Leonie hatte nicht auf die Uhr gesehen, aber sie schätzte, dass eine gute Stunde, wenn nicht mehr, vergangen sein musste, seit Theresa und sie vorsichtig aus dem Zug geklettert und noch vorsichtiger an den Rand des Abgrunds getreten waren. Selbstverständlich hatten weder sie noch Theresa sich irgendwelche Hoffnungen gemacht, dass Hendrik - oder überhaupt jemand oder etwas - den katastrophalen Absturz überlebt haben könnte, und ihr Herz hatte bis zum Zerreißen gehämmert, während sie sich vorgebeugt und zugleich gegen den schrecklichen Anblick gewappnet hatte, der sie erwarten mochte.
Auf das, was sie dann sah, hatte Leonie sich allerdings nicht vorbereiten können.
Sie hatte erwartet, das zerborstene Wrack des ICE zu erblicken, einen wirren Haufen aus verdrehtem Metall, Trümmern, Glasscherben und ineinander verkeilten Waggons, wie eine Spielzeugeisenbahn, die ein Kind aus dem obersten Stockwerk eines Hochhauses geworfen hatte, möglicherweise brennend und über ein gewaltiges Gebiet verteilt. Aber unter ihnen war...
... gar nichts gewesen.
Hätte man Leonie das vorher gesagt, sie hätte vermutlich darüber gelacht - aber tatsächlich war der Anblick der vollkommenen Leere unter ihnen schlimmer, als es jede noch so unvorstellbare Zerstörung hätte sein können. Den Zug dort unten zerschmettert und in Stücke gebrochen liegen zu sehen, hätte sie zweifellos bis ins Mark erschüttert... aber gar nichts zu sehen war noch viel schlimmer, denn es war, als hätte es den Zug, Hendrik und die Ungeheuer niemals gegeben. Der Boden des Abgrunds - wenn er denn überhaupt einen hatte - war ebenso wenig zu erkennen gewesen wie sein gegenüberliegender Rand. Selbst jetzt, bei der bloßen Erinnerung an den finsteren Schlund, in den der Zug gestürzt war, lief ihr noch ein eisiger Schauer über den Rücken.
Seither waren sie unterwegs.
Ihre Umgebung hatte sich mittlerweile gravierend verändert.
Zuerst waren es noch Zuggleise gewesen, auf denen sie gegangen waren, scheinbar endlos und ohne auf einen Ausgang aus dem düsteren Tunnel zuzusteuern, in den sie geraten waren, jetzt aber bewegten sie sich in einer Art Kanalisation, und gleichzeitig begann Leonies Erinnerung an den Zugtunnel ganz allmählich zu verblassen, und es erschien ihr immer selbstverständlicher, neben Theresa herzulaufen und gemeinsam mit ihr einen Ausweg aus dieser stinkenden Kloake zu suchen.
Irgendwann blieb Theresa stehen und legte den Kopf auf die Seite, um zu lauschen. Leonie tat dasselbe, aber sosehr sie sich auch anstrengte, sie hörte nichts außer dem Geräusch ihres eigenen Herzens und dem seidigen Rauschen der fauligen, stinkenden Brühe, die neben ihnen herfloss, und dem Tröpfeln einzelner Wassertropfen von der gewölbten Decke über ihnen. Leonie fühlte sich mehr als unbehaglich in diesem uralt wirkenden Gewölbe mit der träge vor sich hin plätschernden Abwasserbrühe, und im Grunde ihres Herzens war sie heilfroh, Theresa neben sich zu wissen, die nichts unversucht gelassen hatte ihr zu helfen, wann immer sie gekonnt hatte.
Vorher wäre sie sich schon bei dem bloßen Gedanken, irgendetwas anderes als feindselig und ablehnend Theresa gegenüber zu sein, wie eine Verräterin an ihrem Vater vorgekommen. Jetzt erkannte sie, wie dumm das gewesen war. Theresa und sie standen möglicherweise auf verschiedenen Seiten, aber das machte die junge Frau nicht automatisch zu ihrer Feindin.
»Wir müssen sehen, dass wir hier irgendwo rauskommen«, murmelte Theresa, nachdem sie eine ganze Zeit lang schweigend neben dem sich anscheinend endlos dahinziehenden Abwasserkanal hergegangen waren.
»Was schlägst du vor?«, fragte Leonie.
»Ich?« Theresa schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich fürchte, ich kann dir da nicht helfen. Das hier ist dein Spiel.«
»Als Spiel würde ich das nicht gerade bezeichnen«, meinte Leonie. »Immerhin wären wir um ein Haar gestorben. Und wer weiß, wie viele Menschen im Zug zu Schaden gekommen sind.«
»Er war leer«, erinnerte sie Theresa.
»Und Hendrik?«, fragte Leonie scharf.
Theresa blieb ihr die Antwort auf diese Frage schuldig. »Entschuldige«, sagte sie schließlich. »Das hier ist wirklich alles andere als ein Spiel. Was ich gemeint habe, war auch eher, dass du die Regeln bestimmst, nicht ich.«
»Schön wär’s«, erwiderte Leonie finster. Ihr war das Lachen endgültig vergangen. Auch wenn sie sich nicht mehr ganz so allein und hilflos fühlte seit Theresa das Schweigen gebrochen hatte, so hatten ihre Worte ihr doch klar gemacht, wie schlimm die Lage war. Das hier war ganz gewiss kein normaler Tunnel, sondern ein Teil jener unheimlichen Welt, die sie schon einmal betreten hatte, durch die geheime Tür im Keller der Buchhandlung. Sie konnten die nächsten hundert Jahre in dieser Kanalisation entlangmarschieren, ohne sich dem Ausgang auch nur um einen Schritt zu nähern.
»Ich verstehe überhaupt nicht, was hier geschieht«, gestand sie. »All diese schrecklichen Kreaturen - was wollen sie von mir?«
»Keine Ahnung«, antwortete Theresa. »Ich verstehe es auch nicht. Soweit ich weiß, ist es noch nie vorgekommen, dass sie eine von uns in ihre Welt geholt haben. Ich wusste gar nicht, dass sie das können.«
Die Art, wie sie die Worte eine von uns aussprach, ließ es Leonie für einen Moment warm ums Herz werden, aber sie machte ihr zugleich auch klar, wie bitterernst ihre Situation war. Hier ging es nicht um etwas, von dem sie hörte oder dessen Zeuge sie eher zufällig wurde, sondern um sie, um ihr Leben und vielleicht noch um unendlich viel mehr - und sie wusste nicht einmal genau, welche Rolle sie in dieser ganzen Geschichte spielte. Geschweige denn, was sie tun sollte.
»Dieser... Archivar, von dem du gesprochen hast«, fuhr sie nachdenklich fort, »wer ist das? Und was will er von mir?«
Theresa hob fröstelnd die Schultern, so als bereite ihr schon allein die Erwähnung dieses Namens Unbehagen. »Ich weiß es nicht. Niemand hat ihn je gesehen. Ein paar von uns sind sogar der Meinung, dass es ihn gar nicht gibt, sondern er nur so etwas wie eine Legende ist.« Sie lachte leise und nicht sonderlich echt. »Na ja, zumindest diesen Irrtum können wir ja jetzt aufklären... sollten wir es jemals wieder zurück nach Hause schaffen, heißt das«, fügte sie etwas leiser hinzu, nachdem sie sich schaudernd umgesehen hatte. Der letzte Satz, fand Leonie, war höchst überflüssig gewesen.
»Du warst schon einmal hier, in der Welt des Archivs«, fuhr Theresa nach einer Weile fort. »Wie hast du damals den Rückweg gefunden?«
»Das war etwas anderes«, antwortete Leonie automatisch. »Damals war...« Sie brach ab, legte den Kopf schräg und sah Theresa mit einer Mischung aus neu erwachendem Misstrauen und einem daraus resultierenden schlechten Gewissen an. »Woher weißt du das? Ich habe dir bestimmt nichts davon erzählt!«
»Hast du nicht?«, vergewisserte sich Theresa blinzelnd.
»Nein«, antwortete Leonie.
»Woher weiß ich es dann?«, rief Theresa.
»Genau das möchte ich auch wissen.« Leonie versuchte vergeblich, eine Antwort auf diese Frage zu finden oder wenigstens ihr Misstrauen niederzukämpfen, aber ihr gelang weder das eine noch das andere.
»Ach verdammt, ich weiß es eben«, polterte Theresa plötzlich. »Frag mich nicht woher! Mittlerweile hat sich so viel verändert und ins Gegenteil verkehrt, dass ich schon an mir selbst ganz irre werde! Das kommt eben dabei raus, wenn jemand anfängt mit der Wirklichkeit herumzuspielen! Noch dazu jemand, der nichts davon versteht!« Sie funkelte Leonie herausfordernd an. »Warst du nun schon einmal hier oder nicht?«
Leonie hielt ihrem Blick für die Dauer von zwei oder drei schweren Herzschlägen stand. Der Zorn, der in Theresas Augen funkelte, war nicht echt. Dahinter verbargen sich Unsicherheit und vielleicht eine Spur von schlechtem Gewissen. Leonie spürte plötzlich, wie dünn das Band von neu entstandenem Vertrauen in Wahrheit war, das es zwischen ihnen gab, und wie unendlich empfindlich. Ein einziges unbedachtes Wort konnte es zerreißen, vielleicht schon ein falscher Blick oder sogar etwas, das sie im falschen Moment nicht aussprach.
»Das war etwas anderes«, sagte sie nur. »Damals war ich nicht allein und ich habe irgendwie...« Sie suchte nach Worten und rettete sich schließlich in ein hilflos wirkendes Achselzucken. »Irgendwie habe ich gespürt, wo ich hinmuss.«
»Und jetzt spürst du es nicht.« Theresa klang enttäuscht, aber zugleich auch hörbar erleichtert, wenn auch vermutlich aus vollkommen unterschiedlichen Gründen.
»Nein«, bestätigte Leonie.
»Dann haben wir ein Problem«, seufzte Theresa. Sie sah Leonie noch einen Atemzug lang erwartungsvoll an, dann seufzte sie noch einmal und leiser, schüttelte deutlich entmutigt den Kopf und ging weiter. Ihre Schritte erzeugten helle, sonderbar harte Laute auf den rauen Steinfliesen, die den Boden bedeckten, und hallten ebenso merkwürdig verzerrt von der hohen gewölbten Decke wider. Ein rascher Schauer von Furcht lief über Leonies Rücken. Sie beeilte sich, Theresa zu folgen, ohne es allerdings zu wagen, sie noch einmal anzusprechen.
»Was ist?«, fragte sie, als Theresa plötzlich stehen blieb.
»Nichts.« Theresa hob enttäuscht die Schultern. »Ich dachte, ich hätte etwas gehört, aber ich muss mich wohl geirrt haben. Komm weiter. Irgendwo muss dieses verdammte Labyrinth doch schließlich hinführen.«
Sie gingen vielleicht noch dreißig Schritte, bis Leonie ebenfalls etwas hörte. Vor ihnen erklang ein dumpfes Grollen und Rumoren, das Leonie an das Geräusch eines Wasserfalls erinnerte. Theresa lächelte kurz und zufrieden und beschleunigte ihre Schritte, und auch Leonie schritt rascher aus, um nicht zurückzufallen.
Das Grollen wurde immer lauter, und es verging nur noch kurze Zeit, bis sie seinen Ursprung erkannten. Vor ihnen erweiterte sich der Tunnel zu einer mindestens zwanzig oder dreißig Meter langen Halle, in die fast ein Dutzend weiterer Kanäle mündete. Einige von ihnen waren so groß wie der, durch den Theresa und sie gekommen waren, andere sehr viel schmaler oder breiter, alle aber entluden ihre übel riechende Fracht in ein gewaltiges schäumendes Sammelbecken, von wo aus sie in einem brodelnden Strom in der Tiefe verschwand.
Theresa deutete nach rechts. Leonies Blick folgte der Geste, und sie sah praktisch sofort, was Theresa meinte: Ein gutes Stück rechts von ihr führte eine Anzahl rostzerfressener eiserner Sprossen, die in die Wand eingelassen waren, nach oben. Da die Decke mindestens zehn oder zwölf Meter hoch und das Licht nicht besonders gut war, konnte sie nicht genau erkennen, wohin sie führten. Es gab auch noch andere Aufstiege, die aber ausnahmslos viel weiter entfernt waren, und einige sogar auf der gegenüberliegenden Seite des Sammelbeckens.
»Versuchen wir es«, schlug sie vor.
Theresa zögerte noch einen Moment, aber dann fasste sie sich ein Herz und stieg in den Abwasserkanal hinab. »Oh, Scheiße«, murmelte sie, während sie durch die fast hüfthohe graubraune Brühe auf Leonie zukam. Sie hatte die Arme hoch erhoben und ging sehr langsam, was Leonie gut verstehen konnte. Das Wasser hatte zwar keine nennenswerte Strömung, aber vermutlich war der Boden glatt wie Schmierseife, und wenn sie bedachte, worin Theresa da gerade watete.
»Stimmt«, sagte Leonie schadenfroh. Theresa schenkte ihr einen Blick, der eine wütende Löwin vor Angst hätte erstarren lassen, zog sich neben ihr auf den gemauerten Rand des Abwasserkanals hoch und starrte sie noch wütender an, als Leonie grinste und sich dabei demonstrativ die Nase zuhielt.
Danach beeilte Leonie sich allerdings, die wenigen Schritte bis zur Leiter zu gehen und loszuklettern. Die eisernen Sprossen waren nicht nur uralt und so verrostet, dass sie sich besorgt fragte, ob sie überhaupt in der Lage waren, ihr Gewicht zu tragen, sondern auch mit einer klebrigen Schmierschicht überzogen, bei deren bloßem Anblick sich ihr Magen umdrehte. Trotzdem griff sie beherzt zu und begann so schnell nach oben zu klettern, dass Theresa schon nach einem Augenblick unter ihr zurückfiel. Zumindest ihr schlimmster Albtraum wurde nicht wahr. Oben angekommen erwartete Leonie nicht ein zentnerschwerer Kanaldeckel, der ihrer Flucht vermutlich ein ziemlich abruptes Ende bereitet hätte, sondern nur ein eiserner Gitterrost, dessen Stäbe womöglich noch verrosteter waren als die Leitersprossen. Grüngraues Licht und das Murmeln halblauter, ineinander verwobener Geräusche drangen zu ihr herab. Leonie gab Theresa mit einem Wink zu verstehen, dass sie abwarten sollte - sie war froh, dass die Sprossen ihr Gewicht trugen, und wollte ihr Glück nicht unnötig auf die Probe stellen -, lauschte einen Moment und stemmte sich dann prüfend mit Hinterkopf und Schultern gegen das Gitter. Zu ihrer eigenen Überraschung löste es sich nahezu widerstandslos aus seinem Rahmen und Leonie musste rasch nach oben greifen und es festhalten, damit es nicht zur Seite fiel und dabei möglicherweise ein verräterisches Geräusch verursachte.
Unendlich behutsam und mit klopfendem Herzen hob sie den Kopf und sah sich um. Sie befand sich in einem schmalen gemauerten Gang mit halbrunder Decke, von dem etliche Türen abzweigten. Die Geräusche waren nun lauter zu hören, erstaunlicherweise aber nicht klarer, und sehr weit entfernt glaubte sie Bewegung wahrzunehmen, ohne aber ganz sicher zu sein. Der Gang kam ihr auf unangenehme Weise bekannt vor, doch sie konnte nicht sagen woher.
»Und?«, drang Theresas Stimme von unten zu ihr herauf.
Leonie wandte leicht verärgert den Kopf und sah zu ihrer neuen Freundin hinab. Theresa hing zwei oder drei Sprossen unter ihr verkrampft auf der Leiter und schlotterte nur so vor Angst - ganz offensichtlich war sie alles andere als schwindelfrei. Dennoch musste sich Leonie arg zusammenreißen, um nicht vor lauter Schadenfreude breit zu grinsen. Theresa bot trotz allem einen fast komischen Anblick über und über mit der zähen leicht grünlichen Brühe beschmiert, durch die sie gewatet war und die in ihren Kleidern und auf ihrem Gesicht bereits anzutrocknen begann. Selbst in ihren Haaren klebte das Zeug. Der sonderbare Marzipangeruch, den Leonie schon die ganze Zeit über bemerkt hatte, war jetzt viel intensiver.
»Was siehst du?«, fragte Theresa.
»Nichts Besonderes«, antwortete Leonie. »Aber das wird sich möglicherweise bald ändern, wenn du noch ein bisschen lauter schreist.«
»Dann würde ich vorschlagen, dass du weiterkletterst«, sagte Theresa nervös. »Ich fühle mich hier... nicht besonders wohl.«
Leonie wäre es an ihrer Stelle wahrscheinlich auch nicht anders ergangen. Trotzdem grinste sie noch eine gute Sekunde lang unverhohlen schadenfroh auf sie hinab, bevor sie endlich durch die Öffnung kletterte, sich dann aber hastig umdrehte und Theresa die Hand entgegenstreckte um ihr zu helfen. Theresa ignorierte das Angebot, stemmte sich verbissen aus eigener Kraft in die Höhe und spießte sie mit Blicken regelrecht auf. »Herzlichen Dank«, maulte sie. »Wer dich zur Freundin hat, der braucht wirklich keine Feinde mehr.«
Leonie antwortete mit einem noch breiteren Grienen, aber dann wurde sie endgültig wieder ernst und bedeutete Theresa mit einer entsprechenden Geste, ebenfalls still zu sein. Gebannt blickte sie in die Richtung, aus der sie vorhin die Geräusche gehört hatte. Es wäre zweifellos sicherer gewesen, sich in die entgegengesetzte Richtung zu entfernen, aber sie hatte das bestimmte Gefühl, dass es wichtig war, herauszufinden, was hier unten vorging und warum sie überhaupt hier waren. Leonie machte sich nichts vor: Sie waren dem Hinterhalt mit mehr Glück als Verstand (und mit Hendriks Hilfe) entkommen, aber der Archivar würde nicht aufgeben. Nach einem letzten wachsamen Blick in alle Richtungen setzten sie sich vorsichtig in Bewegung.
Mit jedem Schritt, den sie weitergingen, verstärkte sich in Leonie das beunruhigende Gefühl, eigentlich wissen zu müssen, wo sie waren - aber sie erinnerte sich erst, als sie das Ende des gewölbten Ganges erreicht hatten. Vor ihnen lag ein niedriger Durchgang, der auf einen schmalen Sims mit einem steinernen Geländer hinausführte. Der Raum dahinter war von hellgrünem, gespenstischem Licht erfüllt, und das Klirren von Ketten und Metall und andere noch unheimlichere Laute drangen zu ihnen herein. Mit klopfendem Herzen trat sie auf den Balkon hinaus und duckte sich hinter das niedrige Geländer, ehe sie einen vorsichtigen Blick in die Tiefe wagte.
Und endlich wusste sie, wo sie waren.
Der Boden des gewaltigen Saales, der sich gute zehn Meter unter ihnen ausdehnte, bestand aus einem rostigen Metallgeflecht, in das zahlreiche Klappen, Scharniere und eiserne Deckel eingelassen waren. Überall standen große, bizarr anmutende Maschinen, zwischen denen sich die sonderbarsten Kreaturen bewegten. Zahllose Ketten und rostige Drahtseile hingen von der Decke, in der es ebenfalls eiserne Klappen und Scharniere gab.
»Was... ist das?«, flüsterte Theresa, die ihr gefolgt war.
»Der Leimtopf«, antwortete Leonie. Sie deutete auf die grüne zähflüssige Masse, die unter dem Gitterboden blubberte und kochte. Der Marzipangeruch war hier ungleich stärker. Bisher hatte Leonie angenommen, dass er von Theresa ausging. Unwillkürlich sah sie nach rechts.
»Leim?« Theresa nahm eine Strähne ihres Haares zwischen die Finger; sie war ebenfalls mit der grünen Pampe verschmiert. »Sagtest du Leim?«, keuchte sie. »Wie um alles in der Welt soll ich das Zeug jemals wieder aus den Haaren kriegen?«
»Lass es eintrocknen«, riet ihr Leonie.
»Und dann?«
»Kannst du sie einfach abbrechen«, sagte Leonie.
»Sehr witzig«, maulte Theresa. Sie ließ die Strähne los und sah dann wieder konzentriert nach unten. »Das ist der berüchtigte Leimtopf, vor dem alle Angst haben?«
»Sicher«, antwortete Leonie. »Soll das heißen, du warst noch nie hier?«
»Bist du verrückt?«, entfuhr es Theresa. »Keine von uns war das... außer dir«, fügte sie nach einer Sekunde und in merkwürdig verändertem, nachdenklichem Ton hinzu. Sie wollte noch mehr sagen, doch in diesem Moment öffnete sich in der Decke über ihnen eine eiserne Klappe und ein rostiger Bottich von der doppelten Größe einer Badewanne wurde an rasselnden Ketten herabgelassen. Genau wie Leonie es schon einmal beobachtet hatte, bewegte er sich halb nach unten, ehe er zur Seite kippte und seinen Inhalt in die kochende Masse unter dem Gitterboden ergoss: Bücher, verbrauchte Federkiele, Möbeltrümmer und Maschinenteile, aber Leonie hatte auch das unheimliche Gefühl, die eine oder andere winzige zappelnde Gestalt in einem schwarzen Umhang zu erkennen.
»Was soll das heißen: Keine von euch war je hier?«, fragte Leonie ungläubig.
»Genau das, was ich gesagt habe«, antwortete Theresa. »Um ehrlich zu sein: Ich habe bisher nicht einmal geglaubt, dass es den Leimtopf wirklich gibt.«
»Genau wie den Archivar.«
»Genau wie den Archivar«, bestätigte Theresa. Sie maß Leonie mit einem sonderbaren Blick. »Also, allmählich wirst du mir unheimlich.«
»Ich glaube, ich werde mir allmählich selbst unheimlich«, murmelte Leonie. »Ich verstehe nicht, wie wir hierher gekommen sind.«
»Aber ich«, antwortete Theresa. Sie schauderte übertrieben. »Ich glaube, wir haben mehr Glück als Verstand gehabt.« Sie deutete auf die gluckernde grüne Suppe unter dem Gitterboden, dann auf ihre besudelten Kleider. »Wir waren noch unter diesem Raum. Wenn es in den Tiefen dieser Anlage überhaupt etwas gibt, vor dem alle noch mehr Angst haben als vor dem Leimtopf, dann ist es der Archivar.«
»Was meinst du denn jetzt damit?«, fragte Leonie verständnislos.
»Ja, begreifst du denn nicht?«, erwiderte Theresa.
»Nein«, antwortete Leonie wahrheitsgemäß.
Theresa seufzte. »Wahrscheinlich ist noch nie ein Mensch zuvor so tief in dieses Archiv vorgedrungen wie wir. Wenn dein Freund den Wagen nicht abgekoppelt hätte, dann hätte uns der Archivar wahrscheinlich zu sich geholt. Genauer gesagt: dich.«
»Aber warum denn?«, rief Leonie. »Was ist denn an mir so Besonderes?«
»Das weiß ich nicht«, sagte Theresa. »Aber ich fürchte, wenn wir noch lange hier bleiben, dann finden wir es heraus - allerdings auf andere Weise, als uns lieb sein kann.« Sie machte eine Kopfbewegung auf die Gestalten unter ihnen. Aus der Höhe betrachtet wirkten selbst die massigen Aufseher in ihren bizarren Rüstungen klein und harmlos, aber Leonie wusste aus eigener leidvoller Erfahrung, dass sie weder das eine noch das andere waren. Theresa hatte Recht. Sie mussten hier weg.
»Also?«, fragte Theresa. »Wo geht es hier raus?«
»Woher soll ich das wissen?«, entgegnete Leonie.
»Aber du warst doch schon einmal hier!«, protestierte Theresa.
»Stimmt«, antwortete Leonie. Sie deutete - wahllos - auf irgendeine der halbrunden Türen unten in der Halle. »Ich glaube, es war die zweite oder dritte von links. Wir müssen also nur einen Weg nach unten finden und dann irgendwie ungesehen auf die andere Seite kommen und...«
»Schon gut«, unterbrach sie Theresa seufzend. »Ich hab’s begriffen.«
Leonie sah unschlüssig nach rechts und links und dann wieder in den Stollen zurück, aus dem sie gerade gekommen waren. Der Balkon reichte nahezu um den halben Raum herum und es gab noch zahlreiche andere Stollen - aber da sie ja von keinem wussten, wohin er führte, war ein Weg im Grunde so gut wie der andere. Oder so schlecht. Sie erwiderte Theresas fragenden Blick mit einem hilflosen Schulterzucken und stand kommentarlos auf, um in den Tunnel zurückzugehen.
Sie war so verwirrt, dass sie bestimmt fünf Minuten neben Theresa herging, ohne ein Wort zu sagen oder ihrer Umgebung auch nur mehr als einen flüchtigen Blick zu schenken. Nicht dass es allzu viel zu sehen gegeben hätte: Der Gang war wie alles hier unten uralt und aus bröckelndem Ziegelstein erbaut und besaß eine gewölbte Decke; das einzig Auffällige war, dass sämtliche Türen rechts und links offen standen. Leonie warf einen flüchtigen Blick in die dahinter liegenden Räume, und was sie sah, machte ihr nicht unbedingt Lust auf mehr - winzige fensterlose Zellen mit fauligem Stroh auf dem Boden und schweren eisernen Ringen an den Wänden, ganz ähnlich der Zelle, in der sie damals mit ihren Eltern...
Leonie blieb so abrupt stehen, dass Theresa noch zwei weitere Schritte machte, bevor sie überhaupt bemerkte, dass Leonie nicht mehr neben ihr war, und sich mit fragendem Gesichtsausdruck zu ihr umdrehte. »Was hast du?«, fragte sie.
Am allerliebsten hätte Leonie sich selbst geohrfeigt. Was sie hatte? Offensichtlich auch noch ihr letztes bisschen Verstand im Gepäckfach liegen lassen, als sie aus dem Abteil gerannt war! Ohne Theresas Frage zu beantworten, machte Leonie auf dem Absatz kehrt und ging in die nächstbeste Zelle. Theresa zog die Augenbrauen hoch, folgte ihr aber schweigend.
Leonie blieb in der Mitte der Zelle stehen und blickte lange und konzentriert die gegenüberliegende Wand an.
Nichts geschah.
»Darf ich fragen, was du da tust?«, erkundigte sich Theresa.
Statt zu antworten drehte sich Leonie mit einem Ruck um und starrte fast verzweifelt die andere Wand an.
»Also wenn du ein Loch in die Wand starren willst, dann sag mir genau wo und ich helfe dir dabei.« Theresa versuchte zu lachen, aber es klang ziemlich nervös.
»Es funktioniert nicht«, flüsterte Leonie. Ihre Stimme zitterte, so sehr hatte sie sich konzentriert, und sie spürte, wie ihr Tränen der Enttäuschung in die Augen schießen wollten. »Es... es funktioniert nicht, Theresa.«
»Was funktioniert nicht?«, fragte Theresa.
»Als... als ich das erste Mal hier war, zusammen mit meinen Eltern«, stammelte Leonie, »da... da musste ich mich nur konzentrieren und... und plötzlich war eine Tür da. So sind wir entkommen. Aber es funktioniert nicht mehr.«
»Vielleicht weil keine Tür da ist«, sagte Theresa.
»Aber damals...«
»... gab es eine Tür und du konntest sie sehen«, unterbrach sie Theresa. Sie schüttelte den Kopf und ihre Stimme wurde weich. »Hast du vergessen, was ich dir erzählt habe, Leonie? Du besitzt keine Zauberkräfte. Das Einzige, was die Hüterinnen von den anderen Menschen unterscheidet, ist der Umstand, dass wir die Dinge so sehen, wie sie wirklich sind.«
Leonie ließ resigniert die Schultern sinken. »Und wie kommen wir jetzt hier raus?«, murmelte sie.
»Ich würde vorschlagen, auf die altmodische Methode«, sagte Theresa. »Zu Fuß.«
»Das ist vollkommen unmöglich«, antwortete Leonie, mutlos, aber auch sehr überzeugt. »Wir kommen nie durch das Archiv.«
»Tja, dann bleiben wir hier und warten darauf, dass sie uns erwischen«, schlug Theresa vor. »Oder?«
»Blödsinn«, erwiderte Leonie. »Ich sage ja nur, dass...«
Theresa war mit einem einzigen Satz bei ihr, drückte sie schon fast gewaltsam gegen die Wand neben der Tür und presste ihr zu allem Überfluss auch noch die Hand auf den Mund, und das so fest, dass ihr buchstäblich die Luft wegblieb; Theresas Hand hielt ihr nämlich nicht nur den Mund, sondern ganz nebenbei auch noch die Nase zu. Im allerersten Moment war Leonie viel zu überrascht, um auch nur zu begreifen, wie ihr geschah, dann aber schoss eine Woge heißer Wut in ihr empor. Sie setzte dazu an, Theresas Griff zu sprengen - und dann hörte sie die Schritte draußen auf dem Gang.
»Keinen Laut!«, zischte Theresa. Leonie erstarrte zur Salzsäule, versuchte Theresa aber mit Blicken begreiflich zu machen, dass sie auf dem besten Weg war, zu ersticken. Theresa nahm hastig die Hand herunter, machte ein leicht verlegenes Gesicht und wich sogar ein Stück zurück, bedeutete ihr aber gleichzeitig mit einem hastigen Wink, ja still zu sein.
Das wäre allerdings gar nicht mehr nötig gewesen. Die Schritte waren mittlerweile so nahe gekommen, dass Leonie schon halbwegs damit rechnete, sie im nächsten Moment zu ihnen hereinpoltern zu hören. Hastig zog sie sich weiter in den Schatten zurück und versuchte unsichtbar zu werden. Sie konnte nur hoffen, dass sich niemand dort draußen fragte, warum die Tür eigentlich offen stand, und zu ihnen hereinkam, um nach dem Rechten zu sehen.
Das geschah nicht, aber im nächsten Moment tat ihr Herz trotzdem einen erschrockenen Hüpfer und hämmerte dann so schnell und laut weiter, dass man es eigentlich noch draußen auf dem Gang hätte hören müssen. Sie konnte nicht allzu viel erkennen, aber das wenige, was sie sah, war schon mehr, als sie sehen wollte. Sie erkannte mindestens fünf oder sechs Aufseher, auffallend große Exemplare mit gewaltigen Muskeln, schweren Lederrüstungen und stachelbesetzten Helmen, die vor Waffen nur so strotzten, und dazu mindestens noch einmal so viele Scriptoren und eine Unzahl Schusterjungen, die schwarzen, Mäntel tragenden Ratten gleich zwischen den Füßen ihrer größeren Brüder und der Aufseher herumwuselten. Mindestens einem von ihnen bekam das schlecht. Leonie hörte ein erschrockenes Quieken, und eine der winzigen Gestalten blieb reglos liegen, als sich der Fuß eines Aufsehers wieder hob - was die übrigen aber nicht davon abhielt, in ihrem selbstmörderischen Tun fortzufahren. Leonie schenkte ihnen jedoch kaum Beachtung. Der Blick ihrer schreckgeweiteten Augen hing wie gebannt an der halb nackten Gestalt, die die Aufseher in Ketten zwischen sich herschleiften.
Es war Hendrik.
Leonie erkannte ihn jedoch kaum wieder. Sein Haar war ein gutes Stück länger als noch vor einer Stunde und hing ihm nun fast bis auf die Schultern herab, aber es starrte vor Schmutz und war wirr und verfilzt. Er trug nur eine Art Lendenschurz und grobe Flechtsandalen, und Leonie konnte erkennen, dass er mindestens zwanzig Pfund an Gewicht verloren hatte, und sein ganzer Körper war ebenso verdreckt und ungepflegt wie seine Haare und dazu über und über mit mehr oder weniger verheilten Wunden übersät. Seine Wangen waren eingefallen und die Augen blickten trüb aus tiefen, schwarz umrandeten Höhlen. Er wankte mehr, als dass er ging, und schien kaum noch die Kraft zu haben, sich auf den Beinen zu halten. Dennoch mussten die Aufseher einen gewaltigen Respekt vor ihm haben, denn gleich zwei von ihnen hielten ihn an schweren Ketten, die mit eisernen Ringen an seinen Handgelenken verbunden waren.
Erst als die bizarre Prozession schon ein gutes Stück an der Tür vorbei war und die Schritte und das Klirren der Ketten allmählich leiser wurden, wagte es Leonie, wieder zu atmen.
»O mein Gott, das war ja Hendrik!«, murmelte Theresa erschrocken. »Aber wie... wie kann das sein? Er sieht aus, als wäre er seit Wochen angekettet!«
»Wahrscheinlich ist er das«, flüsterte Leonie erschüttert. »Bei meinen Eltern war das genauso. Sie waren nur ein paar Stunden weg, aber als ich sie gefunden habe, da waren sie schon seit Wochen in Gefangenschaft. Die Zeit vergeht hier anders als in der richtigen Welt.«
»Das weiß ich«, antwortete Theresa. »Aber wir waren mit Hendrik zusammen hier unten, als sie ihn überwältigt haben, und das ist gerade eine Stunde her - allerhöchstem zwei! Hier stimmt etwas nicht!«
Leonie konnte ihr kaum widersprechen, doch es interessierte sie im Moment auch nicht. Sie ließ noch einen kurzen Augenblick verstreichen, bevor sie zur Tür ging und vorsichtig hinausspähte. Die Aufseher und ihr Gefangener hatten sich schon ein gutes Stück entfernt und begannen bereits, in dem gespenstischen grünlichen Licht zu verschwimmen.
»Sie sind schon fast weg«, flüsterte sie. »Wir müssen uns beeilen.«
»Was hast du vor?«, fragte Theresa alarmiert.
»Wir müssen Hendrik befreien!«, antwortete Leonie.
»Ach so.« Theresa seufzte und machte ein erleichtertes Gesicht. »Und ich hatte schon Angst, dass du etwas wirklich Gefährliches vorschlagen könntest.« Sie schüttelte den Kopf und wurde schlagartig wieder ernst. »Du bist völlig verrückt! Das ist unmöglich!«
»Wir können ihn doch nicht einfach im Stich lassen!«, protestierte Leonie. »Hendrik hat sein Leben riskiert, um uns zu retten!« Sie deutete aufgeregt nach draußen. »Wenn er nicht gewesen wäre, dann hätten sie uns jetzt dort draußen in Ketten vorbeigezerrt, ist dir das eigentlich klar? Und hast du gesehen, was sie ihm angetan haben?«
»Möchtest du, dass sie uns dasselbe antun?«, fragte Theresa sanft.
»Natürlich nicht«, antwortete Leonie aufgebracht. »Aber ich denke nicht daran, ihn im Stich zu lassen. Du kannst ja hier bleiben, wenn du willst!«
»Ja, etwas in der Art habe ich befürchtet«, seufzte Theresa. »Du erinnerst mich an deine Großmutter, als sie ungefähr in deinem Alter war, weißt du? Sie war genauso stur, wenn sie sich erst einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte.«
Leonie fragte sich, woher sie das eigentlich wissen wollte - Theresa war nur wenige Jahre älter als sie selbst. Aber jetzt war nicht der Moment, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Sie warf noch einen vorsichtigen Blick nach rechts und huschte dann in die entgegengesetzte Richtung los. Die Aufseher und ihr Gefangener waren mittlerweile vielleicht vierzig oder fünfzig Meter entfernt, was bei der sonderbaren Beleuchtung hier unten nichts anderes bedeutete, als dass sie sie schon beinahe nicht mehr sehen konnte. Umgekehrt war es vermutlich genauso, aber Leonie huschte trotzdem eng an der Wand entlang und gab sich alle Mühe, so leise wie nur irgend möglich aufzutreten.
Sie sah nicht zurück, aber sie konnte Theresas Schritte hinter sich hören. Nach und nach ließ Leonie den Abstand zwischen sich und der unheimlichen Prozession größer werden, bis sie im Grunde nur noch ihren Geräuschen folgte. Vor allem die Schusterjungen bereiteten ihr Sorge. Sie hatte schon gesehen, wie schnell diese kleinen Biester sein konnten. Wenn einer von ihnen auf die Idee kam, sich umzudrehen oder gar zurückzugehen, dann war es um sie geschehen.
Sie hatten jedoch Glück. Gute fünf Minuten lang folgten sie den Aufsehern und ihrem Gefangenen, doch dann wurde es plötzlich still vor ihnen. Leonie blieb erschrocken stehen und lief dann umso schneller weiter. Ein paar weitere Schritte und sie rannte beinahe. Allerdings nicht sehr weit. Nach gut dreißig oder vierzig Metern stand Leonie dort, wo der Gang endete: vor einer massiven Wand.
Enttäuscht drehte sie sich um und ließ ihren Blick durch den Gang schweifen. Auf jeder Seite lag mindestens ein Dutzend Türen, die ausnahmslos verschlossen waren. Leonie zweifelte nicht daran, dass sie sie öffnen konnte, und sie versuchte es auch unverzüglich bei der nächstbesten, aber schon ein einziger Blick in den dahinter liegenden Raum machte ihr klar, wie sinnlos diese Art der Suche war. Hinter der Tür lag keine weitere Zelle, sondern ein neuer Tunnel, der sich bald in grüngrauer Dämmerung verlor. Hinter der zweiten Tür lag eine enge Wendeltreppe und hinter der dritten wieder ein Tunnel. Leonie resignierte endgültig und trat enttäuscht wieder zu Theresa auf den Gang hinaus.
»Ich fürchte, du hast gewonnen«, sagte sie niedergeschlagen. »Wir haben sie verloren.«
»Nicht unbedingt«, antwortete Theresa. »Schau mal hier.«
Sie deutete auf die Tür, vor der sie stehen geblieben war, vielleicht acht oder zehn Schritte entfernt. Leonie ging hin und riss erstaunt die Augen auf, als sie sah, was Theresa entdeckt hatte: Auch diese Tür war geschlossen, aber zwischen Tür und Rahmen klemmte ein schwarzer Stofffetzen. Wenigstens sah es auf den ersten Blick so aus. Auf den zweiten entpuppte sich der Fetzen als ein groteskes, abgrundtief hässliches Etwas von der Größe einer Hand, das einen schwarzen Kapuzenmantel trug. Ganz offensichtlich war der Schusterjunge nicht schnell genug gewesen, als einer der Aufseher die Tür zugeworfen hatte.
»Danke«, sagte sie.
Theresa runzelte die Stirn. »Danke?«
»Ich hätte es wahrscheinlich nicht einmal gemerkt«, erklärte Leonie, »wenn du nichts gesagt hättest.«
»Willst du mich beleidigen?«, fragte Theresa. »Ich lasse genauso wenig einen Freund im Stich wie du.« Sie streckte die Hand nach der Klinke aus, drückte sie vorsichtig herunter und schob die Tür dann noch vorsichtiger auf. Dahinter lag jedoch nichts Bedrohlicheres als ein weiterer leerer Gang, dem sie gute hundert Schritte weit folgten, bevor sie zu einer steil nach unten führenden schmalen Treppe kamen. Von den Aufsehern und Scriptoren war ebenso wenig zu sehen wie von ihrem Gefangenen, aber aus der Tiefe drang ein ganzer Chor von Geräuschen zu ihnen herauf. Klirren und Dröhnen, Hammerschläge und Schreie, das Krachen von Holz und das Kreischen von Ketten, manchmal ein helles Zischen, dem - noch seltener - ein spitzer Schrei folgte. Leonie konnte nicht sagen, was diese unheimlichen Geräusche bedeuteten, aber sie jagten ihr einen eisigen Schauer über den Rücken.
Ganz offensichtlich erging es nicht nur ihr so. »Das gefällt mir nicht«, bekannte Theresa.
»Mir auch nicht«, stimmte ihr Leonie zu - und begann langsam die Treppe hinabzusteigen. Sie konnte regelrecht hören, wie Theresa hinter ihr die Augen verdrehte und ihr dann folgte.
Die Geräusche wurden lauter, während sie die Treppe hinuntergingen, und im gleichen Maße nahm das bedrückende Gefühl in Leonie zu, dass sie eigentlich wissen sollte, was sie bedeuteten.
Aber der Gedanke war so absurd, dass sie sich einfach weigerte, ihn auch nur ernsthaft in Erwägung zu ziehen.
Sogar dann noch, als sie das Ende der Wendeltreppe erreichten und ihr klar wurde, dass die Wirklichkeit ihre schlimmsten Vorstellungen nicht nur eingeholt, sondern ihr um Lichtjahre vorausgeeilt war.
Wie fast alle Gänge, auf die sie bisher hier unten gestoßen war, mündete auch dieser in einer schmalen Galerie, die sich in zehn oder zwölf Metern Höhe um einen gewaltigen, runden Saal spannte. Nur dass es sich hier nicht um eine Fabrikhalle handelte, einen Schreibsaal oder Leimtopf, sondern um etwas, das Leonies Vorstellung von der Hölle so nahe kam, wie es nur möglich war.
Der Raum unter ihnen war vom roten Licht zahlreicher lodernder Flammen erhellt, die in Kohlebecken, gusseisernen Kesseln und offenen Feuerstellen brannten. Überall standen große, aus rostigen, schwarzen Eisenstäben gefertigte Käfige, von denen ungefähr die Hälfte besetzt war, zum allergrößten Teil mit Scriptoren, aber Leonie erkannte auch eine Anzahl Arbeiter und Aufseher und mindestens eine der furchtbaren Kreaturen, die sie im Zug angegriffen hatten.
Doch das war noch lange nicht das Schlimmste.
Die Gitterboxen bildeten ein verwirrendes System aus Gängen und Kreuzungen, aber dazwischen gab es auch immer wieder freie Stellen, auf denen schreckliche Gerätschaften standen. Leonie sträubten sich schier die Haare, als sie unter sich Dinge entdeckte, die sie bisher allenfalls aus Geschichtsbüchern und von schlechten Videofilmen gekannt hatte.
Es waren Folterinstrumente, Streckbänke, Räder, eiserne Jungfrauen und andere, noch viel grässlichere Apparate, deren genaue Funktionsweise sie sich nicht einmal vorzustellen wagte.
Und diese grauenhaften Gerätschaften standen nicht etwa einfach nur da...
Leonie hatte nicht die Kraft, lange hinzusehen, aber über die Bedeutung der Schreie und des Wimmerns, das sie oben an der Treppe gehört hatten, gab es nun keinen Zweifel mehr.
Um dem schrecklichen Anblick zu entrinnen, hob sie den Blick und sah nach oben, aber auch das erwies sich als keine wirklich gute Idee: Von der gewölbten Decke hingen geschmiedete Eisenkäfige an schweren Ketten, in denen verkrümmte Gestalten in schwarzen Kapuzenmänteln hockten. Leonie lief ein neuerlicher, noch kälterer Schauer über den Rücken, als sie sah, dass die Käfige eiserne Stacheln hatten, die allerdings nach innen gerichtet waren. Die meisten ihrer Insassen regten sich nicht mehr oder waren gar schon zu Skeletten zerfallen.
Aber eben nur die meisten.
»Großer Gott«, stöhnte Leonie. »Wer tut so etwas?«
Theresa hob die Schultern. Auch sie war deutlich blasser geworden, schien mit dem furchtbaren Anblick aber dennoch besser fertig zu werden als Leonie. »Das ist dann wohl die Archivversion der Hölle«, murmelte sie. »Ich dachte, so etwas wäre vor tausend Jahren abgeschafft worden.« Sie schüttelte den Kopf. »Es ist kein Wunder, dass sie schon vor Angst erstarren, wenn irgendjemand den Archivar auch nur erwähnt.«
»Du meinst, das hier ist...?«, begann Leonie.
Theresa unterbrach sie mit einer Geste und deutete aus der gleichen Bewegung heraus zum anderen Ende der Halle.
Leonies Herz machte einen erschrockenen Sprung, als sie sah, worauf Theresa sie aufmerksam machen wollte. Auf der gegenüberliegenden Seite der riesigen Halle erhob sich etwas, das Leonie im ersten Moment für einen riesigen Turm aus erstarrter Lava gehalten hätte - bis sie erkannte, worum es sich wirklich handelte.
Es war ein Thron.
Ein monströser, schwarzer Thron, hoch wie ein Haus und von einer Form, deren bloßer Anblick Leonie schon fast körperliche Übelkeit bereitete. Aber das alles war nichts gegen das... Ding, das auf diesem Thron saß.
Leonie zweifelte nicht den Bruchteil einer Sekunde daran, dass sie hier demselben unheimlichen Wesen gegenüberstand, das sie schon unten im Zug gesehen hatte. Sie konnte es jetzt nicht etwa deutlicher erkennen als vorhin, denn es war eher noch weiter entfernt, aber was sie spürte, ließ nicht den mindesten Zweifel zu.
Die Kreatur auf dem Thron war der Archivar.
Und als wäre diese Erkenntnis allein noch nicht genug, hatte Leonie plötzlich ein noch viel beunruhigenderes Gefühl: Sie wusste, dass das Geschöpf auf dem Thron sie anstarrte. Aus dieser Distanz nicht mehr als ein vager Schatten in einem schwarzen Kapuzenmantel, einem der Scriptoren oder Schriftführer nicht einmal unähnlich, aber von etwas eingehüllt, das Leonie nur als eine Aura des Bösen beschreiben konnte, wie ein eisiger Hauch, der von der Gestalt ausging und etwas in ihrer Seele zum Erstarren brachte. Und dieses unheimliche Geschöpf starrte sie an. Es sah nicht etwa zufällig in ihre Richtung. Der Archivar wusste, dass sie hier war, und starrte sie voll abgrundtiefer Bosheit und Hass an. Er hatte es die ganze Zeit über gewusst.
»Er... er weiß, dass wir hier sind«, flüsterte sie stockend. »Ich kann es spüren.«
»Unsinn«, widersprach Theresa, hörbar nervös und auch nicht wirklich so, als wäre sie von ihren eigenen Worten überzeugt. Dennoch fuhr sie fort: »Wenn er das wüsste, dann wären wir jetzt längst in einem dieser gemütlichen All-inclusive-Apartments dort unten, meinst du nicht auch?« Sie deutete auf die Gitterkäfige unter ihnen, und es gab nicht viel, was Leonie dagegen sagen konnte. Allein der Umstand, dass sie immer noch frei und unbehelligt hier oben kauerten, schien zu beweisen, dass Theresa Recht hatte - und sie selbst das Opfer ihrer sich mittlerweile überschlagenden Fantasie geworden war.
»Dort!« Theresa deutete schräg nach unten, und Leonies Herz schlug schneller, als ihr Blick der Bewegung folgte.
Der Trupp war deutlich kleiner geworden. Die meisten Scriptoren und sämtliche Schusterjungen waren verschwunden, und es waren jetzt auch nur noch zwei Aufseher, die Hendrik brutal zwischen sich herzerrten, aber es war zweifellos die gleiche Gruppe, die sie vorhin verfolgt hatten. Leonie konnte nur mit Mühe ein erschrockenes Keuchen unterdrücken, als sie sah, wie einer der Aufseher Hendrik einen so brutalen Stoß versetzte, dass er ins Stolpern geriet und nach einem letzten ungeschickten Schritt auf die Knie fiel. Die beiden riesigen Kreaturen nahmen darauf jedoch keinerlei Rücksicht, sondern schleiften ihn einfach an ihren Ketten hinter sich her, bis sie einen leeren Käfig erreichten, in den sie ihn derb hineinstießen. Hendrik machte noch einen stolpernden Schritt und sank dann kraftlos in sich zusammen.
Leonie sog hörbar die Luft zwischen den Zähnen ein und machte Anstalten, sich zu erheben, aber Theresa legte ihr rasch die Hand auf den Unterarm und schüttelte fast entsetzt den Kopf. »Was hast du vor?«
»Was wohl?« Leonie machte sich mit einem Ruck los. »Wir müssen ihm helfen!«
Theresa starrte sie fassungslos an, und Leonie konnte regelrecht sehen, was in diesem Moment hinter ihrer Stirn vorging.
Sie rechnete fest damit, dass Theresa sie jetzt mit Argumenten nur so überschütten würde, um sie von ihrem Vorhaben abzubringen. Aber Theresa sah sie einfach nur wortlos an und fragte dann resigniert: »Und wie?«
»Ich habe keine Ahnung«, gestand Leonie. »Aber wir können ihn doch nicht einfach so zurücklassen.« Sie starrte wieder in die riesige Halle hinab und hob in einer Geste der Hilflosigkeit die Hände. »Zu irgendetwas muss diese verdammte Gabe doch schließlich gut sein!«
»Bestimmt nicht zu dem, was dir jetzt vorschwebt«, sagte Theresa ernst. »Du glaubst doch nicht, dass du die Kräfte des Archivs gegen das Wesen einsetzen kannst, das es wahrscheinlich erschaffen hat.« Sie deutete auf die unheimliche Gestalt auf dem gottlob weit entfernten Lavathron und schüttelte noch einmal den Kopf. »Das halte ich für keine gute Idee.«
»Hast du eine bessere?« Leonie wartete Theresas Antwort gar nicht ab, sondern blickte noch einmal zu der unheimlichen Gestalt auf dem monströsen Thron hin - es war verrückt, aber sie hatte erneut das Gefühl, von unsichtbaren Augen angestarrt und taxiert zu werden, obwohl der Archivar noch nicht einmal den Kopf in ihre Richtung gewandt hatte - und sah dann mit einer Mischung aus Verzweiflung und Trotz wieder nach unten. Zwischen den Käfigen und Folterinstrumenten bewegten sich zahlreiche Gestalten, die meisten in schwarzen Kapuzenmänteln, aber auch Aufseher sowie einige Geschöpfe, die Leonie noch nie zuvor zu Gesicht bekommen hatte. Die meisten waren mit Dingen beschäftigt, die Leonie nicht verstand - und auch nicht verstehen wollte -, aber etliche versorgten auch die Gefangenen, brachten ihnen Wasser und Essen oder zerrten sie aus ihren Käfigen, um sie zu den schrecklichen Instrumenten ihrer Peiniger zu bringen.
»Es hat schon einmal funktioniert«, murmelte Leonie.
»Was!«, fragte Theresa. Ihre Stimme klang ein bisschen schrill.
Leonie deutete mit einer Kopfbewegung auf das Gewirr durcheinander wuselnder kapuzentragender Gestalten unter ihnen. »Meinst du, man kann erkennen, wer unter diesen Mänteln steckt?«
»Das meinst du nicht ernst!«, keuchte Theresa. Diesmal klang ihre Stimme mehr als nur ein bisschen schrill.
»Todernst sogar«, erwiderte Leonie. Sie hatte endlich gefunden, wonach sie gesucht hatte, und setzte sich entschlossen in Bewegung. Nicht weit entfernt führte eine schmale Treppe hinunter in die Halle, und als sie näher kamen, sah Leonie, dass das Schicksal es ausnahmsweise einmal gut mit ihnen zu meinen schien: Die Treppe führte nicht nur in einem Winkel nach unten, der von der Halle aus nicht direkt einsehbar war, sondern endete auch hinter einer monströsen Konstruktion aus Metall und uraltem schwarzem Holz, die ihnen ausgezeichnete Deckung bot.
»Wunderbar«, flüsterte Theresa spöttisch. »Dann müssen wir ja nur noch warten, bis jemand vorbeikommt und uns die passenden Klamotten bringt.«
Leonie kam nicht dazu, zu antworten. Auf der anderen Seite ihres Verstecks wurden plötzlich Geschrei und wütende Stimmen laut und nur einen Moment später drangen die charakteristischen Geräusche eines Kampfes zu ihnen. Im nächsten Augenblick flog eine kreischende Gestalt in einem schwarzen Mantel über sie hinweg, knallte gegen die Wand und sackte reglos unmittelbar neben Leonie zu Boden, und noch bevor Theresa oder sie auch nur die Zeit fand, wirklich zu erschrecken, sauste ein zweiter Scriptor heran und fiel genau zwischen sie. Auf der anderen Seite ihres Versteckes erscholl ein grollendes Lachen und dann schlurfende, schwere Schritte, die sich rasch entfernten.
»Na, das nenne ich prompte Bedienung«, murmelte Theresa benommen.
Leonie sagte gar nichts, sondern starrte die beiden besinnungslosen Scriptoren nur vollkommen fassungslos an. Sie war wohl durchaus bereit, an Zufälle zu glauben, aber das...
Theresa sprach aus, was Leonie nicht einmal zu denken wagte. »Wie gut, dass wir uns keinen Hubschrauber gewünscht haben, um damit zu fliehen«, sagte sie spöttisch. »Das hätte peinlich werden können, wenn der uns auf den Kopf gefallen wäre.«
»Ich finde das nicht witzig«, maulte Leonie.
Theresa wurde schlagartig ernst. »Das sollte es auch gar nicht sein«, meinte sie. »Du glaubst doch nicht wirklich, dass das hier Zufall ist!«
Natürlich glaubte Leonie das nicht. Solche Zufälle gab es einfach nicht. Sämtliche Nullen des Universums hintereinander gereiht, hätten nicht ausgereicht, um die Wahrscheinlichkeit eines solchen Zufalls auszudrücken. Aber alles andere ergab auch keinen Sinn.
»Was soll es denn sonst sein?«, fragte sie mürrisch.
»Eine Falle?«, schlug Theresa vor.
»Blödsinn«, erwiderte Leonie, während sie bereits daranging, einen der Scriptoren aus seinem schwarzen Mantel zu schälen, und dabei an den Archivar dachte, dessen kalten Blick sie zu spüren geglaubt hatte. »Wozu sollte das gut sein?«, fuhr sie fort - weniger um Theresa, als vielmehr sich selbst zu beruhigen. »Wenn sie wirklich wüssten, dass wir hier sind, hätten sie uns doch schon längst überwältigt.«
Theresa verzichtete auf eine Antwort, aber es war auch gar nicht notwendig, dass sie etwas sagte. Natürlich war Leonie klar, dass sie Recht hatte - allerdings war an Leonies Logik ebenfalls nichts auszusetzen. Es konnte kein Zufall sein, aber dass der Archivar ihnen hier eine aufwändige Falle stellen sollte, machte erst recht keinen Sinn. Und wenn sie tausendmal das Gefühl gehabt hatte, von dem seltsamen Wesen schon beim Betreten der Höhle beobachtet worden zu sein - es waren wahrscheinlich nichts weiter als ihre überstrapazierten Nerven, die ihr in diesem Punkt einen Streich spielten.
Allerdings befanden sie sich in einer Welt, in der die Zeit anders lief, in der Türen und ganze Räume buchstäblich aus dem Nichts auftauchten und sich die Wirklichkeit manchmal willkürlich zu verändern schien. Vielleicht bedeuteten ja hier auch die Worte Zufall und Logik etwas völlig anderes als dort, wo Theresa und sie herkamen. Leonie zuckte mit den Achseln, schob den Gedanken endgültig von sich und bückte sich nach dem zweiten Scriptor, nachdem sie Theresa den Mantel des ersten gereicht hatte.
Ihre neue Freundin nahm das schwarze Kleidungsstück mit spitzen Fingern entgegen und betrachtete es angeekelt. »Du glaubst doch nicht etwa, dass ich dieses Ding anziehe!«, ächzte sie. »Es stinkt!«
»Pass auf mit dem, was du sagst«, meinte Leonie mürrisch. »Sonst kommt gleich noch eine riesige Parfümflasche angeflogen und fällt dir auf den Kopf!«
Tatsächlich sah Theresa eine halbe Sekunde lang erschrocken nach oben, aber dann grinste sie schief und fuhr fort, den schwarzen Mantel finster anzustarren.
Leonie schüttelte den zweiten Scriptor aus seinem Mantel, zog das Kleidungsstück über und wartete ungeduldig darauf, dass Theresa es ihr gleichtat. Das Ergebnis sah unbeschreiblich albern aus: Der Mantel reichte Theresa gerade bis knapp an die Knie, und auch die Kapuze war nicht groß genug, um ihr Gesicht vollkommen zu verbergen.
»Über das hämische Grinsen auf deinem Gesicht reden wir später«, versprach Theresa. »Nur zu deiner Information - du siehst auch nicht so aus, als wärst du unterwegs zu einer Modenschau.« Leonie grinste noch breiter, drehte sich dann aber mit einem Ruck um und trat mit klopfendem Herzen hinter ihrem Versteck hervor. Theresa sagte noch etwas, das Leonie vorzog nicht zu verstehen, und schloss sich ihr dann an.
Leonie hatte erwartet, dass es so ähnlich sein würde wie damals, als sie ihre Eltern aus dem Käfig über dem Leimtopf befreit hatte, aber es war hundertmal schlimmer. In dem unheimlichen Saal über dem Leimtopf hatte sie einfach nur darauf achten müssen, nicht aufzufallen und sich einigermaßen selbstsicher zu bewegen, und vor allem war der Scriptor dabei gewesen, der ihr den größten Teil der Mühe abgenommen hatte. Hier bewegten sie sich im wahrsten Sinne des Wortes durch den Vorhof der Hölle, und sie waren umgeben von Hunderten, wenn nicht Tausenden feindseligen Kreaturen, zwischen denen sie einfach auffallen mussten. Theresa und sie gingen mit gesenktem Blick und schnellen, trippelnden Schritten, genau wie die Scriptoren, denen sie begegneten, aber damit hörte die Ähnlichkeit auch schon beinahe auf - die Mäntel waren ihnen nicht nur viel zu klein, sie selbst überragten auch sämtliche Scriptoren um mindestens einen halben Meter. Dennoch nahm niemand Notiz von ihnen. Weder die anderen Scriptoren und Schusterjungen, die ihren Weg kreuzten, noch irgendeine der anderen zum Teil bizarren Kreaturen, denen sie begegneten, schenkten ihnen auch nur einen flüchtigen Blick.
Doch was Leonie am meisten zu schaffen machte, waren die Käfige. Vielleicht die Hälfte davon war besetzt, aber Leonie brachte kaum den Mut auf, in sie hineinzusehen. Ein paarmal zwang sie sich, einen der Gefangenen genauer zu betrachten - sie boten ausnahmslos einen gotterbärmlichen Anblick. Allein der Gestank, den sie ausströmten, drehte Leonie schier den Magen um.
Leonie rechnete jeden Moment damit, angesprochen oder gleich überwältigt zu werden, aber so unglaublich es ihr auch selbst vorkam - sie erreichten den Gang, in dem Hendriks Käfig untergebracht war, vollkommen unbehelligt. Vielleicht war das Schicksal ja zu der Erkenntnis gelangt, ihnen etwas schuldig zu sein.
Oder sie hatten einfach Glück.
Theresa ging ein wenig schneller, um an ihre Seite zu gelangen. »Und jetzt?«, murmelte sie, während sie sich dem würfelförmigen Eisenkäfig näherten, in dem Hendrik lag. »Hast du zufällig einen Schlüssel dabei?«
»Den brauchen wir nicht«, antwortete Leonie. Wenigstens hoffte sie es. Bisher hatten sich alle Türen hier unten für sie geöffnet, ganz einfach nur, weil sie es wollte. Natürlich hatte sie keine Garantie, dass das auch jetzt funktionieren würde. Aber sie konnten auch nicht mehr zurück.
Leonie blickte verstohlen nach rechts und links, atmete noch einmal tief ein und streckte die Hand nach der Tür aus. Das wuchtige Vorhängeschloss, mit dem sie gesichert war, sprang mit einem Klicken auf, das in Leonies Ohren wie ein Kanonenschuss dröhnte und, wie ihr vorkam, in der gesamten Halle zu hören sein musste. Die einzige sichtbare Reaktion kam jedoch von Theresa, die erstaunt die Augen aufriss. Leonie warf ihr einen raschen warnenden Blick zu, zog die Tür mit einem Ruck auf und trat hindurch.
Sie hatte es bis jetzt ganz bewusst vermieden, Hendrik genauer anzusehen, aber nun musste sie es. Er lag noch genauso da, wie er zusammengesackt war, nachdem ihn die Aufseher in den Käfig gestoßen hatten, und im ersten Augenblick befürchtete Leonie schon, dass er das Bewusstsein verloren haben könnte - was das endgültige Aus für ihren improvisierten Rettungsplan bedeutet hätte. Hendrik war viel zu schwer, als dass Theresa und sie ihn tragen konnten.
Mit einer verstohlenen Geste bedeutete sie Theresa, an der Tür zurückzubleiben, trat dicht an Hendrik heran und versetzte ihm einen Fußtritt in die Seite, von dem sie hoffte, dass er derb genug aussah, um einen zufälligen Beobachter zu täuschen. »He, du!«, krächzte sie mit schrill verstellter Stimme. »Aufwachen. Der Chef will dich sehen!«
In der ersten Sekunde reagierte Hendrik überhaupt nicht und Leonie sah ihre allerschlimmsten Befürchtungen schon bestätigt. Dann aber drehte er sich stöhnend auf die Seite und versuchte sich auf Hände und Knie hochzustemmen. Irgendetwas polterte, als er sich bewegte.
»Das habe ich auch schon schneller gesehen!«, keifte Leonie. »Nun beeil dich gefälligst! Der Boss wartet nicht gern!«
Hendrik hob mühsam den Kopf. Im ersten Moment blieb sein Blick verschleiert, und Leonie war ziemlich sicher, dass er sie nicht erkannte. Plötzlich weiteten sich seine Augen ungläubig. »Aber wo...?«
»Still!«, zischte Leonie erschrocken. Lauter und mit (wie sie hoffte) perfekt nachgeahmter misstönender Scriptorenstimme fügte sie hinzu: »Wird’s bald? Wir haben nicht alle Zeit der Welt!«
»Genau das wollte ich auch gerade sagen«, bemerkte Theresa von der Tür her. »Beeilt euch, um Gottes willen!« Sie sah ängstlich über die Schulter in die Halle zurück und machte gleichzeitig einen halben Schritt in den Käfig hinein.
Leonie blickte sie ärgerlich an und gab ihr mit einem Wink zu verstehen, dass sie draußen bleiben sollte, bevor sie sich wieder Hendrik zuwandte. »Theresa hat Recht«, flüsterte sie. »Wir müssen uns beeilen.«
Hendrik starrte sie einfach nur weiter fassungslos an. »Aber wieso...?«
»Jetzt nicht«, unterbrach ihn Leonie, in mittlerweile schon fast verzweifeltem Ton. »Wir sind hier, um dich rauszuholen. So steh auf! Du bist jetzt unser Gefangener! Schnell!«
»Oh, lasst euch ruhig Zeit«, stichelte Theresa. »Im Notfall sind ja noch genug freie Käfige da. Vielleicht kriegen wir ja zwei nebeneinander liegende.«
Sie sah abermals nervös über die Schulter zurück und auch Leonies Blick wanderte fast gegen ihren eigenen Willen in dieselbe Richtung. Alles schien so zu sein wie zuvor. Etliche Scriptoren bewegten sich mit kleinen, trippelnden Schritten hin und her, nicht allzu weit entfernt war ein ganz besonders muskulöser Aufseher damit beschäftigt, einen riesigen Sack davonzuschleppen, in dem es heftig zappelte und strampelte, und noch immer hallte der Saal von Schreien und Wehklagen wider. So unheimlich der Anblick auch war, alles schien so zu sein wie zuvor. Alles außer...
Leonie sog erschrocken die Luft zwischen den Zähnen ein und auch Theresa fuhr zusammen. »Was hast du?«, fragte sie alarmiert.
Statt direkt zu antworten, machte Leonie eine Kopfbewegung zum anderen Ende der Halle. »Der Thron«, murmelte sie. Theresa sah sie stirnrunzelnd an, drehte sich halb um und wurde totenblass. Auch von hier aus war das monströse Gebilde aus Lava und geronnener Schwärze deutlich zu erkennen.
Ebenso deutlich, wie sie erkennen konnten, dass es leer war...
»Nichts wie weg hier!«, keuchte Theresa.
»Sie hat Recht!« Leonie fuhr auf dem Absatz zu Hendrik herum. »Hier stimmt etwas nicht! Schnell!«
Hendrik bot noch immer einen erbarmenswerten Anblick, aber er musste den Ernst der Lage wohl trotzdem erfasst haben, denn er stemmte sich mit einer hastigen Bewegung in die Höhe. Sein Fuß rutschte dabei auf dem fauligen Stroh weg, das den Boden des Käfigs bedeckte, und Leonie sah, dass sich darunter eine Klappe aus morschem Holz und rostigem schwarzem Eisen befand.
»Ihr seid völlig verrückt, hierher zu kommen«, murmelte er.
»Ja, ich freue mich auch dich zu sehen.« Leonie machte eine unwillige Handbewegung und Theresa sagte von der Tür her: »Könnt ihr euch vielleicht später streiten? Jetzt ist nicht unbedingt der richtige Moment dafür, finde ich.«
Hendrik nickte matt. Mit sichtlicher Mühe richtete er sich weiter auf und setzte dazu an, etwas zu sagen - aber dann weiteten sich seine Augen erschrocken, während sich sein Blick auf einen Punkt irgendwo hinter Leonie richtete. Leonie fuhr alarmiert herum und konnte einen erschrockenen Aufschrei jetzt nicht mehr ganz unterdrücken.
Theresa hatte einen weiteren halben Schritt gemacht und wedelte ungeduldig mit beiden Händen - und hinter ihr stürmte eine kindsgroße Gestalt in einem wehenden schwarzen Mantel heran. Als Leonie aufschrie, drehte auch sie sich mit einer hastigen Bewegung um.
Aber es war zu spät. Der Scriptor überwand die restliche Entfernung mit zwei, drei gewaltigen Sätzen, machte eine Art albernen Hechtsprung und rammte Theresa die flachen Hände in die Seite.
Sein Schwung reichte nicht aus, um Theresa zu Boden zu werfen, doch sie taumelte einen Schritt zurück und kämpfte eine Sekunde lang mit wild rudernden Armen um ihr Gleichgewicht. Der Scriptor selbst fiel mit einem hellen Quieken auf die Nase, rappelte sich aber sofort wieder hoch und griff mit einer dürren Klauenhand nach Theresas Arm.
Wenigstens versuchte er es.
Hendrik war mit einem einzigen Schritt neben ihm, riss ihn in die Höhe und warf ihn in hohem Bogen aus der Zelle. Der Scriptor kreischte, prallte gleich gegen drei oder vier seiner Brüder, die herangestürmt waren, und fegte sie mit sich von den Füßen.
»Raus hier!«, schrie Hendrik. Er wirkte plötzlich gar nicht mehr müde oder schwach, sondern hechtete mit einer einzigen fließenden Bewegung unter der niedrigen Tür hindurch nach draußen, stieß mit der linken Hand einen Scriptor zur Seite, der sich an ihn klammern wollte, und zerrte mit der anderen auch gleich noch Theresa hinter sich her aus dem Käfig.
Nur Leonie rührte sich nicht. Was Hendrik vorhatte, war vollkommen sinnlos. Im Augenblick war es nur eine Hand voll Scriptoren und Schusterjungen, die ebenso tapfer wie vergebens versuchte ihn und Theresa aufzuhalten, doch in kaum zwanzig Meter Entfernung stürmte ein riesiger Aufseher heran und auch aus der entgegengesetzten Richtung hörte Leonie aufgeregte Rufe und schwere, stampfende Schritte. Und selbst wenn Hendrik mit dem Aufseher fertig werden würde - was Leonie bezweifelte -, wäre eine Flucht vollkommen sinnlos. Sie würden es nicht einmal schaffen, die Halle zu verlassen, geschweige denn das Archiv.
»Kommt zurück!«, keuchte sie. »Schnell!«
Hendrik machte noch einen Schritt, drehte sich dann zu ihr um und verschenkte eine weitere kostbare Sekunde damit, sie verständnislos anzublicken. Als er endlich begriff, was Leonie meinte, war es zu spät. Der Aufseher war heran.
Hendrik bemerkte die Gefahr im buchstäblich allerletzten Moment, aber er reagierte mit einer Kaltblütigkeit, die Leonie ihm in seinem Zustand niemals zugetraut hätte. Mit einer blitzschnellen Bewegung stieß er Theresa aus dem Weg, drehte sich zu dem Aufseher um und ging dabei in die Knie. Statt zur Seite oder zurückzuweichen, machte er ganz im Gegenteil einen raschen Schritt auf den heranstürmenden Koloss zu. Der Aufseher grunzte überrascht, als Hendrik ihm die Schulter in den Leib rammte und sich gleichzeitig noch tiefer bückte. Der Aufprall riss Hendrik von den Beinen, aber auch der Aufseher verlor plötzlich den Boden unter den Füßen, segelte keuchend über Hendrik hinweg und schlug einen kompletten Salto in der Luft, ehe er mit solcher Wucht gegen einen der Käfige prallte, dass sich die daumendicken Eisenstäbe verbogen.
Leonie begriff im gleichen Moment, wie wenig ihnen dieser kurze Sieg nutzte. Hendrik arbeitete sich mit umständlichen, benommen wirkenden Bewegungen hoch, aber kaum einen Meter neben ihm ging Theresa in diesem Moment unter dem Ansturm von mindestens einem halben Dutzend Scriptoren zu Boden, und von überall her stürmten weitere Angreifer heran - Dutzende, wenn nicht Hunderte von Schusterjungen, Scriptoren und weiteren Aufsehern. Es war, als wäre der Boden zu schwarzem, brodelndem Leben erwacht.
Leonie riss sich von dem entsetzlichen Anblick los und war mit einem einzigen Satz bei der Klappe, die unter Hendriks Lager zum Vorschein gekommen war. Hastig fegte sie das nasse, faulige Stroh zur Seite und schloss beide Hände um den rostigen Griff, der an der Klappe befestigt war. Sie zerrte mit aller Kraft, aber die Klappe rührte sich um keinen Millimeter. Sie verdoppelte ihre Anstrengungen und riss mit verzweifelter Kraft weiter, aber das einzige Ergebnis war ein leises Knarren - und ein reißender Schmerz, der sich von ihren Schultern bis in den Rücken hinabzog. Leonie wimmerte vor Schmerz und Enttäuschung, ließ den Griff los und fuhr zur Tür herum.
»Hendrik!«, schrie sie. »Hilf mir!«
Sie war nicht sicher, ob Hendrik sie überhaupt noch hörte. Ganz offensichtlich hatte er versucht Theresa aufzuhelfen, aber mittlerweile drohte er selbst unter der schieren Masse der Angreifer zu Boden zu gehen. Leonie starrte die geschlossene Klappe noch einen Moment an, aber es war aussichtslos. Dieses verfluchte Ding war einfach zu schwer für sie. Mit einer zornigen Bewegung kickte sie einen Schusterjungen aus dem Weg, der frech genug war, zu ihr hereinzukommen, rannte zu Theresa und Hendrik und warf sich entschlossen ins Getümmel.
Vermutlich war es nur das Überraschungsmoment, das ihrem selbstmörderischen Angriff Erfolg zuteil werden ließ. Leonie fegte drei, vier Scriptoren und eine mindestens doppelt so große Anzahl Schusterjungen zur Seite, ehe die geifernden Knirpse auch nur begriffen, dass sie da war, und den Rest erledigte Hendrik. Er sprang auf, verschaffte sich mit einem wütenden Rundumschlag Luft und zerrte Theresa mit einer groben Bewegung auf die Füße. Gemeinsam fuhren sie herum und stürmten auf die offen stehende Käfigtür zu.
Um ein Haar hätten sie es nicht geschafft. Hendrik und Theresa stürmten nebeneinander durch die Tür, doch als Leonie ihnen folgen wollte, klammerte sich ein Scriptor mit beiden Armen an ihr rechtes Bein und brachte sie aus dem Gleichgewicht. Leonie machte noch einen ungeschickten Stolperschritt und fiel der Länge nach hin. Theresa griff nach ihren ausgestreckten Armen und schleifte sie zu sich herein, während Hendrik den Scriptor von ihrem Bein pflückte und ihn kurzerhand in ein lebendes Wurfgeschoss umwandelte, das er der geifernden Bande draußen entgegenschleuderte. Leonie rappelte sich hastig auf, fuhr herum und warf die Tür zu. Ein helles Klicken erscholl, als das wuchtige Vorhängeschloss einrastete.
Keine Sekunde zu früh. Mindestens ein Dutzend Scriptoren begann an den Gitterstäben und der Tür zu zerren, und dann stieß auch schon ein weiterer Aufseher zu ihnen, dessen Pranken sich um die Gitterstäbe schlossen. Das Eisen begann hörbar zu ächzen, als die riesige Kreatur ihre gewaltigen Muskeln anspannte, um die Gitterstäbe auseinander zu biegen. Nicht einmal ihre titanischen Körperkräfte reichten dazu aus, aber es konnte nur noch Augenblicke dauern, bis weitere Aufseher heran waren.
Oder jemand, der den Schlüssel besaß...
»Die Klappe«, rief Leonie hastig und wandte sich zu Hendrik um. »Ich brauche Hilfe!«
Hendrik schüttelte niedergeschlagen den Kopf. »Sie ist verriegelt. Ich habe es oft genug versucht.«
»Nicht für mich«, antwortete Leonie bestimmt. Sie trat mit einem schnellen Schritt an die Klappe heran, schloss eine Hand um den Griff und forderte Hendrik mit einer entsprechenden Kopfbewegung auf, dasselbe zu tun. Hendrik sah sie zwar verwirrt an, zuckte aber dann nur mit den Schultern und gehorchte. Leonie konnte sehen, wie sich seine Muskeln spannten, als er mit aller Gewalt an dem rostigen Griff zog.
Im ersten Moment sah es so aus, als ob nicht einmal Hendriks gewaltigen Kräfte ausreichten, um den zentnerschweren Deckel zu heben. Dann aber hörte Leonie ein gotterbärmliches Quietschen, als sich die eingerosteten Scharniere widerwillig zu bewegen begannen.
»Um Gottes willen, beeilt euch!«, keuchte Theresa. »Da kommen noch mehr von diesen Riesenkerlen!«
Leonie vergeudete keine Zeit damit, in ihre Richtung zu sehen, sondern mobilisierte jedes bisschen Kraft, das sie in sich fand, um weiter an der Klappe zu ziehen. Auch Hendriks Gesicht verzerrte sich vor Anstrengung, während sich die schwere Klappe Zentimeter für Zentimeter weiter öffnete, beständig, aber quälend langsam. Die verrosteten Scharniere quietschten, als wollten sie jeden Moment zerbrechen.
Endlich aber hatten sie es geschafft, und die Klappe stand weit genug offen, dass sich auch Hendrik durch den Spalt quetschen konnte. Darunter kam ein rechteckiger gemauerter Schacht zum Vorschein, in dessen Wand eiserne Trittsprossen eingelassen waren, die in einer unbekannten Tiefe verschwanden.
Leonie gab Hendrik mit einem ungeduldigen Wink zu verstehen, dass er als Erster nach unten steigen sollte, aber ihr Bodyguard schüttelte den Kopf. »Du zuerst.«
»Nichts da«, antwortete Leonie. »Ich gehe als Letzte. Ich kann nämlich das Schloss wieder verriegeln. Du auch?«
Abermals sah Hendrik sie einen Atemzug lang zweifelnd an, doch dann ließ er sich ächzend auf die Knie sinken, tastete mit dem Fuß nach der obersten Sprosse und schob sich rückwärts in den Schacht. Leonie beherrschte sich und sagte kein Wort, aber es kam ihr vor, als bewege sich Hendrik in Zeitlupe. Es schien Ewigkeiten zu dauern, bis er endlich weit genug hinabgeklettert war, dass ihm Theresa folgen konnte.
»Theresa!« Leonie wedelte aufgeregt mit den Händen. »Schnell jetzt!«
Theresa drehte sich auf dem Absatz um, machte einen Schritt - und erstarrte. Leonie konnte sehen, wie alle Farbe aus ihrem Gesicht wich. Hastig sah sie wieder nach unten - und sog selbst erschrocken die Luft zwischen den Zähnen ein.
Die Klappe war verschwunden. Unter dem nassen Stroh befand sich jetzt nur noch schwarzer, massiver Stein. Leonie starrte das unglaubliche Bild sekundenlang vollkommen fassungslos an, drehte sich dann wieder zu Theresa um und gestand sich mit einer sonderbaren Mischung aus Entsetzen und Resignation ein, dass sie sich geirrt hatte: Noch vor einer halben Sekunde hatte sie geglaubt, dass es nicht mehr schlimmer werden konnte, aber das stimmte nicht.
Auf der anderen Seite der daumendicken Gitterstäbe drängelten sich Dutzende schwarzer, hässlicher Gesichter, die voller Wut und Häme zu ihnen hereinstarrten, aber gerade als sich Leonie umdrehte, teilte sich die lebende Mauer, um eine Gasse für eine einzelne, ebenfalls vollkommen in Schwarz gekleidete Gestalt zu bilden, die gemessenen Schrittes auf den Käfig zukam. Sie trug einen schwarzen Kapuzenmantel, genau wie die Scriptoren und ihre kleineren Brüder, die Schusterjungen, und auch als sie näher kam, konnte Leonie das Gesicht unter der weit nach vorne gezogenen schwarzen Kapuze nicht erkennen.
Aber das musste sie auch nicht um zu wissen, dass sie dem Archivar gegenüberstanden.