Bozog-Helfer schoben die letzten kritischen Fälle hinaus, Putzkolonnen säuberten die Böden, Gebläse reinigten die Luft. Die Überlebenden hatten mehrere Entscheidungen gefällt, die Klarheit brachten.
Von allen war Renard am wenigsten verletzt worden; die Lähmung durch das Yaxa-Gift ging nach einer Stunde zurück. Wooly erholte sich langsamer; sie hatte beim ersten Zusammenprall Blut verloren und als Folge des zweiten unerträgliche Kopfschmerzen davongetragen. Burodir und die Zentauren wurden zum Zone-Tor gebracht, damit man sie nach Hause schicken konnte. Die Form eines Yugash lag immer noch am Boden, undeutlich, aber sichtbar am Leben. Die Überlebenden wußten noch immer nicht, welcher Yugash davongekommen war; für die meisten wäre es am zweckmäßigsten gewesen, wenn die beiden Gegner einander vernichtet hätten.
Und nun saßen sie — nur noch Renard, Wooly, Yulin, Vistaru und Mavra Tschang — beisammen, während die sonderbare rote Erscheinung am Boden lag.
Mit Hilfe von Bozogs hatten sie Mavra auf die Beine gestellt; sie hatte nichts eingewendet, war aber teilnahmslos und mit dumpfem Blick auf ihrem Platz geblieben.
Ben Yulin versuchte eine Reaktion bei ihr auszulösen, was nicht gelang.
»Kann das am Eindringen des Yugash liegen?«fragte er.
Wooly, die ihren Kopf stützte, seufzte.
»Nein, das glaube icn nicht. Was sie erlebt hat, kann kaum schlimmer gewesen sein, als es bei mir war, und das reichte schon — dabei hatte ich ganz gewiß den Irren. Das Wesen war völlig wahnsinnig. Seine Gedanken fluteten auf irgendeine Weise in mein Gehirn. Es haßte uns — uns alle, alles und jeden. Es war unfaßbar. Und ich wäre beinahe unterlegen. Wenn Vistaru nicht geschrien hätte…«
»Was hat sie denn dann?«fragte Vistaru betroffen. »Warum sagt sie nichts?«
Renard stand auf und ging zu ihr.
Zweiundzwanzig Jahre, dachte er. Sie hat sich mehr verändert als ich; sie hatte in dieser Zeit ein furchtbares Leben, während es mir gutging. Sein Schuldgefühl mischte sich mit Bewunderung für sie. Sie war hier, sie war so weit gekommen. Er war auch davon überzeugt, daß sie wegen ihres totalen Egoismus überlebt hatte, ihres absoluten Glaubens an sich selbst, an die Fähigkeit, allen Widerständen zum Trotz zu allem imstande zu sein.
Er sah sie an.
»Los, nehmen Sie sich zusammen!«sagte er scharf. »Sie sind Mavra Tschang, verdammt! Vielleicht haben Sie ihn geliebt, für ihn als Frau oder Mutter gesorgt, aber das haben Sie alles schon hinter sich. Sie haben sich nie davon niederdrücken lassen. Sie haben überlebt. Triumphiert. Das bedeutet das Leben für Sie. Nach all der Zeit nähert sich die Jagd ihrem Höhepunkt. Los doch, Sie können jetzt nicht aufgeben.«
Er entdeckte ein Funkeln in ihren Augen, schwache Belebung, flüchtig, aber doch vorhanden. Sie hörte und verstand ihn.
»Finden Sie nicht, daß Sie ein bißchen grob mit ihr umgehen?«fragte Vistaru besorgt.
»Laß ihn, Star«, flüsterte Wooly. »Er kennt sie viel besser als wir.«
Die Lata nickte.
»Fühlst du dich auch so schuldig und elend wie ich?«fragte sie. Wooly schwieg.
Renard warf verzweifelt die Hände hoch und ging zu ihnen.
»Soviel an Psychologie«, sagte er seufzend und setzte sich.
Sie schwiegen einige Zeit, und Yulin döste. Schließlich sah Renard Wooly und Vistaru an.
»Seid ihr denn wirklich ihre Großeltern?«fragte er.
Vistaru nickte.
»Ja — obwohl ich das auch nicht gewußt habe, bis Ortega es mir sagte. Dieses Weibsbild hat es seit über zwanzig Jahren gewußt, es mir aber nicht einmal dann gesagt, als wir uns auf der Insel trafen.«
Wooly gluckste trocken. Die Kälte der Yaxa blieb, aber sie schien durch eine zusätzliche Dimension des Menschlichen, der Wärme, bereichert zu sein.
»Willst du es ihm erzählen, oder soll ich es tun?«fragte sie.
Die Lata zuckte die Achseln.
»Ich fange an, und du kannst mittun, wann du es für richtig hältst.«Sie sah Renard an. »Wo soll ich beginnen? Wir müssen weit zurückgehen, zum ersten unserer drei Leben.«
Yulin war plötzlich wach und interessiert.
»Drei Leben?«fragte er.
Vistaru nickte.
»Ich bin auf einer Kom-Welt geboren, einer von denen, wo man zu kleinen zehnjährigen Plastik-Neutren gemacht und nur für eine bestimmte Funktion aufgezogen und konditioniert wird. Daraus soll eine Gesellschaft in der Art einer Insektenkolonie entstehen — und teilweise gelingt das auch. Ich wurde Vardia Diplo genannt — ich war Kurier, eine Art menschliches Tonbandgerät. Das liegt allerdings zweihundert Jahre zurück.«
»Bei mir war es ähnlich«, warf Wooly ein. »Ich war Farmarbeiter, mit dem es nicht klappte, auf einer Welt, mit der es auch nicht klappte. Es war eine Kom-Welt, aber vom Syndikat kontrolliert. Davon wissen Sie wohl, Yulin?«
Yulins Bullengesicht konnte keine menschliche Mimik zeigen, aber seine Haltung schien plötzlich verlegen zu werden.
»Damit hatte ich nie etwas zu tun«, sagte der Dasheen abwehrend. »Hören Sie, ich bin ins Syndikat hineingeboren worden, als Sohn eines führenden Mannes. Im Luxus auf einer Welt aufgewachsen, die viel menschlicher und humaner war als die von Trelig. Wer konnte etwas wissen? In den besten Instituten als Wissenschaftler und Ingenieur ausgebildet. Sie müssen das verstehen. Wenn die großen Halunken der Galaxis zu deiner Familie gehören, Vater, Mutter, Freunde, Familie — alle, die man kennt, dann sind sie gar keine Halunken. Nicht für einen selbst. Gewiß, mir war außer dem Familiengesetz nichts wichtig, aber sind nicht Frachterkapitäne wie Tschang nur Variationen dieser Leute?«
Bei Mavra Tschang traf das doppelt zu; sie war in der ersten Hälfte ihres Lebens Rebellin und Diebin gewesen.
»Schenken Sie sich die Alibis, kommen wir wieder zur Sache!«sagte Renard scharf.
»Ich wurde als Frau geschaffen«, fuhr die Yaxa fort, »kam in ein Hurenhaus der Partei für Bonzen und wurde von den Männern so mißbraucht, daß ich am Ende mit ihnen überhaupt nichts mehr anfangen konnte. Für meinen Beruf war ich nicht mehr geeignet, also wurde ich einem führenden Mann im Schwamm-Syndikat übergeben, der mich als Versuchskaninchen benützte — er machte mich schwammsüchtig und verringerte die Dosis dann fortlaufend.«
Renard nickte mitfühlend.
»Ich war auch süchtig, wissen Sie — und ich habe Neu-Pompeii in seinen Glanzzeiten erlebt.«
»Nun, wir befanden uns beide auf einem Frachter, der nach Coriolanus flog«, sagte Vistaru. »Der Kapitän war ein seltsamer kleiner Mann namens Nathan Brazil.«
Renards schwarze Brauen schossen in die Höhe.
»Es ist über zwanzig Jahre her, als ich diesen Namen gehört habe. Ich weiß kaum noch, wo. Von Mavra, glaube ich. Es gibt ihn gar nicht, wenn ich mich recht erinnere. Der Ewige Jude.«
»Es gibt ihn«, versicherte Vistaru. »Er entdeckte, daß Wooly schwammsüchtig war, und beschloß, zur Schwamm-Welt zu fliegen, ohne daß wir etwas davon ahnten. Wir wurden durch ein merkwürdiges Notsignal auf einer Markovier-Welt abgelenkt, entdeckten einen Massenmord, stürzten schließlich durch ein Tor und landeten hier. Wooly wurde zuerst Dillianerin, ich kam in Czill heraus — Sie haben diese Wesen vielleicht gesehen. Intelligente Pflanzen.«
Renard nickte.
»Ich muß einmal eine Begegnung gehabt haben. Übrigens hieß sie seltsamerweise auch Vardia.«
»Das bin ebenfalls ich gewesen. Die Czillaner vermehren sich durch Ableger. Vermutlich gibt es noch einige Exemplare von mir, mit Erinnerungen, die bis zu diesem Punkt vollständig sind.«
»Augenblick!«wandte Yulin ein. »Sie sagen, sie wäre Dillianer gewesen, und Sie hätten sich in Czill wiedergefunden. Das kann nicht sein. Man geht nur einmal durch den Schacht.«
»Die meisten Leute«, verbesserte die Lata. »Bei uns war das anders. Brazils Unsterblichkeit läßt sich leicht erklären. Wir begleiteten ihn auf einer Reise zum Schacht der Seelen selbst — und er öffnete sich für ihn. Er war ein Markovier, Yulin. Vielleicht der einzige, der noch lebt.«
Yulin und Renard waren fasziniert.
»Ein lebender Markovier!«stieß der Dasheen hervor. »Unfaßbar! Wie sah er aus? Haben Sie ihn je in seiner natürlichen Gestalt gesehen?«
Wooly und Vistaru nickten.
»O ja, eine ganze Weile, als wir im Schacht waren. Er sieht aus wie ein riesiges menschliches Herz auf sechs Tentakeln. Brazil — nun, er behauptete, mehr zu sein als das.«
»Er sagte, er sei Gott«, warf Wooly ein. »Er sagte, er hätte die Markovier geschaffen und mitansehen müssen, wie sie sich verirrten, und er wolle sehen, ob wir es besser machten.«
»Glaubt ihr ihm?«fragte Renard.
»Wer weiß?«erwiderte Vistaru achselzuckend. »Eines steht fest — er ist auf jeden Fall ein Markovier, und er konnte mit dem Schacht umgehen. In der schlimmsten Phase der Reise waren wir uns auf irgendeine Weise nahegekommen — ich glaube, da lernte ich, ein richtiger Mensch zu sein. Was Wooly angeht — nun, sie liebte Nathan Brazil, aber er war zu unmenschlich, und sie haßte es außerdem, eine Frau zu sein. Nathan behob das. Wir wurden von der Sechseck-Welt auf Harvichs Welt befördert, die damals noch ein Vorposten war. Er steckte mich in den Körper einer schönen, aber selbstmörderischen Hure, und Wu — Wooly — wurde zu einem Farmer namens Kally Tonge, einem großen, gutaussehenden Mann, der gerade bei einem Unfall umgekommen war. Wir wurden zu diesen Leuten und kamen zusammen — so, wie Nathan es wohl geplant hatte.«
»Wir haben die Farm jahrelang gemeinsam betrieben«, fügte Wooly hinzu. »Es waren herrliche Jahre. Wir hatten neun Kinder und zogen sie richtig auf. Einige wurden ganz aus eigener Kraft große Leute — Politiker und Raumschiffkapitäne und Kom-Polizeichefs. Die meisten verließen Harvichs Welt, aber ein Kind blieb.«
Die Lata nickte.
»Unsere Tochter Vashura. Sie war enorm begabt und sehr schön. Wurde Senatorin für den Distrikt und wäre in den Rat aufgestiegen, wenn sie genug Zeit gehabt hätte. Kally und ich ließen uns einmal verjüngen, und das klappte sehr gut. Wir arbeiteten außerhalb des Systems mit der Kom-Polizei gegen das Schwamm-Syndikat zusammen. Interessante Tätigkeit, aber, als wir älter wurden, eine immer enttäuschendere. Schließlich standen wir erneut vor einer Verjüngung und einem gewissen Verlust an Erinnerung oder Fähigkeiten. Wir verzichteten darauf. Wir waren eigentlich nur geblieben, um Vashura gegen die Kom-Bedrohung für Harvichs Welt zu helfen. Ein örtlicher Parteiapparat hatte sich entwickelt, und er schien schwach zu sein, bis plötzlich entscheidende Stimmen umschwenkten. Wir wußten, daß Schwamm dahinterstand, konnten es aber nicht beweisen. Schließlich wurde uns die Anstrengung zu groß. Wir beschlossen aufzuhören. Keiner von uns konnte es ertragen, mitzuerleben, wie die Welt, an der wir hingen, zu einem Ameisenstaat umfunktioniert wurde.«
»Und Ihre Tochter?«fragte Renard.
»Wir versuchten sie davon zu überzeugen, daß sie mit ihrer Familie fortgehen sollte«, sagte die Yaxa. »Sie war aber störrisch, das hatte sie wohl von uns. Sie glaubte, sich wehren zu können. Bis sich herausstellte, daß das nicht ging, war es zu spät. Wir kamen selbst gerade noch davon. Wir wußten nicht, was wir tun sollten. Vashura wollte bis zum Tod kämpfen, aber man mußte an die Enkel denken. Bevor wir ein Schacht-Tor fanden, setzten wir alle Hebel in Bewegung, um Nathan Brazil zu finden.«
»Und ist es Ihnen gelungen?«fragte der Agitar. »Ist er in unseren Teil des Universums zurückgekehrt?«
Vistaru nickte.
»Ja. Er versprach, wenn es ging, die Kinder herauszuholen. Retten konnte er dann nur Mavra.«
»Wie sah Brazil aus, als Sie ihn zweihundert Jahre später wiederfanden?«fragte Yulin.
»Genau wie vorher«, erwiderte die Yaxa. »Kein Haar verändert, kein Anzeichen von Altern. Ich glaube, er sieht so aus, seit es die Menschheit gibt.«
»Ich möchte wissen, warum er gerade unter uns lebt«, sagte Renard nachdenklich. »Unsere Schönheit kann doch wohl nicht der Grund sein.«
»Als Markovier hatte er geholfen, das erste Glathriel aufzubauen«, erklärte Wooly. »Es war zwar nicht sein Projekt, aber er — nun, er war der Mann, der es beaufsichtigte. Er sorgte für die Verbringung zur alten Erde. Doch im Gegensatz zu den anderen hat er sich nie ganz und unwiderruflich verwandelt. Er blieb Markovier.«
Yulin nickte.
»Als wir Obie bauten, erfuhren wir davon. Das ganze Universum besteht nur aus stabilisierten Energiefeldern. Man kann eine dauerhafte Veränderung hervorbringen, buchstäblich eine Gleichung schreiben, um die Elemente so gründlich zusammenzuhalten, daß diese Schöpfung zur normalen Wirklichkeit und von allen als solche empfunden wird. Mit Obie haben wir eine Frau in einen Zentauren verwandelt, lange bevor wir etwas von Dillia wußten, und tatsächlich erinnerten sich alle von Anfang an daran, daß sie ein Zentaur gewesen war. Es gab sogar einen logischen Grund dafür, der bis zu ihrer Geburt zurückreichte. Auf diese Weise haben die Markovier das Universum neu erschaffen.«
»Klar wie Tinte«, sagte Renard.
Yulin hob die Schultern.
»Auf Treligs Veranlassung ließen wir die Leute durch Obie laufen und verschafften ihnen allen Pferdeschwänze — das sollte als Beispiel dienen. Alle mußten deshalb wissen, daß sie die Pferdeschwänze nicht haben sollten, die sie hatten. Wir brachten eine vorübergehend gleichgültige Gleichung hervor, eine lokalisierte sozusagen. Ihre Schwänze, die nicht als normal angesehen wurden, sind wie Brazils Menschlichkeit. Er ist ein Markovier und wird wieder zu einem, wenn er sich im Schacht befindet. Ich frage mich, ob er der einzige von ihnen ist, der das getan hat.«
Es war ein Gedanke, aber keiner, den man klären konnte.
Renard sah Mavra Tschang an.
»Warum, zum Teufel, haben Sie sie verlassen?«fragte er zornig. »Warum sind Sie nicht geblieben und haben sie aufgezogen?«
Wooly und Vistaru wirkten schuldbewußt.
»Warum haben Sie sie in Glathriel verlassen und sind nach Agitar zurückgegangen?«gab Vistaru zurück. »Wie oft haben Sie sie in zweiundzwanzig Jahren besucht? Ich wußte ja gar nichts von ihr, bis Ortega es mir kurz vor dem Aufbruch unserer Expedition sagte — aber Sie schulden ihr Ihr Leben.«
»Die Schuld reicht für uns alle, nicht wahr?«meinte er verlegen.
»Die Yaxa hatten beschlossen, sie zu beseitigen«, sagte Wooly. »Ortega erzählte mir die Geschichte, um meine Hilfe zu erlangen. Ich konnte verhindern, daß die Versuche Erfolg hatten. Deshalb war ich es schließlich, die man ausschickte, um sie einzufangen. Ich konnte mich auf niemanden sonst verlassen.«Sie sah Vistaru an. »Was dich angeht, so wußte ich zu der Zeit noch nichts. Ortega hat sich vor ein paar Jahren verplappert, und ich habe die Schlußfolgerungen dann selbst gezogen.«
»Wenn ich mich recht erinnere, hat Nathan Brazil den Schacht darauf programmiert, daß er ihn holt, wenn es ganz schlimm wird«, sagte Vistaru. »Warum geschah nichts, als Neu-Pompeii plötzlich am Himmel auftauchte?«
»Das kann ich beantworten«, erklärte Yulin. »Für den Schacht ist gar nichts Schlimmes passiert. Die Markovier wußten, daß irgendwann in der Zukunft eine ihrer Rassen die Fähigkeit erlangen würde, das Universum so zu manipulieren, wie sie es getan hatten. Zu diesem Zeitpunkt sollte der Schacht die junge Rasse zu sich holen und neue Anweisungen erhalten. Gewissermaßen eine Wachablösung. Was den Schacht betrifft, so wartet er einfach darauf, daß Obie oder sein Bedienungspersonal mit ihm sprechen. Das ist natürlich genauso, als warte man darauf, daß ein Affe den Koran zitiert. Die Markovier haben es falsch gemacht. Wir haben das Geheimnis zu früh aufgedeckt, und unsere Anlagen können nicht einmal die Daten des Schachts aufnehmen, geschweige denn mit dem Schacht reden und ihm Befehle geben. Obie weigert sich, und das mit einer gewissen Berechtigung. Was ist, wenn er eine falsche Anweisung erteilt und die Menschheit auslöscht?«
Es war ein ernüchternder Gedanke.
»Sie sagen immer ›er‹, wenn Sie von Ihrem Computer sprechen«, meinte Wooly. »Warum?«
Yulin lachte leise.
»Er ist wirklich eine Person und sieht sich als männlich. Computer mit Eigenbewußtsein gibt es schon seit tausend Jahren — ihr kennt bestimmt welche. Aber es hat noch nie einen wie Obie gegeben. Er ist wirklich eine Person, so menschlich wie wir. Wenn ihr ihn seht und hört, wißt ihr, was ich meine.«
Sie verstummten. Plötzlich hob Renard den Kopf. Seine Augen funkelten. Er stand auf und ging zu Mavra zurück, die sich immer noch nicht rührte.
»Also, Mavra Tschang«, sagte er scharf. »Sie haben jetzt alles gehört. Entschließen Sie sich. Das Schiff wird heute über die Grenze kommen und in ein, zwei Tagen startbereit sein. Wollen Sie dabeisein? Wenn Sie sich nicht zusammenreißen, gehen Sie durch den Schacht, wie Sie es schon vor zweiundzwanzig Jahren hätten tun sollen. Entscheiden Sie sich! Auf der Stelle! Was ist überhaupt los mit Ihnen?«
Etwas schien zu ihr durchzudringen. Ihre Atmung wurde langsam kräftiger, das Leben schien in sie zurückzukehren.
»Warum hat er das getan, Renard? Sagen Sie mir das!«
»Wie? Warum hat wer was getan?«
»Warum ist Joshi dazwischengesprungen? Es war Wahnsinn. Ich kann das nicht verstehen. Ich — ich würde nie bewußt mein Leben für einen anderen opfern, Renard. Warum er?«
Das war es also. Er sah ihr in die Augen.
»Weil er Sie geliebt hat, Mavra.«
Sie schüttelte den Pferdekopf.
»Wie kann jemand ein anderes Wesen so lieben? Ich begreife das einfach nicht.«
»Ich eigentlich auch nicht«, sagte er. »Ich glaube, keiner von uns kann es ganz verstehen. Willkommen im Land der egoistischen Heuchler.«Er seufzte und lächelte.
Sie drehte sich herum und sah die anderen an.
»Seid ihr beiden wirklich meine Großeltern? Die Geschichten von der Sechseck-Welt und von Nathan Brazil: Das ist alles wahr?«Vistaru nickte.
»Und Nathan war beteiligt, auch wenn wir scheiterten«, sagte sie. »Ortega erhielt gelegentlich Mitteilungen von Brazil, über Schacht-Tore. Sie waren für uns gedacht, aber der Schlangen-Mann hat sie, vielleicht klugerweise, für sich behalten. Er hielt es für besser, daß wir nicht wußten, wer oder was der andere war, oder was mit dir und Vashy und den anderen geschehen ist. Es war Brazil, der, als er Maki Tschang nicht zu warnen vermochte, dafür sorgte, daß man dich nicht fand. Es war Brazil, der den alten Bettlerkönig dazu brachte, für dich zu sorgen. Es war Brazil, der Gymball Nysongi mit dir zusammenbrachte. Er deckte dich, als Nysongi umgebracht wurde. Und so weiter und so fort. Das steht alles in den Berichten in Ortegas Büro.«
Sie war wie vor den Kopf geschlagen.
»Was ist?«sagte Renard aufgeregt. »Ich finde das wunderbar, daß jemand sich so für einen einsetzt.«
»Es ist schrecklich, grauenhaft!«fuhr sie ihn an. »Versteht ihr denn nicht? Das macht mein ganzes Leben zu einer Lüge. Ich habe nicht alles aus eigener Kraft erreicht. Ich habe überhaupt nichts selbst erreicht. Die ganze Zeit hat mir ein unsterblicher Super-Markovier geholfen.«
Er verstand sie, auch wenn die anderen dazu nicht imstande waren. Das einzige, was sie hatte, was dazu beigetragen hatte, sie aufrecht zu halten, war ihr ungeheures Selbstbewußtsein gewesen, ihr Ich, ihr Glaube an ihre Fähigkeit, allen Widerständen zu trotzen und alle Hindernisse zu überwinden. Es blieb sehr wenig, wenn man das wegnahm — in Mavras Fall nur ein von Tragik berührtes kleines Mädchen, einsam und allein; ein intelligentes Pferd, aber ein abhängiges Spielzeug.
»Ich verstehe«, sagte Renard leise und traurig. »Aber jetzt sind Sie auf sich selbst gestellt, Mavra. Sie sind es schon, seit Sie aus Glathriel geflohen sind.«
Sie schüttelte den Kopf und wandte sich ab. Es war nicht wahr. Joshi strafte die Behauptung Lügen. Sie haßte ihn plötzlich mit einer Wut, die jeder Vernunft trotzte.
Denn er hatte sein Leben für sie gegeben; das war das Höchste an Einmischung.
Und nun war sie nur noch Mavra Tschang, eine leere Hülse in einer Hülse, allein, hilflos und abhängig. Für immer im Dunkel.
»He! Ich glaube, ich kann es sehen!«rief Ben Yulin über das Funkgerät im Raumanzug. Er war aufgeregt wie ein kleiner Junge.
Keine zwei Kilometer entfernt lag die Grenze von Uchjin, wo er vor so vielen Jahren notgelandet war. Seitdem hatte er sich immer wieder gefragt, wie man, wenn irgend jemand nach Norden zu gelangen vermochte, das Schiff herausholen konnte. Es war ungeheuer schwer, befand sich nicht im Gleichgewicht und konnte durch mechanische Kräfte nicht bewegt werden, weil es in einem nicht-technischen Hex lag. Überdies hatten die fließenden Farbflecke, die Uchjin, Einwände dagegen, es zu bewegen.
»Das größte Problem war, es von der Stelle zu bewegen«, sagte der Bozog. »Die Uchjin sind Nachtwesen, bei Tageslicht völlig machtlos, also führten wir die Arbeiten hauptsächlich tagsüber durch, und nachts wehrten wir Angriffe mit Phosphorgelee ab. Das Licht war ihnen einfach zu hell.«
»Wie man in der Wildnis ein Lagerfeuer anzündet, um die wilden Tiere fernzuhalten.«Yulin nickte. »Aber wie bewegen Sie es?«
»Natürlich langsam«, gab der Bozog zu. »Die Arbeit nahm mehrere Wochen in Anspruch. Wir fingen an, als wir von dem Durchbruch im Verkehr vom Süden zum Norden erfuhren. Es muß ganz allein mit Muskelkraft geschehen — wir haben es mit Ketten, Flaschenzügen und dergleichen auf eine riesige Plattform gehoben, was allein neun Tage dauerte, und seither ziehen zwölftausend Bozog es in Schichten heraus. Heute wird das gewaltige Projekt abgeschlossen.«
»Das sind ungeheure Anstrengungen«, meinte Yulin. »Warum habt ihr das getan?«
»Es war eine Herausforderung, ein gigantisches Unternehmen«, erwiderte der Bozog. »Bozog wird noch nach Generationen davon sprechen. Ein enormes technisches Problem, das gelöst wurde. Beweis dafür, daß jedes Problem gelöst werden kann, wenn man genug Gedanken und Energie darauf verwendet.«
In der Ferne hörten sie ein Grollen, als stürmten Millionen Pferde daher. Das riesige Raumschiff, auf der linken Tragfläche liegend, gesichert durch Ketten und Kabel, rollte auf Tausenden großer Kugellager, die in einer Art Aufbau zusammengefaßt waren. Es ging langsam, aber das Ding bewegte sich, gezogen von zahllosen Bozog.
»Es wird nicht mehr lange dauern, bis sie so nah herangekommen sind, daß die Kabel der großen Winden angebracht werden können«, sagte der Bozog. »Dann kann es schnell hereingezogen werden.«
»Wann, glauben Sie, werden Sie es auf das Startgerüst stellen können?«fragte Yulin.
»Heute nacht«, erwiderte der Bezog. »Irgendwann spät heute nacht.«
Mavra Tschang mied jeden. Sie wollte mit niemandem sprechen, sie empfand nichts mehr von der Erregung, die alle erfaßt hatte.
Je mehr sie über ihr Leben nachdachte, desto sinnloser erschien es ihr. Immer wieder hatte Brazil eingegriffen, und selbst auf Neu-Pompeii war an seine Stelle Obie getreten.
Obie hatte ihr die Pläne für den Planetoiden gegeben, die Codewörter, hatte sie als Werkzeug für seine Zwecke benützt. Auf der Sechseck-Welt war sie immer ein Werkzeug für andere gewesen. Die Lata hatten sie auf Ortegas Befehl vor den Zyklopen von Teliagin gerettet. Sie war zu einem Objekt in Ortegas Plänen geworden, gesteuert, herumgeschoben, manipuliert von den Umständen und der Hypno-Behandlung. Zuletzt auch geschützt von Ortega und ihren eigenen Großeltern. Selbst hier in Bozog wurde sie von ihren Bewachern kontrolliert, zu denen ihr eigener Großvater gehörte — und von Joshi.
Ich bin Mavra Tschang, ich kann alles, dachte sie bitter.
Ich kann sterben. Soviel kann ich selbst.
Aber noch nicht. Lüge oder nicht, noch war nicht alles erledigt. Ein kleiner Versuch, einen Rest ihrer Ehre und Selbstachtung zu retten, blieb ihr noch… auf Neu-Pompeii.
»Der Yugash regt sich!«hörte sie Vistaru hinter sich rufen. Sie drehte sich um und sah die hellrote Erscheinung langsam in die Luft steigen.
Sie verfolgten den Vorgang alle mit Betroffenheit. Ihre Hoffnung, das Wesen sei zugrunde gegangen, hatte sich nicht erfüllt. Sie dachten alle an Woolys Kontakt mit dem Torshind.
Der Yugash schaute sich unsicher nach ihnen um. In seiner jetzigen Form konnte er nicht sprechen oder auch nur irgendein Objekt ergreifen; er brauchte ein Gefäß. Ein geisterhafter Fortsatz zeigte auf sie, dann zuckten beide Fortsätze in einem ganz menschlichen Schulterzucken. Sie verstanden. Es wollte sich mitteilen und brauchte einen Freiwilligen.
»Holt einen Bozog!«rief Wooly, und Renard lief hinaus.
Der Yugash schien geduldig warten zu wollen.
Einige Minuten später kam Renard nicht mit einem, sondern mit zwei mittelgroßen Bozog zurück. Die Wesen hatten zwar kein Sehvermögen von der Art, wie die Bewohner der südlichen Halbkugel es kannten, aber alle spürten, daß der Yugash einer genauen Überprüfung unterzogen wurde.