Dicht hinter dem Scriptor verließ Leonie den Gang. Sie hatte noch einmal Halt gemacht, um den zweiten Scriptor aus seiner Kutte zu schütteln, die sie nun zusammengerollt unter ihrem eigenen Gewand an die Brust presste. Ihr unfreiwilliger Verbündeter hatte sie nur verständnislos angestarrt, sich aber jedes Kommentars enthalten, und nun bewegten sie sich hintereinander über das rostige Gittergeflecht, das sich über den brodelnden Leimtopf spannte. Leonie ging mit gesenktem Kopf, schon damit man ihr Gesicht nicht sah, und der durchdringende süßliche Gestank, der von unten zu ihr heraufwehte, machte es ihr fast unmöglich, zu atmen. Den Rest besorgte die Hitze. Das Zeug sah nicht nur aus, als stünde es kurz vor dem Siedepunkt, es war auch genauso heiß. Schon nach wenigen Schritten begann die Wärme an ihren Kräften zu zehren, und ihr Atem ging schwerer. Gleichzeitig versuchte sie, ihre Umgebung aus den Augenwinkeln verstohlen zu mustern. Niemand schien von dem Scriptor und ihr Notiz zu nehmen, und solange sie sich einigermaßen unauffällig benahmen, würde das auch so bleiben; schon einfach deswegen, weil keiner damit rechnete, dass irgendjemand so verrückt war, freiwillig hierher zu kommen. Dennoch hatte sie das schreckliche Gefühl, von buchstäblich allen hier angestarrt zu werden.
Und sie hatte nicht die geringste Ahnung, was sie tun sollte, wenn sie ihre Eltern erst einmal erreicht hatte - geschweige denn, befreit hatte. Nun, sie würde einfach auf ihr Glück vertrauen und improvisieren müssen.
Endlich näherten sie sich dem großen Eisenkäfig in der Mitte der Halle. Leonies Herz zog sich zu einem eisigen Klumpen zusammen, als sie ihre Eltern sah und jetzt erst richtig erkannte, in was für einem bejammernswerten Zustand sie sich befanden. Beide waren in Lumpen gehüllt, die keinerlei Ähnlichkeit mehr mit den Kleidern hatten, in denen sie aufgebrochen waren. Vor allem ihre Mutter war fast zum Skelett abgemagert und schien um Jahre gealtert, aber auch ihr Vater bot keinen wirklich besseren Anblick; und sie waren beide nicht nur dünn wie Magersüchtige, sie waren offensichtlich auch geschlagen worden. Darüber hinaus waren ihre Hand- und Fußgelenke mit blutigen Schürfwunden bedeckt. Leonie musste an die Zellen denken, die sie gesehen hatte, und die schweren Eisenketten an den Wänden, und kalte Wut kochte in ihr hoch.
Der Käfig wurde von einem mit Peitsche und Keule bewaffneten Aufseher bewacht, der sie mit misstrauischem Blick maß, als sie näher kamen, und dazu von einem Scriptor, der ihnen nicht weniger argwöhnisch entgegensah. Völlig unbeeindruckt davon näherte sich der Scriptor dem Aufseher und wechselte ein paar Worte mit ihm, woraufhin sich die riesige Kreatur trollte.
Während der Scriptor zu seinem Kollegen ging und lauthals mit ihm zu debattieren begann, trat Leonie dicht an den Käfig heran und versuchte ihre Eltern auf sich aufmerksam zu machen. Ihr Vater starrte aus trüben, sonderbar blicklosen Augen ins Leere und auch ihre Mutter hob nur müde den Kopf und wollte ihn gleich wieder auf die Knie sinken lassen, dann aber weiteten sich ihre Augen ungläubig und Leonie gab ihr mit einem hastigen Wink zu verstehen, dass sie kein verräterisches Geräusch machen sollte.
Fast gleichzeitig machte sie eine angedeutete Kopfbewegung zu ihrem Vater hin und dann zu den beiden Scriptoren, die mittlerweile in ein heftiges Streitgespräch verwickelt zu sein schienen. Ihre Mutter antwortete mit einem fast unmerklichen Nicken, aber Leonie war ganz und gar nicht sicher, dass sie auch tatsächlich verstanden hatte, was sie ihr sagen wollte. Sie war ja nicht einmal ganz sicher, was sie eigentlich wollte.
Langsam wandte sie sich um und trat hinter den Scriptor, mit dem ihr hakennasiger Begleiter immer heftiger stritt. »In meinem Buch steht davon nichts!«, beharrte er gerade. »Die Gefangenen bleiben hier. Punktum.«
»Dann ist Euer Buch eben nicht korrekt geführt«, antwortete Leonies Scriptor. »Ich habe jedenfalls Order, die Gefangenen nach oben zu bringen, wo sie von einem Redigator verhört werden sollen.«
»Mein Buch ist immer korrekt geführt worden!«, kreischte der Scriptor. »Vielleicht seid Ihr ja zu dumm zum Lesen, oder es ist Euer Buch, das nicht stimmt!«
Leonie signalisierte ihrem Begleiter mit Blicken, sich ein wenig zu beeilen, und dieser wandte sich in süffisantem Ton an seinen Kameraden: »Wenn Ihr das meint, dann seht doch selbst nach. Hier, nur zu!« Er klappte das mitgebrachte Buch in der Mitte auf und hielt es seinem Kameraden hin, allerdings so, dass dieser sich vorbeugen musste, um die winzige Schrift entziffern zu können.
»Da steht nichts«, meinte er, nachdem er eine Weile konzentriert auf die mit winzigen Buchstaben übersäten Seiten gestarrt hatte.
»Aber sicher«, erwiderte Leonies Scriptor. »Seht nur genauer hin.«
Der Scriptor beugte sich weiter vor, und als er die Seiten fast mit der Nasenspitze berührte, klappte Leonies Begleiter das Buch mit einem Knall zu. Der zweite Scriptor hüpfte so weit in die Höhe, wie es sein zwischen den Buchdeckeln eingeklemmtes Gesicht zuließ, ächzte und wäre zusammengebrochen, hätte Leonie ihn nicht blitzschnell aufgefangen.
Ebenso blitzschnell sah sie sich um. So unglaublich es ihr auch selbst vorkam, absolut niemand schien von dem Zwischenfall Notiz genommen zu haben. Rings um sie herum ging das normale Treiben mit hektischer Monotonie weiter.
Sie sah zu ihren Eltern hin. Beide hatten sich mittlerweile in eine halb kniende Position hochgestemmt - mehr ließ der beengte Raum im Gitterkäfig nicht zu - und starrten sie fassungslos an. Leonie bedeutete ihnen mit einem raschen Wink, um Gottes willen still zu bleiben, und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Scriptor zu.
»Gut gemacht«, flüsterte sie. »Pass auf, dass uns niemand beobachtet!«
»Ach, und wie soll ich das machen?«, fragte der Scriptor giftig.
Leonie verzichtete auf eine Antwort. Stattdessen konzentrierte sie sich darauf, den bewusstlosen Scriptor so vor sich zu halten, dass sein Zustand einem zufälligen Beobachter wenigstens nicht auf den allerersten Blick auffiel, und drehte sich wieder zum Käfig um. Anders als die meisten Türen, die sie bisher hier unten angetroffen hatte, besaß dessen Tür ein Schloss. Sie durchwühlte hastig die Taschen des bewusstlosen Scriptors und wurde mit einem riesigen, halb verrosteten Schlüssel belohnt, dessen Bart fast so groß wie ihre Hand war.
Als sie ihn ins Schloss schob, überwand ihre Mutter endlich ihre Überraschung. »Leonie!«, flüsterte sie. »Wo kommst du denn...?«
»Nicht jetzt«, fiel ihr Leonie ins Wort. »Später. Jetzt müssen wir zuerst einmal hier raus.« Sie drehte den Schlüssel weiter, bis das Schloss mit einem Klacken aufsprang, das in Leonies Ohren wie ein Kanonenschuss klang, der noch bis in den Schreibsaal oben zu hören sein musste. Mit einem ebenso fragenden wie besorgten Blick wandte sie sich an ihren Vater. »Könnt ihr laufen?«
»Ich schon«, antwortete er und fügte dann leiser und mit einem angedeuteten Kopfschütteln hinzu: »Aber deine Mutter nicht, fürchte ich.«
»Ich kann laufen«, protestierte ihre Mutter, doch Leonie bezweifelte das. So wie ihre Mutter aussah, wunderte sie sich beinahe, dass sie überhaupt die Kraft hatte, zu sprechen. Schlimmstenfalls würden sie sie wohl tragen müssen. Leonie glaubte nicht, dass ihre Mutter noch viel mehr wog als einer der Scriptoren.
Rasch zog sie den Schlüssel ab, steckte ihn ein und holte die zusammengerollte Kutte unter ihrem Umhang hervor. »Zieh das an«, sagte sie, während sie ihrer Mutter die Kutte durch die Gitterstäbe entgegenstreckte. »Aber unauffällig.«
Ihre Mutter sah das fremdartige Kleidungsstück nur verständnislos an, aber ihr Vater schien zu begreifen, was seine Tochter plante, denn er nahm ihr die Kutte rasch aus der Hand und half seiner Frau, das eigentlich viel zu enge Kleidungsstück überzustreifen.
Währenddessen schälte Leonie auch den bewusstlosen Gnomen aus seiner Kutte. Nachdem sie es geschafft hatte, reichte sie das Gewand an ihren Vater weiter und wartete ungeduldig, dass er es ebenfalls überstreifte.
Das Ergebnis war nicht unbedingt so, wie Leonie es sich vorgestellt hatte. Ihr Vater war kaum ein Riese, aber er war auch alles andere als klein, und obwohl er so stark abgemagert war, änderte das nichts daran, dass ihm die schwarze Kutte nicht einmal ganz bis zu den Knien reichte.
Oder um es anders auszudrücken: Er sah einfach lächerlich aus.
Aber egal, dachte Leonie, sie waren nicht in der Position, wählerisch zu sein, sondern mussten eben nehmen, was sie hatten. Mit einer entschlossenen Bewegung öffnete sie die Käfigtür, schob den bewusstlosen Scriptor hindurch und gab ihren Eltern zugleich mit einer Kopfbewegung zu verstehen, dass sie herauskommen sollten.
Die Einschätzung ihres Vaters schien nur zu richtig gewesen zu sein. Leonies Mutter ging in die Knie, kaum dass ihre Füße den Boden berührt hatten, und sie wäre gestürzt, hätten Leonie und ihr Vater sie nicht rasch unter den Armen ergriffen, um sie zu stützen. Leonies Mut sank.
Dass sie bis hierhin gekommen war, erschien ihr schon wie ein mittelgroßes Wunder; und dabei lag der weitaus schwierigere Teil ihrer Flucht noch vor ihnen.
»Wie kommst du hierher?«, flüsterte ihr Vater ungläubig. »Und wer...«, er machte eine Kopfbewegung in Richtung des Scriptors, »ist das?«
»Jetzt nicht.« Leonie deutete unauffällig zur Tür, durch die sie und der Scriptor hereingekommen waren, und erschrak, als sie sah, wie klein sie von hier aus wirkte. Großer Gott, wie weit waren sie gelaufen? Einen Kilometer? Wahrscheinlich eher zehn!
»Wir müssen dorthin. Danach erkläre ich euch alles. Also los, aber geht langsam. Ihr seid unsere Gefangenen.«
Sie gingen los. Leonie empfand es als ein zweites, noch weitaus größeres Wunder, dass bisher tatsächlich niemand etwas von ihrer erfolgreichen Befreiungsaktion bemerkt hatte. Aber ihr Herz begann dennoch so heftig zu klopfen, dass es fast wehtat. Es erschien ihr einfach unmöglich, dass sie es schaffen sollten.
Und natürlich schafften sie es auch nicht.
Sie hatten - allen Befürchtungen zum Trotz - fast die Hälfte der Strecke zurückgelegt, als Leonie die Blicke eines Aufsehers auf sich ruhen spürte. Sie lugte verstohlen unter dem Rand ihrer Kapuze hervor, und für einen kurzen Moment schaffte sie es sogar, sich selbst einzureden, dass sie wieder einmal ihrer eigenen Angst aufsaß; aber wirklich nur für einen ganz kurzen Moment. Es hatte keinen Zweck, die Augen vor der Wahrheit zu verschließen. Sie konnte das Misstrauen des Aufsehers beinahe riechen.
»Los, geht schneller!« Leonie versetzte ihrem Vater einen eher sanften Stoß zwischen die Schulterblätter und hoffte, dass sie ihn damit nicht von den Beinen fegte. Er geriet auch prompt ins Stolpern, fing sich aber wieder und eilte mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern weiter. Der Aufseher musterte sie noch einen Moment lang argwöhnisch, wandte sich dann wieder um und Leonie atmete unter ihrer Kapuze hörbar auf.
»He! Ihr da!«, rief eine Stimme hinter ihnen. »Wo wollt ihr hin?«
Leonie hatte das Gefühl, von einer eisigen Hand im Nacken berührt zu werden. Sie ging einfach noch zwei Schritte weiter, dann aber blieb sie stehen und drehte sich auf zitternden Knien um. Ihr Atem stockte.
Die Käfigtür stand wieder offen und der Scriptor war gerade dabei, sich benommen in die Höhe zu arbeiten, doch Leonie schenkte ihm nicht einmal einen flüchtigen Blick. Sie starrte mit klopfendem Herzen die viel größere, in eine schwarze Kutte gehüllte Gestalt an, die hoch aufgerichtet neben dem Käfig stand. Sie trug die gleiche Art von Gewand wie die Schusterjungen und die Scriptoren, aber sie war mindestens so groß wie Leonies Vater und etwas spürbar Bedrohliches ging von ihr aus.
»O nein«, murmelte sie. »Ist das...?«
»Ein Redigator«, wimmerte der Scriptor. »Wir sind verloren!«
»Was ihr da treibt, habe ich gefragt!«, rief der Redigator. »Wer hat euch befohlen, dass...« Er ächzte. »Verrat!«, rief er. »Die Gefangenen fliehen! Ergreift sie!«
Die letzten beiden Worte hatte er geschrien und die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Der Aufseher, der Leonie gerade schon beobachtet hatte, fuhr herum und setzte seine gewaltige Körpermasse mit unerwarteter Schnelligkeit in Bewegung - und plötzlich kamen von allen Seiten Aufseher, Arbeiter und Scriptoren und ein paar andere Geschöpfe auf sie zu, die Leonie bis jetzt noch gar nicht bemerkt hatte und auch gar nicht kennen lernen wollte.
»Lauft!«, schrie sie. Als ob das noch nötig gewesen wäre. Selbst ihre Mutter schien Erschöpfung und Schwäche vergessen zu haben und rannte, was das Zeug hielt, aber sie waren einfach nicht schnell genug. Hinter ihnen hob ein Chor kreischender und schnatternder Stimmen an und der Gitterboden bebte unter dem Stampfen zahlloser Füße. Ein Aufseher stürzte schräg von vorne auf sie zu und aus den anderen Richtungen näherten sich gleich drei Scriptoren.
Ihr Vater schrie auf, rannte dann dem Aufseher entgegen und rammte ihm in vollem Lauf den Kopf in den Leib. Der Aufseher ächzte und krümmte sich, blieb aber auf den Beinen, doch Leonies Vater wurde nach hinten und zu Boden geschleudert. Seine Kapuze verrutschte, und was sein wütender Ansturm nicht einmal annähernd bewirkt hatte, das schaffte offensichtlich der bloße Anblick seines Gesichtes. Der Aufseher quietschte vor Entsetzen, machte auf der Stelle kehrt und rannte mit hoch in die Luft geworfenen Armen davon. Die drei Scriptoren wirbelten auf dem Absatz herum und suchten ebenfalls ihr Heil in der Flucht.
Dennoch war es nur eine winzige Atempause. Noch während Leonie zu ihrem Vater lief und ihm auf die Füße half, warf sie einen hastigen Blick über die Schulter zurück und sah, dass ihnen mindestens ein Dutzend Aufseher folgte, und dazu noch eine ungleich größere Anzahl an Arbeitern, Scriptoren und anderen Geschöpfen. Einzig der Redigator war stehen geblieben und starrte hasserfüllt in ihre Richtung.
»Wir sind verloren«, wimmerte der Scriptor. »Wir können uns genauso gut auch gleich selbst in den Leimtopf stürzen!«
Leonie hatte mittlerweile ihre Mutter am Arm ergriffen und zerrte sie einfach hinter sich her, so schnell sie konnte. Aber das Schlimme war, dass der Scriptor Recht hatte: Sie waren einfach nicht schnell genug und die Überzahl war zu gewaltig. Sie würden sie einholen, lange bevor sie den rettenden Tunnel erreichten. Die Masse der Verfolger war schon fast in der Mitte des Gitterbodens angekommen.
Und in Leonie nahm ein verzweifelter Plan Gestalt an.
»Geh auf!«, schrie sie. Ihr Vater wandte im Laufen den Kopf und starrte sie aus aufgerissenen Augen an, aber im gleichen Moment erscholl ein dumpfes Knirschen. Der Boden unter ihren Füßen begann zu zittern und in das Heulen und Johlen ihrer Verfolger mischten sich jetzt vereinzelte ungläubige oder auch erschrockene Rufe, und als Leonie das nächste Mal über die Schulter zurücksah, bot sich ihr ein Bild, das ebenso unglaublich wie erschreckend war.
Der Boden hatte erneut begonnen sich ineinander zu schieben. Von der Decke senkte sich kein Bottich, um Nachschub für den Leimtopf zu liefern, aber der Gitterboden hatte wieder damit begonnen, sich zu öffnen. Der entstandene Spalt war bereits gut mannsbreit und er wurde mit jeder Sekunde größer.
Keiner ihrer Verfolger hatte auch nur die Spur einer Chance. Zwei, drei Aufseher versuchten, mit verzweifelten Sprüngen über die rasch breiter werdende Lücke im Boden hinwegzusetzen, aber sie sprangen ausnahmslos zu kurz und versanken in der aufspritzenden grünen Brühe, und den Scriptoren und Arbeitern erging es nicht anders. Der Vormarsch ihrer Verfolger geriet ins Stocken, aber die Menge hatte inzwischen eine tödliche Eigendynamik entwickelt, die einem Großteil von ihnen zum Verhängnis wurde. Wer stehen blieb, wurde von den Nachdrängenden einfach weitergeschoben, bis er über den Rand stürzte und in der brodelnden grünen Masse verschwand. Leonie hätte froh sein müssen, dass die Verfolgung auf diese Weise endete, aber das genaue Gegenteil war der Fall: Der Anblick erfüllte sie mit einem solchen Entsetzen, dass es für einen Moment ihre Mutter war, die sie weiterzog, statt umgekehrt.
Und dennoch, das Wunder geschah: Nach ein paar Augenblicken hörte der Boden auf, sich knirschend ineinander zu schieben. Der Spalt wurde nicht mehr breiter, sondern begann sich im Gegenteil wieder zu schließen, aber noch war er viel zu groß, als dass einer ihrer plumpen Verfolger auch nur daran hätte denken können, darüber hinwegzuspringen. Sie fielen noch immer reihenweise in den kochenden Leim und der rettende Tunnel kam mit jedem Schritt näher. Dann sprang der erste Aufseher mit einem gewaltigen Satz über den tödlichen Abgrund, fiel auf die Knie und rappelte sich schwerfällig wieder auf, doch ihr Vorsprung war mittlerweile so weit angewachsen, dass Leonie gegen alle Wahrscheinlichkeit zu hoffen begann, sie könnten vielleicht doch noch eine Chance haben.
Sie kam als Erste bei dem Gang an und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass es auch der richtige war; unterscheiden konnte sie sie nicht, denn die Eingänge sahen alle gleich aus. Im Laufen warf sie einen gehetzten Blick nach hinten und sah etwas, das sie zu noch größerer Schnelligkeit anspornte: Drei oder vier weiteren Aufsehern war der todesmutige Satz über den schmaler werdenden Spalt gelungen und immer mehr Scriptoren, Arbeiter und Aufseher versuchten es ebenfalls. Die meisten sprangen auch jetzt noch zu kurz und versanken im brodelnden grünlichen Leim, aber die Zahl der Verfolger wuchs und sie bewegten sich entsetzlich schnell. Leonie hätte sich allein möglicherweise noch zugetraut, ihnen davonzulaufen, aber ihre Eltern würden das nicht schaffen. Ihre Mutter taumelte jetzt schon mehr, als dass sie ging, und ihrem Vater hatte der Zusammenprall mit dem Aufseher auch nicht gerade gut getan. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis einer von ihnen zusammenbrach, wenn nicht beide. Sie durfte also nicht lange herumraten, sondern musste alles auf eine Karte setzen und blind darauf vertrauen, dass es der richtige Gang war.
Es war der richtige Gang. Leonie stürmte in den Gang, trat auf etwas Weiches, das ein erschrockenes Quieken ausstieß, und sie konnte sich gerade noch an der Wand abstützen, um nicht zu fallen. Ihr Vater reagierte um eine Winzigkeit besser und machte einen beherzten Sprung über den gefesselten Scriptor hinweg, den sie dort auf dem Hinweg zurückgelassen hatte, und Leonie fand endlich ihr Gleichgewicht wieder und setzte zu einem verzweifelten Endspurt an. Sie raste dreißig oder vierzig Meter in den Korridor hinein, gerade weit genug, um sicher zu sein, dass man sie von der Halle aus nicht mehr sehen konnte, dann blieb sie schwer atmend stehen und sah sich hastig um. Direkt vor ihr lag eine der geschlossenen Zellentüren. Leonie stellte sich auf die Zehenspitzen und lugte durch das vergitterte Fensterchen hinein. Nachdem sie sich davon überzeugt hatte, dass die Zelle leer war, trat sie zurück und befahl der Tür mit einem geflüsterten Befehl, sich zu öffnen. Sie gehorchte, wenn auch ebenso schwerfällig und widerstrebend wie das große Eisentor oben. Trotzdem reichte der entstandene Spalt bereits aus, um sich mit einiger Mühe hindurchzuquetschen, als ihre Eltern und der Scriptor neben ihr ankamen.
In den Augen ihrer Mutter flackerte die blanke Panik auf, als sie die geöffnete Zellentür sah, aber Leonie gab ihr gar keine Gelegenheit, zu protestieren, sondern bugsierte sie ungeduldig hindurch, beförderte den Scriptor mit einem hastigen Schubs hinterher und quetschte sich als Letzte hinter ihrem Vater durch den Türspalt. Sie war noch nicht ganz in der Zelle, als sie der Tür mit einem gehetzten Flüstern befahl, sich wieder zu schließen.
Und das buchstäblich im allerletzten Moment. Die Tür war kaum zu, als draußen auf dem Gang trappelnde Schritte und wütend durcheinander brüllende und keifende Stimmen laut wurden und die Verfolgermeute an ihrem Versteck vorbeistürmte.
Ihre Mutter wollte etwas sagen, aber Leonie gab ihr mit einem hastigen Wink zu verstehen, bloß keinen Laut von sich zu geben, und deutete mit der anderen Hand auf den toten Winkel unter der Tür. Rücken an Rücken pressten sie sich gegen das schwarze Eisen, während der Strom der Verfolger, der draußen auf dem Gang vorüberpolterte, kein Ende zu nehmen schien.
Ihre Vorsichtsmaßnahme erwies sich als nur zu berechtigt. Ein dumpfer Schlag erschütterte die Tür und das schwarz verhüllte Gesicht eines Aufsehers erschien an der Klappe. Leonie presste sich fester gegen die Tür, hielt den Atem an und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass keiner der anderen ein verräterisches Geräusch machte.
Es wurde erhört. Der Aufseher spähte eine ganze Weile misstrauisch in die Zelle, aber endlich gab er sich zufrieden und verschwand wieder. Leonie atmete erleichtert auf, doch sie blieb weiter angespannt, bis die Schritte und das Stimmengewirr draußen auf dem Gang allmählich abnahmen und dann ganz verstummten.
Der Scriptor kletterte geschickt und schnell wie eine zu groß geratene Stubenfliege an der Wand empor und reckte den dürren Hals, um durch die Klappe nach draußen zu lugen.
»Alles klar«, krähte er. »Sie sind weg!«
»Gott sei Dank«, hauchte Leonies Mutter. Sie sah Leonie aus großen Augen an. »Wie hast du das mit der Tür gemacht?«
»Diese... Kreatur!« Ihr Vater deutete zu dem Scriptor hoch. Er gab sich keinerlei Mühe, den angewiderten Unterton aus seiner Stimme zu verbannen, und der Scriptor seinerseits sah mit einem Gesichtsausdruck zu ihm herab, der fast noch angeekelter wirkte. »Was hast du mit ihr zu schaffen?«
»Er hat mir geholfen«, sagte Leonie. Es war ihr im Moment lieber, die Frage ihres Vaters zu beantworten als die ihrer Mutter. »Ohne ihn wäre ich nie so weit gekommen. Er ist schon in Ordnung.«
»Er ist ein Monster!«, rief ihr Vater. Der Scriptor streckte ihm die Zunge heraus (wohlweislich erst, als er gerade nicht hinsah) und begann wieder an der Wand herabzuklettern.
»Die Tür«, beharrte ihre Mutter. »Wie hast du das gemacht? Sie hat nicht einmal ein Schloss!«
Leonie druckste einen Moment herum, aber ihr war klar, dass ihre Mutter keine Ruhe geben würde. Sie selbst hätte das auch nicht getan, wäre es andersherum gewesen. »Ich weiß es nicht«, erklärte sie schließlich. »Funktioniert einfach. Ich muss es nur sagen, und jede Tür geht auf.«
Sie rechnete damit, dass ihre Mutter eine ungläubige Bemerkung machen oder wenigstens das Gesicht verziehen würde, aber sie sah eher erschrocken aus und bemerkte an Vater gewandt: »Ich habe es dir gesagt. Mutter hatte Recht.«
»Womit?«, fragte Leonie.
Ihr Vater schüttelte den Kopf. Auch er blickte plötzlich sehr nachdenklich und ein bisschen betroffen drein. »Nicht jetzt«, sagte er.
»Und warum nicht?«, erkundigte sich Leonie spitz. »Hast du irgendetwas vor? Ein dringender Termin vielleicht?«
»Wir haben wirklich Wichtigeres zu tun«, antwortete ihr Vater grob. Er machte eine wedelnde Geste zum Scriptor hin. »Steig rauf und sieh nach, ob die Luft rein ist!«
»Wie kann sie das, solange ihr hier drin seid?«, gab nun der Scriptor patzig zurück.
»Bitte«, sagte Leonie. Der Scriptor schnitt noch eine Grimasse in Richtung ihres Vaters, stieg aber dann gehorsam an der Wand hoch, um seinen Beobachtungsposten wieder einzunehmen.
»Wir müssen hier raus«, fuhr Leonies Vater fort. »Im Moment sind wir vielleicht in Sicherheit, aber wir können nicht ewig hier hocken bleiben.« Er sah sie nachdenklich an. »Der Trick funktioniert bei allen Türen, sagst du?«
»Bei denen, die da sind.« Leonie ahnte, worauf ihr Vater hinauswollte, und beantwortete seine Frage, noch bevor er sie ausgesprochen hatte. »Der Gang führt nach oben in einen großen Saal, in dem es vor Aufsehern nur so wimmelt.« Sie schüttelte den Kopf. »Keine Chance, da durchzukommen.«
»Ich weiß«, erwiderte ihr Vater. »Dort haben sie uns erwischt.«
»Was wolltet ihr überhaupt hier?«, fragte Leonie.
»Dasselbe wie du, nehme ich an.«
»Eure Eltern finden, die durch eine unsichtbare Wand verschwunden sind?«, meinte Leonie.
»Das ist eine sehr lange Geschichte«, antwortete ihr Vater. Er schnitt ihr mit einer müden Handbewegung das Wort ab, als sie widersprechen wollte. »Wir erzählen dir alles, das verspreche ich dir. Aber nicht jetzt. Es ist eine... eine wirklich sehr lange Geschichte. Und sehr kompliziert. Alles verstehe ich auch nicht und manches fällt mir immer noch schwer zu glauben. Sogar jetzt, wo ich es sehe.«
Es erging Leonie nicht anders. Sie spürte auch, dass ihr Vater ihr nicht die ganze Wahrheit sagte, aber unglückseligerweise hatte er Recht. Jetzt war wirklich nicht der richtige Moment, um lange Geschichten zu erzählen.
Sie wandte sich an den Scriptor. »Gibt es noch einen anderen Weg hier hinaus?«
»Woher soll ich denn das wissen?«, fragte der Scriptor. »Ich war noch nie hier unten. Und ich werde wahrscheinlich auch nie wieder nach oben kommen.«
Leonie seufzte niedergeschlagen. Sie war doch nicht so weit gekommen und hatte so viele und so bizarre Gefahren überstanden, um jetzt aufzugeben! Es musste einfach noch einen anderen Weg hier hinaus geben. Hin- und hergerissen zwischen Zorn und wachsender Verzweiflung starrte sie die Wand neben sich an. Sie mussten einfach hier raus, egal wie!
»Aber das... das gibt’s doch nicht!«, entfuhr es ihrem Vater.
Im ersten Moment begriff Leonie gar nicht, wovon er sprach. Dann folgte sie seinem Blick - und riss ebenfalls ungläubig die Augen auf. Die Wand hatte sich verändert. Der uralte massive Stein war noch da, aber zugleich war da plötzlich auch eine Tür, die durch die feste Oberfläche des Steins hindurchzuschimmern schien, als handelte es sich um zwei versehentlich übereinander belichtete Fotos. Vorsichtig stand sie auf, näherte sich der Wand und streckte den Arm aus, wagte es aber nicht, die auf so unheimliche Weise aus dem Nichts aufgetauchte Tür zu berühren. Sie sah aus den Augenwinkeln, wie ihr Vater ebenfalls aufstand und ihr folgen wollte, aber Mutter hielt ihn mit einer raschen Bewegung zurück. Leonie blieb annähernd eine Minute vollkommen erstarrt stehen und blickte die Mauer vor sich an. Die Tür war noch immer ein wenig geisterhaft, gewann aber rasch an Substanz und Leonie geduldete sich mit klopfendem Herzen, bis das bizarre Doppelbild endgültig verschwunden war.
»Ich hatte Recht«, erklang Mutters zitternde Stimme hinter ihr. »Sie hat die Gabe. Brauchst du noch mehr Beweise?«
Niemand antwortete darauf, doch als Leonie sich umdrehte, sah sie, dass das Gesicht ihres Vaters auch noch den allerletzten Rest von Farbe verloren hatte. Selbst der Scriptor starrte sie aus hervorquellenden Augen an, obgleich es unmöglich war, den Ausdruck auf seinem hakennasigen Zwergengesicht zu deuten. Leonie wandte sich wieder der Tür zu.
Erneut streckte sie die Hand aus, und diesmal wagte sie es, die Tür zu berühren. Sie sah aus, als bestünde sie aus dem gleichen schwarzen Eisen wie alles andere hier, aber sie fühlte sich irgendwie nicht richtig an, und Leonie hatte sie kaum berührt, da schwang sie mit dem Knarren uralter rostiger Scharniere auf und gab den Blick in den dahinter liegenden Gang frei.
Leonie wusste nicht, was sie erwartet hatte - aber ganz bestimmt nicht das. Hinter der Tür begann ein schmaler, sehr hoher Gang, dessen Wände nicht aus roh behauenem Fels oder Ziegelsteinen bestanden, sondern kostbar getäfelt waren. Das Licht kam von einer Anzahl kleiner Gaslampen mit grünen Schirmchen, die an den Wänden befestigt waren, und auch die Decke war mit wertvollem Holz vertäfelt. Der Anblick erinnerte sie an irgendetwas, aber sie konnte nicht genau sagen woran.
»Los!«, rief Leonie. Sie nahm all ihren Mut zusammen, trat als Erste durch die Tür und machte einen raschen Schritt zur Seite, um die anderen vorbeizulassen. Ihre Eltern reagierten sofort, aber der Scriptor folgte ihr erst, nachdem sie ihn mit einer Kopfbewegung dazu aufgefordert hatte. Kaum war er an ihr vorbeigegangen, schloss Leonie die Tür hinter sich und trat einen Schritt zurück. Sie war nicht einmal mehr sonderlich überrascht, dass sie augenblicklich wieder zu verblassen begann und in weniger als einer halben Minute endgültig verschwunden war. Immerhin konnte sie in dieser Zeit erkennen, dass es sich von dieser Seite aus um eine ganz normale, hölzerne Kassettentür handelte, nicht um ein eisernes Monstrum, das jedem Banktresor Ehre gemacht hätte.
»Unheimlich«, flüsterte der Scriptor. Er schüttelte sich. »Wie krank muss man sein, um sich in einer so schrecklichen Umgebung wohl zu fühlen?«
Leonie warf ihm einen schrägen Blick zu, ersparte sich aber jeden Kommentar und ging an ihm und ihren Eltern vorbei. Sie kam sich ein bisschen komisch dabei vor, so ganz selbstverständlich die Führung zu übernehmen, aber zugleich hatte sie auch das sichere Gefühl, in diesem Moment genau das Richtige zu tun.
Und vor allem: Sie spürte, dass sie endlich wieder auf dem richtigen Weg war.
Der Korridor war nicht besonders lang und es gab nur eine einzige verschlossene Tür an seinem Ende. Leonie ging hin und legte die Hand auf die verschnörkelte Klinke aus Messing, zögerte aber noch, sie herunterzudrücken, sondern presste stattdessen das Ohr gegen das Holz, um einen Moment zu lauschen. Erst als sie sicher war, dass sich auf der anderen Seite nichts rührte, öffnete sie behutsam die Tür und trat mit klopfendem Herzen hindurch.
Dahinter lag ein großer, behaglich eingerichteter Raum, der zwar kein Fenster hatte, ansonsten aber glatt als das durchgegangen wäre, was man vor hundert oder auch hundertfünfzig Jahren als Salon bezeichnet hatte: Es gab schwere Möbel aus geschnitztem Holz und Plüsch, verspielte kleine Tische mit wertvollen Einlegearbeiten, einen mächtigen Kamin und eine Unzahl von Bücherregalen. Auch hier kam das Licht aus einer Anzahl kleiner Gas- oder Petroleumlampen, aber es brannten auch zahlreiche Kerzen. Und irgendetwas stimmte mit diesem Raum nicht. Leonie konnte das Gefühl nicht in Worte fassen, vielleicht war sie auch einfach nur übernervös.
Ihre Mutter trat neben ihr in den Raum hinein und sah sich stirnrunzelnd um. Sie wirkte beunruhigt. »Was hast du?«, fragte Leonie alarmiert.
Ihre Mutter antwortete erst nach einem Moment und schleppend. »Irgendetwas«, sie verbesserte sich. »Ich weiß, es klingt komisch, aber... aber ich habe das Gefühl, dieses Zimmer schon einmal gesehen zu haben.«
»Vielleicht in einem Albtraum«, vermutete der Scriptor.
»In einem muss ich dir beipflichten«, meldete sich Leonies Vater zu Wort. »Hier stimmt etwas nicht.« Er deutete auf den Kamin. »Seht euch nur das Feuer an.«
Dass mit dem Feuer etwas nicht stimmte, war gelinde untertrieben. Die Flammen im Kamin strahlten nicht die geringste Wärme aus - und sie bewegten sich auch nicht. Leonie trat verblüfft näher, ließ sich in die Hocke sinken und streckte behutsam die Hand aus. Als sie eine der Flammen mit den Fingerspitzen berührte, erwartete sie instinktiv sich zu verbrennen, doch sie spürte überhaupt nichts. Die Flamme war nicht heiß, aber auch nicht kalt, sondern sie schien gar keine Temperatur zu haben. Außerdem war sie hart wie Diamant.
Leonie stand auf, sah sich rasch im Zimmer um und trat an eine der brennenden Kerzen heran.
Was für das Feuer im Kamin galt, das traf auch auf die Kerzenflamme zu: Sie war vollkommen reglos, hart und schien keine spürbare Temperatur zu besitzen. Als Leonie versuchte sie mit Gewalt abzubrechen, gelang es ihr nicht.
»Ich... ähm... würde hier drinnen lieber nichts verändern«, begann der Scriptor vorsichtig.
Leonie zog die Hand zurück. Sie bezweifelte, dass sie überhaupt in der Lage gewesen wäre, hier auch nur ein Stäubchen zu verändern, selbst wenn sie es gewollt hätte. Und dennoch hielt sie es für klüger, den Rat des Scriptors zu beherzigen und erst gar nichts in dieser Richtung zu versuchen.
»Ich kenne dieses Zimmer«, beharrte ihre Mutter. Sie war an eines der fast deckenhohen Bücherregale herangetreten und ließ ihren Blick aufmerksam über die Titel auf den Buchrücken schweifen. Das tat sie praktisch immer, wenn sie irgendwohin kam, wo es Bücher gab, aber Leonie hatte das bestimmte Gefühl, dass ihr Verhalten dieses Mal nichts mit ihrer Liebe zu allem Gedruckten zu tun hatte. Sie schien nach etwas zu suchen. Nach etwas ganz Bestimmtem.
»Das... das sind Mutters Bücher«, keuchte sie plötzlich. Sie fuhr herum und wandte sich heftig gestikulierend an Leonie. »Das sind die Bücher deiner Großmutter, Leonie. Sieh selbst!«
Leonie trat mit zwei schnellen Schritten neben sie und nahm die Bücher ebenfalls in Augenschein. Tatsächlich erkannte sie etliche Titel wieder - sogar eine ganze Menge, und es wurden mehr, je länger sie hinsah -, aber sie konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob es sich wirklich um dieselben Bücher handelte, die in Großmutters Zimmer auf den Regalen standen. Es waren dieselben Titel, aber das war ein Unterschied.
»Das kann Zufall sein«, sagte Leonies Vater.
»Aber nicht, dass ich dieses Zimmer kenne«, rief seine Frau. »Ich habe es schon einmal gesehen. Auf einem Foto.« Sie machte eine ausholende Geste. »Es ist die Bibliothek des Hauses, in dem meine Mutter aufgewachsen ist.«
Leonies Vater lachte, leise, nervös und vollkommen unecht, während Leonie ein plötzliches eisiges Frösteln verspürte. Sie musste an das Foto denken, das sie in der Familienbibliothek gefunden hatte. Um genauer zu sein: an das Kinderfoto ihrer Großmutter, das mit ihr gesprochen hatte...
»Gehen wir weiter«, schlug Leonie vor. Noch während sie sich zur Tür wandte, fügte sie mit einer Kopfbewegung auf den Scriptor hinzu: »Und vielleicht sollten wir besser auf ihn hören und nichts verändern.«
Es gab nur eine weitere Tür in diesem Raum. Leonie öffnete sie und gelangte in einen weiteren, wenn auch weitaus schlichteren Flur, von dem zwei Türen abgingen. Leonie warf im Vorbeigehen einen Blick in die dahinter liegenden Zimmer. Es handelte sich um eine altmodische, aber adrett aufgeräumte Küche und ein ebenso adrettes, nichtsdestoweniger aber altertümlich-verspielt wirkendes Kinderzimmer. Keines davon hatte Fenster.
Leonie tauschte einen fragenden Blick mit ihrer Mutter. Sie sagte nichts, nickte aber mit steinernem Gesicht. Ganz offensichtlich kannte sie auch diese Zimmer. Es war das Haus, in dem Großmutter aufgewachsen war.
Die Tür am anderen Ende des Korridors führte in ein Zimmer, das auch Leonie kannte. Es war der Raum, in dem sie das erste Mal auf die Schusterjungen und den Scriptor gestoßen war.
»Wir haben es geschafft«, sagte sie.
»Geschafft?«, fragte ihr Vater.
Leonie deutete auf die Tür auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers. »Ich war schon einmal hier. Der Gang dahinter führt zum Ausgang.« Ihr Blick glitt über den Sekretär, blieb deutlich länger daran hängen, als ihr selbst lieb war, und ruhte dann für einen noch längeren Moment auf dem Schrank, in den sie den Scriptor eingesperrt hatte. Sie fragte sich, ob der hakennasige Gnom vielleicht immer noch darin saß, aber sie ging nicht hin, um sich selbst zu überzeugen. Sie hatte bereits einen dieser hässlichen Zwerge am Hals und das war im Grunde schon einer zu viel.
Sie ging zur Tür, öffnete sie vorsichtig und spähte hinaus. Der Gang war so leer und verlassen, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Anscheinend war das Verschwinden des Scriptors bisher noch niemandem aufgefallen.
»Alles ruhig«, stellte sie fest.
»Dann lasst uns keine Zeit mehr verlieren«, schlug ihr Vater vor. »Mein Bedarf an Abenteuern ist erst einmal gedeckt.«
Leonie nickte zwar, schloss aber trotzdem noch einmal die Tür und trat an den Kleiderschrank heran. »Also gut. Ich mache dir einen Vorschlag«, rief sie. »Ich könnte einfach gehen und dich vergessen. Niemand würde es merken. Und so wie es aussieht, vermisst dich auch niemand.«
»Sag mal, mit wem sprichst du da?«, erkundigte sich ihr Vater.
Leonie gab ihm mit einer hastigen Geste zu verstehen, dass er sich noch einen Augenblick gedulden solle. »Ich mache jetzt die Tür auf und lasse dich frei«, fuhr sie fort. »Aber wenn du auch nur die geringsten Schwierigkeiten machst, lasse ich dich da drin, bis du verrottet bist!«
»Leonie?«, fragte ihr Vater. Er klang ein bisschen besorgt.
Leonie ignorierte ihn. Nach einem letzten Zögern öffnete sie die Schranktür und trat gleichzeitig einen halben Schritt zurück, jederzeit darauf gefasst, von einem wütenden Scriptor angesprungen zu werden, der wahrscheinlich wenig Begeisterung darüber empfand, seit Stunden in einem finsteren Schrank eingesperrt zu sein.
Der Scriptor, den sie dort vor einer Weile, die ihr fast wie eine halbe Ewigkeit vorkam, eingesperrt hatte, sprang sie nicht an. Er überschüttete sie auch nicht mit Vorwürfen oder Verwünschungen. Er war nicht mehr da.
»Ist alles in Ordnung mit dir, Leonie?« Ihr Vater trat mit schnellen Schritten an ihre Seite und blickte abwechselnd in ihr Gesicht und in den offen stehenden Schrank. Er sah mehr als nur ein bisschen besorgt aus.
»Ich bin nicht verrückt, wenn du das meinst«, sagte Leonie. »Aber in dem Schrank... ich dachte... da wäre noch... also, ich dachte, ich wäre die Einzige, die die Türen...«
Das war sie auch. Leonie blieb der Rest ihres ohnehin mehr gestammelten als gesprochenen Satzes im Halse stecken, als der Scriptor wortlos neben sie trat und die Türen weiter öffnete.
Sein Kamerad war noch da, nur hatte sie ihn zwischen den zusammengelegten Kleidern und Wäschestücken auf dem Boden im ersten Moment gar nicht entdeckt, denn er hatte sich in furchtbarer Weise verändert. Seine Haut war jetzt grau, nicht mehr schwärzlich grün, und obwohl er zuvor kaum mehr als ein wandelndes Skelett gewesen war, war er noch einmal um mindestens die Hälfte abgemagert. Er bewegte sich nicht und er reagierte auch nicht auf Leonies Worte. Und wie konnte er auch? Vor Leonie und den anderen lag nur noch die Mumie eines Scriptors.
»Aber... aber wie... wie kann denn das sein?«, murmelte Leonie erschüttert.
»Das solltest du eigentlich besser wissen«, antwortete der Scriptor böse. »Schließlich hast du ihn ja hier eingesperrt. Du hattest ganz Recht, weißt du? Außer dir kann niemand diese Tür öffnen.«
»Aber wir waren doch nur ein paar Stunden weg«, sagte Leonie verzweifelt.
»Dort draußen.« Der Scriptor deutete zur Tür. »Hier drinnen bedeutet Zeit etwas anderes.«
Im allerersten Moment kam Leonie diese Behauptung absolut lächerlich vor. Zeit war Zeit, basta. Doch dann erinnerte sie sich an gestern Morgen und ein Schauer rann wie eine Armee winziger eiskalter Spinnen ihr Rückgrat hinab. Ihre Mutter war eine Stunde weg gewesen, allerhöchstens zwei, aber als sie zurückgekommen war, da hatte sie ausgesehen, als wäre sie eine Woche durch die Katakomben geirrt. Und Doktor Steiner hatte gesagt, dass sie seit mindestens zwei oder drei Tagen nichts mehr getrunken hatte. Und wenn sie den jämmerlichen Zustand bedachte, in dem ihre Eltern jetzt waren...
»Dann habe ich ihn umgebracht«, murmelte sie.
»Umgebracht?« Ihr Vater zog eine Grimasse. »Jetzt übertreib mal nicht. Es war nur ein Scriptor. Und glaube mir, er hätte dir, ohne mit der Wimper zu zucken, dasselbe angetan. Nur aus Spaß. Es ist nicht schade um ihn.«
Im ersten Moment war Leonie regelrecht schockiert über die Kälte, die aus den Worten ihres Vaters klang. Dass er die Scriptoren nicht gerade liebte, hatte sie erwartet. Aber das war nun wirklich nicht seine Art. Doch dann glitt ihr Blick wieder über sein ausgemergeltes Gesicht, die abgemagerten Hände, die zahllosen Prellungen und Schrammen, die seine Haut bedeckten. Sie fragte sich, was die Scriptoren Mutter und ihm wirklich angetan hatten.
»Wie lange wart ihr in diesem Käfig?«, fragte sie leise.
»Nicht lange«, antwortete ihr Vater. Seine Stimme wurde leiser und auch bitterer. »Vielleicht einen Tag, oder zwei. Aber vorher waren wir lange in einer dieser Zellen.« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht wie lange, aber es war auf jeden Fall zu lange.«
Obwohl er sich Mühe gab, jedes Gefühl aus seiner Stimme zu verbannen, war doch klar, dass er Leonie längst nicht alles erzählt hatte. Sie stellte keine weiteren Fragen, aber das war auch nicht nötig. Denn selbst die Antworten auf die Fragen, die sie nicht gestellt hatte, waren deutlich in den Augen ihrer Eltern abzulesen. Wie konnte sie erwarten, dass die beiden auch nur eine Spur von Mitleid mit den Bewohnern dieses unheimlichen Labyrinths haben würden?
Trotzdem fühlte sich Leonie elend dabei. Wenn das, was der Scriptor ihr erzählt hatte, stimmte, dann waren seine Brüder und er nicht einmal richtige Lebewesen - ganz davon abgesehen, dass das alles hier sowieso nur ein Albtraum sein konnte -, aber sie fühlte sich trotzdem so miserabel, als hätte sie den Scriptor mit eigenen Händen umgebracht.
Und irgendwie hatte sie das ja auch...
»Hier drinnen, in diesen Räumen, meine ich...« Ihr Vater wandte sich mit einer fragenden Geste direkt an den Scriptor, »... vergeht die Zeit also anders? Ich meine: Nicht nur anders als in der richtigen Welt, sondern auch anders als draußen, auf den Gängen und in euren Höhlen?«
Der Scriptor nickte und ließ ein paar Sekunden verstreichen, bevor er antwortete, als wäre er im ersten Moment nicht sicher gewesen, ob er überhaupt weitersprechen sollte. »Manchmal. Manchmal schneller, manchmal langsamer und manchmal gar nicht.« Er seufzte. »Bestimmt kann ich nicht zurück ins Zentralarchiv. Wahrscheinlich haben sie meinen Arbeitsplatz längst neu besetzt.«
»Zentralarchiv?«, wiederholte Leonies Vater. Er zog eine Grimasse. »Gleich wirst du uns noch erzählen, dass du furchtbar wichtig bist. Wenn du mich fragst...«
»Dich fragt aber keiner«, giftete der Scriptor. »Bevor ihr gekommen seid, hatte ich einen äußerst verantwortungsvollen Posten. Einen der verantwortungsvollsten überhaupt, die es hier gibt, wenn du es genau wissen willst.«
»Ach, und was soll das gewesen sein?«, fragte Leonies Vater hämisch.
Leonie sah ihn mit wachsender Verwirrung an. Ganz abgesehen davon, dass so etwas ganz und gar nicht zu ihrem Vater passte, war das nun wirklich nicht der richtige Zeitpunkt für eine so alberne Streiterei. Wollte er auf etwas Bestimmtes hinaus?
»Ich habe das Zentralverzeichnis geführt«, erklärte der Scriptor stolz. »Ohne mich wäre hier längst das reine Chaos ausgebrochen!«
»Das Zentralverzeichnis.« Leonies Eltern tauschten einen raschen, viel sagenden Blick. Viel sagend für sie vielleicht. Leonie wurde eher nur noch verwirrter. »Du meinst so eine Art Register, in dem alle Bücher aufgelistet sind, die es hier gibt?«
»Präzise«, antwortete der Scriptor. »Bis auf das letzte i-Tüpfelchen.«
»Das ist blanker Unsinn«, beharrte Vater. »Es müssen Millionen sein. Und du willst mir jetzt erzählen, du wüsstest ganz genau, wo jedes einzelne Buch zu finden ist, wie? Das ist doch lächerlich!«
»Milliarden«, behauptete der Scriptor. »Ach was, Trillionen, wenn nicht mehr!« Seine Stimme war plötzlich von hörbarem Stolz erfüllt. »Mehr, als du dir vorstellen kannst. Und ich weiß, wo jedes einzelne steht.«
»So, so.« Vater machte keinen Hehl daraus, dass er dem Scriptor kein Wort glaubte. Leonie erging es da nicht viel anders - was aber nichts daran änderte, dass sie das Streitgespräch zwischen ihrem Vater und dem Scriptor immer absurder fand. Sie riss ihren Blick von den beiden lächerlichen Streithähnen los, sah noch einmal bedauernd auf den mumifizierten Scriptor hinab und schloss dann die Schranktür. »Es tut mir wirklich Leid«, sagte sie.
»Wieso?«, fragte der Scriptor. »Sie hätten ihn sowieso in den Leimtopf geworfen.«
Leonie erschrak. »Aber warum denn?«
»Du hast ihn überwältigt und hier eingesperrt, oder? Das genügt.« Der Scriptor nickte düster. »Die Redigatoren verzeihen keine Fehler.«
Aber das machte es nicht besser, dachte Leonie. Wo war der Unterschied, ob der Scriptor gestorben war, weil sie ihn in diesen Schrank gesperrt hatte, oder weil...
Leonie fuhr wie von der Tarantel gestochen herum und starrte den Scriptor aus ungläubig aufgerissenen Augen an. »Aber... aber das heißt ja, dass... dass dir das gleiche Schicksal bevorsteht«, keuchte sie.
»Ich habe dir doch gesagt, ich kann nicht mehr zurück«, erinnerte sie der Scriptor.
»Weil ich dich gezwungen habe, mir zu helfen!«
Diesmal sagte der Scriptor nichts mehr. Er sah sie nur vorwurfsvoll aus seinen großen Glubschaugen an.
Leonie hielt seinem Blick nur ein paar Sekunden lang stand, dann drehte sie sich mit einem Ruck um und sah zu ihren Eltern hin. Sie standen am anderen Ende des Zimmers und unterhielten sich leise, aber offenbar ziemlich erregt. Es sah beinahe nach einem Streit aus. Ihr Vater gestikulierte heftig, und ihre Mutter schüttelte immer wieder den Kopf, aber auch dazu war jetzt nicht der richtige Moment, fand Leonie.
Sie platzte rücksichtslos in die Unterhaltung und deutete auf den Scriptor. »Wir müssen ihn mitnehmen.«
»Wie bitte?«, fragte ihr Vater.
»Ich meine es ernst«, erklärte Leonie. »Er kann nicht hier bleiben. Ihr habt doch gehört, was er gesagt hat. Wenn er bleibt, ist das sein Todesurteil. Wir müssen ihn mitnehmen.«
»Aber selbstverständlich«, sagte ihr Vater. »Und gleich morgen früh melde ich ihn im Kindergarten an.« Er schüttelte den Kopf. »Wie stellst du dir das vor?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Leonie. »Aber wir können ihn nicht einfach hier lassen. Ohne ihn wären wir jetzt wahrscheinlich nicht mehr am Leben! Wir sind es ihm einfach schuldig.«
Sie konnte ihrem Vater ansehen, dass er zu einer scharfen Entgegnung ansetzte, aber dann geschah etwas Unerwartetes: Er blickte sie ein paar Sekunden lang nachdenklich an, schließlich hob er die Schultern und seufzte tief. »Vielleicht hast du sogar Recht. Es wäre ziemlich undankbar, wenn wir ihn jetzt einfach seinem Schicksal überließen. Ich habe zwar nach wie vor keine Ahnung, wie wir...«, er drehte den Kopf und zog eine Grimasse, während er den Scriptor ansah, »... das da erklären sollen, aber irgendwas wird mir schon einfallen.«
Leonie war ein bisschen verdattert. Sie kannte ihren Vater gut genug, um sich auf eine hitzige Diskussion eingestellt zu haben. Umso mehr verwirrte es sie, dass er nun so schnell aufgab.
»Also gut. Verschwinden wir von hier«, fuhr er fort. »Aber vorher sehen wir zwei uns noch einmal draußen um. Nicht dass wir einem von deinen hässlichen großen Brüdern direkt in die Arme laufen.« Er machte eine auffordernde Bewegung in Richtung des Scriptors.
»Ich?«, vergewisserte sich der Scriptor ungläubig.
»Natürlich du. Wenn du uns begleiten sollst, dann wird es Zeit, dass wir allmählich damit anfangen, uns aneinander zu gewöhnen, finde ich.« Er deutete energisch in Richtung Tür. »Außerdem kann ich dich da draußen wahrscheinlich gut gebrauchen. Also los!«
Der Scriptor bekam gar keine Gelegenheit, zu widersprechen. Leonies Vater legte ihm einfach die Hand auf die Schulter, drehte ihn um und schob ihn vor sich aus dem Zimmer.
Erst als die Tür hinter ihnen zufiel, überwand Leonie ihre Verwirrung und fuhr erschrocken zusammen. »Um Gottes willen!«, keuchte sie. »Sie dürfen das nicht tun!«
Sie wollte losstürmen, doch ihre Mutter hielt sie mit einer raschen Bewegung zurück. »Bleib hier. Sie sehen sich doch nur um!«
»Aber das dürfen sie nicht!« Leonie versuchte sich loszureißen, doch ihre Mutter hielt sie mit erstaunlicher Kraft fest. »Du hast ja gehört, was der Scriptor gesagt hat: Da draußen vergeht die Zeit viel schneller als hier drinnen!«
Ihre Mutter hielt ihr Handgelenk unerbittlich weiter fest. »Also erstens muss nicht alles stimmen, was dieser komische kleine Bursche erzählt«, sagte sie. »Und außerdem bleiben sie gewiss nicht lange. Sie wollen sich doch nur umsehen, damit wir keine böse Überraschung erleben. Oder möchtest du einem von diesen riesigen Grobianen in die Hände fallen?«
Leonie schüttelte widerstrebend den Kopf. Natürlich gab es ungefähr eine Million Dinge, die sie lieber getan hätte, als die Tür zu öffnen und unversehens einem Aufseher gegenüberzustehen - aber sie hatte trotzdem das Gefühl, dass ihre Mutter ihr etwas vormachte.
»Siehst du.« Mutter ließ endlich ihr Handgelenk los; wenn auch erst, nachdem Leonie jeden Versuch aufgegeben hatte, sich aus ihrem Griff zu befreien. »Außerdem wollte ich sowieso mit dir reden.«
»Reden?« Leonie erschrak beinahe selbst über den misstrauischen Ton in ihrer Stimme. »Worüber?«
»Über das alles hier«, antwortete Mutter mit einer fahrigen, weit ausholenden Geste. »Über Großmutter und mich, und... und über dich.«
Leonie schwieg. Ihr Misstrauen schlug fast sofort in ebenso große Neugier um; aber tief in ihr war nach wie vor das nagende Gefühl, dass ihre Mutter ihr nicht die Wahrheit sagte. Zumindest nicht die ganze Wahrheit.
»Über mich?«
War das ein Ausdruck schlechten Gewissens, den sie in den Augen ihrer Mutter las, als diese nach ihrer Hand griff? »Ich hätte es längst tun sollen, Leonie. Deine Großmutter hat immer darauf gedrängt, dass ich es tue, aber ich... ich wollte es nicht. Ich wollte dir ein Leben ersparen, wie ich es geführt habe. Aber jetzt sehe ich ein, dass es ein Fehler war.«
»Ein Leben, wie du es geführt hast?« Leonie erinnerte sich wieder an den Streit, den sie in jener Nacht belauscht hatte. »Aber was ist denn so schlimm daran?«
»Oh, nichts«, antwortete ihre Mutter hastig. »Im Gegenteil: Ich hatte alles, was ich je wollte; mehr als die meisten anderen Frauen sich auch nur erträumen. Deiner Großmutter ist es so ergangen und dir wird es ganz bestimmt genauso ergehen. Aber wir haben einen sehr hohen Preis dafür bezahlt. Sowohl sie als auch ich, und ich wollte nicht, dass du denselben Preis bezahlen musst, Leonie. Er ist hoch. Vielleicht zu hoch.«
Leonie verstand immer weniger, wovon ihre Mutter überhaupt sprach, aber sie hatte gleichzeitig das Gefühl, dass an ihrer Geschichte irgendetwas nicht stimmte. Es war nicht so, dass ihre Mutter sie belog - aber die Geschichte, die sie ihr erzählte, wollte einfach nicht mit ihrer Erinnerung zusammenpassen. Sie versuchte, sich den hitzigen Streit genauer ins Gedächtnis zu rufen, obwohl es ihr äußerst schwer fiel, sich zu konzentrieren. Sie löste ihre Hand aus der ihrer Mutter und sah zur Tür. Ihr Vater und der Scriptor waren nun schon seit bestimmt einer Minute dort draußen - das war eine Menge Zeit, um sich nur einmal schnell umzusehen. Und wenn das, was der Scriptor erzählt hatte, stimmte, dann war es vielleicht deutlich mehr als eine Minute, nämlich möglicherweise eine Stunde oder auch ein Tag, der draußen vergangen war.
»Du hast mir noch immer nicht gesagt, was diese Gabe eigentlich ist. Ich meine: Sie erschöpft sich doch bestimmt nicht darin, dass ich ein paar Türen aufmachen kann, oder?« Oder sie mit purer Willenskraft einfach aus dem Nichts erschaffen kann - diese Frage sprach sie nicht laut aus. Es hätte ihr zu viel Angst gemacht.
»O nein, gewiss nicht«, antwortete ihre Mutter. »Es hat etwas... mit all dem hier zu tun.«
»Mit dem hier?« Leonie sah sich demonstrativ in dem altmodisch ausgestatteten Zimmer um. »Ich verstehe nicht, was das alles zu bedeuten hat. Ich meine - wer macht sich schon die Mühe, Großmutters Haus in allen Einzelheiten nachzubauen, und warum?«
»Nachbauen?« Ihre Mutter schüttelte heftig den Kopf. »Das hier hat nichts mit einem Nachbau zu tun, Leonie. Es ist auch nicht ihr Haus, sondern...«
Die Tür wurde aufgerissen und ihr Vater winkte wild zu ihnen herüber. »Schnell!«, schrie er. »Sie kommen! Lauft!«
Leonie fuhr herum und verschenkte eine kostbare halbe Sekunde damit, ihren Vater entsetzt anzustarren. Er war kaum länger als anderthalb oder zwei Minuten weg gewesen, aber er hatte sich in dieser Zeit abermals verändert: Seine Kleider hingen nun vollends in Fetzen an ihm herunter und er war am ganzen Leib in Schweiß gebadet. Sein Atem ging keuchend und stoßweise, als hätte er gerade einen Zehn-Kilometer-Lauf hinter sich gebracht, und er blutete aus zwei frischen Wunden an Hals und Schulter.
»Schnell!«, schrie ihr Vater noch einmal. Seine Stimme überschlug sich fast vor Panik. Es war ihre Mutter, die ihren Schrecken als Erste überwand, nicht sie. Sie versetzte Leonie einen Stoß, der sie vorwärts und direkt in die Arme ihres Vaters stolpern ließ, rannte im gleichen Augenblick los und war mit einem Satz nach draußen verschwunden, und auch Leonie fühlte sich herumgerissen und weitergezerrt, noch ehe sie begriff, wie ihr geschah.
Ihr Vater rannte so schnell, dass Leonie alle Mühe hatte, mit ihm Schritt zu halten und nicht von den Füßen gerissen zu werden. Der Gang flog nur so an ihnen vorüber, und dennoch hatte Leonie das sichere Gefühl, dass ihr Vater noch viel schneller hätte laufen können, hätte er sie nicht im Schlepptau gehabt. Ihre Mutter rannte ein gutes Stück vor ihnen durch den Stollen und hatte bereits einen gehörigen Vorsprung gewonnen. Auch ihr Vater versuchte noch einmal sein Tempo zu beschleunigen, obwohl Leonie dadurch vollends aus dem Tritt geriet und nun wirklich mehr hinter ihm herstolperte als - rannte.
Irgendetwas schepperte. Leonie glaubte, ein Kreischen zu hören und möglicherweise auch etwas wie schwere, stampfende Schritte, aber sie wagte es nicht, den Kopf zu drehen, aus Furcht, dadurch endgültig aus dem Takt zu geraten und zu stürzen.
»Aber was ist denn nur los?«, keuchte sie. »Wo warst du? Wo ist der Scriptor?«
»Sie haben uns erwischt«, gab ihr Vater keuchend zurück. Leonie sah die Wunde an seinem Hals jetzt deutlicher und erschrak.
Es war keine bloße Schramme, sondern ein tiefer Schnitt, aus dem hellrotes Blut im Rhythmus seines hektisch pumpenden Herzens schoss und der die Halsschlagader offensichtlich nur knapp verfehlt hatte. Er hielt sie mit der linken Hand fest gepackt und zerrte sie unerbittlich hinter sich her, aber den anderen Arm presste er gegen den Leib, obwohl ihn diese Haltung beim Laufen behindern musste.
»Erwischt?«, keuchte Leonie. »Wer? Was ist denn nur passiert?«
Diesmal antwortete ihr Vater nicht, aber das Scheppern wiederholte sich, und im nächsten Moment prallte etwas gegen die Wand neben ihrer Schulter und schlug Funken, bevor es klappernd wieder in der Dunkelheit verschwand. Leonie wagte es nun doch, sich im Laufen umzudrehen, aber der Entschluss tat ihr augenblicklich Leid.
Sie hatte sich das Geräusch stampfender Schritte, das Grölen und Kreischen nicht nur eingebildet. Hinter ihnen - und erschreckend nahe hinter ihnen! - brandete eine wahre Flutwelle monströser Gestalten heran: Aufseher, Scriptoren, Arbeiter und noch eine Anzahl anderer, zum Teil bizarr geformter Kreaturen, deren bloßer Anblick Leonie schier das Blut in den Adern gerinnen ließ. Die meisten von ihnen waren bewaffnet; jetzt aber nicht mehr nur mit Peitschen und Keulen, sondern mit Schwertern, Dolchen und sogar Speeren. Noch waren sie zu weit entfernt, um ihre Wurfgeschosse wirklich zielsicher einsetzen zu können, doch sie kamen näher. Und wie vortrefflich sie mit ihren Waffen umzugehen wussten, das hatte Leonie ja schon erlebt.
Falls sie noch Zweifel gehabt haben sollte, bestanden sie bis genau zu diesem Moment, denn einer der Aufseher schleuderte etwas in ihre Richtung, das wie eine zu groß geratene Hellebarde aussah und vermutlich nur deshalb um Haaresbreite an ihnen vorbeiflog, weil es sich um eine zum Werfen denkbar ungeeignete Waffe handelte. Dennoch segelte sie so dicht an ihrer Schulter vorbei, dass sie sich fast einbildete, ihren Luftzug zu spüren. Der nächste Wurf würde wahrscheinlich treffen.
Ihre Mutter, deren Vorsprung mittlerweile noch weiter angewachsen war, blieb abrupt stehen. Eine Mischung aus Ratlosigkeit und Entsetzen machte sich auf ihrem Gesicht breit, und plötzlich begann sie mit bloßen Fäusten auf die Wand einzuschlagen, mit solcher Kraft, dass die Knöchel aufplatzten und Blut an ihren ohnehin zerschundenen Händen herablief.
»Nein, nicht dort!«, schrie Leonie. »Lauf weiter! Noch zwanzig Schritte!«
Sie hätte selbst nicht sagen können, woher sie diese Gewissheit nahm, aber ihre Mutter schien ihr blind zu vertrauen, denn sie rannte ohne zu zögern weiter. In diesem Moment spürte Leonie eine Bewegung hinter sich und reagierte ganz instinktiv, indem sie sich zur Seite warf und den Kopf einzog. Die ruckartige Bewegung brachte nicht nur sie aus dem Gleichgewicht, sondern auch ihren Vater. Er stolperte, versuchte mit einem hastigen Schritt seine Balance wiederzufinden, verlor den ungleichen Kampf gegen die Schwerkraft und seinen eigenen Schwung, prallte gegen die Wand und wäre um ein Haar gestürzt.
Sein Stolpern rettete ihm das Leben, und Leonie möglicherweise auch. Der Schatten, den sie aus den Augenwinkeln bemerkt hatte, entpuppte sich als eine antiquierte Waffe, die ebenfalls nicht zum Werfen gedacht war, was ihren Besitzer aber nicht daran gehindert hatte, es mit wahrer Meisterschaft zu tun. Der dreikugelige Morgenstern flog kaum eine Handbreit an ihr vorbei und krachte Funken schlagend genau dort in die Wand, wo ihr Vater gestanden hätte, wäre er nicht gestolpert. Die eisernen Dornen hinterließen tiefe Furchen im Stein, und der mit Leder umwickelte Griff traf ihren Vater mit solcher Wucht gegen die Brust, dass er mit einem Schmerzensschrei in die Knie sank. Ein schwarzes, in Leder gebundenes Buch rutschte unter dem Hemd hervor und fiel zu Boden.
Leonie riss ihren Vater mit der Kraft purer Verzweiflung wieder auf die Füße und wollte ihn mit sich zerren, aber er warf sich herum, bückte sich nach dem Buch und hob es auf, obwohl es fast zu schwer war, um es mit nur einer Hand zu halten.
Die Verfolger waren mittlerweile gefährlich nahe gekommen. Niemand warf mehr mit Hellebarden, Speeren, Morgensternen oder sonstigen Dingen nach ihnen und es war auch gar nicht mehr nötig. Die Meute war schon fast heran. Noch ein paar Schritte, und sie hätten sie erreicht. Nur ein einziger Blick in ihre hassverzerrten Gesichter machte Leonie klar, dass sie sich spätestens ein paar Sekunden danach wahrscheinlich wünschen würden, dem Morgenstern nicht ausgewichen zu sein.
Die schiere Todesangst gab ihr die Kraft, herumzufahren und ihren Vater mit sich zu zerren. Ihre Mutter! Wo war ihre Mutter? Der Gang vor ihr war leer!
Allerdings nur für einen kurzen Moment. Dann tauchten Kopf und Schultern ihrer Mutter aus dem scheinbar massiven Stein auf und sie winkte sie mit wilden Bewegungen heran. »Schnell!«
Als ob sie ihnen das sagen musste! Leonie versuchte trotzdem, noch schneller zu laufen, und sah sich dabei hastig um. Vater hatte das Buch aufgehoben und presste es mit der freien Hand wie einen Schatz an sich. Er stolperte hinter ihr her, so schnell sie ihn mit sich zerren konnte, schien aber immer noch halb benommen zu sein. Und die Verfolger näherten sich mit unglaublicher Geschwindigkeit. Leonie fragte sich verzweifelt, was so wertvoll an diesem Buch sein konnte, dass ihr Vater offensichtlich bereit war, sein Leben dafür aufs Spiel zu setzen - und das ihre gleich mit. Sie mobilisierte noch einmal alle Kräfte, um die letzten Meter bis zu ihrer Mutter und dem rettenden Ausgang zurückzulegen.
Und beinahe hätte sie es sogar geschafft.
Wider Erwarten erreichte sie ihre Mutter, stürmte an ihr vorbei und riss ihren Vater mit sich. Wo ihre Augen massives Mauerwerk sahen, war gar nichts, nur ein flüchtiger Hauch von Dunkelheit und Kälte, durch den sie hindurchglitt und in den mit Trümmern und heruntergebrochenen Steinen übersäten Keller ihres Hauses stolperte. Sie fiel, drehte sich noch im Stürzen herum und sah ihre Mutter hinter sich ins Freie taumeln, dicht gefolgt von ihrem Vater... und drei oder vier Scriptoren und mindestens zwei Dutzend Schusterjungen!
Ihre Mutter machte sofort eine blitzartige Handbewegung und schloss damit die Öffnung in der Wand.
Aber eine Sekunde, vielleicht den Bruchteil eines Augenblickes, bevor das geschah, kam ein flirrender Schatten durch die unsichtbare Öffnung geflogen und bohrte sich mit einem dumpfen Schlag genau zwischen die Schulterblätter ihres Vaters!
Leonies Herz schien auszusetzen. Sie sah, wie ihre Mutter zurückprallte und zu Boden gerissen wurde, als sich drei der vier Scriptoren gleichzeitig auf sie warfen, aber sie war unfähig, darauf zu reagieren oder auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen. Sie konnte nur ihren Vater anstarren, der zwei Schritte weiter getaumelt war und dann langsam in die Knie ging. Er ließ das Buch fallen, das auseinander klappte und vor ihm liegen blieb. Als er endgültig nach vorne sank, sah Leonie den Griff eines gewaltigen Dolches, fast schon eines kleinen Schwertes, der aus seinem Rücken ragte.
Endlich schüttelte sie die Lähmung ab und rappelte sich auf, um zu ihm zu laufen.
Sie schaffte es nicht einmal ganz, sich aufzurichten.
Der vierte Scriptor, der zusammen mit ihrem Vater hereingekommen war, sprang sie mit solcher Wucht an, dass sie erneut zu Boden geschleudert wurde und mit dem Hinterkopf gegen einen Stein knallte. Sie verlor nicht wirklich das Bewusstsein, aber sie biss sich auf die Zunge, was ziemlich schmerzte, und schmeckte Blut, und für einen Moment sah sie nichts als bunte Farben, die vor ihren Augen explodierten.
Das Erste, was sie sah, als sich ihr Blick wieder klärte, war das hässliche Gesicht eines Scriptors, der auf ihrer Brust hockte und mit beiden Fäusten auf ihr Gesicht einschlug. Es tat nicht einmal besonders weh, aber sie war so unglücklich gestürzt, dass sie sich kaum bewegen konnte, und der Scriptor war nicht alleine. Leonie spürte einen scharfen Schmerz am linken Bein, sah an sich hinab und gewahrte einen Schusterjungen, der auf ihren Oberschenkel geklettert war und einen Stein in beiden Händen schwang, mit dem er nach Herzenslust auf ihr Knie einhämmerte - und das tat wirklich weh. Mit einem Schrei schüttelte sie den Plagegeist ab, warf sich herum, wodurch der Scriptor von ihrer Brust geschleudert wurde und in hohem Bogen davonflog, und schrie im nächsten Moment noch einmal und noch lauter auf, als ein anderer Schusterjunge seine nadelspitzen Zähne in ihre Hand grub.
Leonie stampfte ihn mit der anderen Hand regelrecht in den Boden, aber der Schaden war nun einmal angerichtet. Ihre Hand blutete heftig und tat höllisch weh und die winzigen Angreifer gaben ihr nicht die kleinste Verschnaufpause. Zwei weitere Schusterjungen fielen mit Zähnen und messerscharfen Fingernägeln über ihre Beine her, und als Leonie nach ihnen schlagen wollte, war der Scriptor wieder heran, sprang auf ihren Rücken und schlang kreischend die Arme um ihren Hals. Unverzüglich versuchte er, ihr die Zähne in den Nacken zu schlagen, aber damit hatte Leonie gerechnet. Sie warf sich mit aller Macht nach hinten, begrub den Scriptor unter sich und wurde mit einem dumpfen Ächzen belohnt, als der kleine Quälgeist das Bewusstsein verlor.
Hastig richtete sie sich wieder auf, fegte das halbe Dutzend Schusterjungen, das sich an ihre Arme und Beine geklammert hatte, wie lästige Fliegen ab und fuhr herum. Was sie erblickte, brach ihr fast das Herz: Ihre Mutter wehrte sich ebenso verbissen wie aussichtslos gegen drei Scriptoren und ein gutes halbes Dutzend Schusterjungen, die auf ihr herumhüpften, als würden sie sie mit einem Trampolin verwechseln, und mit Zähnen und Fingernägeln auf sie losgingen, und ihr Vater war endgültig zusammengebrochen. Er lebte noch, aber der Rücken seines Hemdes hatte sich mittlerweile komplett rot gefärbt und seine Bewegungen wurden immer schwächer. Leonie konnte nicht genau erkennen, was er tat, aber es sah fast so aus, als blättere er in dem Buch, über dem er zusammengesunken war. In der rechten Hand hielt er etwas, das ein altmodischer Füllhalter zu sein schien. Anscheinend wusste er schon nicht mehr genau, was er tat.
Leonie stemmte sich hoch, um ihrer Mutter zu Hilfe zu eilen.
Sie kam nur einen einzigen Schritt weit.
Ein grässlicher Schmerz explodierte mit solcher Wucht in ihrer rechten Ferse, dass sie mit einem gellenden Schrei auf die Knie fiel und hilflos zur Seite kippte. Zwei oder drei Schusterjungen sprangen auf ihre Brust und ihre Schultern und begannen mit den Fäusten auf sie einzudreschen, aber Leonie spürte es nicht einmal. Sie starrte aus ungläubig aufgerissenen Augen auf ihre Beine. Sie waren blutüberströmt, und als sie versuchte, den rechten Fuß zu bewegen, konnte sie es nicht. Unmittelbar neben ihrem Knie lagen zwei reglose Schusterjungen, die sie unter sich begraben hatte, als sie zu Boden gegangen war. Neben ihnen entdeckte sie ein rostiges, verbogenes Metallstück. Es hatte eine messerscharfe Kante, die rot von ihrem eigenen Blut war. Die beiden Schusterjungen hatten es ganz offensichtlich benutzt, um die Sehne an ihrem rechten Fuß durchzutrennen.
Sie versuchte trotzdem aufzustehen.
Der Schmerz war so schlimm, dass er ihr Tränen in die Augen trieb. Das Bein gab unter ihr nach und sie fiel schwer auf ihr ohnehin verletztes Knie und wimmerte gequält, hatte aber nicht einmal mehr die Kraft, zu schreien. Hilflos rollte sie auf die Seite, begrub zwei oder drei weitere Schusterjungen unter sich und drehte sich mit letzter Kraft auf den Rücken, um nach ihrer Mutter zu sehen.
Vielleicht hätte sie es besser nicht getan.
Ihre Mutter wehrte sich noch immer gegen die drei Scriptoren, aber ihre Bewegungen waren bereits deutlich schwächer geworden. Und gerade als Leonie hinsah, nahm einer der hakennasigen Zwerge einen faustgroßen Stein vom Boden auf und schlug ihn ihrer Mutter mit aller Kraft gegen die Schläfe. Sie bäumte sich noch einmal auf und lag dann still.
Und Leonie wusste, das war das Ende.
Weinend vor Schmerz und hilflosem Zorn kroch sie weiter, um ihren Vater zu erreichen. Die drei Scriptoren ließen von ihrer Mutter ab und stürzten sich auf sie, aber es war ihr gleich. Irgendwie gelang es ihr, sie mit einer Hand abzuwehren, während sie sich mit dem anderen Arm und dem unverletzten Bein weiterschleppte.
Wie durch ein Wunder bewegte er sich immer noch. Er hatte es sogar geschafft, sich auf einen Ellbogen zu stemmen und war weiterhin über das Buch gebeugt, das aufgeschlagen vor ihm lag. Drei oder vier Schusterjungen zerrten mit aller Gewalt daran, um es ihm zu entwinden, und mindestens ein halbes Dutzend weiterer riss an seinen Armen und Beinen und an seinem Haar. Ihr Vater aber hielt das Buch eisern fest. Leonie verstand nicht, was er da tat.
Ihr blieb auch keine Zeit mehr, darüber nachzudenken. Ein brutaler Tritt trieb ihr die Luft aus den Lungen und warf sie auf den Rücken. Ein Scriptor sprang mit einem triumphierenden Schrei auf ihren Bauch und hob die Arme in die Höhe. Leonie sah, dass er einen ausgewachsenen Ziegelstein in den Händen hielt, riss die Arme nach oben, um ihr Gesicht zu schützen, und...