Es wurde der bisher schlimmste Tag ihres Lebens. Leonie verbrachte die Zeit bis zum Anbruch der Dämmerung nahezu ausnahmslos in ihrem Zimmer, das sie nur ein einziges Mal verließ, um ins Bad zu gehen. Jemand - vermutlich ihr Vater - hatte die Scherben des Spiegels aus dem Waschbecken entfernt, den sie in dem sinnlosen Versuch zerschlagen hatte, die Vision ihrer Großmutter festzuhalten. Mittlerweile hing sogar ein anderer Spiegel dort, doch Leonie wagte es nicht, nach unten zu gehen und danach zu fragen, sondern kehrte niedergeschlagen in ihr Zimmer zurück.
Obwohl sie nicht ausdrücklich nach oben geschickt worden war oder gar Stubenarrest erhalten hatte, kam sie sich wie eine Gefangene in ihren eigenen vier Wänden vor. Sie schaltete den Fernseher ein und nach ein paar Minuten gleich wieder aus, als ihr klar wurde, dass sie den bunten Bildern keinerlei Sinn abgewinnen konnte, wollte sich - genauso erfolglos - mit einer CD ablenken und versuchte schließlich ein Buch zu lesen, aber auch die Buchstaben ergaben keinen Sinn, sondern blieben winzige, aneinander gereihte Symbole ohne irgendeine Aussage. Schließlich klappte sie das Buch zu, warf es ganz gegen ihre Gewohnheit achtlos neben sich aufs Bett und ließ sich mit angezogenen Knien und hinter dem Kopf verschränkten Händen gegen die Wand sinken, um ins Leere zu starren.
Die Worte ihres Vaters gingen ihr nicht aus dem Kopf. Natürlich hatte er ihr die Geschichte, dass Großmutter geglaubt hatte, mit ihren Büchern zu sprechen, nur erzählt, um die alte Frau an ihrem Lebensende als geistig verwirrt dastehen zu lassen - aber damit hatte er das genaue Gegenteil erreicht. Leonie fand es seltsam, aber kein bisschen verrückt. Sie konnte sich nicht vorstellen, was es bedeutete, mit Büchern zu reden, aber tief in sich spürte sie dennoch, dass es tatsächlich so gewesen sein musste und dass es einen Sinn ergab.
Irgendwo unter ihr im Haus polterte etwas. Das Geräusch erschien ihr doppelt so laut, weil es den ganzen Tag über so leise gewesen war, und auf schwer greifbare Weise beunruhigend. Leonie richtete sich auf und lauschte, aber das Poltern wiederholte sich nicht.
Dafür ging das Radio an. Leonie drehte mit einem Ruck den Kopf und starrte auf die Stereoanlage. Der Apparat war okay, aber bestimmt zehn Jahre alt und verfügte nicht über Finessen wie einen Timer oder eine Fernbedienung, die sie möglicherweise versehentlich berührt haben konnte. Eigentlich war es gar nicht möglich, dass es sich von selbst einschaltete. Und noch etwas war seltsam: Als sie das letzte Mal Radio gehört hatte, war der lokale Pop-Sender eingestellt gewesen; ihre Leib-und-Magen-Welle. Eigentlich hörte sie nur diesen Sender, wenn sie schon einmal Radio hörte, was selten genug vorkam. Jetzt kam aus den Lautsprecherboxen nur knisterndes statisches Rauschen.
Leonie tat dieses neuerliche Rätsel mit einem gedanklichen Schulterzucken ab, ging zum Radio hinüber und schaltete es aus. Aber sie war noch nicht zurück im Bett, als sich das Gerät erneut selbstständig einschaltete; diesmal drang das Rauschen und Knistern sogar noch lauter aus den Boxen. Sie fuhr herum und sah den Schatten, der von der Stereoanlage heruntersprang und mit einem Satz in dem offen stehenden Schuhkarton auf ihrem Schreibtisch verschwand. Sie ging erneut zum Radio, streckte die Hand aus, schaltete das Gerät aber dann doch nicht ab, sondern betrachtete es aufmerksam. Sie hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, ob das Gerät so konstruiert war, dass es von einer Maus bedient werden konnte, aber es war zumindest theoretisch möglich. Der Ein-Schalter befand sich auf der Oberseite und war so leichtgängig, dass vermutlich das Gewicht eines so kleinen Tieres ausreichte, um ihn zu betätigen.
Aber warum sollte das Tier so etwas tun? Ein weiteres Kunststück, das ihm der frühere Besitzer beigebracht hatte?
Leonie beschloss die Probe aufs Exempel zu machen.
Sie schaltete das Radio aus. Sie hatte die Hand noch nicht ganz zurückgezogen, da hüpfte die Maus aus ihrem Schuhkarton heraus, kletterte mit flinken Bewegungen am Rack der Stereoanlage hinauf und machte einen Satz, an dessen Ende sie zielsicher auf dem Schalter landete. Das Radio ging wieder an und Leonie war sicher, dass das Rauschen und Knistern diesmal noch lauter war.
»Also gut. Dir ist es hier zu langweilig, wie? Aber dann stell wenigstens einen Sender ein, der anständige Musik bringt.« Sie wollte nach dem Knopf für die Sendereinstellung greifen, doch es blieb bei dem Versuch: Die Maus machte einen Satz und schnappte nach ihren Fingern, und Leonie war viel zu perplex, um die Hand zurückzuziehen. Die winzigen Nagezähnchen gruben sich tief in ihre Haut. Es tat nicht wirklich weh, sondern zwickte bestenfalls, aber die Botschaft war unmissverständlich.
Leonie zog mit einiger Verspätung die Hand zurück und steckte den Zeigefinger in den Mund. »Also gut. Ich habe verstanden. Und was soll das Theater, wenn ich fragen darf?«
Wieder polterte es unter ihr im Haus. Dieses Mal war das Geräusch lauter, mehr ein Vibrieren als wirklicher Lärm, aber es klang, als käme es nicht aus dem Erdgeschoss, sondern von noch weiter unten.
Zum Beispiel aus dem Keller.
Leonie fuhr erschrocken herum und zwischen dem Rauschen und Knistern aus den Lautsprecherboxen hörte sie ganz deutlich Großmutters Stimme »... aufhalten...« sagen.
Zu behaupten, dass Leonie ein kalter Schauer über den Rücken liefe, hätte die Wahrheit nicht getroffen. Für die schier endlose Zeit von geschlagenen fünf Sekunden stand sie vollkommen reglos da, und eine eisige Hand schien nach ihr zu greifen und wie eine scharfe Messerklinge ihr Rückgrat hinunterzulaufen. Weder Großmutters Gesicht im Spiegel noch die geisterhafte Gestalt draußen auf der Terrasse hatte ihr auch nur annähernd so viel Angst gemacht wie das unheimliche Flüstern aus dem Radio, das sich aus den zischelnden und knisternden Störgeräuschen zusammenzusetzen schien. Ihr Herz raste wie verrückt, als sie endlich die Kraft aufbrachte, sich umzudrehen und das Radio anzublicken.
Es war absolut nichts Außergewöhnliches zu entdecken; sah man von der winzigen grauen Maus ab, die oben auf der Stereoanlage hockte und sie Beifall heischend ansah. Keine Geister, keine halb durchscheinenden Gesichter, die aus dem Nichts auftauchten, und auch aus den Lautsprechern drang jetzt wieder nur statisches Rauschen.
Leonies Gedanken begannen zu rasen, während sie sich dem Gerät näherte und langsam und zitternd die Hand ausstreckte. Sie war zu hundert Prozent sicher, sich die Stimme nicht nur eingebildet, sondern sie wirklich gehört zu haben, aber sie war trotz allem, was sie in den zurückliegenden achtundvierzig Stunden erlebt hatte, einfach zu sehr ein Kind des einundzwanzigsten Jahrhunderts, um nicht wenigstens für den Moment nach einer rationalen Erklärung zu suchen. Es könnte eine Halluzination sein; eine von der ganz besonders üblen Sorte, bei der man sich nicht etwa einbildete, etwas Bestimmtes zu hören, sondern es tatsächlich hörte, auch wenn es gar nicht da war. Weißes Rauschen. Ihr Vater hatte ihr einmal erklärt, was man darunter verstand: Wenn das Rauschen aus einem Radio oder Fernsehempfänger auf einer ganz bestimmten Frequenz lag, dann neigte das menschliche Ohr dazu, alles Mögliche hineinzuinterpretieren. Oder war es doch die Stimme ihrer Großmutter gewesen, die auf diese Weise versuchte, aus dem Jenseits Kontakt mit ihr aufzunehmen?
Zögernd berührte sie den Sendersuchlauf, wobei sie die Maus misstrauisch im Auge behielt. Aber da der Nager diesmal nichts dagegen zu haben schien, drehte sie den Knopf vorsichtig nach rechts. Das Rauschen wurde leiser, und wie von weit her hörte sie gedämpfte Musikfetzen. Hastig drehte sie den Knopf in die andere Richtung, bis das Rauschen wieder zunahm, zu etwas wie einer Stimme wurde und dann wieder in verzerrte Musik überzugehen drohte. Es brauchte auf diese Weise zwei oder drei Versuche, bevor sie ein gleichmäßiges statisches Knistern empfing, das sich nach ein paar Augenblicken zu einer geisterhaften, hallenden, aber dennoch unverkennbaren Stimme zusammenfügte.
»Du wirst sie aufhalten, hörst du?«, sagte die Stimme ihrer Großmutter. »Sie darf es nicht tun!«
»Aber... aber was denn?«, flüsterte Leonie. »Wen?«
»Schmerz und Schuld sind zu groß in ihr«, fuhr die unheimliche Stimme aus dem Radio fort. »Sie weiß nicht mehr, was sie tut. Bitte halte sie auf! Schnell!«
Aber wen denn nur?, dachte Leonie verzweifelt. Und was sollte sie tun?
»Großmutter!«, schrie sie. »Was soll ich denn tun? Antworte!« Das letzte Wort hatte sie nicht geschrien, sondern gebrüllt, so laut sie nur konnte, aber sie bekam keine Antwort mehr darauf. Das Knistern und Rauschen machte übergangslos der piepsigen Mickymausstimme einer noch ganz jungen Britney Spears Platz.
Im gleichen Moment wurde die Tür hinter ihr aufgerissen und ihr Vater trat hastig ein. Seine Lippen bewegten sich, aber Leonie verstand kein Wort. Erst als er ärgerlich mit beiden Armen zu fuchteln begann, fiel ihr auf, dass Britneys Mickymausstimme mittlerweile nicht mehr piepste, sondern dröhnte. Ohne es zu merken, hatte sie den Lautstärkeregler der Anlage bis zum Anschlag aufgedreht, um die Geisterstimme aus dem Jenseits besser verstehen zu können.
Hastig stellte sie den Ton leiser, schaltete das Gerät dann ganz aus und hielt währenddessen verstohlen nach der Maus Ausschau. Gott sei Dank war sie verschwunden.
»Kannst du mir verraten, was dieser Höllenlärm zu bedeuten hat?«, fragte ihr Vater streng. »Die Nachbarn beginnen schon auszuziehen.«
»Großmutter!«, haspelte Leonie. »Das... das war Großmutter.«
»Großmutter, so.« Ihr Vater maß erst sie, dann das Radio mit einem langen stirnrunzelnden Blick. »Für mich hat sich das mehr angehört wie Britney Spearrips.«
Leonie nahm die kleine Spitze gegen ihren Musikgeschmack gar nicht zur Kenntnis. »Nein! Vorher!«, sagte sie hastig. »Das war ihre Stimme. Im Radio! Sie hat mich gewarnt!«
»Großmutters Stimme im Radio«, wiederholte ihr Vater. Seiner Miene war nicht anzusehen, was er von dieser Behauptung hielt, aber das lag nicht nur daran, dass er sich meisterhaft in der Gewalt hatte. Vielmehr war sein Gesicht sowieso kaum zu erkennen, weil es vollkommen verdreckt war. »Sagt sie jetzt den Wetterbericht von Wolke sieben an oder gibt sie einen Häkelkurs?«
»Es ist die Wahrheit«, beteuerte Leonie verzweifelt. »Bitte, so glaub mir doch! Die Maus hat das Radio eingeschaltet und...«
»Die Maus?«, unterbrach sie ihr Vater.
Leonie zog die Unterlippe zwischen die Zähne und biss so fest darauf, dass es wehtat. »Das Radio ist jedenfalls angegangen und ich habe Großmutter gehört«, beharrte sie. »Sie hat mich gewarnt. Ich weiß nicht, was Mutter und du vorhabt, aber ihr dürft es nicht tun, hörst du? Unter keinen Umständen!«
»Maus«, sagte ihr Vater noch einmal. Alles andere schien er gar nicht gehört zu haben. »Maus?«, sagte er zum dritten Mal, trat an ihr vorbei und sah sich dabei aufmerksam im Zimmer um. Leonie fiel auf, wie komisch er roch, als er ganz dicht an ihr vorbeiging: nach Staub und feuchtem Erdreich, vielleicht sogar ein bisschen nach Moder. Seine Kleider boten den dazu passenden Anblick. Leonie bemerkte erst jetzt, dass sie ebenso schmutzig waren wie sein Gesicht und auch seine Hände.
»Maus«, sagte er zum nunmehr vierten Mal, beugte sich über den Schreibtisch und runzelte viel sagend die Stirn, als sein Blick über den offen stehenden Schuhkarton und vor allem dessen Inhalt glitt. »Darüber reden wir noch.«
»Aber ich habe sie gehört«, beharrte Leonie. »Wirklich. Ich weiß, wie verrückt das klingt, aber ihre Stimme war im Radio und...«
»Das die Maus eingeschaltet hat«, unterbrach ihr Vater sie. »Ich verstehe.«
Leonie hätte vor lauter Hilflosigkeit und Zorn am liebsten laut losgeheult. Wieso musste sie eigentlich alles falsch machen, was man nur falsch machen konnte? Es fiel ihr doch sonst nicht so schwer, sich verständlich auszudrücken.
»Ja«, gestand sie zähneknirschend. »Ich weiß, wie sich das anhört. Aber es war ganz genau so.«
»Sicher«, sagte Vater.
Leonie atmete tief ein, zählte in Gedanken langsam bis drei und setzte dann mit mühsam beherrschter Stimme neu an: »Sie hat mich gewarnt. Sie hat gesagt, dass Mutter irgendetwas vorhat, das alles noch viel schlimmer machen würde. Ich weiß nicht was, aber sie darf es auf keinen Fall tun!«
Ihr Vater seufzte. »Leonie, bitte. Mir ist klar, was du durchmachst, aber es...«
»Ich bilde mir das nicht ein!« Leonie deutete erregt auf die Stereoanlage. »Ich habe sie gehört, ganz deutlich!«
Ihr Vater sah sie weiter auf diese sonderbare Weise an, die ihr nun wirklich Tränen der Wut in die Augen trieb. Mindestens zehn Sekunden lang starrte er sie einfach nur an, dann schüttelte er seufzend den Kopf und ging aus dem Zimmer. Er zog die Tür hinter sich zu - und dann hörte Leonie, wie ein Schlüssel ins Schloss gesteckt, umgedreht und abgezogen wurde! Leonie war so perplex, dass sie sekundenlang einfach dastand und die Tür anstarrte. Sogar nachdem sie ihre Lähmung endlich abgeschüttelt und die Türklinke heruntergedrückt hatte, weigerte sie sich einfach im ersten Moment zu glauben, dass ihr Vater sie tatsächlich eingesperrt hatte! Er hatte die Tür abgeschlossen und das war noch nie vorgekommen und einfach unvorstellbar! Leonie hatte bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal gewusst, dass es einen Schlüssel für diese Tür gab.
Dieser Gedanke führte zu einem anderen, noch viel unangenehmeren, der nur ganz allmählich in ihrem Bewusstsein Gestalt annahm - im gleichen Maße, in dem sich ihre Fassungslosigkeit in Zorn verwandelte. Ihre Eltern bewahrten sämtliche Zimmerschlüssel des Hauses in einer Schublade im Wohnzimmer auf - und das bedeutete nichts Geringeres, als dass ihr Vater schon mit der festen Absicht hier heraufgekommen war, sie in ihrem Zimmer einzuschließen!
Für einen Moment hatte Leonie große Mühe, nicht vor lauter Wut einfach gegen die Tür zu treten. Natürlich tat sie es nicht, aber sie rüttelte ein paarmal so heftig an der Klinke, dass das Türblatt ächzte. Schließlich drehte sie sich entschlossen um und eilte zum Fenster. So einfach würde sie es ihrem Vater nicht machen. Wenn er glaubte, sie hier einsperren zu können, würde er sich etwas Besseres einfallen lassen müssen!
Aber vielleicht hatte er das ja schon. Leonie riss mit einer wütenden Bewegung am Fenstergriff und hätte sich beinahe zwei Fingernägel abgebrochen, denn das Fenster rührte sich nicht. Verblüfft versuchte sie es noch einmal - mit demselben Ergebnis -, bevor sie das Fenster genauer in Augenschein nahm. Das Rätsel war schnell gelöst, aber diese Lösung trug nicht unbedingt dazu bei, ihre Laune zu heben: Wie alle Fenster im Haus war auch dieses abschließbar, indem man einen kleinen Knopf innen am Griff drückte. Jemand hatte ihn gedrückt. Der dazugehörige Schlüssel war verschwunden, und Leonie hatte eine ziemlich konkrete Vorstellung davon, wo er sich befand. So unglaublich es sich auch anhören mochte: Ihr Vater musste schon vor Stunden hier heraufgekommen sein, um dieses Fenster zu verriegeln. Er hatte die ganze Zeit über vorgehabt, sie einzusperren!
Leonie war ernsthaft in Versuchung, einen Stuhl zu nehmen und ihn einfach durchs Fenster zu werfen. Aber natürlich hätte das die ganze Sache nur noch mehr angeheizt. So mies, wie ihr Vater im Moment drauf war, würde er wohl kaum gelassen reagieren, wenn er vom Klirren des zerbrechenden Glases angelockt wurde und feststellen musste, dass seine Tochter kurzerhand die Scheibe eingeschlagen hatte. Aber sie musste hier raus, ganz egal wie!
Sie hörte ein Kratzen und drehte sich um. Die Maus war wieder aus ihrem Karton geklettert, trippelte zur Tür und huschte einfach durch den auch für sie eigentlich viel zu schmalen Spalt hinaus. Kaum eine Sekunde später kam sie zurück, blieb zwei Schritte vor Leonie stehen und sah sie auffordernd an.
Leonies Miene verdüsterte sich noch weiter. »Du solltest dir überlegen, was du tust«, grollte sie. »Mein Sinn für Humor ist im Moment nicht besonders ausgeprägt.«
Die Maus zeigte sich von ihrer Drohung nicht sonderlich beeindruckt. Sie huschte wieder durch den Türspalt nach draußen, kam zurück und wiederholte das Kunststückchen insgesamt noch zwei- oder dreimal, bevor sie sich vor Leonie hinhockte und erwartungsvoll zu ihr hochsah.
»Das... das ist ja fantastisch«, flüsterte Leonie. »Kannst du mir den Trick beibringen?«
Die Maus hüpfte auf ihre Hand, kletterte in gewohnter Manier an ihrem Arm empor und nahm auf ihren Schultern Platz, und Leonie, die sich insgeheim damit abzufinden begann, dass sich ihr Verstand offensichtlich verabschiedet hatte, stand auf und trat mit einem entschlossenen Schritt durch die Tür.
Sie wäre nicht erstaunt gewesen, hätte sie sich die Nase blutig geschlagen, aber rein gar nichts geschah. Sie trat durch die - geschlossene! - Tür hindurch und auf den Flur hinaus, ohne auch nur das Geringste zu spüren. So als wäre die Tür gar nicht mehr da.
Leonie hütete sich, über diese neuerliche Unmöglichkeit auch nur nachzudenken, nahm die Maus von ihrer Schulter und lief mit schnellen Schritten die Treppe hinab. Im Erdgeschoss war niemand. Der Fernseher im Wohnzimmer lief ohne Ton, wie er es in den letzten Tagen fast ununterbrochen getan hatte, und als gäbe es rein gar nichts anderes mehr, zeigten sie noch immer Bilder von dem abgestürzten Flugzeug. Leonie wollte ihn ausschalten, überlegte es sich aber anders und rannte stattdessen in die entgegengesetzte Richtung, zur Buchhandlung.
Die Tür zur Kellertreppe stand offen, wie sie befürchtet hatte. Von unten drangen keine Geräusche mehr herauf. Leonie warf auch noch die letzten Bedenken über Bord, beschleunigte ihre Schritte und polterte die Treppe hinab.
Sie brauchte auch gar keine Rücksicht mehr zu nehmen. Der Keller war leer. Ihr Vater war ganz eindeutig hier gewesen, und sie wusste jetzt auch, wieso seine Kleider so schmutzig gewesen waren. Er hatte den Schutt der heruntergebrochenen Ziegelsteinmauer beiseite geschafft. Die Wand auf der anderen Seite, die nur aus Erdreich und Lehm bestand, lag jetzt frei. Sie war zu spät gekommen.
»O nein«, flüsterte Leonie. »Und jetzt?«
Die Maus befreite sich mit einer geschickten Bewegung aus Leonies Hand, hüpfte auf den Boden und schien sich in einen huschenden Schatten zu verwandeln, so schnell flitzte sie zwischen Schutt und Trümmern hindurch auf die Wand zu. Kaum eine Sekunde später war sie einfach verschwunden und eine weitere Sekunde später tauchte sie wieder auf und sah Leonie erwartungsvoll an.
Leonie atmete tief ein und nickte. Die Maus kletterte geschickt an ihrem Bein hoch, lief von dort aus zu ihrer Schulter und nahm darauf Platz. Leonies Herz begann wie verrückt zu klopfen, als sie sich der Wand näherte.