masjenada sah aus der Luft wie eine unebene, bucklige Leinwand aus, auf der Millionen Liter Leuchtfarbe verspritzt worden waren. Es war ein atemberaubender Anblick, zumal im Vergleich mit der tristen Dunkelheit Yugashs oder der schwefelgelben Atmosphäre und dem dunkelblauen Teppich des nicht-technischen Zidur zu ihrer Rechten.

Obwohl sie das unheimliche Gefühl hatten, sich gar nicht zu bewegen, veränderte sich das Gelände unter ihnen unaufhörlich.

Stunden vergingen, die Aussichten wechselten, ein niedriges Gebirge wurde mühelos überflogen. Die Sonne tauchte unter den Horizont, das Licht erlosch langsam. Nachts war die Landschaft von noch leuchtenderer Schönheit, und die Schwäne fügten ein geisterhaftes Schimmern hinzu.

Renard schaute sich staunend um.

»Werden sie nie müde?«fragte er.

»Oder hungrig?«fügte Faal hinzu, während sie kaute.

Aber sie bekamen keine Antwort.

»Was beziehen sie aus dem Süden?«sagte Vistaru zu dem Ghiskind.

»Vor allem Kupfer und Koralle«, erwiderte der Yugash. »Was sie damit machen, weiß niemand. Es gibt hier keinen Sauerstoff für Verbrennung. Vielleicht essen sie das Zeug.«

Die Masjenaoier äußerten sich nicht dazu.

Sie schliefen, mehr aus Langeweile denn aus Müdigkeit. Dann wurde es wieder Tag, und die Landschaft erglomm in neuem Licht.


* * *

Vor ihnen befand sich eine Hex-Grenze, soviel war klar. Sie flogen schon eine Weile daran entlang, aber nun tauchte eine Dreiecksverbindung auf.

»Links sollte Avigloa sein«, sagte der Ghiskind und deutete hinunter. »Oyakot vor uns rechts. Wir dürften bald landen.«

Hohe Berge ragten in beiden Hexagons und auch unten in Masjenada zum Himmel; Instrumente in den Anzügen zeigten außerordentlich niedrige Temperaturen an, bis achtzig Grad unter Null. Nur die Heizanlagen in den Raumanzügen hielten die Reisenden warm.

Sie sanken herab, um auf einer kleinen Hochebene zu landen. Oyakot auf der anderen Seite bot einen erschreckenden Anblick: Der Schnee besaß eine seltsame Farbe und bestand ganz gewiß nicht aus Wasser; die Felsen waren zu unheimlichen Formen verwittert.

Die Landung erfolgte sanft, das Entladen ging mühelos und schnell vor sich. Sie sahen zu, als ein neues Ballett aus den großen Schwänen wieder kleinere machte und die Netzstränge in die Leiber zurückkehrten.

Alle Wesen bis auf zwei flogen in der Richtung davon, aus der sie gekommen waren.

Die verbleibenden Schwäne schwebten heran, und einer davon ließ sein gelbes Licht wieder erstrahlen.

»Wir wünschen euch viel Glück. Oyakot liegt am Ende dieser Hochebene. In wenigen Stunden sollte euch dort jemand abholen.«

Die Gruppe bedankte sich bei den eigenartigen Geschöpfen und sah zu, wie sie in die Luft stiegen und davonflogen, dem farbigen Leuchten im Osten entgegen.

Plötzlich fühlten sie sich schrecklich einsam.

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