An Bord der Fähre

Die Fähre war ursprünglich für Menschen gebaut worden. Die Bozog-Techniker hatten sie für den Flug von der Sechseck-Welt nach Neu-Pompeii umgebaut, und obwohl jetzt elf Menschen und drei Nicht-Menschen an Bord waren, kamen sie zurecht. Das Raumschiff war für dreißig Personen gedacht, und das Passagierabteil verfügte noch über Sitze.

Der Bezog und der Ghiskind blieben mit Renard auf der Brücke.

Der Agitar versuchte sich zusammenzunehmen.

»Ghiskind, sehen Sie hinten nach, daß alle angeschnallt sind«, knurrte er.

Das rote Gespenst schwebte nach hinten, sah sich um, kam zurück und nickte mit der leeren Kapuze.

»›N-Freigabe‹«, murmelte Renard. »Also — ah, ja. Festhalten!«

Er überprüfte seine Gurte, streckte die Hand aus und tastete den Code ein.

Nichts rührte sich.

Er fluchte, dachte nach, versuchte herauszufinden, was er falsch gemacht hatte. Dann fiel es ihm plötzlich ein.

Er drückte ›N-Start‹.

Das Schiff hob und stieg mit nahezu vollem Schub hinauf.

»Den Code, bitte«, sagte eine mechanische Stimme aus dem Lautsprecher. »Den richtigen Code innerhalb von sechzig Sekunden, oder das Schiff wird zerstört.«

»Die Roboterstationen!«schrie er. »Wir haben sie vergessen!«

Aber Mavra hatte sie nicht vergessen. Sie hatte die ganze Sequenz aufgezeichnet.

»Der Aufstieg und Untergang von Pompeii«, tönte ihre Stimme aus dem Recorder.

Ein passender Titel, dachte Renard erleichtert.

Das Schiff verlangsamte die Geschwindigkeit, kam fast zum Stillstand. Vor Renard zeigten die Bildschirme unergründliche Zahlen, Kreise, Punkte und andere Formen.

Die Fähre setzte sich wieder in Bewegung.

Renard seufzte.

»Das wäre es vorerst«, sagte er zu den anderen. »Sie hat gesagt, es wird ein, zwei Tage dauern, bis wir auf jemanden stoßen, falls uns nicht ein Schiff entgegenkommt.«

Er ging zurück zum Passagierabteil.

»Verdammt buschig, der Pferdeschwanz!«schimpfte eine der Frauen. »Man kommt sich vor, als säße man auf einem Felsbrocken, und er ist so lang, daß man den Boden damit aufkehrt.«

Eine andere lachte.

»Wir können noch von Glück sagen«, meinte sie. »Das mit den Schwänzen fiel ihm erst ein, als er die Leute aus dem Wald geholt hatte.«

Renard kannte sich nicht mehr aus. Bis auf geringe Unterschiede in Haut- und Haarfarbe sahen sie alle gleich aus.

»Wer ist nun wer?«stöhnte er.

Eine der Frauen lachte.

»Ich bin Wooly, Renard, nur keine Aufregung. Das ist Star — äh, Vistaru, meine ich. Und die beiden hier sind Nikki Zinder und ihre Tochter Mavra.«Sie verstummte plötzlich.

»Nikki Zinder…«, murmelte er. »Ihre Tochter…«

Das Mädchen starrte ihn ungläubig an.

»Bist du wirklich mein Vater?«fragte sie.

Er schüttelte langsam den Kopf.

»Nein, das war ein anderer, ein Mensch. Ich habe seine Erinnerungen und seine Persönlichkeit, aber ich bin jetzt etwas anderes.«

Das schien sie zufriedenzustellen, und Nikki, die sich ein wenig verkrampft hatte, atmete auf.

Renard starrte die sieben anderen Mädchen an.

»Und die hier?«fragte er.

Wooly löste ihre Gurte und ging zu ihm. Sie war größer als er, und ihr Pferdeschwanz schleifte hinterher wie eine Pfauenschleppe.

»Wir haben ihnen klargemacht, daß sie ihr Gedächtnis endgültig verloren haben«, flüsterte sie ihm zu. »Sie kommen zurecht.«

Er nickte zufrieden.

»Wir sitzen hier aber mindestens zwei Tage fest«, sagte er, »und es gibt sehr wenig zu essen.«

Wooly zuckte die Achseln.

»Wir halten schon durch. In der Polsterung und in den alten Packsäcken ist auf jeden Fall Organisches genug. Die meisten Probleme werden Sie haben.«

Er lachte leise und sah seine Passagiere an.

»Von der Liebe leben, wie?«sagte er belustigt.

Bis zweieinhalb Tage später der Kontakt hergestellt wurde, hatten sie alle eingeübt, was gesagt und was nicht gesagt werden sollte.

»Hier ist die Kom-Polizei«, meldete sich eine strenge Stimme aus dem Funkgerät. »Weisen Sie sich mit Nummer und Zielangabe aus.«Renard seufzte.

»Dies ist ein Flüchtlingsschiff aus Neu-Pompeii, einem Planetoiden, der früher im Besitz von Neue Harmonie war«, erwiderte er. »Ich bin kein Pilot, und es ist auch kein Pilot an Bord.«

»Achtung, wir gleichen den Kurs an und kommen an Bord«, erwiderte der Polizeisprecher.

»Gut. Ich möchte Ihnen zuerst aber ein paar Hinweise geben.«Er berichtete von Antor Treligs Einladung, von Obie, der Sechseck-Welt, von allem. Er ließ nur aus, wie man die Sechseck-Welt erreichen konnte.

Die Polizei glaubte natürlich kein Wort davon, nahm aber alles auf; man glich den Kurs an, koppelte sich mit dem anderen Schiff zusammen, und zwei gepanzerte Polizisten kamen an Bord.

Ein Blick auf die Insassen, und sie hatten weniger Anlaß zu Zweifeln. Keiner wollte sich die Finger verbrennen. Die verschlüsselten Gespräche mit den Passagieren wurden sofort an das elfköpfige Ratspräsidium weitergeleitet, das Entscheidungen fällte, wenn der ganze Rat nicht einberufen werden konnte — oder sollte.

Drei Ratsmitglieder waren keine vierzehn Stunden später zur Stelle.

»Vor über zweiundzwanzig Jahren«, sagte Rätin Alaina, »vor meiner letzten Verjüngung, habe ich Mavra Tschang beauftragt, als meine Vertreterin an Antor Treligs kleiner Party teilzunehmen. Ich hörte natürlich nichts mehr von ihr, aber da Neu-Pompeii verschwand und den lieben Antor mitnahm, war ich zufrieden.«Sie schaute sich im Kreis um. »Und jetzt sehe ich, daß sie doch erfolgreich gewesen ist.«

Sie hatten alle Tränen in den Augen, selbst Bozog zitterte ein wenig. Nur der Ghiskind blieb gewohnheitsmäßig ungerührt.

»Als ich den Bericht der Polizei hörte«, fuhr Alaina fort, »traute ich meinen Ohren nicht — und doch sind Sie alle da, sogar Nikki Zinder.«Sie sah Vistaru an. »Und Sie — eine unerwartete Freude, Star Tonge. Einer Ihrer Söhne ist ein unersetzlicher Chefberater.«

»Die Kinder«, murmelte Wooly. »Es wird interessant sein, die Kinder wiederzusehen.«

»Und jetzt muß entschieden werden, was geschehen soll«, sagte Alaina.

»Wir schulden Ihnen allen sehr viel.«

Renard schlug sich an die Stirn.

»Das Mittel gegen den Schwamm!«stieß er hervor.

Sie sahen ihn alle erstaunt an.

»Obie hat Mavra die Formel gegeben, und sie ist im Log registriert.«

Alaina nickte einem der Kom-Polizisten zu.

»Kümmern Sie sich darum.«Sie starrte vor sich hin. »Wenn das Mittel wirkt, ist das Syndikat erledigt. Es wird zu revolutionären Veränderungen kommen.«

»Es wirkt«, versicherte ihr der Agitar. »Mavra hat es mir versichert.«

Die Rätin schüttelte den Kopf.

»Mavra Tschang. Ja. Eine Tragödie. Sind Sie sicher, daß wir nichts mehr ausrichten können?«

»Fast die ganze Energieversorgung ist ausgefallen, wie die Analysen ergeben«, erklärte einer der Polizisten. »Die Plasma-Abschirmung selbst beginnt zu versagen. Wenn sich dort noch jemand befindet, ist er jetzt mit Gewißheit tot.«

»Das dachte ich mir«, sagte sie. »Aber ihr Name wird nicht vergessen werden. Sie gehört zu den Großen unserer Geschichte. Wir werden sie nicht vergessen.«

»Keiner von uns«, sagte Renard.


* * *

Sie befanden sich eine halbe Lichtstunde von Neu-Pompeii entfernt. Auf den Bildschirmen war der Planetoid als kleine Kugel deutlich zu erkennen.

»Alle glauben, daß man die Waffenkammer benötigt, um einen Planeten zu vernichten«, sagte Alaina. »Das ist aber nicht der Fall. Der gesamte Rat hat darüber abzustimmen, und wir können ihn nicht damit befassen, bis das Ganze in gereinigter Fassung vorliegt. Es hat keinen Sinn, dem Universum mitzuteilen, daß so etwas wie Obie möglich ist, sonst würde jemand anderer darangehen, ein zweites Exemplar zu bauen.«

Sie stimmten alle zu.

Auf den Bildschirmen waren vier Raumschiffe zu sehen, Raumkreuzer der Kom-Polizei, die mit Traktorstrahlen große Objekte schleppten.

»Was ist das?«fragte Wooly gebannt.

»Anti-Materie, meine Liebe«, erwiderte Alaina. »Es gibt sie überall, wissen Sie. Schon immer. Man berechnet die Masse des Objekts, das man vernichten möchte, holt sich Anti-Materie von gleicher Masse, führt beides zusammen, und sie heben einander auf. Es hat ein Jahrhundert gedauert, auch nur einen Schleppstrahl zu entwickeln, der auf den Stoff nicht reagiert. Die Polizeischiffe fliegen eine Bahn, auf der die Anti-Materie-Asteroiden zur selben Zeit mit Neu-Pompeii zusammenprallen. Es wird einen gewaltigen Blitz geben, dann ist der Fall erledigt.«

Sie sahen zu, als die Raumschiffe vorbeiflogen, im weiten Bogen davonhuschten, die Asteroiden herumschleuderten und losließen.

Dann schossen diese davon.

Während sie darauf warteten, daß die Geschosse ihr Ziel erreichten, sprach Alaina über andere Dinge.

»Man kommt ins Sinnieren«, sagte sie, als sie Renard, den Bozog und den Ghiskind ansah. »Wenn ihr drei zusammenleben könntet, was wäre nicht alles möglich? Vielleicht werden wir es noch erleben, daß sich Zivilisationen begegnen.«

»Wenn Sie auf der Sechseck-Welt gewesen wären, hätten Sie genug von fremden Rassen«, meinte Vistaru.

»Vielleicht wird ein solches Zusammentreffen die größten Probleme aufwerfen. Wer weiß? Vielleicht gibt es Wesen, die aus Antimaterie bestehen.«Alaina schüttelte den Kopf. »Nun gut. Haben Sie über Ihre Zukunft schon nachgedacht?«

»Wir — der Bozog, der Ghiskind und ich — können zur Sechseck-Welt zurückkehren«, erwiderte Renard. »Das haben wir Ihnen schon gesagt. Sie brauchen uns nur zu einer Markovier-Welt zu bringen. Wir haben gar keine andere Wahl. In diesem Teil des Universums ist kein Platz für uns.«

Sie nickte.

»Und Sie?«fragte sie Wooly und Vistaru.

Wooly lächelte.

»Nikki Zinder hat nie Gelegenheit gehabt, eine eigenständige Person zu sein, ihr eigenes Leben zu führen. Für ihre Tochter gilt dasselbe — und die anderen, nun, sie können lernen, Menschen zu sein. Es wird interessant sein, das alles zu verfolgen. Star und ich haben einander wirklich geliebt, wissen Sie. Es ist schön, nach zweiundzwanzig langen Jahren wieder zusammenzusein.«

»Und wir sind Mavra etwas schuldig«, ergänzte Vistaru. »Wenn wir länger geblieben wären, wenn wir nur darauf geachtet hätten, daß Vashs Kinder alle davonkamen — wer weiß? Sie hatte ein schweres Leben. Vielleicht können wir diesen anderen Frauen helfen, statt sie sich selbst zu überlassen, wie man es mit Mavra getan hat. Soviel sind wir ihr, ihnen und uns selbst schuldig.«

Alaina nickte.

»Das verstehe ich. Ich werde Sie unterstützen. Mavras Honorar ist nie zur Auszahlung gekommen. Mit einer Million können Sie doch allerhand anfangen, nicht?«

Wooly riß die Augen auf.

»Eine Million!«Sie lachte plötzlich. »Mann! Wir kaufen unsere eigene Grenzwelt!«Sie sah Vistaru an. »Wir haben schon so viele Leben hinter uns. Wer weiß, vielleicht leben wir ewig. Wir können später immer noch auf die Sechseck-Welt zurückkehren.«

Vistaru lachte.

»Ja, aber nur langsam. Du bist nicht mehr mein Mann, sondern eine Superfrau.«

»Ich habe als Frau angefangen. Vielleicht wird es Zeit, daß Wu Julee dahinterkommt, wie das wirklich ist.«

»Es kann herrlich sein«, sagte Vistaru leise.

»Da!«schrie Renard. »Die Asteroiden!«

Vier kleine Punkte näherten sich auf den Bildschirmen der größeren Kugel. Ein ungeheurer Energieblitz zuckte auf, dann herrschte Leere.

Die Abtastung zeigte keine Spuren von Neu-Pompeii mehr, nicht ein Stäubchen.

»Nun gut«, sagte Alaina seufzend. »Fliegen wir.«

Das Schiff begann zu vibrieren und schoß davon. Renard hatte Tränen in den Augen, alle schwiegen.

»Leb wohl, Mavra. Vergib uns.«

Sogar die Kapuze des Yugash neigte sich.

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